STADT
UNTER
GLAS
Die Privilegierten
Mystery-Scifi
von
P.C. Thomas
Alle Rechte vorbehalten.
Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.
Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.
Die Handlungen sind frei erfunden.
Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.
www.verlag-der-schatten.de
Erste Auflage 2019
© P.C. Thomas
© Coverbilder: depositphotos frimerke, stocksnapper,
maxterdesign
Covergestaltung: © Shadodex – Verlag der Schatten
© Bilder: Julian Klaka (Stadt unter Glas), P.C. Thomas (Autorenfoto), depositphotos maxterdesign (Wolken) stocksnapper (Aliens)
Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten
© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kressberg-Mariäkappel
ISBN: 978-3-946381-66-2
Stadt unter Glas
© Julian Klaka
»Mira, wie viel meiner Lebenszeit habe ich im Koma liegend verbracht? Sieben Jahre oder zehn?«
»Es sind viel mehr, als du vermutest«, sagte sie leise.
Als Mark Dornberg nach einem Unfall aus dem Koma
erwacht, findet er sich in einer für ihn fremden Welt wieder.
Die Menschen spaltet eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die Privilegierten leben in Städten, die Glaskuppeln vor der gefährlichen Sonnenstrahlung schützen. Die anderen gehen draußen zugrunde, doch sie beginnen sich zu wehren.
Wie konnte es aber so weit kommen?
Warum ist Mark in all der Zeit im Koma nicht gealtert?
Und was hat die mysteriöse Nebelwolke damit zu tun?
Das will auch der ehrgeizige, aber skrupellose Doktor Müller
herausfinden. Und der ist bereit, über Leichen zu gehen,
um dieses Geheimnis zu ergründen.
Inhalt
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Autorenvorstellung
»Die Wohnung ist ein Traum«, schwärmte Michelle Gronert. »Ich bin so froh, dass wir sofort reagiert haben, sonst hätte sie uns sicher jemand anderes vor der Nase weggeschnappt.« Sie griff kurz nach Marks rechtem Arm und drückte ihn leicht.
Der blickte unverwandt durch die Frontscheibe auf das heftige Schneetreiben. Ab und zu kniff er die blauen Augen etwas zusammen, weil das Flockengewimmel ihn verwirrte. »Ja, ich bin auch froh«, gestand er. »Es ist wirklich ein tolles Haus. Es liegt nicht nur sehr günstig, sondern bietet bei schönem Wetter sicher eine bombastische Aussicht über Wiehl.«
»Ich weiß, dass deine Eltern es lieber gesehen hätten, wenn wir in eine ihrer Immobilien gezogen wären, aber ich möchte nicht von ihnen abhängig sein. Hoffentlich sind sie deswegen jetzt nicht sauer auf mich.«
Mark legte seine Hand auf Michelles Finger, mit denen sie nun die Sitzkante umklammerte. »Keine Sorge, sie werden es verstehen«, sagte er und schmunzelte. »Eigentlich sollten sie froh sein, dass du mich um meinetwillen haben möchtest und nicht wegen des Geldes, das meine Familie besitzt.«
Der Wagen schlingerte leicht.
Erschrocken stieß Michelle einen Schrei aus und motzte: »So ein Sauwetter!«
Mark zog seine Hand zurück, um beide Hände ans Steuer zu legen. Er grinste. »Bleib cool, Schatz. Ich habe alles im Griff. So ein bisschen driften macht doch Spaß.«
Absichtlich trat er leicht auf die Bremse, sodass der Wagen ins Schlingern geriet. Die Leitplanke auf der rechten Seite kam beängstigend nah.
»Lass den Scheiß!«, fauchte Michelle. »Du weißt, dass ich diese blöden Spielchen nicht mag. Das kannst du machen, wenn du mit Louis oder Stefan unterwegs bist, aber nicht, wenn ich mit im Wagen sitze. Ich möchte noch leben, wenn wir zusammenziehen.«
Der letzte Satz sollte lustig klingen, doch die Angst in ihrer Stimme war deutlich hörbar.
Mark seufzte. »Ist ja gut. Reg dich wieder ab. Ich verspreche, ich mache es nicht wieder, wenn du dabei bist, okay?«
Michelle nickte, sagte dann: »Ja, ist okay.« Sie wollte nicht, dass er den Blick von der Straße nahm, um sie anzusehen. »Tut mir leid, dass ich dich gerade angeschrien habe, aber bei solchen Dingen verstehe ich eben keinen Spaß.«
Mark schielte zu ihr hinüber. Im Schein eines langsam vorbeifahrenden Autos sah er, dass sie kerzengerade in ihrem Sitz saß. Mit der rechten Hand hielt sie sich am Türgriff fest und umklammerte mit der linken weiterhin den Sitz.
Nachdem das andere Fahrzeug seinen Wagen passiert hatte, wurde es im Inneren wieder dunkel. Verlassen lag die Straße vor ihnen.
Er legte kurz beruhigend seine Hand auf Michelles Knie. »Nein, mir tut es leid. Ich wollte dir keine Angst machen.«
»Ist schon in Ordnung. Sieh nur zu, dass du uns heil nach Hause bringst«, erwiderte sie. Ihre Stimme bebte leicht. »Warum musste der Schneefall auch ausgerechnet heute Mittag einsetzen?«
Mark antwortete nicht, konzentrierte sich wieder auf die Straße, die nun durch einen kleinen Wald führte. Gleich würde die lang gezogene Kurve auftauchen, die nach Großfischbach führte. Zum Glück war erst kürzlich ein anderer Wagen hier entlanggefahren, sodass Mark sich an dessen Spuren im Schnee orientieren konnte. In spätestens einer halben Stunde würden diese unter frischen Flocken verschwunden sein, denn das Schneetreiben nahm weiter zu.
»Wir hätten die Besichtigung auf morgen verschieben sollen«, sagte er.
»Ja«, erwiderte Michelle mit zittriger Stimme.
Der Radiomoderator meldete Blitzeis an verschiedenen Orten. Etliche Straßen waren bereits wegen Unpassierbarkeit oder Unfällen gesperrt.
»Hoffentlich schneit es nicht mehr, wenn wir umziehen«, grummelte Mark.
»Zuerst muss alles renoviert werden. Ich glaube, die Vormieter haben im Haus geraucht«, sagte Michelle.
»Die Vermieterin behauptete, das seien Nichtraucher gewesen«, erinnerte Mark sie.
»Ich weiß, aber ich fand, dass es nach kaltem Rauch roch.«
Vor ihnen tauchte die Kurve auf. Mark bremste sanft und stotternd, um sie zu nehmen. Trotzdem schlingerte das Fahrzeug und schlitterte auf die andere Straßenseite. Die Begrenzungspfosten kamen immer näher, und Michelle sog hörbar die Luft ein. Mark glaubte regelrecht zu spüren, wie sie sich neben ihm verkrampfte. Nach einem Moment hatte er das Auto glücklicherweise wieder unter Kontrolle.
»Ich werde heilfroh sein, wenn wir zu Hause angekommen sind«, gestand Michelle.
Mark schielte zu ihr hinüber. »Ich fände es sinnvoll, wenn du dich anschnallst«, sagte er. »Jemand, der Angst hat, sollte nicht unangegurtet im Auto sitzen.«
»Du hast ja recht«, seufzte Michelle, »aber ich mag es nicht, wenn der Gurt über meiner rechten Schulter liegt. Von dieser Seite habe ich immer das Gefühl, er würde mir die Luft abschnüren.«
Mark sagte nichts darauf. Vorsichtig trat er aufs Gaspedal. Die Räder drehten kurz durch, griffen dann jedoch. Auch er würde wohl erst aufatmen, wenn der BMW sicher in der Garage parkte.
Der Schnee fiel einem Vorhang gleich vom Himmel. Rechts tauchte das Ortsschild von Großfischbach auf. Verschwommen sah man ein rechteckiges Licht, das zunehmend kleiner wurde, weil jemand den Rollladen herunterließ.
Weitere Häuser entlang der Straße waren als dunkle Schatten erkennbar. Dann lag das Dorf hinter ihnen. Eine weitere, jedoch sanftere Kurve führte nun zwischen Wiesen hindurch Richtung Elsenroth. Einen Moment später fuhren sie wieder durch einen Wald. Die Äste der Bäume waren schwer vom Schnee und hingen bedrohlich herab. An einer Stelle musste Mark einem weit herabgeneigten Ast ausweichen, der wahrscheinlich das Dach des BMW gestreift hätte.
Sie erreichten Elsenroth, wo Mark spontan beschloss, die Regeln des Kreisverkehrs zu ignorieren und direkt nach links abzubiegen. Michelle sagte nichts.
Elsenroth lag wie ausgestorben da. In der Rettungswache, die links direkt an der Straße lag, brannte Licht. Der Rettungswagen war nicht zu sehen.
Mark erreichte die Kreuzung nach Stockheim und bog vorsichtig ab. »Gleich haben wir es geschafft«, tröstete er Michelle.
Elsenroth blieb hinter ihnen zurück, während sie die leicht abschüssige Straße nach Stockheim hinunterfuhren.
Plötzlich tauchten auf der Gegenfahrbahn zwei Scheinwerfer auf. Sie näherten sich viel zu schnell und zudem schlingernd.
»Was macht der Idiot?«, schrie Michelle entsetzt.
Im gleichen Moment brach der andere Wagen aus. Er rutschte auf Marks BMW zu und touchierte das Fahrzeug vorn links.
Der Zusammenprall brachte Marks Auto aus der Spur, ließ es nach rechts auf die Böschung zudriften. Dahinter lagen die Weiden eines Bauern.
Michelle schrie, während Mark mit verbissenem Gesicht darum kämpfte, die Gewalt über sein Auto zurückzugewinnen. Er steuerte gegen, doch die Räder gehorchten nicht. Unaufhaltsam schlitterte er auf die Böschung zu, rutschte über den Rand und den Abhang hinunter.
Als der BMW mit der Schnauze aufschlug, lösten die Airbags aus. Glas splitterte, Blech kreischte. Der Wagen überschlug sich, krachte zurück auf die Räder.
Michelle hörte auf zu schreien.
Das Fahrzeug rutschte über die zugeschneite Weide, touchierte einen Baum, der zu einer kleinen Gruppe mitten auf der Wiese gehörte, und kippte auf die Fahrerseite. Dann wurde es still.
»Oh verdammt!« Harald Schumacher spürte, wie sein Wagen zur anderen Fahrbahn driftete, und er sah die Lichter des entgegenkommenden Fahrzeugs. Verzweifelt versuchte er das Auto unter Kontrolle zu bekommen, doch den Zusammenprall zu verhindern, gelang ihm nicht.
Es gab einen Ruck, als sein Mercedes den BMW touchierte. Harald registrierte, dass der andere Wagen die Böschung hinunterdonnerte, aber auf mehr konnte er nicht achten. Er hatte alle Hände voll damit zu tun, sein eigenes Auto wieder in den Griff zu kriegen.
Als es endlich stand, saß er einen Moment lang keuchend und mit schweißnassen Händen hinter dem Steuer.
Was sollte er jetzt tun? Eigentlich müsste er nachsehen, was aus dem Fahrer geworden war. Bestimmt war er verletzt und brauchte Hilfe.
Er blickte in die Spiegel, konnte den anderen Wagen jedoch nicht mehr sehen. Deshalb schnallte er sich ab und stieß die Tür auf. Eiskalte Luft strömte herein und ließ ihn frösteln. Die herabwirbelnden Schneeflocken trafen seine Hände und sein Gesicht, als er ausstieg und rasch die Tür schloss. Automatisch schlug Harald den Mantelkragen hoch und zog die Schultern etwas ein.
Er lief zur Front seines Wagens, um diese zu begutachten. Die linke vordere Ecke war eingebeult, der Scheinwerfer zerborsten.
Harald Schumacher drehte sich um. Sein Blick richtete sich auf die Stelle, an der die Scheinwerfer des verunfallten Wagens eine Baumgruppe, die ihre weiß bekleideten Arme anklagend in den Himmel zu strecken schienen, anstrahlten.
Verdammte Scheiße, wie konnte das nur passieren?, dachte er. Dann schüttelte er den Kopf. Darüber kann ich später nachdenken. Jetzt sollte ich nachsehen, ob der Fahrer Hilfe braucht.
Schon bewegten sich seine Beine durch die weiße Pracht, seine Augen weiterhin auf die Bäume gerichtet.
Nach wenigen Metern blieb er mitten auf der Straße ruckartig stehen und sah in Richtung Stockheim, den Ort, durch den er gerade gekommen war.
Hörte er von dort einen Wagen kommen? Harald war nicht ganz sicher, aber wenn es so wäre, musste er hier weg.
Er drehte sich um, lief stolpernd und rutschend zu seinem Mercedes zurück und setzte sich wieder hinter das Steuer.
Schumacher dachte an den Fahrer des anderen Wagens. Vielleicht sollte er wenigstens die Polizei über den Unfall informieren.
Nein, das ging auch nicht. Die Bullen würden ihn anweisen, am Unfallort zu bleiben. Sobald sie kamen, würden sie mit ihm reden und riechen, dass er ein Bier getrunken hatte. Vielleicht waren es auch zwei gewesen oder drei … So genau wusste er es nicht mehr. Sein Kollege Nico war Vater geworden und hatte einen ausgegeben.
Harald war klar, dass die Polizei ihm den Alkohol anlasten würde. Er würde bestimmt seinen Führerschein verlieren und auch Claudia, seine Frau. Sie war schon einmal gegangen, weil er ihrer Meinung nach zu viel trank. Erst als er ihr hoch und heilig versprach, seinen Alkoholkonsum massiv zu drosseln und nicht mehr alkoholisiert zu fahren, gab sie ihm eine neue Chance. Seit vorgestern war sie beruflich für einige Tage verreist. Deshalb dachte er, er könne heute ein paar Bier mittrinken. Claudia würde es ja nicht erfahren.
»Was soll ich jetzt nur machen?«, flüsterte er.
Noch einmal stieg er aus und blickte zu dem verunfallten Wagen hinunter, doch dort regte sich nichts.
»Komm schon, mach die Tür auf«, murmelte er. »Zeig mir, dass du Glück hattest und nur dein Wagen Schrott ist.«
Er wartete einen weiteren Moment, dann wurden ihm drei Dinge klar:
Erstens: Sein Wunsch würde sich nicht erfüllen.
Zweitens: Dem Verletzten lief die Zeit davon.
Drittens: Er hörte nun eindeutig Motorengeräusche, die sich aus Richtung Stockheim näherten.
Er musste verschwinden, und zwar so schnell wie möglich.
Harald stieg erneut ein, und da der Motor noch lief, gab er Gas. Der Wagen schlingerte hin und her, doch dann bekam er ihn unter Kontrolle. Mit gemäßigtem Tempo machte er sich davon, bestrebt, nicht noch einen Unfall zu bauen. Am besten rief er sofort seinen Freund Hilmar an. Der besaß nicht nur eine Reparaturwerkstatt, sondern war ihm mehr als einen Gefallen schuldig. Wichtig war nur, dass der Schaden behoben wäre, ehe Claudia zurückkam.
Stella Martini hasste den Winter, seine Kälte und vor allem die Unberechenbarkeit des Wetters. Als sie zur Arbeit gefahren war, lag nicht ein Flöckchen Schnee. Nun war im Radio nur noch die Rede vom ersten Schneechaos dieses Winters. Die Räumdienste kamen kaum mit der Arbeit nach, und etliche Straßen waren wegen Blitzeis oder Unfällen gesperrt.
Stella starrte durch die Frontscheibe nach draußen auf das Schneegestöber. Ihre Hände umklammerten das Steuer. Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt, während sie im Schneckentempo die Straße entlangkroch. Zum Glück war nur wenig los, und der Fahrer des Wagens hinter ihr schien ebenso unsicher oder vorsichtig zu sein wie sie selbst. Während sie, von Homburg-Bröl kommend, durch den Wald Richtung Bierenbachtal fuhr, hielt er jedenfalls gebührend Abstand. Dafür war sie ihm sehr dankbar. Drängler machten sie nervös, vor allem bei schlechten Witterungsverhältnissen.
Kurz bevor sie die Kreuzung erreichte, an der man links den Schlossberg nach Nümbrecht hinauffahren konnte, sah sie im Rückspiegel zwei Scheinwerfer auftauchen, die sich sehr schnell näherten. Viel zu schnell für ihren Geschmack. Sekunden später zog ein Mercedes an ihr vorbei. Als er wieder in die Spur zurückkehrte, die irgendein anderes Fahrzeug vor ihnen in den Schnee gefahren hatte, schlingerte der Wagen. Die Scheinwerfer beleuchteten kurz hektisch die weiße Fläche links neben der Straße. Dann hatte der Fahrer den Mercedes wieder unter Kontrolle, und er verschwand in der Dunkelheit jenseits des Schneevorhangs in Richtung Bierenbachtal.
»Einen schönen Abend noch, falls du lebend zu Hause ankommst, Idiot«, murmelte sie, während die Tachonadel ihres eigenen Wagens weiterhin bei etwa dreißig km/h zitterte. Sie kniff leicht die Augen zusammen in der Hoffnung, besser sehen zu können, wurde jedoch enttäuscht.
Ihr Wagen tauchte in das Dunkel des Waldes ein, der den Bereich rechts und links der Straße einnahm. Die mit Schnee beladenen Äste hingen weit herab, und auf der Gegenfahrbahn lag ein noch junger Baum mitten auf dem Weg und blockierte den Fahrstreifen nach Homburg-Bröl.
Langsam fuhr Stella weiter. Sie passierte die große Kreuzung nach Waldbröl und erreichte die Ortschaft Bierenbachtal. Rechts ragte die Freikirche auf, in der Licht brannte. Etliche Fahrzeuge parkten am Straßenrand, an denen sie vorsichtig vorbeifuhr.
Im Schein einer Straßenlaterne erkannte sie einen Mann, der mit einem großen, schwarzen Hund an der Leine die Straße entlangging.
Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihr, dass der andere Wagen immer noch da war. Sie setzte schon mal den linken Blinker, um an der nächsten Kreuzung nach Stockheim abzubiegen, und bremste stotternd. Der Wagen begann zu rutschen. Hektisch kurbelte sie am Lenkrad, obwohl sie wusste, dass es falsch war. Ihr Auto reagierte nicht, sondern glitt über die Fahrbahn auf ein geparktes Vehikel zu. Wenige Zentimeter von dessen Heck entfernt bekam sie ihren Wagen endlich zum Stehen.
Das Auto, das bisher hinter ihr gewesen war, fuhr vorbei. Das Licht des linken Blinkers war einen Moment lang durch den Schneevorhang erkennbar, ehe der Wagen nach Stockheim abbog.
Stella blieb einen Moment lang sitzen und atmete langsam tief ein und aus. Ihre Hände zitterten. Das war gerade noch mal gut gegangen.
»Mann, werde ich froh sein, wenn ich endlich zu Hause bin«, seufzte sie, als sie vorsichtig weiterfuhr, abbog und die ansteigende Straße nach Stockheim nahm.
Einige Fenster in den Häusern des Neubaugebietes auf der rechten Seite waren erleuchtet, aber niemand war unterwegs.
Schließlich erreichte sie Stockheim. Auch der Zweihundert-Seelen-Ort lag verlassen da. Sie fuhr über den Mini-Kreisverkehr, der eigentlich nur einen halbrunden Hubbel umrundete. Dahinter ging es über eine Linkskurve in den Ort hinein und nach wenigen hundert Metern an einer Insel vorbei auf den Ortsausgang zu.
Hinter einer weiteren Linkskurve sah sie vor sich eine angeschaltete Warnblinkanlage. Auf einer schneebedeckten Fläche entdeckte sie fast gleichzeitig die Scheinwerfer, die die Bäume auf der Wiese dort nicht waagerecht, sondern senkrecht anstrahlten.
Ein Unfall!, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie bremste den Wagen stotternd herunter und kam hinter dem Fahrzeug mit der eingeschalteten Warnblinkanlage zum Stehen. Es war das Auto, das in Bierenbachtal an ihr vorbeigefahren war.
Stella schnallte sich ab, schob die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und stieg aus. Den Motor ließ sie laufen, das Licht eingeschaltet.
Aus dem anderen Wagen stiegen zwei Leute, kamen auf sie zu. Es handelte sich um ein Paar. Beide nickten ihr ernst zu.
»Was ist passiert?«, fragte Stella.
»Ich weiß es nicht. Wir sind auch gerade erst ange…«
»Seht mal!«, sagte der Mann plötzlich und unterbrach damit seine Frau.
Alle blickten zu dem verunfallten Wagen hinunter. Im Licht der Scheinwerfer sahen sie Nebel über die weiße Fläche heranwabern. Er schimmerte grünlich – wie phosphoresziert. Die seltsame Wolke kroch zwischen den Bäumen durch auf den Wagen zu, verweilte dort kurz wie ein Hund, der an einer interessanten Sache schnuppert. Dann schob sie sich über das Auto, hüllte es komplett ein. Die Nebelwolke schien zu pulsieren, bewegte sich auf und ab wie eine atmende Brust. Schließlich löste sie sich einfach in Nichts auf.
»Wie seltsam«, entfuhr es Stella.
»Und unheimlich«, fügte die andere Frau hinzu.
»Wir sollten hinuntergehen und nachsehen, wie viele Verletzte es gibt, und dann die Rettung informieren«, schlug der Mann vor. »Bis die bei dem Sauwetter hier sind, wird es sowieso ewig dauern.«
Stella kehrte zu ihrem Wagen zurück, schaltete den Motor und das Licht aus. Die Warnblinkanlage dafür an. Aus ihrer Handtasche fischte sie eine kleine Taschenlampe, die sie jedoch erst einmal in die Jackentasche schob, weil der Mann aus dem Kofferraum seines Autos einen tragbaren Scheinwerfer holte.
Zu dritt bahnten sie sich vorsichtig, aber dennoch schlitternd und rutschend einen Weg die Böschung hinab.
Stella war froh, als sie endlich unten ankam. Sie folgte dem Paar durch den fast kniehohen Schnee zu dem auf der Seite liegenden Fahrzeug.
Der Mann leuchtete durch die zerborstene Frontscheibe ins Wageninnere. Scharfkantige, spitze Scherben ragten in den freien Raum.
»Da hängt ein Mann im Gurt. Anscheinend ist er bewusstlos«, sagte er. »Nimm mal die Lampe, Sabine!«
Nachdem diese der Aufforderung nachgekommen war, informierte der Mann per Handy den Rettungsdienst.
Inzwischen ließ der Schneefall etwas nach. Der Mond schob sich sogar hinter einer Wolke hervor.
Ein Wagen fuhr die Straße entlang. Als der Fahrer bremste, schlingerte das Fahrzeug leicht und die Scheinwerfer huschten über den Schnee, ehe er sich dann doch entfernte.
Stella hatte sich umgedreht, und als die Scheinwerfer den Schnee beleuchteten, machte sie eine Entdeckung.
»Mein Gott, ich glaube, dahinten liegt jemand!«, rief sie.
Während sie loslief, holte sie ihre Taschenlampe aus der Jackentasche. Stella rutschte aus, stürzte und verlor die Lampe. Sie rappelte sich auf, suchte hektisch im Schnee herum, bis sie das Metall zu fassen bekam. Ihre eiskalten Finger brauchten jedoch mehrere Anläufe, bis es ihnen gelang, den Schalter zu betätigen. Das Licht flammte auf.
Stella blieb stehen. Ließ den Lichtstrahl herumwandern, bis sie die Gestalt in der weißen Pracht erfasste. Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, konnte sie nicht sehen, denn der Schnee hatte den Körper zu einem Großteil bedeckt.
Stolpernd eilte Stella zu der Person, fiel neben ihr auf die Knie. Die Kälte und die Nässe drangen durch den Stoff ihrer Jeans, aber sie beachtete es nicht. Hektisch wischte sie den Schnee weg, der auf dem Körper lag. Es handelte sich um eine Frau. Stella legte ihre Hand auf deren Brustkorb.
Neben ihr tauchte Sabine auf. »Fühlen Sie etwas?«
»Ja. … Ja, ich glaube, da ist noch was. Es ist ein ganz leichtes, flatteriges Pochen. … Verdammt, wo bleibt der Rettungswagen?«
Drei Monate später
»Wir haben getan, was wir konnten. Es tut mir leid.«
Susanne Dornberg griff Halt suchend nach dem Arm ihres Mannes, der neben ihr vor dem Schreibtisch des Arztes saß. »Nein, bitte …! Es muss noch irgendeine Möglichkeit geben, eine Kapazität von irgendwo auf der Welt. Woher er oder sie kommt, spielt keine Rolle. Nicht wahr, Liebling? Am Geld soll es nicht scheitern.«
Robert Dornberg nickte. Er hatte in den vergangenen Jahren ein Vermögen in der Computerbranche gemacht und war bereit, es herzugeben, wenn man ihm dafür seinen ältesten Sohn zurückgab.
Der Arzt, ein Mann im mittleren Alter mit bereits ergrauenden Schläfen, atmete kurz durch und legte die Fingerspitzen aneinander, bevor er sagte: »Das wissen wir, Frau Dornberg, aber wir haben bereits alle verfügbaren Kapazitäten hinzugezogen. Sie sind ebenso ratlos wie wir. Die Verletzungen, Operationswunden und Brüche sind verheilt, Marks Werte normal. Es gibt eigentlich keinen Grund für diesen komatösen Zustand. Trotzdem sind alle unsere Versuche, ihn aufwachen zu lassen, gescheitert.«
»Aber Sie sagten doch, dass Marks Gehirn bei dem Unfall in keiner Weise in Mitleidenschaft gezogen worden sei«, meldete sich Robert Dornberg zu Wort.
Der Arzt nickte. »Das stimmt, und das ist genau das, was ich gerade meinte. Es gibt keinen körperlichen Grund für dieses Koma.«
»Könnte es denn sein, dass eine psychische Sperre dafür verantwortlich ist?«, wollte Frau Dornberg wissen. »Vielleicht glaubt sein Unterbewusstsein, dass er schuld sei an diesem Unfall.«
»Wir wissen nicht, ob Menschen in seinem Zustand denken können, denn leider ist die Wissenschaft noch nicht so weit, dass sie die Gedanken der Menschen sichtbar machen kann.«
»Das ist auch gut so«, knurrte Robert Dornberg.
Susanne seufzte. »Aber man muss doch irgendwas tun können.« So leicht war sie nicht bereit aufzugeben.
Dr. Bellingen schüttelte den Kopf. »Ich sage es ungern, aber ich fürchte, wir sind mit unserem Latein am Ende. Wir können nur abwarten, ob er von allein erwacht. Manche Dinge erledigen sich von selbst, wenn die Natur den Zeitpunkt für richtig erachtet. Da wir hier nichts mehr tun können, verlegen wir Mark in den kommenden Tagen in eine Spezialeinrichtung, wo …«
»Können wir ihn nicht zu Hause pflegen?«, fiel Susanne Dornberg ihm ins Wort.
»Davon rate ich Ihnen dringend ab. Zum einen wäre der Aufwand immens und die körperliche sowie die psychische Belastung für alle sehr hoch. Zum anderen hoffen wir alle darauf, dass jemand eine Lösung findet. In der Klinik haben die Kollegen Mark täglich vor Augen, was bei Ihnen zu Hause nicht der Fall wäre. Überlegen Sie sich also gut, ob Sie ihn wirklich mitnehmen wollen.«
Es klopfte, dann trat ein anderer Arzt ein. Er war noch jung, wirkte, als habe er soeben sein Studium abgeschlossen. Nach einer kurzen Begrüßung wandte er sich an seinen Kollegen. »Wenn Sie dann einen Moment Zeit hätten, würde ich gern mit Ihnen über etwas sehr Interessantes reden, Herr Kollege.«
Dr. Bellingen nickte. »Wir sind hier ohnehin gleich fertig.« Er wartete, bis der andere die Tür geschlossen hatte. Dann räusperte er sich. »Die Entscheidung, ob Sie Ihren Sohn zu Hause versorgen oder ihn in einer Spezialeinrichtung unterbringen wollen, kann ich Ihnen natürlich nicht ab…«
»Sagen Sie uns, was benötigt wird, und wir besorgen es«, fiel ihm Susanne ins Wort. »Am Geld soll es nicht liegen, und wir holen uns so viel Unterstützung, wie wir brauchen.«
Dr. Bellingen nickte. Er kannte solche Frauen, denen mit Vernunft nicht beizukommen war. Was sie brauchten, war die Erfahrung und die Einsicht, dass ihr Plan undurchführbar war.
Wenig später verließen Susanne und Robert das Arztzimmer und eilten den Flur entlang.
»Ich lasse nicht zu, dass Mark in einer sogenannten Spezialklinik vor sich hin vegetiert«, sagte Susanne. »Wir wissen doch alle, wie das läuft. Am Anfang ist er etwas Besonderes und alle schlagen sich darum, vielleicht der zu sein, der ihn weckt, aber nach kurzer Zeit ist er nur noch eine Nummer. Ich will mich selbst um ihn kümmern.«
»Du weißt nicht, was du sagst, Susi«, behauptete Robert. »Du bist aufgeregt und das verstehe ich, aber du solltest nichts übers Knie brechen. Beruhige dich erst mal und benutze deinen Verstand.«
Susanne schnaubte. »Er ist mein Sohn, Robert. Und glaub mir, in den vergangenen Monaten habe ich mich sicher tausendmal gefragt, wieso er Michelle nachgegeben hat und unbedingt eine Wohnung mieten wollte. Herrgott, die beiden hätten sich eine Villa bauen können. Am Geld hätte es nun wirklich nicht gelegen.«
»Unser Sohn wollte auf eigenen Beinen stehen und sich nicht ein Leben auf unsere Kosten aufbauen. Was ist daran verwerflich?«, fragte Robert. »Außerdem sagte die Frau, der dieses Haus gehörte, Mark habe nichts mieten, sondern Michelle das Haus als Überraschung kaufen wollen.«
Susanne schnaubte. »Genau deshalb liegt er nun in diesem Zustand da. … Aber um auf das eigentliche Thema zurückzukommen. Für mich gibt es nichts zu überlegen, denn mein Verstand sagt mir, dass ich mich um ihn kümmern sollte. Mark gehört nach Hause in seine gewohnte Umgebung. Wenn er aufwacht, dann dort.«
Dr. Bellingen saß noch einen Moment an seinem Schreibtisch, nachdem die Dornbergs hinausgegangen waren. Ihm war klar, wie es enden würde. Robert würde sich zuerst sträuben, weil sein Verstand rationaler arbeitete als der seiner emotionalen Frau. Am Ende würde er jedoch nachgeben – koste es, was es wolle.
Mit einem Seufzer erhob sich Dr. Bellingen und eilte über den Gang zu dem wesentlich kleineren Raum, in dem sein Kollege saß und sich mit Schreibkram beschäftigte.
»Was gibt es denn Interessantes?«, fragte Dr. Bellingen und kam damit sofort zur Sache.
Der junge Kollege sah auf. »Ich glaube, wir haben einen ähnlichen Fall wie den von Mark Dornberg. Der Unfall ereignete sich wenige Kilometer von dessen Unfallort entfernt und laut Polizeibericht etwa eine Stunde früher. Der Verlauf ist fast identisch. Der Patient erlitt Knochenbrüche und eine schwere Gehirnerschütterung, wurde bewusstlos und kam bisher nicht zu sich. Da der Mann nicht in unserer Klinik liegt, erfuhr ich eher zufällig davon, weil ich mit einem alten Kommilitonen ins Gespräch kam. Er behandelt den Mann und steht vor den gleichen Fragen wie wir. Interessant ist, dass die Ersthelfer auch in diesem Fall behaupteten, eine sehr merkwürdige, grünlich leuchtende Nebelwolke gesehen zu haben.« Der junge Arzt machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber vielleicht hat diese Erscheinung auch nichts zu bedeuten.« Er schob dem Chefarzt einen Zettel über den Tisch. »Das ist seine Nummer. Ich dachte mir, Sie würden gern mit ihm sprechen wollen.«
Dr. Bellingen nahm das Stück Papier an sich. »Allerdings«, sagte er.
Nur langsam drangen die Geräusche in Marks Unterbewusstsein vor. Die Stimme, die er hörte, klang fast, als sei er unter Wasser. Worte verstand er nicht. Er versuchte seine Augen zu öffnen, aber seine Lider waren schwer wie Blei. Ein leises Stöhnen entfloh seinen Lippen. Wieder und wieder versuchte er, die Augen aufzuschlagen, bis es schließlich gelang.
Er lag in einem Bett, so viel stand sogleich fest.
Mühsam drehte er den Kopf. Sein Blick wanderte über einen hohen Nachttisch, Einbauschränke und gerahmte Fotografien an der Wand dem Bett gegenüber. Was darauf abgebildet war, konnte er im Halbdunkel des eingeschalteten Nachtlichts nicht erkennen.
Auf der linken Seite machte er einen Tisch mit mehreren Stühlen vor einem Fenster aus. Dahinter war alles dunkel.
Was war geschehen?
Mark versuchte sich zu erinnern, aber sein Hirn gab nichts her. Dem Mobiliar nach zu urteilen befand er sich in einem Krankenhaus.
Hatte er einen Unfall gehabt?
Es kostete ihn etwas Mühe, seine Hände zu bewegen. Fast schien es, als habe er sie schon länger nicht mehr benutzt.
Seine Finger tasteten über das Patientenhemd. Sie fanden oberhalb des Nabels ein seltsames Gebilde, mit dem er nichts anfangen konnte. Verwirrt hob er den Stoff an und betastete das Ding. Es fühlte sich an, als sei es aus Gummi.
An seinem Handgelenk entdeckte er eine Art Elektrode. Von ihr ging plötzlich ein Piepsen aus.
Nur einen Moment später öffnete sich die Tür und das Licht wurde heller. Eine junge Frau kam herein, stellte sich neben das Bett und beugte sich über ihn.
»Sie sind wach«, stellte sie fest. Es klang nicht begeistert, eher emotionslos.
Mark sah in ihr Gesicht. Es war sehr hübsch, zeigte aber keine Regung. »Wo …?«, krächzte er.
»Sie sind in einer Klinik«, beantwortete die Frau seine unausgesprochene Frage.
»Ja?«, hörte er plötzlich gedämpft eine andere weibliche Stimme. Woher sie kam, konnte er nicht erkennen.
»Hier ist Schwester Elena. Sie sollten unbedingt zu Mark Dornberg kommen, Doktor Ostham. Er ist wach.«
»Ich komme sofort«, lautete die Antwort.
»Was …?«, begann Mark erneut. Sein Mund und seine Kehle fühlten sich staubtrocken an. Seine Zunge fuhr über die Lippen.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Schwester Elena, eilte hinaus und kehrte nur wenig später mit einem Becher zurück. »Kopfteil hochfahren!«, befahl sie.
Das entsprechende Bettteil bewegte sich aufwärts, bis Mark eine sitzende Position eingenommen hatte.
»Langsam«, mahnte die Krankenschwester, während sie den Becher an seine Lippen setzte.
Mark verschluckte sich trotzdem. Er begann zu husten, brauchte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte. Danach griff er gierig nach dem Becher. Der nächste Schluck floss problemlos durch seine Kehle.
Die Tür öffnete sich erneut. Eine junge Frau mit hellbraunen Haaren trat ein und platzierte sich an der linken Bettseite. Sie lächelte. »Ich bin Doktor Ostham und sehr erfreut darüber, Sie wach zu sehen«, sagte sie.
»Was ist passiert?«, brachte Mark mühsam hervor. Sein Blick wanderte an der jungen Frau hinunter und wieder hinauf. Er schätzte sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Ihre Augen waren blau, das Gesicht leicht rundlich wie ihr Körper. Es passte zu ihr.
»Sie hatten einen Autounfall«, gab die Ärztin Auskunft. Mit geübter Hand langte sie in seinen Ausschnitt und befestigte eine Elektrode auf Marks Brust. »Wie fühlen Sie sich?«
Es piepste einmal leise.
»Schwindelig und irgendwie … Ich weiß nicht.«
Wieder piepste es. Dann entfernte Dr. Ostham die Elektrode. »Sehr schön«, lobte sie nach einem Blick auf das Gerät. »Alle Werte sind normal. Doktor Müller wird begeistert sein.«
Die junge Ärztin eilte hinaus. Elena wartete, bis Mark den Becher geleert hatte, ehe sie dem Kopfteil des Bettes befahl, sich auf die Dreißig-Grad-Position abzusenken.
Mark runzelte die Stirn. Seine Oma war letztes Jahr in der Klinik gewesen, und er wusste genau, dass man das Bett nur mit einer Fernbedienung hoch- und runterfahren konnte.
»Seit wann gibt es denn solche Luxusbetten im Krankenhaus?«, erkundigte er sich bei Schwester Elena.
»Schon seit einer Weile. … Sie sollten sich noch ein wenig ausruhen«, antwortete diese ausweichend, ehe sie hinausging.
Mark schloss die Augen. Wieso erinnerte er sich an den Krankenhausaufenthalt seiner Oma, nicht aber an den Unfall, der doch vor wesentlich kürzerer Zeit passiert war?
Ihm fiel dieser seltsame Stöpsel in seinem Bauch ein.
»Kopfteil hochfahren«, befahl er.
Nachdem er aufrecht saß, schob er die Bettdecke nach unten und das Hemd nach oben.
Der Stöpsel sah ein bisschen aus wie der Verschluss an einem Rettungsring. Rings um das Ding herum entdeckte er eine Menge Narben. Sie waren jedoch nicht frisch, wie er es vermutet hätte, sondern schienen vor längerer Zeit verheilt zu sein. Das ließ den Schluss zu, dass dieser Stöpsel vielleicht zur künstlichen Ernährung diente. Damit aber kannte Mark sich nicht aus.
Er strich über die Narben. Wie lange war er wohl ohne Bewusstsein gewesen?
Nachdenklich schob er das Patientenhemd wieder nach unten, zog die Decke über sich und ließ das Kopfteil in die angenehmere Position zurückfahren. Dann schloss er die Augen, bis ein Klopfen an der Tür ihn dazu brachte, sie abermals zu öffnen.
Ein Mann in einem weißen Kittel platzierte sich mit einem Lächeln auf den Lippen am Fußende des Bettes.
»Guten Morgen. Ich bin Doktor Müller, Ihr behandelnder Arzt«, stellte er sich vor. »Ich freue mich sehr, dass Sie endlich wieder bei uns sind. Wie fühlen Sie sich?«
Mark wies das Kopfteil an, nach oben zu fahren. Die Nacht war also inzwischen vorbei. »Soweit recht gut. Wie lange bin ich schon hier?«
Dr. Müller ignorierte die Frage. »Erinnern Sie sich an den Unfallhergang?«
Mark schüttelte den Kopf, ehe er ihn gegen das Kissen lehnte. »Nein, aber ich würde gern alles darüber erfahren, was Sie wissen.«
»Alles zu seiner Zeit«, riet Dr. Müller. »In den kommenden Tagen werden wir Untersuchungen vornehmen, die Klarheit über einige Dinge bringen sollten.«
»Warum erinnere ich mich nicht an den Unfall?«, wollte Mark wissen.
»Das passiert manchmal, aber Sie sollten sich deswegen keine Gedanken machen. In den allermeisten Fällen kehrt die Erinnerung nach kurzer Zeit zurück.«
Er wünschte Mark einen schönen Tag, ehe er hinausging.
Im gleichen Moment kam ein Pfleger herein. Auf seinem Namensschild stand »Ben«.
Er grinste. »Morgen, Herr Dornberg. Es ist toll, Sie wieder unter den Lebenden zu finden. Ich bin Ben.«
Der Pfleger presste ein kleines Gerät gegen seine Schläfe, bis dieses piepste.
»Was tun Sie da?«, fragte Mark.
»Ich messe Ihre Vitalwerte«, entgegnete der Angesprochene und steckte das Gerät in die Kitteltasche.
»Können Sie mir irgendetwas über meinen Unfall sagen?«, fragte Mark.
»Ich glaube, der Chefarzt möchte, dass Sie sich selbst erinnern. Deshalb wäre es nicht fair, wenn ich es Ihnen erzähle, oder?«, kam von Ben die Gegenfrage.
»Vielleicht würden mir ein paar Hinweise auf die Sprünge helfen. Verraten Sie mir wenigstens, wann ich diesen Unfall hatte?«
Ben war inzwischen zur Tür gegangen. Dort blieb er stehen, die Hand auf der Klinke, und drehte sich noch einmal zu ihm um. »Im Winter«, antwortete er.
»Welche Jahreszeit haben wir jetzt?«
»Es ist Frühling«, erwiderte Ben, ehe er hinausging.
Frühling! Er war also etliche Monate ohne Bewusstsein gewesen. Das erklärte, wieso seine Verletzungen verheilt waren und sie ihn künstlich ernährt hatten.
Mit geschlossenen Augen versuchte Mark, sich an die Ereignisse zu erinnern, doch sein Hirn gab keine Informationen her. Er wusste, dass er Eltern besaß, eine Großmutter und einen Bruder namens Louis, der jünger war als er. Der Tag des Unfalls war allerdings in Schwärze gehüllt.
Mark lächelte. Seine Familie würde ihm helfen. Sobald sie ihn besuchten, würde er sie nach Einzelheiten fragen. Ganz sicher kehrte dann auch seine Erinnerung zurück.
Diese Gewissheit beruhigte ihn, sodass er einschlief.
Das Ärzte- und Pflegeteam hatte sich im Besprechungsraum am ovalen Tisch niedergelassen. Dr. Müller hatte ausnahmslos alle zusammengetrommelt. Selbst jene, die eigentlich Nacht- oder Spätdienst hatten oder sich im Urlaub befanden, mussten in die Klinik kommen.
»Mark Dornberg ist aufgewacht«, berichtete der Chefarzt. »Er ahnt bisher jedoch nicht einmal, was seit seinem Unfall geschehen ist. Unsere Aufgabe wird nun darin bestehen, ihn Schritt für Schritt an die neue Situation heranzuführen. Wie schnell, das bestimme ich abhängig von Marks psychischer Situation. Informationen erhält er deshalb nur von mir, verstanden? Wir dürfen dennoch nicht vergessen, dass es wichtig ist, alles über den Unfall und die unmittelbar folgenden Ereignisse herauszufinden.«
»Er stellt Fragen«, sagte Elena. »Im Moment können wir uns zwar noch herausreden, aber wie lange noch?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber es ist wichtig, dass er noch nicht die ganze Wahrheit erfährt.«
»Warum nicht?«, warf Dr. Ostham ein. »Er hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.«
Dr. Müller nickte. »Da will ich Ihnen nicht widersprechen, werte Kollegin, aber wir müssen behutsam vorgehen. Ich habe deshalb beschlossen, das Team, das sich um ihn kümmern wird, auf ein Minimum an Personen zu beschränken. Natürlich werde ich persönlich die medizinischen Dinge übernehmen. Pflegerisch werden sich Elena, Yeleni und Ben um ihn kümmern.«
Der Pfleger und die beiden Krankenschwestern nickten nur.
Der Blick des Chefarztes ruhte kurz auf jeder einzelnen der genannten Personen, bevor er sagte: »Vermerken Sie jede, wirklich jede, noch so unbedeutend erscheinende Veränderung, damit ich diese in meiner Gesprächstherapie berücksichtigen kann. Vor allem aber sind Sie alle …« Er blickte nun nacheinander alle Anwesenden an. »… von diesem Moment an zu absolutem Stillschweigen verdonnert. Ich will keinesfalls, dass die Presse davon Wind bekommt. Niemand darf im Moment erfahren, dass Dornberg erwacht ist. Und wenn ich niemand sage, dann schließt das auch seine Angehörigen mit ein. Verstanden?«
»Finden Sie das nicht unfair?«, fragte Dr. Ostham.
»Ich habe Gründe, warum ich so und nicht anders entschieden habe. Ist das für Sie ein Problem, Frau Ostham?«
Die junge Ärztin schüttelte den Kopf.
»Gibt es eine Vermutung, warum er plötzlich aufgewacht ist?«, erkundigte sich ein Pfleger, der Dr. Ostham gegenübersaß. Auf seinem Namensschild stand »Jonas«.
»Im Augenblick nicht. Wir hoffen aber, dass er sich bald an Einzelheiten des Unfalls erinnert. Vielleicht gibt es da eine Abweichung zu den anderen Fällen.«
»Was ist mit den anderen Opfern?«, fragte eine ältere Schwester. »Haben Sie Kontakte zu der Klinik, in die sie verlegt wurden, und gibt es die Hoffnung, dass auch sie aufwachen könnten?«
Dr. Müller erhob sich. »Die Versammlung ist beendet«, sagte er, ohne auf die Frage einzugehen.
Stühle wurden gerückt, ehe die meisten den Raum verließen. Nur Dr. Ostham blieb.
»Das ist der aufregendste Tag meines Lebens«, gestand sie und trat auf Dr. Müller zu.
Dieser lächelte und legte der jungen Ärztin väterlich die Hand auf die Schulter. »Nicht nur für Sie. Uns stehen weitere aufregende Tage und Monate bevor. Es muss uns nur gelingen, die Sensation lange genug geheim zu halten.«
Am Tag des Erwachens fühlte Mark sich noch sehr schlapp. Immer wieder schlief er ein. Am Mittag brachte ihm eine hübsche Schwester, auf deren Namensschild »Yeleni« stand, einen Teller Suppe und ein kleines Töpfchen mit drei Tabletten darin. Er schluckte die Pillen spülte nach mit dem Wasser, das die Schwester ihm reichte. Dann wünschte sie ihm guten Appetit und verließ das Zimmer.
Mark löffelte vorsichtig die Suppe, die einen für ihn undefinierbaren Geschmack hatte, und legte sich wieder hin.
»Wurde meine Familie schon darüber benachrichtigt, dass ich wach bin?«, fragte er, als Schwester Yeleni eine halbe Stunde später zurückkehrte.
»Das wird alles zu seiner Zeit geschehen«, antwortete sie nur. Sie legte einen Arm um seine linke Schulter, stützte seinen Kopf und zog das Kissen unter ihm weg. Sie schüttelte es auf, hob seinen Oberkörper auf die gleiche Weise an wie zuvor und schob es wieder an seinen Platz zurück.
Mark ließ sie gewähren. Er verspürte eine bleierne Müdigkeit, und die Augen fielen ihm zu, kaum dass sein Kopf das Kissen wieder berührte.
Als er das nächste Mal erwachte, dunkelte es bereits, und er war enttäuscht, dass seine Familie nicht gekommen war, um ihn zu besuchen. Sein Blick wanderte zu dem Nachtschrank rechts neben seinem Bett. Ein Telefon entdeckte er nicht, aber im Zeitalter des Handys war das auch nicht nötig.
Am Abend brachte Yeleni ihm Brot, Butter und Streichwurst, dazu einen kleinen Becher mit zwei Tabletten darin.
Das Brot schmeckte pappig, die Butter und der Aufstrich hatten eine Konsistenz, die ihn kurz darüber nachdenken ließ, ob da jemand heimlich Sand untergemischt hatte.
Nach dem Abendessen überkam ihn erneut die Müdigkeit, und er schlief bis zum nächsten Morgen.
Er erwachte erst, als Elena kam. Sie setzte ein Gerät in seine linke Armbeuge und drückte auf einen Knopf. Es piepste. Mark verspürte einen Einstich. Auf dem kleinen Display des Geräts huschten nun farbige Linien hin und her. Einmal blieb ein rotes Licht stehen, einen Moment später ein blaues, danach ein gelbes. Schließlich erfolgten drei Pieptöne hintereinander.
»Was haben Sie gemacht?«, fragte Mark.
Elena lächelte. »Das Gerät hat Ihr Blut untersucht und die Werte an Doktor Müller weitergeleitet«, erklärte sie.
Etwa eine Stunde später tauchte der Chefarzt auf. »Wie fühlen Sie sich heute?«
»Schon besser«, erwiderte Mark. »Haben Sie meine Familie informiert?«
»Das freut mich, dass es Ihnen besser geht. Es wird nun jeden Tag ein Stück bergauf gehen. Haben Sie die Suppe und das Brot gut vertragen?«
Mark ließ das Kopfteil des Bettes in die Höhe fahren. Sein Blick ruhte auf Dr. Müller. »Haben Sie mit meiner Familie gesprochen?«
»Ihre Familie wird kommen, wenn wir es für richtig halten. Zuerst einmal sind Sie wichtig.«
Er zog ein kleines Gerät aus der Tasche, das aussah wie ein Tischrechner. Nachdem er etwas eingetippt hatte, piepste das Gerät.
»Ihre Blutwerte sind bereits recht gut«, lobte der Arzt. »Noch heute wird Ihr Zugang entfernt. Den brauchen Sie nicht mehr, da Sie allein essen können. Ihre Vitalwerte sehen ebenfalls sehr gut aus. Wenn Sie wollen, wird Ben Ihnen am Nachmittag helfen, zum ersten Mal Ihr Bett zu verlassen. Danach beginnen wir mit den Gesprächen.«
»Ich will meine Familie sehen«, sagte Mark, doch der Arzt wehrte ab.
»Nicht zu diesem Zeitpunkt. Glauben Sie mir, es wäre zu viel für Sie. Wir sehen uns dann später.«
Mark schnaubte wütend. »Ich rede kein Wort mit Ihnen, wenn Sie nicht dafür sorgen, dass meine Familie kommt.«
Dr. Müller, der schon fast an der Tür war, drehte sich um. Er musterte Mark, ehe er nickte. »Ich sehe zu, was ich tun kann.«
Vor dem Mittagessen kam Ben herein. Er fuhr Mark mit dem Bett zum OP, wo dieser eine kurze Narkose erhielt. Als er daraus erwachte, ertasteten seine Finger am Bauch, dort, wo der Gummistopfen gewesen war, einen Verband.
Der Pfleger holte ihn wieder ab und Mark schlief bis zum Nachmittag.
Etwas später kehrte Ben zurück. Er grinste. »So, dann will ich Sie mal auf Ihre Beine stellen.«
Mark musterte ihn. Ben war ein Hüne, der stark genug aussah, um ihn notfalls zurück ins Bett tragen zu können, falls er umfiel. Der Gedanke beruhigte ihn.
Ben öffnete den Schrank, der sich rechts befand. Mark sah dort eine Reisetasche am Boden stehen. Ein schabendes Geräusch entstand, als Ben etwas von einem der Kleiderbügel, die im Inneren hingen, nahm.
»Jogginghose und Shirt, die bequemste Kleidung für einen Krankenhausaufenthalt. Damit Sie nicht weiterhin dieses Patientenhemd tragen müssen. … Bett abrollen!«, befahl Ben.
Mark spürte, wie sich erst das Kopfteil aufrichtete, bis er saß, ehe sich die Matratze unter ihm Richtung Fußende bewegte. Es fühlte sich seltsam, aber nicht unangenehm an. Wie auf einem Fließband.
In einem seitlichen Bettpfosten war ein kleines, rotes Licht integriert. Es piepste kurz, als Marks Körper diese Schranke passierte. Seine Beine berührten den Boden, das Unterteil des Bettes blieb stehen.
Mark fühlte, wie ihn Schwindel erfasste.
»Langsam tief ein- und ausatmen«, befahl Ben.
Mark gehorchte, und der Schwindel ließ nach.
Der Pfleger half ihm beim Umziehen, ehe er dem Bett den Befehl erteilte, sich weiter aufzurichten.
Wieder fühlte Mark, wie sich das Bett bewegte und ihn langsam in eine fast stehende Position brachte.
»Verdammt praktisch«, lobte er. »Seit wann gibt es solche Betten?«
»Schon eine ganze Weile«, erwiderte Ben.
Die ersten Schritte fielen sehr wackelig aus.
»Man merkt, dass ich seit ein paar Monaten nicht mehr gelaufen bin«, seufzte Mark, während er auf den Pfleger gestützt langsam zum Fenster, das mit einem hellgrauen, leicht lichtdurchlässigen, aber sehr fest wirkenden Rollladen verschlossen war, ging.
»Das wird wieder«, antwortete Ben.
»Können wir den Rollladen hochziehen und das Fenster öffnen? Etwas frische Luft kann sicher nicht schaden.«
Ben schüttelte den Kopf. »Heute nicht, vielleicht morgen.«
Sie drehten um. Ben führte ihn bis zur Tür, von dort noch einmal bis zum Fenster und erklärte: »Ich denke, das reicht für den ersten Ausflug. Wir wollen schließlich nicht, dass Sie sich übernehmen«, sagte er, während er Mark zum Bett begleitete. Dessen Proteste überhörte er geflissentlich. »Wenn Sie mal aufs Klo müssen, sagen Sie Bescheid …«
»Bescheid«, rief Mark sofort, aber Ben schien den Witz nicht zu kennen, denn er sah ihn nur seltsam an.
»Das war ein Scherz, aber ich würde gern mal ins Bad gehen«, klärte Mark ihn auf. »Übrigens hätte ich nichts dagegen, wenn wir du zueinander sagen. Schließlich dürften wir ungefähr gleich alt sein.«
Ben nickte. »Meinetwegen.« Er begleitete Mark, doch an der Tür wimmelte dieser ihn ab.
»Ich weiß, dass das dein Job ist und dass du jeden Tag neben Leuten stehst, die pinkeln müssen, aber ich wäre dabei lieber allein. Ich kann nicht, wenn jemand danebensteht.«
»Okay, aber schließ nicht ab und schrei, falls es dir übel oder schwindelig wird«, ordnete Ben an.
Mark nickte.
Als er wenige Minuten später wiederauftauchte, stand Ben an der Wand, die der Tür gegenüber war.
»Alles klar?«, fragte er. Als Mark nickte, grinste er.
Nach dem Abendessen kam Ben erneut. Er half ihm in einen Rollstuhl und fuhr ihn hinaus. Wenige Schritte von Marks Zimmer entfernt befand sich das Stationszimmer, das eine große, gläserne Front besaß. Er sah Dr. Ostham dort an einem Schreibtisch sitzen und auf einen Computerbildschirm blicken. Sie bemerkte die beiden nicht.
Auf dem Flur war es sehr still. Kein Mensch war zu sehen. Aus keinem Zimmer drangen irgendwelche Geräusche. Mark kam es so vor, als sei er der einzige Patient hier. Ihm fiel auf, dass es nicht einmal nach Desinfektionsmitteln roch.
Dr. Müllers Sprechzimmer befand sich auf der anderen Seite des Gebäudes. Es war ein weiter Weg bis dorthin.
Ben klopfte, wartete auf die Aufforderung, einzutreten, und schob den Rollstuhl anschließend in das Büro.
Der Arzt saß hinter seinem großen Schreibtisch, in den ein Computer eingelassen war. Davor standen zwei lederne Sessel, von denen Ben nun auf Anweisung des Chefarztes einen zur Seite stellte, damit er Mark an diesen Platz schieben konnte. Durch die fast geschlossenen Lamellenvorhänge an dem großen Fenster drang nur wenig Tageslicht herein. Die Deckenbeleuchtung war eingeschaltet.
Nachdem er Mark abgestellt hatte, ging Ben hinaus.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte der Arzt. »Wie war Ihr erster kleiner Ausflug?«
»Mir geht es ausgezeichnet und mein kleiner Ausflug, wie Sie es nennen, hat tatsächlich gut geklappt. … Wann kommt meine Familie?«
»Ich konnte sie bisher nicht erreichen«, erwiderte Dr. Müller. »Möglicherweise sind sie verreist. Schließlich wusste niemand, dass Sie ausgerechnet jetzt erwachen würden. … Aber nun zu Ihnen. Es ist für Ihre Behandlung wichtig, dass wir so viel wie möglich über den Unfallhergang in Erfahrung bringen«, sagte er. »Bitte versuchen Sie sich zu erinnern.«
Mark brauchte nicht lange nachzudenken. »In meinem Kopf ist alles leer. Ohne die Info der Ärztin wüsste ich nicht einmal, dass ich einen Unfall hatte.«
Der Chefarzt stützte seine Ellbogen auf den Tisch, legte dann die Hände wie zum Gebet aneinander und die Zeigefinger gegen die Lippen. »Hm«, machte er.
Mark beugte sich etwas vor, fixierte den Mann mit den grauen Schläfen. »Warum ist es so wichtig, dass ich mich erinnere? Gab es einen Unfallgegner? Einen Verletzten? Beging der andere Fahrerflucht? Wenn ja, wäre es dann nicht Sache der Polizei, mich zu befragen?«