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ISBN: 978-3-649-62599-5

eISBN: 978-3-649-62702-9

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe

Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

First published in Great Britain in 2017 by Orchard, an imprint of the Watts Publishing Group

Text copyright © Teri Terry, 2017

The moral right of the author has been asserted.

All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious and any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, without the prior permission in writing of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar condition including this condition being imposed on the subsequent purchaser.

Originalcopyright © 2017 by Teri Terry

Originalverlag: Orchard Books

Originaltitel: Contagion

Aus dem Englischen von Petra Knese

Umschlaggestaltung: Anne Sent, unter Verwendung eines Motivs von Jonas Hafner; inspiriert von einer Idee von Ileana Hunter

Lektorat: Sara Mehring

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN: 978-3-649-62599-5.

Teri Terry

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Aus dem Englischen
von Petra Knese

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INHALT

PROLOG: XANDER

HEUTE

TEIL 1: IRRLÄUFER

1 SUBJEKT 369 X

2 SHAY

3 SUBJEKT 369 X

4 SHAY

5 SUBJEKT 369 X

6 SHAY

7 CALLIE

8 SHAY

9 CALLIE

10 SHAY

11 CALLIE

12 SHAY

13 CALLIE

14 SHAY

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28 SHAY

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36 SHAY

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TEIL 2: DER APFEL

1 SHAY

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7 SHAY

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TEIL 3: DER BISS

1 CALLIE

2 SHAY

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6 SHAY

7 CALLIE

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TEIL 4: DER SÜNDENFALL

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29 SHAY

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31 SHAY

32 CALLIE

33 SHAY

34 CALLIE

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DESERTRON, TEXAS

1993

Das Schrillen der Sirene sprengt mir fast die Schädeldecke weg. Ich krieche aus dem Bett. Kann es nicht fassen. Wie denkt man das Undenkbare?

Die Sicherungssysteme haben versagt. Es ist tatsächlich passiert.

Wir rennen.

Henri bellt seine Kommandos. Lena und ich setzen sie eilig um. Mir zittern die Hände am Kontrollpult, Angst und Adrenalin pushen mich, aber wir haben das System gleich manuell heruntergefahren. Wird schon gut gehen, wir werden alle …

BANG

Schallwellen reißen uns zu Boden. Heftige Kälte. Metallsplitter hageln auf uns nieder und Schlimmeres.

Viel, viel Schlimmeres.

Es entweicht.

Trifft uns.

Schmerz kommt.

SCHMERZ

QUAL

Schreie verbinden sich zu einem – Lenas, Henris und meine. Wir schreien wie aus einem Mund.

Doch dann verstumme ich. Nur ein Duett aus Schmerz bleibt übrig.

Zellen, Gewebe und Organe werden von innen zerstört, zerrissen von einer Kettenreaktion. Ein kurzer Moment der Klarheit am Ende zeigt, was hätte sein können, bevor Henri und Lena – Freunde, Kollegen, beide brillante Wissenschaftler – dahinschwinden. Lena, meine Lena. Tot.

Ich überlebe. Meine Freunde sind tot, aber die letzten Augenblicke ihres Daseins sind für immer in mich eingeschrieben.

Niemandem fällt auf, wie ich mich verändert habe: Dinge verloren, Fertigkeiten gewonnen. Segen und Fluch zugleich.

Mit meinen neuen Sinnen nehme ich Wellen wahr, die mir so ähnlich wie Schall und Farben erscheinen. Alles verströmt Wellen: belebte und unbelebte Objekte, Menschen. Besonders Menschen.

Von jedem Mann, jeder Frau, jedem Kind geht ohne ihr Wissen ein einzigartiges Schallmuster aus – persönlicher als Fingerabdrücke, aufschlussreicher als Gedanken und Verhaltensweisen. Es ist, als könnte ich in ihre Seelen schauen. Ich nenne dieses Muster Vox, eine Stimme, von der sie nichts ahnen.

Aber ich weiß es. Und Wissen ist Macht.

Und ich will mehr, immer mehr.

Um alles zu wissen, was es zu wissen gibt.

Erst kam der Unfall, dann der Plan …

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Der Zustand von Schrödingers Katze ist eigentlich gar kein Paradox, dachte er. Verlässt man die Grenzen der endlichen, beobachtbaren Welt und akzeptiert die Unendlichkeit, so kann die Katze gleichzeitig tot und lebendig sein.

Xander, Manifest des Multiversums

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SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

Time Zero: 32 Stunden

Ich bin krank, sagen sie, und muss geheilt werden. Aber ich fühle mich nicht krank. Nicht mehr.

Ihre glänzenden Schutzanzüge verbergen alles, von den Schuhen bis zu den Haaren, und lassen sie wie Außerirdische aussehen. Sie erinnern mich mehr an die Bösewichte bei Doctor Who als an Menschen. Mit dicken Handschuhen greifen sie durch die durchsichtigen Wände nach mir, drücken mich in den Rollstuhl, schnallen mich fest.

Genau wie ich tragen sie Masken, aber ihre verhindern, dass Luft von außen einströmt – alles für den Fall, dass es, was auch immer es ist, durch Wände, Handschuhe und Schutzanzüge dringt. Hinter den Atemgeräten können sie sich noch murmelnd verständigen und bilden sich ein, sie könnten per Knopfdruck entscheiden, ob ich mithöre. Das können sie sich sparen. Ich höre genug. Mehr, als mir lieb ist.

Meine Maske ist anders. Sie lähmt meine Zunge. Ich kann zwar atmen, aber nicht sprechen, als wären meine Worte gefährlich.

Wie ich hierhin gekommen bin, weiß ich nicht mehr, auch nicht, wo ich vorher war. Aber ich erinnere mich, dass ich Callie heiße und zwölf Jahre alt bin und dass die Wissenschaftler glauben, ich könnte ihnen Antworten auf ihre Fragen geben. Wenn es ganz schlimm wurde, habe ich mich an meinem Namen festgehalten, mir im Kopf immer wieder Callie, Callie vorgesagt. Solange ich meinen Namen noch weiß, spielt es keine Rolle, dass ich alles andere vergessen habe. Jedenfalls rede ich mir das ein. Solange ich noch einen Namen habe, gibt es mich. So lange bin ich noch ich. Auch wenn mich hier niemand Callie nennt.

Und noch etwas weiß ich. Heute werde ich geheilt.

Mein Rollstuhl und ich stecken in einer riesigen Blase, die mich komplett umschließt. Die Tür geht auf. Dr. 6 kommt herein und schiebt mich im versiegelten Rollstuhl nach draußen, begleitet von Schwester 11 und Dr. 1.

Die Ärzte und Schwestern sind beeindruckt, dass Dr. 1 dabei ist. Er hat eine Stimme wie Samt, wie Schokolade, Sahne und ein Weihnachtsmorgen zusammengenommen. Sobald er etwas sagt, springen alle. Wie ich ist er nur unter einer Nummer bekannt. Alle anderen haben Namen, aber ich habe sie durchnummeriert. Wenn die mich hier Subjekt 369 X nennen, ist das nur fair, finde ich.

Ich kann laufen, das würde ich ihnen auch sagen, wenn ich sprechen könnte, doch so werde ich im Rollstuhl durch die Gänge geschoben. Schwester 11 scheint aufgebracht, sie macht kehrt. Läuft dorthin zurück, wo wir hergekommen sind.

Dann bleiben wir stehen. Dr. 1 drückt einen Knopf an der Wand und Metalltüren öffnen sich. Dr. 6 fährt mich hindurch. Die Ärzte folgen, die Türen schließen sich hinter uns, eine weitere geht auf und noch eine, bis sie mich in einen dunklen Raum schieben. Die Ärzte gehen hinaus. Zischend schließt sich die Tür und ich bleibe allein im Dunkeln zurück.

Kurz darauf leuchtet eine Wand auf. Erst nur ein wenig, dann stärker, bis ich etwas erkennen kann. Ich befinde mich in einem kleinen quadratischen Raum. Leer. Ohne Fenster. Außer der leuchtenden Wand gibt es hier nichts. Keine Arzneimittel, keine Ärzte, keine Nadeln, keine Messer. Darüber bin ich froh.

Aber dann beginnt die Behandlung.

Ich würde schreien, wenn ich könnte.

Callie, Callie, Callie, Callie

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KILLIN, SCHOTTLAND

Time Zero: 31 Stunden

Als ich mich im Coop-Markt hinter die Regale verdrücke, ist es bereits zu spät, da haben sie mich schon entdeckt.

Ich stürze nach links davon, stoppe. Duncan steht am Ende des Ganges. Ich wirble herum, flitze in die andere Richtung, wieder zu spät. Duncans zwei Kumpane, die ich vorhin schon über die Regale hinweg erspäht habe, stehen jetzt dort. Gar nicht gut. Ansonsten ist niemand in Sicht.

»Sieh an, sieh an. Wenn das nicht My Sharona ist.« Duncan stolziert auf mich zu, während die anderen beiden Jungen das Lied anstimmen und entsprechende Bewegungen mit dem Becken vollführen. Nett. Als wir letztes Jahr nach Schottland gezogen sind, hatte ich gehofft, dass hier niemand meinen richtigen Namen erfährt. Und wenn, dass dann zumindest keiner das Lied kennt. Wie alt ist My Sharona? Eine Million Jahre? Doch als wäre ich nicht schon seltsam genug, hat einer es herausbekommen und ein anderer das Lied im Schulbus gespielt. Damit war ich unten durch.

»When you gonna give to me, give to me?«, singt Duncan und lacht sich halb tot.

»Wenn du Eier in der Hose hast, Loser.« Mit finsterer Miene versuche ich, mich an ihm vorbeizudrängen, aber so leicht macht er mir das nicht.

Er packt mich am Arm und stößt mich gegen das Regal. Ich stehe ihm gegenüber und ringe mir ein Lächeln ab. Überrascht lächelt Duncan zurück, und da werde ich so sauer, weil ich mich von diesem Loser einschüchtern lasse. Und diese Angst und Wut nutze ich und ramme ihm mit Wucht das Knie in den Schritt.

Duncan geht zu Boden, krümmt sich stöhnend.

»Sorry, habe mich geirrt, Mann. Hast wohl doch welche.«

Im Ausgang remple ich fast eine alte Dame um, die sich mit ihrem Rollator durch die Tür schiebt. Dabei knalle ich gegen die Wand.

Der Typ hinter der Kasse funkelt mich böse an. Als ich mir die schmerzende Schulter reibe, bemerke ich, dass ich das Schwarze Brett umgerissen habe. Ich schaue mich um, von den anderen keine Spur. Duncans Kumpane helfen ihm wohl noch auf.

»Sorry, tut mir leid.« Ich bücke mich und stelle das Schwarze Brett wieder auf. Beim Sturz sind einige Zettel abgefallen, aber ich muss jetzt schleunigst raus hier.

Da sehe ich sie.

Das Mädchen. Sie blickt mich von einem Zettel am Boden aus an.

Langes dunkles, fast schwarzes Haar. Unvergessliche blaue Augen, zum einen, weil sie nicht zu dem dunklen Haar passen, und zum anderen, weil sie so gehetzt wirken – auf dem Bild und auch damals, als sie mich angesehen hat. Nicht die Spur eines Lächelns.

Hinter mir nehme ich Bewegungen wahr, ich stecke den Zettel ein und stürme hinaus. Ich sprinte über die Straße zu meinem Rad, fummle hektisch am Schloss herum. Endlich springt es auf. Sie sind mir schon auf den Fersen. Ich schwinge mich aufs Rad und trete wie verrückt in die Pedale. Sie kommen näher, eine Hand greift nach mir, gleich haben sie mich.

Angst treibt mich an, lässt mich schneller treten. Ich entkomme ihnen.

Als ich mich umdrehe, haben sie die Verfolgung aufgegeben. Hinter ihnen kommt Duncan langsam angetrabt.

Ich fahre lieber direkt nach Hause, falls sie einen Wagen dabeihaben und mir den Weg abschneiden wollen. Von der Straße wechsle ich auf den Radweg und fahre dann querfeldein durch den Wald den Berg hinauf, hoch und immer höher.

Das Radfahren tut mir gut und nach ein paar Kilometern beruhige ich mich wieder. Aber jetzt mal im Ernst, was hat sich meine Mutter nur dabei gedacht, mich Sharona zu nennen? Das habe ich mich schon oft gefragt. Als würde ich nicht schon so genug herausstechen, mit meinem Londoner Akzent und all dem Kram, den ich weiß und in der Schule besser nicht äußern sollte, was ich aber oft einfach vergesse. Zum Beispiel ist mir nun mal klar, dass sich Quanten, diese winzig kleinen Partikel, gleichzeitig als Wellen und Teilchen bewegen können. Verrückt. Aber mein derzeitiges Lieblingsfeld ist der Auf bau der DNA – dieser verdammte genetische Code, der dafür verantwortlich ist, dass ich dunkles, lockiges Haar habe und Duncan so ein Arsch ist. Und als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Mum mich Sharona genannt hat, bindet sie nun auch noch jedem auf die Nase, dass der Name von diesem Lied stammt. Weil ich auf einem Feld hinter einem Knack-Konzert gezeugt wurde.

Auch wenn ich alle immer wieder darum bitte, mich Shay zu nennen, können selbst meine Freunde dem Namen Sharona nicht widerstehen. Sobald ich achtzehn bin, also in einem Jahr, vier Monaten und sechs Tagen, ändere ich offiziell meinen Namen.

Kurz vor dem Gipfel steige ich ab. Die Nachmittagssonne verblasst, es wird kühler. Lange kann ich nicht bleiben, aber ich halte immer hier an.

Da fällt mir das Mädchen wieder ein. Der Zettel, den ich mir vorhin in die Tasche gestopft habe.

Hier habe ich sie vor einem Jahr gesehen. An genau diesem Baum mit dem Ast, der sich so gut als Lehne eignet, habe ich gestanden. Mein Fahrrad wie jetzt neben mir.

Dann fiel mir ein Punkt ins Auge, der hin und wieder zwischen den Bäumen unter mir auftauchte. Wahrscheinlich habe ich sie nur wegen ihrer leuchtend roten Klamotten so schnell entdeckt. Jedenfalls lief diese Person den Berg hinauf, was mich ärgerte. Das ist mein Platz, den ich extra gewählt habe, weil sonst keiner Lust hat, mit dem Rad oder zu Fuß diese verrückte Steigung zu erklimmen. Wer drang da in mein Reich ein?

Doch als sie näher kam, sah ich, dass es ein Mädchen war, wesentlich jünger als ich. Vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Mit Jeans und rotem Kapuzenpulli bekleidet, ihr dickes, dunkles Haar hing ihr offen über den Rücken. Und mir fiel noch etwas an ihr auf. Sie hatte ein ziemliches Tempo drauf, nahm den Anstieg mit entschlossenen Schritten. Sah nicht nach rechts, nicht nach links. Lächelte nicht.

Als sie mich fast erreicht hatte, rief ich: »Hallo. Hast du dich verlaufen?«

Sie zuckte heftig zusammen und sah sich mit wirrem Blick nach mir um.

Ich winkte ihr zu. »Ich bin’s nur, keine Angst. Hast du dich verlaufen?«

»Nein«, sagte sie plötzlich merkwürdig gefasst und lief weiter.

Und ich ließ sie achselzuckend weiterziehen. Aber nach kurzer Zeit machte ich mir doch Sorgen. Dieser Weg führt zu einer abgelegenen Straße, da ist kilometerweit nichts und der Rückweg ist ebenfalls lang. Selbst wenn sie sofort umgekehrt wäre, wäre sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit im Tal.

Ich schnappte mir das Rad und stapfte hinter ihr her. An der Straße blieb sie stehen und sah sich um. Rechts führt die Straße zurück nach Killin, die Strecke nehme ich meistens, fliege den Berg hinunter über den Asphalt. Das Mädchen wandte sich aber nach links. Sie muss sich verlaufen haben, dachte ich damals. Wenn sie nicht mit mir redet, sollte ich die Polizei anrufen.

Ich versuchte es erneut. »Hallo? Da ist nichts. Wo willst du denn hin?«

Keine Antwort. Ich lehnte mein Fahrrad gegen einen Baum, nahm den Rucksack ab, um nach meinem Handy zu kramen. Gerade als ich es gefunden hatte, kam ein Wagen aus Richtung Killin angefahren. Er brauste an mir vorbei, verlangsamte sein Tempo und hielt an.

Ein Mann stieg aus.

»Da bist du ja«, sagte er zu dem Mädchen. »Steig ein.«

Sie blieb wie angewurzelt stehen. Er hielt ihr die Hand hin und sie trat zu ihm, nahm aber nicht seine Hand. Dann öffnete er die Autotür und sie stieg auf den Rücksitz. Der Mann nahm auf dem Fahrersitz Platz und brauste kurz darauf davon.

Ich war erleichtert, denn ich hatte eigentlich keine Lust gehabt, die Polizei anzurufen und mich einzumischen. Schließlich wollten Mum und ich am nächsten Morgen verreisen, mit dem Rucksack durch Europa, und ich hatte noch nicht gepackt.

Aber ganz wohl war mir bei der Sache trotzdem nicht. Irgendwie seltsam: Für ein Kind in ihrem Alter war das ein ziemlicher Marsch und dann auch noch allein. Und wie der Mann gesagt hatte: Da bist du ja. Als wäre sie verschüttgegangen. Oder weggelaufen. Und wenn sie sich wirklich verlaufen hätte, hätte sie dann nicht gelächelt und wäre froh gewesen, als ich sie ansprach?

Allerdings hatte ich in dem Alter selbst oft mit dem Gedanken gespielt wegzulaufen. Sogar jetzt manchmal noch. Mich ging das also nichts an.

Ich fuhr nach Hause und vergaß das Mädchen.

Bis heute.

Ich ziehe den zerknitterten Zettel aus der Hosentasche. Er ist staubig, als hätte er schon ewig am Schwarzen Brett gehangen. Ich streiche ihn glatt und hole tief Luft. Keine Frage, das ist sie auf dem Foto; nur bei den Worten darüber dreht sich mir der Magen um.

Calista, 11 Jahre. Vermisst.

Vermisst? Mir ist schlecht, und ich setze mich hin, um den restlichen Text zu lesen. Sie wird seit dem 29. Juni vermisst, seit fast einem Jahr also. Und als sie zuletzt nur ein paar Meilen von hier gesehen wurde, trug sie Jeans und einen roten Kapuzenpulli.

Oh, mein Gott.

Wann genau habe ich sie denn gesehen? Bevor oder nachdem sie vermisst wurde? Ich denke scharf nach, aber das Datum will mir nicht einfallen. Es muss schon um die Zeit rum gewesen sein, in Schottland fangen die Sommerferien früh an. Mum und ich sind gleich am ersten Ferientag gefahren, bloß wann genau das war, weiß ich nicht mehr.

Es kann doch nicht sein, dass das Mädchen da schon vermisst wurde! Sonst hätten wir davon gehört. Es wäre überall in den Nachrichten gekommen.

Unter dem Foto steht: Wenn Sie Calista gesehen haben oder Hinweise zu ihrem Aufenthaltsort geben können, rufen Sie bitte unter dieser Nummer an. Ganz gleich, wie belanglos die Information erscheint. Wir lieben Calista und möchten sie zurück.

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SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

Time Zero: 32 Stunden

Schmerz. Noch nie zuvor habe ich solchen Schmerz empfunden. Er brennt sich nicht nur durch meinen Körper, meine Knochen, sondern durch jeden Gedanken, jedes Gefühl. Am Ende bleibt nur noch ein Wort übrig: Callie, Callie, Callie. Durch meinen Namen halte ich mich verzweifelt an mir fest, aber ich bestehe nur noch aus Schmerz. Flammen verschlingen meine Haut, meine Lungen, mein ganzes Inneres.

Und dann hört der Schmerz plötzlich auf. Die Flammen brennen weiter und ich schwebe über mir. Das Feuer muss richtig heiß sein, sogar die Knochen verkohlen. Bald ist auch von ihnen nur noch Asche übrig.

Bin ich tot?

Muss ich ja wohl. Oder?

Ich stehe in Flammen und verspüre keinen Schmerz. Lebewesen können das nicht. Ich strecke die Hand aus, ich kann sie sehen, es beruhigt mich, eine kühlende Dunkelheit inmitten des Flammenmeers. Auch meine Beine sind noch da, dunkel und ganz.

Nach einer Weile versiegen die Flammen. Die Hitze nimmt ab, die Wände verlieren ihre Strahlkraft.

Ich untersuche die Wände, jeden Winkel, den Boden und die Decke auch, aber es gibt keinen Weg hinaus. Ich lege mich auf den Boden und starre die Decke an. Aus lauter Langeweile lege ich mich irgendwann unter die Decke und starre den Boden an. Für mich scheint die Erdanziehung nicht mehr zu gelten. Aber wenn ich ein Geist wäre, könnte ich dann nicht durch Wände gehen, diesen Ort verlassen? Doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich komme nicht hindurch. Die Wände schmecken nach Metall, sie sind meterdick.

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KILLIN, SCHOTTLAND

Time Zero: 29 Stunden

»Ich bin zu Hause«, rufe ich, kicke die Schuhe weg und laufe keuchend Richtung Treppe. Heute hatte ich kein Handy dabei und bin darum so schnell wie möglich nach Hause geradelt.

Mum tritt in den Flur. »Das sehe ich. Hast du schon wieder die Milch vergessen?«

»Ähm, ganz so war es nicht.« Ich habe jetzt keine Lust auf lange Erklärungen. Diese Sache kann nicht länger warten.

»Jetzt mal im Ernst, Sharona. Manchmal weiß ich echt nicht, was in deinem Kopf vorgeht. Dabei bist du doch angeblich so schlau.«

»Shay. Bitte nenn mich Shay.«

Mum verdreht die Augen, lacht, dann schaut sie mich genauer an. »Ist was passiert?«

Obwohl sie mich oft wahnsinnig macht: Wenn etwas nicht stimmt, merkt sie es sofort. Mum ist so eine Art Hippie. Mit langem Rock steht sie vor mir, ihr dunkles Haar ist lockig wie meines, nur trägt sie es nicht schulterlang wie ich, sondern bis zur Taille. Um den Hals hängen lange, bunte Perlenketten. Was Vergesslichkeit angeht, hat sie gerade gut reden. Ohne mich würde sie ständig vergessen zu essen. Dafür bemerkt sie die wichtigen Dinge.

»Und ob was passiert ist.«

»Haben dich diese Jungs wieder geärgert?«

»Nein, das ist es nicht. Hier.« Ich ziehe den zerknitterten Zettel aus der Tasche. Mum streicht ihn glatt, liest und sieht mich fragend an.

»Ich habe sie gesehen. Ich habe dieses Mädchen gesehen. Ich muss anrufen.«

»Erzähl mal.« Also berichte ich ihr die ganze Geschichte. Dabei zieht sie mich in die Küche und macht einen speziellen Kräutertee, der beruhigend wirken soll. Schmeckt abartig.

»Bist du dir sicher, dass es das Mädchen war? Ist ja schon ziemlich lange her. Täuschst du dich auch nicht?«

»Nein.«

»Und das ist keine dieser verrückten Geschichten, die deine Freundin Iona bloggt?«, fragt sie vorsichtig. »Du verwechselst da doch nichts, oder?«

»Natürlich nicht!«

»Okay, ich wollte nur sichergehen. Ich glaube dir ja.«

»Wann sind wir letzten Sommer weggefahren?«

Mum legt die Stirn in Falten und überlegt. Dann wühlt sie in einer Schublade und hält triumphierend einen Kalender vom letzten Jahr hoch. Nachdem sie ihn aufgeschlagen hat, macht sie ein langes Gesicht. »Am 30. Juni.«

»Also habe ich sie am 29. gesehen, an dem Tag, an dem sie verschwunden ist.«

»Soll ich da anrufen?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, mache ich schon selbst.«

Als ich die Nummer wähle, zittern mir die Hände ein wenig. Hätte ich doch bloß damals gleich die Polizei angerufen. Wenn das Auto nur eine Minute später gekommen wäre, hätte ich das auch. Aber vielleicht war der Mann ja auch ihr Vater. Vielleicht ist sie erst später an dem Tag verschwunden und ich hätte nichts tun können.

Es klingelt: einmal, zweimal, dreimal, viermal. Kopfschüttelnd sehe ich Mum an. Endlich wird abgenommen.

»Hallo. Leider können wir nicht persönlich ans Telefon gehen, bitte hinterlassen Sie uns doch eine Nachricht.« Eine warme männliche Stimme, gehobene Ausdrucksweise, mit leichtem Akzent.

»Anrufbeantworter«, zische ich und frage mich, was ich sagen soll.

Piep.

»Ähm, hallo. Ich habe Ihren Aushang gelesen. Über Calista. Und …«

»Hallo, hallo? Hier spricht Kai Tanzer. Ich bin Calistas Bruder. Weißt du, wo sie steckt?« Es ist die Stimme vom Anrufbeantworter. Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, er ist voller Hoffnung. Auch wenn ich ihn überhaupt nicht kenne, fällt es mir schwer, das im Keim zu ersticken.

»Nein, tut mir leid. Ich weiß nicht, wo sie ist. Aber ich habe sie gesehen.«

»Wo? Wann?«

»Es ist schon länger her. Ich bin erst heute auf die Anzeige gestoßen, aber ich habe Calista im letzten Jahr gesehen, an dem Tag, an dem sie verschwunden ist. 29. Juni stand da.« Ein Flyer, der im Supermarkt am Schwarzen Brett hing, an dem ich bestimmt schon hundertmal vorbeigegangen bin und der mir nie aufgefallen war. »Es war am späten Nachmittag. Calista ging spazieren und stieg dann zu einem Mann in einen Wagen. Ich nahm an, es sei ihr Vater.« Habe ich das wirklich geglaubt? Oder rede ich mir das jetzt ein, weil ich ein Unglück hätte verhindern können, wenn ich nachgehakt hätte?

»Ah, verstehe«, sagt er. Da ist Schmerz in seiner Stimme. »Verschwunden ist sie schon morgens. Weißt du noch, wie der Mann aussah?«

»Ich glaube schon.«

»Wo wohnst du denn?«

»In der Nähe von Killin in Stirlingshire. Schottland.« Ich gebe ihm unsere Adresse, erkläre ihm, dass er der einspurigen Straße den Berg hinauf folgen muss. Und der Wegweiser Addy’s Folly ihn zu uns führt.

»Bleib, wo du bist. Ich komme zu dir. Geh nirgendwohin, okay?«

»Ich bleibe hier.«

»Ich brauche vielleicht zwei, zweieinhalb Stunden. Wie heißt du?«

»Shay.«

Die Leitung ist tot.

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SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

Time Zero: 28 Stunden

Die Zeit vergeht schleppend.

Endlich regt sich was. An einer Wand öffnet sich eine Tür und ich verdrücke mich in die hinterste Ecke. Menschen in Schutzanzügen kommen rein.

Von mir nehmen sie keine Notiz, sodass ich mich nach einer Weile aus meiner Ecke raustraue. Ich fuchtele ihnen mit den Händen vor dem Gesicht herum. Keine Reaktion.

Mit Instrumenten überprüfen sie die Asche am Boden, entnehmen kleine Proben, die sie unter Sensoren halten. Sie scheinen zufrieden zu sein und zücken einen Besen. Nicht gerade Hochtechnologie. Was von mir übrig ist, wird zu einem Haufen zusammengekehrt, und dann wird ein silbernes Teil zum Einsatz gebracht, noch eine Düse aufgesteckt … Und schwups hat man einen Staubsauger. Ich werde aufgesaugt. Einfach so. Futsch.

Anschließend nehmen sie den Sauger wieder auseinander und schreiben »Subjekt 369 X« auf den Beutel.

Jetzt werde ich aber sauer. Richtig sauer.

»Ich bin Callie!«, brülle ich.

Beklommen halten sie inne. Tauschen Blicke, zucken die Achseln und sammeln ihre Instrumente zusammen. Als sie durch die Tür gehen, bin ich ihnen dicht auf den Fersen. Ich will nicht in diesem kahlen Raum festsitzen.

Den Reaktionen nach konnten sie mich hören, jedenfalls ein wenig. Auch wenn ich nicht weiß, was ich bin, kann ich zumindest wieder sprechen – die Maske bin ich los. Ich hatte so lange keine Stimme, dass ich richtig glücklich darüber bin.

Ich kann sogar singen! Ich stimme ein Lied an, das ich manchmal von den Schwestern gehört habe, als ich krank im Bett lag; einer der Techniker vor mir pfeift im Takt mit.

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KILLIN, SCHOTTLAND

Time Zero: 27 Stunden

»Soll ich wirklich nicht dabei sein?«, fragt Mum und bleibt unsicher im Türrahmen stehen.

»Zum hundertsten Mal: nein. Geh endlich! Ich komm allein zurecht.«

»Du rufst mich an, wenn …«

»Wenn was? Wenn er ein Axtmörder ist? Ich weiß nicht, ob das klappt. ›Entschuldigung, könnten Sie Ihre Axt kurz weglegen. Ich habe meiner Mami versprochen anzurufen!‹« Mum sieht mich entnervt an. »Alles gut. Du hast ja seinen Namen und die Telefonnummer. Geh!«

Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn und verlässt das Haus.

Am liebsten würde ich sie zurückrufen, aber ich verkneife es mir. Ich bin sechzehn, fast siebzehn, da kann ich mich nicht mehr hinter meiner Mutter verstecken. Warum bin ich nur so aufgeregt?

Seufzend lasse ich mich aufs Sofa plumpsen und lehne mich an Ramsay, meinen riesigen Plüscheisbären. »Sei doch ehrlich, Shay«, sage ich laut und fahre erschrocken zusammen, als meine Stimme durch das leere Haus dringt. Wenn ich diesem Jungen die ganze Geschichte erzähle, wird er fragen, warum ich nichts unternommen habe, und mich womöglich für Calistas Schicksal verantwortlich machen.

Vielleicht denke ich insgeheim genauso. Normalerweise hätte ich keinen Gedanken mehr an eine solche zufällige Begegnung verschwendet. Ich kann mich so gut daran erinnern, weil mir bei der Sache nicht wohl war. Und ich habe nichts unternommen.

Die Zeit will nicht vergehen. Endlich höre ich Motorengeräusche. Ich stehe auf und ziehe den Vorhang beiseite. Die Sonne verschwindet gerade hinter den Bergen, als ein Motorrad um die Ecke biegt. Kurz werden die Maschine und der schwarz gekleidete Fahrer von einer Art Heiligenschein umrahmt. Dann ist es wieder stockdunkel.

Als ich die Haustür öffne, nimmt der Fahrer den Helm ab. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar und streicht es sich aus den Augen.

»Shay?«, fragt er. »Ich bin Kai.« Er zieht sich die Handschuhe aus und wir geben uns die Hand. Er hält meine eine Weile. Sieht mich dabei durchdringend an – bittend, bedürftig. Wie gebannt schaue ich ihm in die Augen – hellbraun, mit einem goldenen Ring um die Pupillen, der in Grün übergeht.

Blinzelnd löse ich den Blick. »Komm doch rein«, sage ich. »Magst du vielleicht einen Tee oder …«

»Nein. Nein, Shay. Sag, was du beobachtet hast. Bitte.« Er klingt ängstlich und angespannt. Seine Schwester, seine kleine Schwester, wird seit fast einem Jahr vermisst. Wie fühlt sich das wohl an? Ich muss ihm alles genau erzählen, egal, ob ich dabei gut wegkomme.

»Natürlich. Tut mir leid.«

Im Wohnzimmer biete ich ihm einen Sessel an und nehme auf dem Sofa Platz. Vorher öffnet er noch den Reißverschluss seiner Motorradjacke und zieht sie aus. Er ist hochgewachsen, hat breite Schultern. Von der Sonne ist das Haar ausgebleicht, blonde und braune Strähnen wechseln sich ab. Wahrscheinlich ist er ein oder zwei Jahre älter als ich. Meine Freundin Iona würde sagen, er sieht todesgut aus. Er setzt sich und schaut mich ruhig an. Wartet, dass ich loslege.

»Okay. Ich war mit dem Rad unterwegs. Da gibt es diese eine Stelle oben auf dem Berg, wo ich immer anhalte. Es war nachmittags, so zwischen drei und vier. Ich weiß, dass es der 29. Juni war, weil wir am nächsten Tag in die Ferien gefahren sind, sonst hätte ich sicher auch mitbekommen, dass sie vermisst wird.«

Er nickt, lässt mich nicht aus den Augen.

»Ich sah jemanden den Pfad hinaufkommen. Ein Mädchen. Mit Jeans und rotem Kapuzenpulli. Der Weg ist ziemlich steil, und zu Fuß ist es ein weiter Marsch von Killin, darum habe ich mich gefragt, wer sie wohl ist, und genauer hingeschaut. Da oben treffe ich sonst nie jemanden.«

Er greift in die Tasche und reicht mir ein Foto. »Und du glaubst, es war meine Schwester? Unsere Calista?«

Auch wenn es ein anderes Bild ist als das auf dem Handzettel, lassen das lange dunkle Haar, die blauen Augen und der fragende Blick keinen Zweifel zu. Ich nicke. »Das ist sie. Da bin ich ganz sicher.«

»Auch nach all der Zeit?«

»Ja.« Ich zögere, eigentlich will ich darüber gar nicht reden, aber es muss wohl sein. »Das ist so ein bisschen mein Ding. Wenn ich mich konzentriere, habe ich ein fotografisches Gedächtnis. Ich präge mir leicht was ein.«

»Okay. Und was war dann?«

Also erzähle ich ihm die ganze Geschichte. Dass sie sich angeblich nicht verirrt hatte, ich ihr gefolgt bin, wie der Wagen hielt und sie mit dem Mann einstieg.

»Wie sah der Mann aus?«

»Ganz gewöhnlich. Sorry, das hilft dir jetzt nicht. Kurzes Haar, schon ein wenig schütter. Etwas über vierzig. Wenn ich ein bisschen darüber nachdenke, fällt mir vielleicht noch mehr ein.«

Er runzelt unwillig die Stirn.

»Tut mir echt leid. Hätte ich sie doch bloß dazu gebracht, mit mir zu reden, die Polizei gerufen oder sonst was getan. Irgendwas.«

Als Kai aufschaut und meinen Blick sieht, werden seine Züge weicher. Er schüttelt den Kopf. »Was immer auch mit meiner Schwester passiert ist, ist nicht deine Schuld. Ich dachte nur, na ja.« Er greift erneut in seine Tasche und fördert ein weiteres Foto zutage. »Ich dachte, es könnte eventuell dieser Mann gewesen sein.« Sein Blick sagt mehr als tausend Worte, er hasst ihn.

Auf dem Bild ist ein älterer Mann mit langem, üppig silbergrauem Haar zu sehen. Mit den durchdringend blauen Augen sieht er aus wie ein Filmstar, selbst auf dem Foto hat er eine unglaubliche Ausstrahlung. Und irgendwie kommt er mir auch bekannt vor, vielleicht habe ich ihn mal in einem Film gesehen?

Aber das ist nicht der Mann, zu dem Calista in den Wagen gestiegen ist. »Nein. Sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.«

»Sicher? Bist du ganz sicher?«

Weil ich spüre, dass er es sich wünscht, schaue ich noch einmal richtig hin. Und seltsamerweise triggert das Bild eine Erinnerung. Nur dieses silberne Haar irritiert mich. Angestrengt denke ich nach und schüttle schließlich den Kopf – woran auch immer ich mich erinnere, ist für Kais Sache nicht von Bedeutung. »Es ist nicht der Mann, den ich mit deiner Schwester gesehen habe.« Ich schaue Kai an. »Wer ist es?«

»Mein Stiefvater. Meine Mutter hat sich vor ein paar Jahren von ihm scheiden lassen.«

»Und du meinst, er könnte deine Schwester entführt haben?«

»Der würde alles tun, um Mum wehzutun. Gehst du mit mir zur Polizei, erzählst du denen, was du gesehen hast?«

»Klar.«

»Kannst du mir auch zeigen, wo du Calista begegnet bist?«

Ich nicke. »Das können wir nur nicht im Dunkeln machen.«

»Ich komme morgen wieder.«

Allmählich verlöscht das Feuer in seinen Augen. Kai wirkt müde und abgespannt.

»Wo wohnst du denn?«

»Newcastle.«

»Also einen Geordie-Dialekt hast du aber nicht.«

Er lächelt verhalten. »Nein. Wir sind da erst vor fünf Jahren hingezogen. Vorher haben wir überall gewohnt. Ursprünglich kommen wir aus Deutschland. Du klingst aber auch nicht besonders schottisch!«

»Nee, bin ich auch nicht. Meine Mutter schon. Sie stammt hier aus der Gegend. Vor etwas über einem Jahr sind wir aus London hergezogen. Ihre Tante Addy ist gestorben und hat ihr das Haus hinterlassen. So hat es mich hier in die Pampa verschlagen und …« Beschämt halte ich inne, als mir klar wird, dass ich ihn zutexte. Halt die Klappe, Shay. Deine Familiendramen interessieren ihn nicht.

»Dann haue ich jetzt mal ab.« Kai streckt sich und langt nach seiner Jacke.

Ich bin unschlüssig. Mir ist klar, was Mum täte, wenn sie hier wäre. »Ist ’ne ziemlich lange Fahrt zurück nach Newcastle und morgen wieder her. Du kannst gerne hier auf dem Sofa schlafen.«

»In netter Gesellschaft?«, fragt er und mir steigt die Hitze in den Kopf. Kais Blick wandert zu Ramsay und zurück zu mir, er grinst. In seinen Augen steht der Schalk, als wüsste er genau, was ich zuerst gedacht habe. Als ob so ein Typ Interesse an mir haben könnte!

»Na, das musst du mit Ramsay klären. Vielleicht verbringt er die Nacht lieber allein auf dem Sessel.«

»Musst du nicht deine Eltern fragen?«

»Ich wohne hier bloß mit meiner Mum. Sie arbeitet im Pub und kommt erst in ein paar Stunden nach Hause. Außerdem ist sie sowieso einverstanden.«

Kais Lächeln verschwindet wieder, so als könnte es sich nie lange auf seinem Gesicht halten. »Da fällt mir noch was ein. Ich rufe lieber meine Mutter an und erzähle ihr, was du gesagt hast.«

Er verschwindet nach draußen. Ich höre ihn in einer fremden Sprache reden – wahrscheinlich Deutsch. Für mich ergeben die Worte keinen Sinn, aber er hat eine schöne Stimme, fast melodisch. Im Englischen formuliert er die Wörter schulbuchmäßig. Man hört weder Newcastle noch irgendeine andere Region raus.

Ich schreibe Mum eine Nachricht. Er ist da und hat mich noch nicht gekillt. Kann ich ihm für heute Nacht das Sofa anbieten? Morgen soll ich ihm die Stelle zeigen, wo ich seine Schwester gesehen habe, und mit ihm zur Polizei gehen.

So schnell, wie sie antwortet, wird sie mit dem Handy in der Hand gelauert haben. Natürlich. Mach ihm was zu essen. Kommst du alleine klar? Ist er nett?

Draußen in der Dunkelheit klingt seine Stimme wie Musik. Traurige Musik, so wie in der Oper, wenn alles schiefgeht. Ob er nett ist, will Mum wissen. Auf jeden Fall nicht Hundebaby-nett. In seinem Blick liegt etwas Verstörendes, als müsste er mit seinem Inneren ringen.

Auf einmal steht Kai ganz verlegen in der Tür. Anstelle von Wut verströmt er unendliche Traurigkeit. Ich wünschte, ich könnte ihn irgendwie aufheitern.

Ich schreibe zurück: Ja.

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SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

Time Zero: 26 Stunden

Ich folge dem pfeifenden Techniker und dem Staubsaugerbeutel mit der Aufschrift Subjekt 369 X durch Gänge und Türen. Jede Tür ist doppelt gesichert, man geht durch eine, wartet, bis sie sich schließt, und tritt dann durch die nächste. Ich halte mich so dicht hinter dem Mann, dass ich nicht mittendrin stecken bleibe.

Doch dann führt eine Tür nicht zur nächsten. Stattdessen gelangen wir in einen Raum mit Bänken und ausgefallenen Apparaturen. Vielleicht ein Labor? Dort sitzen zwei Wissenschaftler, die ebenfalls in glänzenden Overalls stecken. Der Techniker hört auf zu pfeifen. »Ich habe noch einen für Sie, Doc«, sagt er. Einer der Wissenschaftler erhebt sich und nimmt den Beutel an sich.

»Ah, ja, das X-Mädchen«, sagt er. »Wie spannend.«

Der Techniker verschwindet. Ich bleibe im Labor bei meinem Beutel. Der Wissenschaftler geht mit dem Beutel zu einer Tür im hinteren Teil des Labors und betritt einen weiteren Raum. Ich folge. Die Atemluft des Mannes steigt als weißer Nebel auf. Auch wenn ich nichts spüre, ist es offenbar kalt hier und riesig ist es auch. Unter der Decke ist so ein Förderband mit Haken, an dem Beutel wie meiner hängen. Mit Nummern drauf.

Der Mann drückt auf einen Knopf neben der Tür und das Förderband dreht sich wie bei einer Reinigung. Ein Beutel nach dem anderen zuckelt an uns vorbei. Dann hält es an. Zwischen Beutel 368 und 370 ist ein freier Haken. Dorthin verfrachtet er meine Asche.

Waren all diese Beutel einst Menschen wie ich? Mit Namen?

Ich bin nicht 369 X!

Nie, nie wieder werde ich eine Nummer sein.

ICH BIN CALLIE!

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KILLIN, SCHOTTLAND

Time Zero: 25 Stunden

Ich liege in meine Decke gemummelt im Bett, aber ich bin nicht müde.

Mum kam früh zurück. Auf der Arbeit war angeblich nichts los. Wer’s glaubt.

Trotzdem war ich froh, als sie kam. Wir hatten schon gegessen – Pasta, das einzige Gericht, das ich halbwegs passabel hinbekomme –, und Kai war so höflich, es zu loben und zu antworten, wenn ich ihn etwas gefragt habe. Bei meinen kläglichen Konversationsversuchen bekam ich immerhin heraus, dass er und seine Mutter allein in Newcastle leben. Seine Mutter ist Ärztin und arbeitet irgendwo in der Forschung. Er hat gerade Abi gemacht und soll nach den Sommerferien zur Uni gehen. Dieses »soll« klang allerdings nicht so, als hätte er wirklich vor zu studieren. Kai hat mir sogar beim Abwasch geholfen. Aber es war ihm anzumerken, dass er keine Lust hatte, sich zu unterhalten, und allein sein wollte.

Auch wenn es für einen Freitagabend noch früh war, wollte ich mich gerade mit einem demonstrativen Gähnen nach oben flüchten, als Mum kam. Dennoch wurmte es mich gewaltig, dass sie mich wie ein kleines Kind ins Bett schickte.

Unten höre ich ihre Stimmen. Verstehen kann ich nichts, es ist ein Gemurmel. Meistens redet Mum, Kai antwortet kurz.

Noch nicht mal Mum kann ihn knacken?

Das überrascht mich. Wenn es ein Problem gibt, ganz gleich, ob Liebeskummer, Todesfall in der Familie oder Bad Hair Day, wenden sich immer alle an Mum. Deshalb ist sie im Pub ja auch so beliebt. Die Leute kommen, reden mit ihr und trinken. Man muss nur gut zuhören können, sagt sie.

Nach einer Weile verebben die Stimmen. Das Haus ist still, dunkel. Es hat lange gedauert, bis ich in dieser absoluten Stille einschlafen konnte. Nach dem Londoner Verkehrslärm, den Sirenen und Menschen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit unten auf der Straße singen oder rumbrüllen, war die Stille in diesem abgelegenen Haus ohrenbetäubend.

Jetzt muss ich vor allem eines tun: mich erinnern. Wenn ich mir die Situation mit Calista noch einmal ganz klar vor Augen führe, gibt es vielleicht noch einen Hinweis, den ich bisher übersehen habe.

Zwar verfüge ich über ein fotografisches Gedächtnis, aber nur, wenn ich mich konzentriere. Und das muss ich wohl letztes Jahr getan haben, ansonsten hätte ich Calista auf dem Foto nicht sofort wiedererkannt. Nun geht es darum, nach all der Zeit Zugang zu den Erinnerungen zu finden. Dann kann ich mir alles in Ruhe anschauen, wie ein Video, das ich nach Belieben anhalten, zurückspulen und immer wieder ansehen kann.

Konzentrier dich, Shay. Konzentrier dich

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SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

Time Zero: 24 Stunden

Selber schuld. Hätte ich doch bloß den Kühlraum mit dem Wissenschaftler verlassen, aber ich habe mich so geärgert, dass ich erst bemerkt habe, dass er gegangen ist, als die Tür scheppernd ins Schloss fiel. Dann wurde das Licht gedimmt und ich war allein.

Ich stemme mich gegen die Wände, die Tür, den Boden, sogar gegen die Decke, doch es bringt nichts. Der Raum ist komplett abgedichtet. Was habe ich davon, ein Geist zu sein, wenn ich nicht mal durch Wände gehen kann?

Überall hängen Beutel wie meiner herum. Mir wird mulmig. Steckt in ihnen auch die Asche von toten Menschen? Sind sie auch Geister? Wo sind sie?

Wie viele sind es überhaupt?

Viele.

Ich bekomme Panik. Schön ein- und ausatmen und bis zehn zählen, haben sie mir eingeschärft. Versuch, die Panik zu bekämpfen, bevor es richtig losgeht. Aber wie soll das gehen, wenn man nicht mehr atmet?

Ich werde zählen. Zähle sämtliche Beutel von Anfang an.

Ich folge der Schiene über mir bis zum Beutel mit der Nummer 1 und fange an: 1, 2, 3, 4 … 99, 100, 101 … 243, 244, 245 …

Zähle und zähle. Bis hoch zu Nummer 368 und da bin ich: 369 X. Und weiter. 370, 371, 372 bis zu 403. Danach gibt es noch viele leere Haken. Warum hängen schon so viele Beutel hinter meinem? Ich muss spät dran gewesen sein.

Auf keinem der anderen Beutel steht ein X, nur auf meinem. Was bedeutet das X wohl?

Über vierhundert Tote hängen hier.

Wo sind nur ihre Geister? Zeigen sie sich vielleicht bei Nacht?

Ist es Tag oder Nacht? Keine Ahnung.

Ich habe Angst. Ich rolle mich zusammen und werfe mich gegen die Tür.

»Lasst mich raus!«, brülle ich wieder und wieder und wieder.

In mir wachsen Panik und Wut, werden größer und größer, schwappen wie eine heiße Welle über mich und dann …

Piep-piep. Piep-piep.

Ein leiser Alarm erklingt. Vielleicht von draußen?

Piep-piep. Piep-piep.

Kurz darauf geht die Tür auf. Ich stürze hinaus, direkt in die Arme des Wissenschaftlers, der mich gerade eben aufgehängt hat. Er bleibt wie angewurzelt stehen. Hinter ihm warten zwei Techniker in weißen Schutzanzügen, ungeduldig drängen sie an ihm vorbei in den Kühlraum.

»Ich verstehe nicht, warum die Temperatur angestiegen ist«, sagt einer der Techniker, nachdem er Armaturen und Bildschirme überprüft hat. »Jetzt stimmt es wieder. Alles ist richtig eingestellt. Die Anlage läuft, wie sie soll.«

»Seltsam«, sagt der Wissenschaftler. »Als ich gerade die Tür geöffnet habe, ist mir ein warmer Lufthauch ins Gesicht geweht.«

Der Techniker dreht sich zu ihm um. »Die Temperatursensoren zeigen keine Abweichung. Und außerdem können Sie durch den Anzug überhaupt keine Temperaturschwankungen wahrnehmen. Das wissen Sie doch.«

Der Wissenschaftler strafft die Schultern. »Behalten Sie die Anlage heute Nacht einfach im Blick.« Damit stampft er davon.

Ich hefte mich an seine Fersen. Schlüpfe durch die Tür und lasse die Beutel mit der Toten-Asche hinter mir.

Auch meinen.

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KILLIN, SCHOTTLAND

Time Zero: 23 Stunden

Erst spät in der Nacht gelingt es mir, Zugang zu meiner Erinnerung von jenem Tag zu finden; ich spiele sie ab, als würde alles gerade in diesem Moment passieren:

Die Sonne scheint, aber im Wald ist es kühl.

Ich beobachte sie mit ihrem dunklen Haar und dem roten Kapuzenpulli. Sie kommt näher und näher.

Am liebsten würde ich ihr zurufen, sie möge auf mich warten. Ihr sagen, ich würde sie auf den Gepäckträger nehmen und mit ihr nach unten ins Tal zur Polizei fahren oder Kai anrufen. Nur kann ich nicht in der Zeit zurückgehen. Ich bin unfähig, mich zu rühren. Gezwungen, alles noch einmal zu erleben. Genau so zu erleben, wie es passiert ist. Nun hat sie mich fast erreicht.

»Hallo. Hast du dich verlaufen?«

»Ich bin’s nur, keine Angst. Hast du dich verlaufen?«

Sie dreht sich um. Ihre Augen sind blau, aber nicht so langweilig mittelblau wie meine, sie sind dunkel, fast lila. Zwischen den Bäumen hindurch fällt ein Lichtstrahl genau auf sie und um ihren Hals glitzert und funkelt etwas. Eine Kette mit einem Anhänger. Ich blinzle und sie tritt etwas aus der Sonne. Ein Anhänger wie ein Strahlenkranz. Auch wenn ich mir sicher bin, so was noch nie gesehen zu haben, weckt es eine Erinnerung.

»Nein«, sagt sie, wendet sich ab und läuft weiter.

Abermals habe ich den Impuls, ihr hinterherzulaufen, doch ich bin wie versteinert. Erst als ich sie fast aus dem Blick verloren habe, kann ich mich wieder rühren und ihr bis zur Straße folgen. Wie an jenem Tag hole ich mein Handy aus dem Rucksack.

Ruf diesmal wirklich die Polizei an, Shay. Mach schon!

Der Wagen kommt. Er ist schwarz, vier Türen, ein glänzender Mercedes mit getönten Scheiben. Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich auf das Nummernschild, aber mir ist der Blick von dem Gestrüpp am Fahrbahnrand versperrt. Ich sehe nur die obere Hälfte der Zahlen und Buchstaben, das reicht nicht.

Ein Mann steigt aus. »Da bist du ja«, sagte er. Er ist halb von mir abgewandt. Sein Gesicht kann ich nicht besonders gut erkennen. Er hat schütteres Haar, oben schon eine Glatze. Dunkel, nicht grau. Von meiner Warte lässt sich die Größe schlecht schätzen, aber vielleicht um die 1,80.

Sie geht zu ihm hin, steigt in den Wagen ein – hinten.

Als er sich umdreht, um auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen, erkenne ich ihn für den Bruchteil einer Sekunde von vorn. Ich nehme jedes Detail auf. Die kaum verhohlene Wut in den braunen, weit auseinanderstehenden Augen, eine kleine Narbe am linken Auge. Das rechte wirkt ein wenig rot und geschwollen, als wäre er kürzlich geschlagen worden und würde morgen ein blaues Auge haben. Um den Hals glitzert etwas Goldenes.

Vorne sitzt noch eine Person. Abgewandt. Durch die getönten Scheiben kann ich nur eine Silhouette ausmachen. Eine vage Vorstellung von Größe. Stärke. Noch ein Mann?

Der Wagen fährt davon.

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SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

Time Zero: 22 Stunden

Ich folge dem Wissenschaftler durch einen Gang und durch noch einen weiteren. Wir gelangen zu einer dieser Doppelsicherheitstüren. Mit einem Ausweis öffnet er sie. Ich bin ihm wieder dicht auf den Fersen.

Vor der nächsten Tür bleibt er stehen und hält sein Auge außen an ein Gerät. Die Tür gleitet auf. Und erst als sie sich hinter uns schließt, wird mir klar, dass wir uns in einem Fahrstuhl befinden.

Ich hasse Fahrstühle. Überhaupt hasse ich es, eingepfercht zu sein, doch Fahrstühle sind am schlimmsten. Zitternd rolle ich mich in einer Ecke zusammen, aber es ist nicht der Fahrstuhl allein. Dieser ganze Ort, die langen Flure, Labore, nirgends gibt es Fenster. Nirgends. Ich will hier raus! Endlich mal die Sonne, den Himmel sehen, ein paar Bäume, selbst ein halb vertrockneter Park in einer grauen Großstadt wäre mir recht.

Wir sind eine ganze Weile in dem Fahrstuhl. Fahren wir rauf oder runter? Ich spüre keine Bewegung und über der Tür werden auch keine Stockwerke angezeigt.

Endlich geht der Fahrstuhl auf. Der Wissenschaftler steigt aus, ich folge ihm wie ein Schatten durch einen merkwürdigen Tunnel aus Plastikplane. Erst tritt er unter einen Wasserstrahl, dann unter einen Nebelstrahl und anschließend durch einen Bereich mit seltsamen blauen Lichtern. Mir kommt es vor, als würden wir durch eine Autowaschanlage marschieren. Am Ende zieht er den Anzug aus, legt den Helm und den ganzen Krempel ab und steckt ihn in eine Klappe. Nun sieht er nicht mehr wie ein Alien aus, sondern eher wie ein griesgrämiger alter Mann in zerknautschtem Hemd und knittriger Hose.

Er streicht sich das Haar glatt und hält das Auge mal wieder vor ein Gerät bei der Tür. Als sie aufgeht, stehen wir in einem großen Raum. Auch wenn es keine Fenster gibt, ist der Saal zumindest geräumig, und meine Panik legt sich. Die Menschen hier tragen keine Schutzanzüge, sondern normale Klamotten. Manche haben ziemlich ausgefallene Röcke und Anzüge an, andere laufen mit weißen Laborkitteln über der Kleidung rum und wieder andere mit Arbeiterkleidung und schweren Stiefeln. An der Wand hängen riesige Monitore, davor stehen Schreibtische mit Computern. Alle wirken aufgedreht, etwas liegt in der Luft.

»Da bist du ja. Ich dachte schon, du verpasst den ganzen Spaß hier unten«, sagt eine Ärztin im weißen Kittel zu dem Mann, mit dem ich gekommen bin.

»Ich wurde aufgehalten«, sagt er. »In der Kühlkammer gab es ein Problem mit der Temperatur. Habe ich es verpasst?«

»Nein. T minus zwei Minuten bis zur Strahlung«, sagt sie.

Allmählich kommen die Stimmen im Raum zur Ruhe. Eine große Digitaluhr über den Bildschirmen zählt die letzte Minute herunter. Es herrscht Stille.

3 … 2 … 1 …

Alle scheinen die Luft anzuhalten, während sie auf den großen Bildschirm in der Mitte starren.

Ein schwaches Piepen ertönt und auf dem Monitor leuchtet ein grelles Licht auf.

Allgemeiner Jubel. Die Leute unterhalten sich aufgeregt, schütteln sich die Hände. Offenbar gratulieren sie sich gegenseitig. Ich schnappe Bruchstücke der Unterhaltung auf: Noch ein Erfolg … Immer eine spannende Sache … Wir haben es wieder geschafft …

Und das für so ein bisschen Leuchten am Bildschirm?