Hamilton, Peter F. Die Besessenen

PIPER

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PIPER

 

Übersetzung aus dem Englischen von Axel Merz

 

ISBN 978-3-492-97693-0

August 2017

© Peter F. Hamilton 1996

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Naked God, Part 1«, PanMacmillan, London 2012

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Erstmals erschienen bei Bastei Lübbe AG, Köln 2001

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Thinkstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1. Kapitel

Jay Hilton schlief tief und fest, als unvermittelt jede einzelne elektrophosphoreszierende Zelle in der pädiatrischen Abteilung in maximaler Intensität aufleuchtete. Jays Traum von ihrer Mutter zersprang wie eine Statue aus buntem Glas, die von einer Bö aus hartem weißem Licht erfaßt wird, und farbenfrohe Splitter taumelten durch das Gleißen davon.

Jay blinzelte verschlafen in das grelle Licht und hob verwirrt den Kopf. Ringsum verhärtete sich der vertraute Geruch der pädiatrischen Station. Sie war hundemüde. Es war ganz bestimmt noch nicht Morgen. Ein gewaltiges Gähnen brach sich Bahn. Ringsum erwachten die anderen Kinder in der gleichen verschlafenen Konfusion. Holomorphe Sticker reagierten auf den Einfall von Licht, und durchsichtige Cartoongestalten erhoben sich, um ihre spitzbübischen Possen zu reißen. Animatische Puppen gurrten mitfühlend, als sie von den Kindern trostsuchend in den Arm genommen und gedrückt wurden. Dann glitt die Tür am anderen Ende der Station auf, und die Schwestern eilten herein.

Ein Blick auf das bröckelige Lächeln in ihren Gesichtern war alles, was Jay brauchte. Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht. Sie erschauerte. Es waren doch wohl nicht die Besessenen? Bestimmt nicht hier?

Die Krankenschwestern fingen an, die Kinder aus den Betten zu holen und durch den Mittelgang zu den Türen zu bringen. Murren und ängstliche Fragen wurden von den Erwachsenen entschlossen ignoriert.

»Es ist eine Feuerübung«, sagte der Oberpfleger schließlich. »Kommt weiter, schnell, Kinder. Ich möchte, daß ihr die Station verlaßt und in die Aufzüge steigt. Pronto, pronto.« Er klatschte laut in die Hände.

Jay warf die dünne Bettdecke zurück und sprang aus dem Bett. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr langes Baumwollnachthemd über die Knie herabgefallen war und straff hing. Jay stand im Begriff, sich zu den anderen zu gesellen, die durch den Mittelgang nach draußen rannten, als sie vor dem Fenster Bewegung im hellen Licht erkannte. Jeden Morgen seit ihrer Ankunft hatte Jay vor dem Fenster gesessen und ernst und feierlich auf den Mirchusko mit seiner atemberaubenden grünen Wolkenlandschaft gestarrt. Die kleinen Lichtpunkte, die jetzt dort draußen umherschwirrten, hatte sie noch nie gesehen.

– Gefahr.

Das lautlose mentale Wort wurde so schnell ausgestoßen, daß Jay es fast überhört hätte, obwohl das Gefühl von Haile unmißverständlich war. Sie blickte sich um in der Erwartung, daß das junge Kiint auf sie zupolterte. Doch es war nichts zu sehen außer den aufgeregten Krankenpflegern und den Kindern, die von ihnen durch den Gang nach draußen gedrängt wurden.

Jay wußte ganz genau, daß sie nicht tat, was man von ihr erwartete, als sie zu dem großen Fenster tappte und ihre Nase dagegenpreßte. Ein schlankes Band winziger blau-weißer Sterne hatte sich um Tranquility geschlungen. Sie alle waren in Bewegung und verringerten beständig den Abstand zum Habitat. Jetzt erkannte Jay auch, daß es keine wirklichen Sterne waren. Sie waren länglich. Flammen. Brillante winzige Flammen. Hunderte von ihnen.

– Meine Freundin. Meine Freundin. Angst Qual Leben verlieren.

Das war jetzt ganz definitiv Haile, und sie strahlte reichlich Furcht aus. Jay trat einen Schritt vom Fenster zurück und bemerkte die dunstige Kondensation, wo Gesicht und Hände das Material berührt hatten. »Was ist denn überhaupt los?« fragte sie in die leere Luft hinein.

Draußen vor dem Habitat materialisierte eine Kaskade weiterer Flammen. Expandierende Knoten erblühten scheinbar willkürlich im All ringsum. Jay ächzte bei dem Anblick auf. Es waren Tausende von ihnen, ineinander verschlungen und verwoben. Ein wunderschöner Anblick.

– Freundin! Freundin!

– Evakuierungsprozedur eingeleitet.

Jay runzelte die Stirn. Die zweite mentale Stimme war nur ein schwaches Echo gewesen. Sie meinte, eine der erwachsenen Kiint erkannt zu haben, wahrscheinlich Lieria. Jay war Hailes Eltern nur ein paarmal begegnet. Sie waren schrecklich und furchteinflößend, obwohl sie freundlich zu Jay gewesen waren.

– Designation. Zwei.

– Nein. Die erwachsene Stimme antwortete entschlossen. – Verboten.

– Designation.

– Du darfst nicht, Kind. Sorge spüren für alles menschliche Leiden, doch Gehorsam erforderlich.

– Nein. Freundin. Meine Freundin. Designation. Zwei. Bestätigung.

Jay hatte noch nie eine derartige Entschlossenheit bei ihrer Freundin Haile gespürt. Es machte ihr Angst. »Bitte?« fragte sie nervös. »Was ist denn überhaupt los?«

Ein Schauer aus Licht schoß durch das Fenster. Es war, als hätte sich hinter Mirchuskos Horizont eine Sonne erhoben. Der gesamte Raum war mit einem Mal lebendig vor hell erstrahlenden Blumen aus Feuer.

– Evakuierung eingeleitet, sagte die Stimme der erwachsenen Kiint.

– Designiert.

Jay spürte einen Schwall schuldbewußten Triumphs von ihrer Freundin. Sie wollte hinausreichen und sie trösten, denn sie erkannte an der Reaktion der Erwachsenen, daß Haile wegen irgend etwas in mächtigen Schwierigkeiten steckte. Statt dessen konzentrierte sie sich darauf, ein strahlendes Lächeln im Herzen ihres Bewußtseins zu bilden, in der Hoffnung, daß Haile es auffangen würde. Und dann geriet die Luft ringsum in Wallung, als wäre Jay in einer Brise gefangen.

»Jay!« rief einer der Krankenpfleger. »Los, hierher mit dir, Süße! Du …«

Das Licht rings um Jay verblaßte, zusammen mit den Geräuschen der Station. Sie vernahm gerade noch den verblüfften Schreckensruf des Pflegers, und dann verwandelte sich die Brise in einen Sturm, der an ihrem Nachthemd zerrte und riß und ihr die Haare zerzauste. Rings um Jay herum bildete sich eine Art grauen Nebels, eine perfekte sphärische Blase mit Jay im genauen Zentrum. Nur, daß sie keinerlei Feuchtigkeit in der Luft verspürte. Der Nebel wurde rasch dunkler, und die Station verblaßte zu schwachen spektralen Schemen. Dann dehnten sich die Ränder mit einer so furchterregenden Geschwindigkeit aus, daß Jay unwillkürlich schrie. Die Ränder verschwanden, und mit ihnen jede Spur der Krankenstation. Jay war ganz allein in einem Weltraum ohne Sterne. Und sie fiel.

Sie legte die Hände an den Kopf und schrie erneut, so laut sie nur konnte. Das grauenhafte Entsetzen wurde nicht weniger. Jay hielt inne, um nach Luft zu schnappen … und in diesem Augenblick erschienen die Ränder wieder, wie aus dem Nichts. Rasten so schnell aus jeder Richtung heran, daß sie instinktiv wußte, daß der Aufprall sie zerschmettern würde. Sie schloß angstvoll die Augen und wimmerte leise: »Mami!«

Dann kitzelte etwas ihre Sohlen, ähnlich einer steifen Feder, und unvermittelt stand sie auf festem Boden. Jay wedelte mit den Armen auf der Suche nach ihrem Gleichgewicht und kippte nach vorn. Sie landete hart auf einer Art kaltem Boden, noch immer mit fest verschlossenen Augen. Die Luft war wärmer als noch Sekunden vorher in der Pflegestation, und um einiges feuchter. Und sie roch eigenartig. Rosiges Licht spielte über ihre Lider.

Jay kniete noch immer auf allen Vieren und riskierte einen hastigen Blick, während sie Luft holte, um erneut zu schreien. Der Anblick, der sie begrüßte, war so unglaublich, daß ihr der Atem stockte. »Ach du lieber Gott«, war alles, was sie schließlich hervorbrachte.

 

Ohne viel Begeisterung leitete Joshua den ZTT-Sprung ein. Seine niedergedrückte Stimmung verband ihn mit der gesamten Besatzung und den Passagieren der Lady Macbeth (zumindest denen, die nicht in Null-Tau lagen). So viel erreicht zu haben, nur, um sich den endgültigen Triumph doch noch entreißen zu lassen.

Außer vielleicht …

Nachdem der ursprüngliche Schock über das Verschwinden Tranquilitys ein wenig abgeklungen war, hatte auch Joshuas Angst nachgelassen. Er sorgte sich nicht mehr um Ione oder sein Kind. Tranquility war nicht zerstört worden, auch wenn das nur ein kleiner Trost war. Weil es logischerweise bedeutete, daß Tranquility von den Besessenen übernommen und aus diesem Universum herausgerissen worden war.

Joshua konnte es einfach nicht glauben.

Doch seine Intuition war alles andere als unfehlbar. Vielleicht wollte er es einfach nicht glauben. Tranquility war sein Zuhause. Die emotionale Bindung an das Habitat und seinen kostbaren Inhalt war gewaltig. Die Reaktion ist immer die gleiche, wenn man jemandem erzählt, daß alles ausgelöscht wurde und aufgehört hat zu existieren, was ihm lieb und teuer gewesen ist. Wie auch immer. Die Unsicherheit machte ihm genauso zu schaffen, und er fühlte sich genauso elend wie alle anderen an Bord, wenngleich aus anderen Gründen.

»Sprung bestätigt«, sagte er. »Samuel, Sie sind an der Reihe.«

Die Lady Macbeth war einhunderttausend Kilometer über Avon in einer von Trafalgars festgelegten Austrittszonen materialisiert. Der Transponder signalisierte bereits laut und deutlich ihre Autorisierungskodes, doch irgendwie beschlich Joshua das Gefühl, daß es diesmal nicht genug sein könnte. Nicht, wenn man mitten in einer Krise wie dieser unerwartet direkt über der wichtigsten konföderierten Militärbasis herausplatzt.

»Ich orte Raumverzerrungsfelder, die auf uns gerichtet werden«, meldete Dahybi. »Ich glaube, es sind fünf von ihnen.«

Der Bordrechner warnte Joshua, daß Zielradar auf den Rumpf der Lady Macbeth aufgeschaltet wurde. Als er die Sensoren aktivierte, die aus ihren Rumpfnischen ausgefahren waren, entdeckte er drei Voidhawks und zwei konföderierte Fregatten auf Abfangkurs. Das Strategische Verteidigungskommando bombardierte ihn mit einer ganzen Breitseite von Fragen. Er warf einen Seitenblick zu dem Edeniten, während er sich daran machte, per Datavis eine Antwort zu übermitteln. Samuel lag bäuchlings auf seiner Beschleunigungsliege und hielt die Augen geschlossen, während er sich mit anderen Edeniten auf dem Asteroiden unterhielt.

Sarha drehte sich um und grinste ihn phlegmatisch an. »Was glaubst du, wieviel Orden werden sie jedem von uns verleihen?«

»Oho«, grunzte Liol. »Wie viele es auch sein mögen, wir kriegen sie möglicherweise erst posthum. Ich schätze, eine der Fregatten hat in diesem Augenblick entdeckt, daß unser Antimaterieantrieb ein wenig radioaktiv strahlt.«

»Großartig!« brummte Sarha.

Monica Foulkes gefiel der Tonfall der Unterhaltung überhaupt nicht; soweit es die Konföderation betraf, wußte die Navy lediglich von A1 Capones Organisationsschiffen, die Antimaterie einsetzten. Sie hatte Mzu nicht nach Tranquility zurückbringen wollen, und sie hatte ganz bestimmt keine Lust verspürt, nach Trafalgar zu fliegen. Doch in der allgemeinen Diskussion, die sich an die Entdeckung von Tranquilitys Verschwinden angeschlossen hatte, war ihre Stimme nicht gerade die ausschlaggebende gewesen. Die ursprüngliche Übereinkunft zwischen ihr und Samuel hatte sich in dem Augenblick so gut wie erledigt, in dem sie an der Beezling angedockt hatten.

Und dann hatte dieser Calvert darauf bestanden, daß der Leitende Admiral entscheiden sollte, was mit Mzu, Adul und ihm selbst zu geschehen hatte. Monica hatte nicht ein einziges rationales Argument dagegen vorbringen können. Insgeheim gestand sie sich ein, daß vielleicht die einzige sichere Verteidigung gegen den Bau weiterer Alchimisten darin bestand, einen einstimmigen Embargovertrag zwischen den Großmächten auszuhandeln. Schließlich funktionierte ein ähnlicher Vertrag auch beim Einsatz von Antimaterie, jedenfalls weitgehend.

Nicht, daß diese Besorgnis im Augenblick viel gezählt hätte. Wie bei neunzig Prozent ihrer bisherigen Mission, so lag auch jetzt der kritische entscheidende Faktor außerhalb ihrer Kontrolle. Sie konnte nichts weiter tun, als sich dicht bei Mzu zu halten und sicherzustellen, daß das primäre Ziel, jeglichen Technologietransfer zu verhindern, nicht verletzt wurde. Obwohl sie wahrscheinlich auch hier schon versagt hatte, indem sie den Einsatz gegen die Organisation geduldet hatte. Ihr Abschlußbericht würde wohl recht dürftig ausfallen.

Monica warf Samuel einen sciüefen Blick zu, der noch immer schweigend dalag und die Stirn in konzentrierte Falten gelegt hatte. Sie sandte ein lautloses Stoßgebet hinaus zum allgemeinen Geplapper auf den Kommunikationskanälen rings um die Lady Macbeth, daß die Navy wenigstens in diesem Fall ein wenig Besonnenheit und Toleranz zeigen möge.

Trafalgars strategisches Verteidigungskommando befahl Joshua, seine gegenwärtige Höhe zu halten, und verweigerte ihm einen Anflugvektor, bis der Status der Lady Macbeth geklärt war. Die Patrouillenschiffe näherten sich bis auf eine vorsichtige Distanz von einhundert Kilometern und bezogen dann eine diamantförmige Beobachtungsformation. Das Zielradar blieb unablässig auf die Lady gerichtet.

Admiralin Lalwani persönlich redete mit Samuel, und sie war unfähig, ihr Staunen über das zu verbergen, was Samuel zu berichten hatte. Angesichts der Tatsache, daß sich an Bord der Lady Macbeth nicht nur Dr. Alkad Mzu und andere befanden, die das Prinzip des Alchimisten verstanden hatten, sondern darüber hinaus noch eine Menge Antimaterie, konnte niemand außer dem Leitenden Admiral persönlich entscheiden, ob das Schiff andocken durfte oder nicht. Es dauerte zwanzig Minuten, doch schließlich empfing Joshua einen Annäherungsvektor vom Strategischen Verteidigungskommando. Man wies ihnen eine Andockbucht auf dem nördlichen Raumhafen des Asteroiden zu.

»Und Joshua«, sagte Samuel ernst, »weichen Sie bitte nicht von diesem Vektor ab. Bitte.«

Joshua zwinkerte dem großen Mann zu in dem Wissen, daß Hunderte von Edeniten ihn beobachteten, indem sie die Augen des Agenten einsetzten, um die Brücke der Lady Macbeth zu überwachen. »Was denn, ›Lagrange‹ Calvert soll vom Kurs abweichen?«

Der Anflug nach Trafalgar dauerte achtzig Minuten. Die Anzahl von Antimaterie-Spezialisten der Navy war fast so groß wie die Anzahl von Marines, die zu ihrem Empfang aufmarschiert waren. Angeführt wurden sie von einer ganzen Reihe uniformierter hoher Offiziere des KNIS.

Die Lady Macbeth wurde nicht gestürmt, jedenfalls nicht im Sinne des Wortes. Keine Waffen wurden gezückt und auf sie gerichtet. Trotzdem, als der Andockschlauch erst eingerastet und unter Atmosphärendruck gesetzt worden war, hatte die Besatzung der Lady Macbeth nicht mehr viel zu tun außer die externen Kontrollkodes an ein Team von Navy-Spezialisten zu übergeben. Die Null-Tau-Kapseln wurden geöffnet, und die verwirrten Insassen, die Joshua im Verlauf seiner Jagd nach dem Alchimisten eingesammelt hatte, wurden vom Schiff gescheucht. Nach einer äußerst gründlichen Durchsuchung eskortierten die höflichen KNIS-Offiziere jedermann mit steinernen Gesichtern zu einer sicheren Baracke tief im Innern des Asteroiden. Joshua endete in einer Suite, die jedem Vier-Sterne-Hotel zur Ehre gereicht hätte. Ashly und Liol teilten die Räumlichkeiten mit ihm.

»Da wären wir also«, sagte Liol, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Schuldig des Besitzes von Antimaterie und von einer Geheimpolizei eingekerkert, die noch nie das Wort Menschenrechte gehört hat. Und wenn wir erst tot sind, wird uns A1 Capone persönlich zu einer kleinen Unterredung einladen.« Er öffnete die Klappe der Zimmerbar und lächelte angesichts der beeindruckenden Auswahl von Flaschen. »Schlimmer kann es wohl nicht mehr kommen.«

»Du hast vergessen, daß Tranquility ebenfalls verloren ist«, schimpfte Ashly. Liol winkte entschuldigend mit einer Flasche.

Joshua ignorierte das schicke Interieur der Suite und warf sich in einen weichen schwarzen Ledersessel in der Mitte des Zimmers. »Vielleicht kann es für dich nicht mehr schlimmer kommen. Aber vergiß nicht, ich weiß, wie der Alchimist funktioniert und was er bewirkt. Sie können nicht riskieren, mich wieder gehenzulassen.«

»Du weißt vielleicht, was der Alchimist bewirkt«, sagte Ashly. »Aber mit allem Respekt, Captain, ich glaube kaum, daß du eine große Hilfe wärst für jemanden, der die technologischen Details zur Konstruktion eines zweiten erforschen will.«

»Ein Tip ist möglicherweise alles, was dazu erforderlich ist«, murmelte Joshua. »Ein einziger unbedachter Kommentar, der die Forscher in die richtige Richtung lenkt.«

»Hör auf, dir Sorgen zu machen, Joshua. Die Konföderation ist längst über diesen Punkt hinaus. Außerdem schuldet uns die Navy eine ganze Menge, genau wie die Edeniten oder das Königreich Kulu. Wir haben ihnen die Ärsche aus dem Feuer gezogen. Du wirst die Lady Macbeth weiterhin steuern.«

»Weißt du, was ich tun würde, wenn ich der Leitende Admiral wäre? Ich würde mich für den Rest der Zeit in Null-Tau legen.«

»Ich würde niemals zulassen, daß sie das mit meinem kleinen Bruder tun.«

Joshua verschränkte die Hände hinter dem Kopf und grinste zu Liol hinauf. »Und als nächstes würde ich meinen großen Bruder in Null-Tau schaffen.«

 

Planeten funkelten im zwielichtigen Himmel. Jay sah wenigstens fünfzehn von ihnen, die in einer langgestreckten Kurve aufgereiht waren. Der nächste von ihnen schien ein wenig kleiner als der irdische Mond. Wahrscheinlich handelte es sich um eine optische Täuschung, weil er so weit entfernt war. In jeder anderen Hinsicht sah er aus wie eine der terrakompatiblen Welten der Konföderation, mit tiefblauen Ozeanen und smaragdfarbenen Kontinenten und ganz in große Wirbel weißer Wolken gehüllt. Der einzige Unterschied waren die Lichter; Lichter von Städten, die größer waren als einige der alten Nationen auf der Erde, leuchteten mit gebieterischer Pracht. Ganze Wolkenbänder der Nachtseite waren von unten erleuchtet, und das reflektierte Licht tauchte die Ozeane in einen ewigen perlmuttfarbenen Glanz.

Jay setzte sich auf die Hacken und starrte entzückt auf den prachtvollen Anblick.

Eine hohe Mauer umgab das Gebiet, in dem sie sich befand. Jay schätzte, daß die Reihe von Planeten sich noch weiter erstreckte als das, was sie sehen konnte, doch die Mauer versperrte ihre Sicht auf den Horizont. Ein Stern mit einem ganzen Band bewohnter Welten! Tausende wären erforderlich, um einen solchen Ring zu erzeugen. Keine von Jays didaktischen Erinnerungen über Sternensysteme hatte eine Sonne mit derart vielen Planeten erwähnt, nicht einmal, wenn man die Monde der Gasriesen mitzählte.

– Freundin Jay. Sicherheit. Vergnügtsein über Rettung spüren.

Jay blinzelte und senkte den Blick. Haile versuchte zu ihr zu rennen. Wie immer, wenn die junge Kiint aufgeregt war, verloren ihre Beine jegliche Koordination. Sie stand kurz davor, bei jedem Schritt umzufallen. Der Anblick von Hailes chaotischen Fortbewegungsanstrengungen brachte Jay zum Schmunzeln. Doch das Schmunzeln verging rasch, als sie die Szenerie hinter ihre Freundin in sich aufzunehmen begann.

Sie befand sich in einer Art kreisförmiger Arena mit einem Durchmesser von vielleicht zweihundert Metern. Der Boden war schwarz und marmoriert. Die umgebende Wand war dreißig Meter hoch und wurde von einer transparenten Kuppel überspannt. Entlang der vertikalen Wandfläche befanden sich in regelmäßigen Abständen Durchbrüche, Fenster, die in hell erleuchtete Räume führten, welche allem Anschein nach mit hellen kubischen Klötzen in leuchtenden Grundfarben möbliert waren. Erwachsene Kiint bewegten sich zwischen den Klötzen umher, obwohl die meisten ihre Tätigkeiten unterbrochen hatten und direkt zu Jay zu starren schienen.

Haile donnerte heran, und ihre halb ausgefahrenen traktamorphen Tentakel wedelten aufgeregt. Jay packte zwei davon und spürte, wie sie in ihren Händen pulsierten.

»Haile! Hast du das hier getan?«

Zwei erwachsene Kiint kamen quer durch die Arena auf sie zu. Jay erkannte sie als Nang und Lieria. Hinter ihnen eruptierte ein schwarzer Stern aus dem Nichts. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile war er zu einer Kugel von fünfzehn Metern Durchmesser angeschwollen, dessen unteres Viertel mit dem Boden verschmolz. Die Oberfläche löste sich auf, und ein weiterer erwachsener Kiint kam zum Vorschein. Jay starrte fasziniert auf das Geschehen. Ein ZTT-Sprung, aber ohne Raumschiff! Sie konzentrierte sich angestrengt auf ihre didaktischen Grundlagenkurse über die Kiint.

– Das ich war, jawohl, gestand Haile stolz. Ihr traktamorphes Fleisch zitterte und wand sich aufgeregt, also drückte Jay es einfach noch fester, um sie zu trösten. – Nur wir allein designiert waren zu evakuieren das Ringsumher im Lebensverlust Augenblick. Ich dich eingeschlossen in Designation, entgegen elterlichem Willen. Schämen ich mich. Verwirrt ich bin. Haile wandte sich zu ihren Eltern um. – Frage Lebensverlust Akt Zustimmung? Viele nette Freunde im Ringsumher.

– Wir heißen deine Handlung nicht gut.

Jay bedachte die beiden Erwachsenen mit einem nervösen Blick und schmiegte sich noch enger an Haile. Nang veränderte sein traktamorphes Anhängsel zu einem flachen Tentakel, das er seiner Tochter über den Rücken legte. Die Geste der Zuneigung beruhigte das Kiint-Junge sichtlich. Jay vermutete, daß auch ein mentaler Austausch stattfand, denn sie verspürte einen Hauch von Mitgefühl und gelassener Heiterkeit.

– Warum wir nicht geholfen haben? fragte Haile.

– Wir dürfen uns niemals einmischen in die primären Ereignisse anderer Spezies im Verlauf ihrer Evolution zum Verständnis von Omega. Du mußt lernen, dieses Gesetz über allen anderen zu befolgen. Es hindert uns allerdings nicht daran, Trauer und Mitleid für die Tragödien anderer Spezies zu empfinden.

Jay spürte, daß die letzte Bemerkung hauptsächlich ihr galt.

»Seien Sie Haile nicht böse«, sagte sie feierlich. »Ich hätte für Sie das gleiche getan. Und ich wollte nicht sterben.«

Lieria streckte eine Tentakelspitze aus und berührte Jays Schulter. – Ich danke dir für die Freundschaft, die du Haile erwiesen hast. In unseren Herzen sind wir froh, dich bei uns zu haben, und du bist bei uns vollkommen sicher. Es tut mir leid, daß wir nicht mehr für deine Freunde tun konnten. Doch unser Gesetz darf auf keinen Fall gebrochen werden.

Plötzlich wurde Jay von nacktem Entsetzen überfallen. »Ist Tranquility denn wirklich zerstört worden?« fragte sie weinend.

– Das wissen wir nicht. Als wir von dort aufgebrochen sind, wurde das Ringsumher von allen Seiten angegriffen. Möglicherweise hat Ione Saldana sich ergeben. Es ist äußerst wahrscheinlich, daß das Ringsumher und seine Bevölkerung überlebt haben.

»Wir sind von dort aufgebrochen«, flüsterte Jay voller Staunen zu sich selbst. Inzwischen standen acht erwachsene Kiint im Rund der Arena, sämtliche Forscher am Laymil-Projekt Tranquilitys. »Wo sind wir hier?« Sie blickte erneut hinauf in den dunstigen Himmel und auf die ehrfurchtgebietende Konstellation von Planeten.

– Dies ist unser Heimatsystem. Du bist das erste richtige menschliche Wesen, das uns hier besucht.

»Aber …« Didaktische Erinnerungen durchzuckten Jays Verstand. Sie blickte erneut zu den hellen, freundlichen Planeten hinauf. »Das ist nicht Jobis.«

Nang und Lieria blickten sich an, und beinahe entstand eine verlegene Pause.

– Nein, das hier ist nicht Jobis. Jobis ist lediglich einer unserer wissenschaftlichen Außenposten. Jobis liegt nicht in dieser Galaxis.

Jay brach erneut in Tränen aus.

 

Der Jupiter-Konsensus war sich gleich von Beginn der Possessionskrise an bewußt gewesen, daß die Habitate rings um den Gasriesen eines der Primärziele sein würden. Ihre gigantischen industriellen Produktionsanlagen waren zwangsläufig dazu geeignet, gewaltige Ströme von Waffen und Munition herzustellen und die Vorräte der adamistischen Navys aufzufüllen, die aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen größtenteils nicht so waren, wie sie eigentlich sein sollten. Die Reaktion des Yose-mite-Konsensus auf den Angriff der Capone-Organisation hatte bereits gezeigt, wozu die Edeniten imstande waren, und dort hatte es sich um lediglich dreißig Habitate gehandelt. Der Jupiter hatte die Ressourcen von viertausendzweihundertfünfzig Habitaten zu seiner Verfügung.

Anfragen nach materieller Unterstützung begannen nahezu im gleichen Augenblick, in dem Trafalgar seine Warnung betreffend die Natur der Gefahr ausgab, der die Konföderation gegenüberstand. Botschafter erbaten und erflehten und forderten jeden Gefallen ein, von dem sie meinten, Eden schuldete ihn, um sich einen Platz in den Produktionsplänen zu sichern. Die Bezahlung für die Waffen erfolgte durch Kreditvereinbarungen und Fuseodollar-Transfers, deren Höhe ausgereicht hätte, ganze Sternensysteme der Entwicklungsstufe Vier zu kaufen.

Darüber hinaus lieferte Eden die kritische Unterstützung für die Befreiung von Mortonridge in Form von Serjeant-Konstrukten, die als Fußsoldaten eingesetzt werden sollten. Das bedeutete eine zentrale psychologische Kampagne gegen die Besessenen, die der Konföderation und ihren Bürgern zeigen sollte, daß man gewinnen konnte.

Glücklicherweise waren die praktischen Aspekte eines Überfalls auf eines oder mehrere Habitate äußerst schwierig zu realisieren. Der Jupiter verfügte bereits über ein superbes strategisches Verteidigungsnetzwerk, und unter den Besessenen verfügte lediglich die Capone-Organisation über eine Flotte, die imstande gewesen wäre, eine großmaßstäbliche Offensive zu beginnen. Allein die Entfernung zwischen Erde und New California schloß diese Möglichkeit so gut wie aus. Allerdings bestand die nicht geringe Wahrscheinlichkeit eines fanatischen Selbstmordangriffs durch ein einzelnes mit Antimaterie bewaffnetes Schiff sowie die – ungleich geringere – Wahrscheinlichkeit, daß Capone schließlich doch noch in den Besitz des Alchimisten gelangen und ihn gegen den Jupiter einsetzen könnte. Obwohl der Konsensus nicht wußte, wie die Weltuntergangswaffe funktionierte – ganz sicher mußte ein Schiff in das System springen und sie abfeuern, was den Edeniten zumindest theoretisch ein Abfangfenster eröffnete und die Chance, die Waffe zu zerstören, bevor sie eingesetzt werden konnte.

Die Vorbereitungen zur Stärkung der Verteidigungsmaßnahmen hatten auf der Stelle begonnen. Ein volles Drittel der von den Industriestationen ausgestoßenen Waffenströme wurden in ein massiv erweitertes strategisches Verteidigungsnetzwerk umgeleitet. Das fünfhundertfünfzigtausend Kilometer durchmessende orbitale Band, das die Habitate enthielt, wurde am stärksten verteidigt. Die Anzahl der Verteidigungsplattformen wurde verdoppelt, und siebenhunderttausend Kombatwespen wurden als aktive Minen ausgesetzt. Eine weitere Million Kombatwespen wurde in konzentrischen Schalen um den Gasriesen abgesetzt, bis hinaus zum Orbit von Callisto. Ganze Flottillen multispektraler Sensorsatelliten glitten zwischen den Kombatwespen hindurch und suchten nach jeglicher Anomalie, ganz gleich wie klein, die die machtvollen energetischen Stürme durchbrach, welche rings um den Gasriesen im Raum tobten.

Mehr als fünfzehntausend schwer bewaffnete Voidhawks vervollständigten die strategische Verteidigung. Sie umkreisten die unbeständige Wolkenlandschaft in elliptischen Orbits hoher Inklination, bereit, jedes hereinkommende Molekül abzufangen, das auch nur den geringsten Verdacht erweckte. Die Tatsache, daß so viele Voidhawks von ihren zivilen Frachtflügen abgezogen worden waren, verursachte tatsächlich eine winzige Preissteigerung beim Helium-III – die erste seit mehr als zweihundertfünfzig Jahren.

Der Konsensus betrachtete diesen ökonomischen Rückschlag als akzeptablen Preis für die Sicherheit, die eine derart undurchdringliche Verteidigung bot. Kein Schiff, kein Roboter und kein kinetisches Projektil konnte sich weiter als bis auf drei Millionen Kilometer an den Jupiter annähern, wenn es nicht vorher die entsprechende Erlaubnis erhalten hatte.

Selbst ein einsamer Irrer würde zugeben müssen, daß der Versuch eines Angriffs nicht die geringste Aussicht auf Erfolg hatte.

 

Die Gravitationsfluktuation, die sich fünfhundertsechzigtausend Kilometer über dem Orbit des Jupiter bildete, wurde noch im Augenblick ihres Entstehens entdeckt. Sie zeigte sich in den Raumverzerrungsfeldern der am nächsten patrouillierenden Voidhawks als ungewöhnlich starke Einwölbung des Raum-Zeit-Kontinuums. Ihre Intensität war derart hoch, daß die gravitonischen Detektoren der umgebenden Verteidigungsplattformen eiligst rekalibriert werden mußten, um eine akkurate Zielerfassung möglich zu machen. Visuell zeigte sich die Fluktuation als ein rubinroter Stern, dessen Gravitationsfeld das Licht des Jupiter einfing und gleichmäßig in jede Richtung streute. Umgebende Staubwolken und Sonnenwindpartikel wurden eingesaugt und bildeten Kaskaden von Pikometeoriten, die in strahlendem Gelb vergingen.

Der Konsensus verhängte augenblicklich die Alarmstufe Eins. Die schiere Stärke der Raum-Zeit-Verzerrung schloß jeden Austritt konventioneller Raumschiffe von vornherein aus. Und die Koordinaten lagen provokativ dicht bei den Habitaten, einhunderttausend Kilometer von der nächsten designierten Austrittszone entfernt. Der Konsensus belud die inert zwischen den Habitaten treibenden Kombatwespen mit Affinitätskommandos. Dreitausend Fusionsantriebe flammten kurz auf und richteten die tödlichen Dronen auf ihr neues Ziel aus. Die patrouillierenden Voidhawks bildeten einen eigenen Sub-Konsensus und koordinierten Annäherungsvektoren und Eintauchmanöver, um den Eindringling zu umhüllen.

Das Verzerrungsgebiet expandierte bis auf einen Durchmesser von mehreren hundert Metern und versetzte individuellen Edeniten einen panischen Schrecken, obwohl der Konsensus in seiner Gesamtheit gelassen blieb. Die Verzerrung war bereits jetzt weit größer als jeder Wurmloch-Terminus, den ein Voidhawk oder Blackhawk erzeugen konnte. Dann begann sie zu verflachen, bis sie einen perfekt kreisrunden zweidimensionalen Riß in der Raumzeit bildete, und die eigentliche Expansionssequenz setzte ein. Innerhalb fünf Sekunden durchmaß die Scheibe mehr als elf Kilometer. Der Konsensus reformierte rasch und ohne Zögern seine Reaktionen. Die heranrasenden Voidhawks vollführten irrwitzige Fünfzehn-g-Manöver, um aus dem Einflußbereich des gigantischen Terminus zu gelangen, und tauchten weg. Achttausend zusätzliche Kombatwespen erwachten zum Leben und jagten auf die gigantische fremde Bedrohung zu.

Weitere drei Sekunden später hatte der Riß im Raum-Zeit-Kontinuum einen Durchmesser von zwanzig Kilometern erreicht und stabilisierte sich. Eine Seite kollabierte nach innen und zeigte den Schlund des Wurmlochs.

Drei winzige Pünktchen schossen aus dem Zentrum hervor. Die Oenone und ihre beiden begleitenden Voidhawks schrien ihre Identität auf dem allgemeinen Affinitätsband hinaus und beschworen den Konsensus: – NICHT FEUERN!

Zum ersten Mal im Verlauf seiner fünfhunderteinundzwanzigjährigen Geschichte machte der Jupiter-Konsensus die emotionale Erfahrung eines Schocks. Doch selbst jetzt kam die Reaktion nicht merklich verzögert. Spezielle Wahrnehmungsroutinen bestätigten, daß die drei Voidhawks nicht besessen waren. Die Kombatwespen erhielten einen fünf Sekunden währenden Feueraufschub.

Was geht da vor? verlangte der Konsensus zu erfahren.

Syrinx konnte einfach nicht widerstehen. – Wir haben einen Besucher, antwortete sie vergnügt. Ihre gesamte Besatzung auf der Brücke ringsum lachte.

Der nicht-rotierende Raumhafen war das erste, was aus dem gigantischen Wurmloch-Terminus hervorkam. Eine silbrig-weiße Scheibe mit einem Durchmesser von viereinhalb Kilometern, mit Dockscheinwerfern, die wie kleine Dörfer am Grund von metallenen Tälern glitzerten, und roten und grünen Blinklichtern entlang dem Rand. Nach der Scheibe wurde die schlanke zentrale Spindel sichtbar, die scheinbar die dunkel rostrote Endkappe aus Polyp hinter sich herzog.

Das war der Augenblick, in dem die restlichen Raumschiffe aus dem Terminus drängten, Voidhawks, Blackhawks und Schiffe der Konföderierten Navy, die in alle Richtungen davonschossen. Die Aufklärungssensoren und Verteidigungsplattformen des Jupiter verfolgten ihre Bahnen. Der Konsensus übermittelte neue Bahnvektoren an die hereinkommenden Kombatwespen und steuerte sie entschlossen vom Ort des ungebärdigen Einfalls weg.

Dann schwebte der Hauptzylinder des Habitats aus dem Terminus, ein Körper mit dem unglaublichen Durchmesser von siebzehn Kilometern. Nachdem die ersten zweiunddreißig Kilometer hindurch waren, tauchte das zentrale Band von Sternenkratzern auf, Hunderttausende von glitzernden Fenstern, die ein träges nachmittägliches Sonnenlicht aussandten. Das Band paßte so eben durch den riesigen Terminus hindurch. Danach kamen keine weiteren Raumschiffe mehr, lediglich der Rest des Zylinders. Als der Austritt vollständig war, schloß sich das Wurmloch, und der Raum kehrte in seinen natürlichen Zustand zurück. Die Flottille patrouillierender Voidhawks entdeckte ein gigantisches Verzerrungsfeld, das sich in den breiten Polypkragen rings um die südliche Abschlußkappe des Habitats zurückfaltete, welcher das Bett des innenliegenden umlaufenden Salzwasserreservoirs bildete.

Der Konsensus richtete einen unglaublich beherrschten Ausruf der Neugierde an den Besucher.

– Wir grüßen euch, antworteten Tranquility und Ione Saldana im Chor. In ihrem Ruf lag ein deutlicher Unterton von Selbstgefälligkeit.

Nahezu zehn Stunden raste die Liftkapsel an dem Orbitalturm entlang, der Supra-Brazil mit dem GovCentral-Staat verband, nach dem der Aufzug benannt war. Es war eine glatte, lautlose Fahrt, und von Bewegung war kaum etwas zu spüren. Der einzige Hinweis auf die Geschwindigkeit, mit der sich die Kapsel bewegte (dreitausend Kilometer pro Stunde), tauchte dann auf, wenn zwei Kapseln einander passierten. Aber weil die Kapseln auf Schienen an der Außenseite des Orbitalaufzugs entlangglitten und die einzigen Fenster nach draußen zeigten, blieben derartige Augenblicke den Passagieren im Innern verborgen. Und das war mit Absicht so; die Turmbetreiber erachteten es als psychologisch bedenklich, den Passagieren den Anblick einer anderen Kapsel zu ermöglichen, die mit der kombinierten Geschwindigkeit von sechstausend Stundenkilometern auf die eigene Kapsel zuraste.

Kurz vor dem Eintritt in die oberen Atmosphärenschichten verzögerte die Aufzugskapsel auf Unterschallgeschwindigkeit. Sie erreichte die Stratosphäre, als die Dämmerung über Südamerika hereinbrach. Dämmerung auf der Erde bedeutete längst keinen erhebenden Anblick mehr; die Passagiere sahen nichts außer einer undurchbrochenen schmutziggrauen Wolkendecke, die den größten Teil des Kontinents und nahezu ein Drittel des Südatlantik bedeckte. Erst als die Kapsel nur noch zehn Kilometer von den wogenden oberen Wolkenschichten entfernt war, konnte Quirin Dexter die Armada aus individuellen Schwaden ausmachen, aus denen der gigantische Zyklon zusammengesetzt war und die mit irrsinnigen Geschwindigkeiten umeinander wirbelten. Die kochenden Schwaden waren so massiv wie die Wolkenbänder eines Gasriesen, aber unendlich eintöniger.

Die Kapsel sank in die peitschenden Tentakel der Zirruswolken hinein, und die Fenster vibrierten augenblicklich von einem Bombardement aus faustdicken Regentropfen. Anschließend gab es nichts mehr zu sehen, nur noch formlose graue Schatten. Eine Minute, bevor die Kapsel die Bodenstation erreichte, wurde es draußen vor den Fenstern schwarz von der Schutzdecke, welche die Bodenstation vor den schlimmsten Auswirkungen des außer Kontrolle geratenen planetaren Klimas schützte.

Die Zahlen auf dem Entfernungsmesser der Royal Class Lounge erreichten die Null, ein Ereignis, das sich lediglich durch ein kaum wahrnehmbares Erzittern bemerkbar machte, als Halteklammern die Basis der Aufzugskapsel umschlossen. Die Magnetschiene wurde deaktiviert, und ein Transporter schleppte die Liftkapsel vom Orbitalturm weg und machte den Weg frei für die nächste Kapsel.

Luftschleusen glitten auf und gaben den Blick frei auf lange Zieharmonikakorridore, die in den Ankunftskomplex führten – wo dreimal so viele Zoll-, Einreise- und Sicherheitsbeamte wie üblich warteten, um die Passagiere zu überprüfen. Quirin seufzte in milder Resignation. Er hatte den Trip nach unten genossen und mit ihm sämtliche Annehmlichkeiten, die die Royal Class Lounge bieten konnte. Eine willkommene Pause zur Kontemplation, unterstützt von den Norfolk Tears, die er unentwegt getrunken hatte.

Quinn war mit einem einzigen Ziel vor Augen auf der Erde eingetroffen: Eroberung. Jetzt hatte er wenigstens eine Vorstellung davon, wie er vorgehen mußte, um diesen Planeten für seinen Gott zu unterwerfen. Die Art von exponentieller brutaler Gewalt, mit der die Besessenen bisher vorgegangen waren, kam auf der Erde nicht in Frage. Dazu waren die Arkologien einfach zu sehr voneinander isoliert. Es war eigenartig, aber je länger Quinn darüber nachdachte, desto mehr kam er zu dem Schluß, daß die Erde eine Miniaturausgabe der Konföderation selbst war, daß ihre gigantischen Bevölkerungszentren durch eine amoklaufende Natur voneinander getrennt waren, die beinahe so lebensfeindlich war wie der Weltraum selbst. Er würde die Samen seiner Revolution sehr sorgfältig aussäen müssen. Falls GovCentral jemals den Verdacht hegen würde, daß Besessene auf der Erde frei umherliefen, würde die betroffene Arkologie ohne Zweifel unter Quarantäne gestellt werden. Und Quirin wußte, daß er selbst mit all seinen energistischen Fähigkeiten nicht mehr würde entfliehen können, sobald die unterirdischen Vakzüge erst abgeschaltet worden waren.

Die meisten der anderen Passagiere waren inzwischen ausgestiegen, und die Chefstewardeß blickte in Quirins Richtung. Er erhob sich langsam aus seinem tiefen Ledersessel und streckte sich, um die Müdigkeit aus den Gliedern zu vertreiben. Es war absolut ausgeschlossen, daß er am Schalter der Einreisekontrolle vorbeikommen würde, geschweige denn die Sicherheitsüberprüfungen passieren.

Er ging zur Luftschleuse und konzentrierte seine energistischen Fähigkeiten, um sie mental in das inzwischen vertraute neue Muster zu lenken. Die Energien krochen über seinen Körper, und Nadeln aus Statik penetrierten jede einzelne Zelle. Ein leises Stöhnen war das einzige äußere Anzeichen der Groteskerie, die er bei seinem Durchgang in das Reich der Geister erfuhr. Sein Herz hörte auf zu schlagen, sein Atem stockte, und die Welt ringsum verlor ihre materielle Festigkeit. Die Solidität der Wände und des Bodens war noch immer vorhanden, doch ephemerisch. Irrelevant, wenn er sich wirklich konzentrierte.

Die Chefstewardeß beobachtete, wie ihr letzter Passagier in die Luftschleuse trat, und wandte sich wieder der Bar zu. Unter dem Tresen befanden sich mehrere Gratisflaschen Norfolk Tears und anderer kostspieliger Spirituosen und Liköre, die ihr Team auf dem Weg nach unten geöffnet hatte. Sie achteten sorgsam darauf, nie viel in den Flaschen zurückzulassen, höchstens ein Drittel, bevor sie eine weitere öffneten. Doch selbst eine Drittel Flasche Norfolk Tears war noch eine kostbare Ware.

Die Chefstewardeß machte sich daran, all die geöffneten Flaschen in ihrem Kontrollbuch als leer auszutragen. Das Team würde sie später unter sich aufteilen, die privaten Flaschen damit auffüllen und mit nach Hause nehmen. So lange sie nicht zu gierig wurden, würde der Supervisor der Company nichts unternehmen. Mit einem Mal verwandelte sich der Datavis-Strom ihres Prozessorblocks in Unsinn. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu und klopfte das Gerät automatisch gegen den Tresen, als die Kabinenbeleuchtung zu flackern begann. Verwirrt blickte sie zur Decke hinauf. Überall in der Lounge fielen jetzt die elektronischen Geräte aus. Die AV-Säule hinter der Bar sandte nur noch Regenbogenschauer aus, und die Aktuatoren der Luftschleuse heulten laut auf, ohne daß sich die Türen bewegten.

»Was …?« murmelte die Stewardeß. Es war nahezu unmöglich, daß in einer Orbitalkapsel der Strom ausfiel. Jedes einzelne Bauteil besaß multiple redundante Backups. Sie wollte soeben den Operateur der Kapsel benachrichtigen, als die Beleuchtung wieder stetig brannte und das Datavis ihrer Bestandskontrolle wieder funktionierte. »Verdammt typisch«, brummte sie mißmutig. Trotzdem machte es ihr Angst. Wenn die Dinge schon unten am Boden so aus dem Ruder laufen konnten, dann wohl erst recht auf halbem Weg in den Orbit hinauf.

Sie bedachte die wartenden Flaschen mit einem unglücklichen Blick; sie wußte, daß der Inhalt für sie und ihre Leute verloren war, wenn sie einen offiziellen Bericht wegen des Stromausfalls in das Logbuch eintrug. Die Inspektoren der Company würden die gesamte Liftkapsel auseinandernehmen. Sorgfältig löschte sie den angefangenen Bestandsbericht wieder, dann befahl sie dem Prozessorblock der Lounge, einen Datavis-Kanal zum Operateur der Kapsel zu öffnen.

Der Ruf erreichte niemals seinen Adressaten. Statt dessen empfing die Chefstewardeß eine Prioritätssendung vom Sicherheitsbüro des Ankunftsgebäudes, in der sie angewiesen wurde, sich nicht von der Stelle zu rühren. Draußen schrillte eine Alarmsirene los. Das Geräusch ließ sie zusammenzucken; in den elf Jahren, die sie nun für die Company arbeitete, hatte sie die Sirene niemals außerhalb praktischer Notübungen vernommen.

Quinn hörte das Schrillen nur unterdrückt. Er hatte beobachtet, wie die Schleusentüren erzitterten, und gespürt, wie die empfindlichen elektronischen Muster der Prozessorblocks in seiner Umgebung zusammengebrochen waren, als er sich durch das Tor schob. Er konnte nichts dagegen tun; seine gesamte Konzentration war erforderlich, um die energistischen Kräfte in das richtige Muster zu leiten. Diesmal schien genau dieses Muster überdurchschnittlich starken Einfluß auf nahegelegene Elektronik auszuüben, und das, obwohl nichts geschehen war, als er aus dem Reich der Geister in die Royal Class Lounge der Orbitalkapsel geschlüpfte war. Selbstverständlich hatte er sich beim Betreten nicht verausgabt, wie es jetzt der Fall war, im Gegenteil, er hatte seine Kräfte zurückgehalten.

Ah, das war etwas, woran er in Zukunft früher würde denken müssen.

Dicke Sicherheitstüren schoben sich quer über den Korridor; die Bummler unter den Passagieren saßen in der Falle. Quinn spazierte an ihnen vorbei und kam vor der Sicherheitstür an. Sie setzte seinen Bemühungen nur einen geringfügigen Widerstand entgegen, kaum mehr als ein Vorhang aus Wasser.

Der Ankunftskomplex auf der anderen Seite bestand aus einer Reihe von großartigen Empfangshallen, die sich über mehrere Ebenen zogen, untereinander verbunden durch weitläufige Rolltreppen und Gehsteige. Der Komplex konnte siebzig Orbitalkapseln voller Passagiere gleichzeitig abfertigen, eine Kapazität, die zu kaum fünfundzwanzig Prozent ausgeschöpft wurde, seit die gegenwärtige Krise ihren Anfang genommen hatte. Während Quinn die versiegelte Abschlußkammer am Ende des Korridors überwand, war sein erster Eindruck, daß die Grills der Klimaanlagen reines Adrenalin statt Luft in die Halle pumpten.