Erstes Gespräch

Lola, die Gartenzwerge der Islamisten und das Ende der Freiheit

»Gibt es noch einen Weg, all das zu retten?«

Die Frage schwebt zwischen uns in die kühle Luft hinaus und bleibt dort hängen, irgendwo im Blau des Winterabends.

Breit, breit fließt der Sankt-Lorenz-Strom dahin, schiebt seine Wassermassen in Richtung Atlantik, ein ewiges bewegliches Lebewesen. Und hier oben stehen also wir, klein, unwichtig, sehr vergänglich. Lola und ich. Und, weiter vorn, wobei von Stehen keine Rede sein kann, Hannah-Marie.

Sie hopst.

Auf und ab, auf und ab, auf einer der Bänke, die zum Ausruhen gedacht sind, die Hände an der Lehne. Sie hopst nur kurz, kürzer, als andere fast dreijährige Kinder es tun würden, dann hockt sie sich hin, um kurz auszuruhen; mit Hannah-Maries Herz stimmt etwas nicht. Aber das hindert sie nicht daran, zu hopsen.

Blau, blau spannt sich der Himmel über uns.

Lola setzt sich, sieht auf den Strom hinaus, hechelt leise. Sieht dann zu mir auf.

»All das zu retten? Alles was?«

Ich mache eine weite, nicht ganz elegante Handbewegung. »Die Natur. Die Wale, die irgendwo weiter unten im Strom schwimmen. Die Menschen. Die Hoffnung.«

»Ich sehe nicht, dass hier im Moment irgendwas zu retten wäre.« Lola schnauft ein wenig und legt ihren Kopf auf die hellen Pfoten. »Ist doch alles so weit in Ordnung. Der Mensch macht sich immer zu viele Gedanken.«

»Das glaube ich nicht«, sage ich. »Er macht sich zu wenige. Schau dir an, was los ist auf der Welt. Diese Idylle trügt. Es ist eine Blase, die jeden Moment platzen kann. Es war auch schön in Nizza, am Tag der Unabhängigkeit. Und auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Es war schön auf der Silvesterfeier am Bosporus, Musik, Tanz, der Blick auf die Brücke, wo zwei Kontinente sich treffen, ich stelle es mir schön vor. Und dann ist die Blase zerplatzt, ganz plötzlich. Dann war da jemand mit der Macht, alles zu zerstören, die Kraft von zig Tonnen Lastwagen, von einem Maschinengewehr, die Kraft des Hasses. Weil jemand etwas dagegen hatte, dass die Menschen feiern. Jemand hatte etwas gegen diese Seifenblase. Denn die Schönheit solcher Seifenblasen besteht zu neunzig Prozent aus Freiheit. Der Freiheit zu denken, zu sagen und zu tun, was man möchte. Ich meine, man kann Kritik üben. Man kann durchaus behaupten, die Freiheit von Menschen in einem Szeneclub am Bosporus bestünde darin, sich auf Kosten anderer, die ihnen ihren Reichtum erarbeitet haben, zu amüsieren. Die Freiheit bestünde darin, ihr Geld für Cocktails und unendlich teure Abendkleider auszugeben statt für hungernde und frierende Menschen, die irgendwo auf der Welt auf Spendengelder warten, die niemals kommen.

Man kann Kritik üben. Nur erstens weiß man überhaupt nicht, ob so ein Multimillionär, der da tanzt, nicht vorher eine seiner Multimillionen für die Hungernden und Frierenden gespendet hat. Und zweitens ist eben das persönliche Freiheit: zu entscheiden, was man tut mit seinem Geld und mit seinem Leben.«

»Ich glaube nicht, dass Multimillionäre dabei waren. Die feiern doch irgendwo in einem Hochsicherheitstrakt. Mit ihren Hunden. Multimillionäre haben immer Hunde, wusstest du das? Und die Hunde bekommen zu Silvester Braten. Einen eigenen. Aber du willst über ernste Dinge sprechen.«

»Ich will nicht über ernste Dinge sprechen«, sage ich.

Hannah-Marie hopst. Sie sieht herüber, winkt, ruht sich wieder aus, ihren Teddybären im Arm, der geduldig auf der Bank gewartet hat.

»Ich will überhaupt nicht über ernste Dinge sprechen. Ich will hier stehen und auf den Strom sehen und nur darüber sprechen, wie schön er ist, wie glatt, wie eisig blau. Und mir vorstellen, wie in fünfzehn Jahren eine erwachsene Hannah-Marie hier steht, mit ihrer ersten großen Liebe, und wie ihre Brüder mit ihren Familien hier entlangschlendern, nach einem Stadtbummel durch die Altstadt, und wie wir uns alle zusammen später in einem wunderbaren kleinen Café aufwärmen und zusammen lachen und einen Grog trinken. Aber es wird nicht so sein. Es wird niemals so sein, verstehst du? Vielleicht wird der Strom nicht einmal mehr blau sein, weil er voller Blut ist, wie damals in Syrien der Orontes, in den sie die Toten warfen, weil sie sie nicht beerdigen konnten, ohne dabei selbst erschossen zu werden. Vielleicht werden alle Ströme voller Blut sein. Vielleicht wird der Krieg zu uns herüberschwappen, auf großen Umwegen durch die Hände der Mächtigen.

Vielleicht wird das Blut unsichtbar sein, wir werden wissen, dass es da ist, dass es an unseren Fingern klebt, ohne es eigentlich zu sehen. Und die Altstadt wird abgeriegelt sein, geschützt von Sicherheitspersonal an allen Ein- und Ausgängen, wie jeder Platz, den Touristen besuchen. Männer in Uniform und mit kugelsicheren Westen werden jeden kontrollieren, der durch die Gassen geht, jeden, der hier auf der Terrasse über dem Strom auf einer Bank sitzt. Sie werden die Seifenblase der Freiheit schützen vor Menschen mit Lastwagen und Sprengstoffgürteln, und die Freiheit wird keine Freiheit mehr sein, die Seifenblase eingefroren und hart. Und wenn die Menschen einander auf der Straße begegnen, werden sie sich nur noch kurz ansehen, voller Misstrauen in den Augen, und rasch, rasch ihre Haustüren hinter sich verschließen, sobald sie das sichere Drinnen erreicht haben. In einem Café zu sitzen und miteinander zu lachen, wird eine Ausnahme sein. Und Hannah-Maries erste große Liebe wird sorgsam ausgesucht werden, nicht von ihr, sondern von uns, von ihren besorgten Eltern. Und es darf kein Moslem sein, weil wir vor Moslems Angst haben werden, und es darf kein Araber sein, auch kein arabischer Christ, weil Hannah-Maries Mutter jüdischen Glaubens ist und alle Araber alle Menschen jüdischen Glaubens hassen werden, und es wird kein Afrikaner sein, weil wir vor Afrikanern auch Angst haben werden, denn sie werden herkommen und ihre Rechte einfordern und sich nicht mehr abwimmeln lassen, weil es einfach zu viele sein werden. All diese Ängste werden natürlich völlig irrational sein, werden uns nur eingeimpft worden sein, immer und immer wieder vorgebetet von den Medien, der allgemeinen Meinung, dem Internet, so lange, bis wir glauben, dass wir Angst haben, selbst wir, die vorher so liberal waren.

Und Hannah-Marie wird hier stehen, mit einem weißen amerikanischen Juden an ihrer Seite, der absolut sicher und von Kopf bis Fuß durchgecheckt ist, und sie wird ihn nicht lieben, und er wird sie nicht lieben, aber es wird das Beste sein. Und wenn ihre Brüder vorbeischlendern, werden sie keine Familien haben, weil es zu gefährlich sein wird, Familien zu haben. Und wenn wir nach Berlin reisen, um unsere alten Freunde zu besuchen, werden wir sie nicht mehr finden. Weil Berlin ein anderes Berlin sein wird. Weil mahnende, warnende Stimmen wie die unserer Freunde verstummt sein werden, zum Verstummen gebracht von einem Mob, der die Straße regiert und sich in alle Parlamente der Welt gedrängt hat, einem Mob, der Sicherheit! Sicherheit! schreit und alle Grenzen schließt. Und die Freunde, die wir hatten, werden einfach verschwunden sein, weil sie etwas dagegen hatten. Etwas dagegen gesagt, geschrieben, gezeichnet haben. Zum Schutz der Meinungsfreiheit vor den islamistischen Attentätern wird die Meinungsfreiheit abgeschafft worden sein. Und eine Bombe wird die Altstadt von Québec trotz allem in Schutt und Asche legen, weil Angst Hass schürt und Hass Hass weiterschürt, sie wird da vorne einschlagen, im Hotel Fairmont Le Château Frontenac, genau dort, im Turm. Aber Berlin wird zu diesem Zeitpunkt schon lange größere Wunden haben. Krater unter den Linden. Löcher in den Herzen.« Ich hole tief Luft. »So wird es sein«, sage ich, leiser, »wenn wir nichts dagegen tun.«

Lolas braune Hundeaugen mustern mich eine Weile. »Ist es das, was du nachts träumst, wenn du dich im Schlaf hin und her wälzt? Armer, armer Mensch.« Sie legt eine Pfote auf meinen Fuß, wie um mich zu trösten. »Was für einen Unsinn du dir ausdenken musst. Ist das bei allen Menschen so?«

Ich nicke. Und ich gehe zu der Bank und nehme Hannah-Marie auf den Schoß, um sie ein wenig zu wärmen, obwohl sie einen Schneeanzug und Handschuhe und eine Mütze trägt, vielleicht bin ich es, der sich an ihr wärmen muss. Sie lässt mich. Schmiegt sich an mich, samt Teddy, und Lola legt ihren Kopf auf mein Knie.

»Was?«, höre ich mich fragen. »Was können wir denn tun?«

»Warum glaubst du, dass hier Bomben einschlagen?«, fragt Lola. »Kanada ist nicht mal Kriegspartei irgendwo. Oder, wo du schon von Berlin redest, Deutschland.«

»Es schwappt herüber«, sage ich. »Alles schwappt überallhin. Was im Moment auf der Welt geschieht, ist zu groß, um irgendeinen Ort nicht zu überfluten. Noch sieht es hier gut aus. Noch. Wir leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten … Das waren die Vereinigten Staaten auch einmal. Nachdem sie das Land erfolgreich den Indianern weggenommen und mit der Hilfe der importierten afrikanischen Sklaven urbar gemacht hatten, aber das nur am Rande. Ich höre es noch: Wenn alles nichts hilft, gehen wir in die Staaten. Wer das nicht alles gesagt hat! Und jetzt? Ein einziges Elend. Jetzt bauen sie eine Mauer an der Grenze zu Mexiko, damit ja niemand von dort kommt und ihnen ihren Reichtum wegnimmt, weil er für sie arbeiten will. Jetzt haben sie ein großes Kind an ihrer Spitze, das Reden über die Vorteile von Waterboarding schwingt, Belgien für eine schöne Stadt hält und Muslimen untersagen will, das Land zu betreten. Aber die Staaten sind nur ein Land von vielen. Wir können zusehen, wie sie kippen, die Länder, wie Dominosteine, vor allem da drüben in Europa. Eins nach dem anderen kippt nach rechts um. Warum kippen sie, Lola, die Regierungen? Warum?«

Lola schnaubt. »Sie kippen gar nicht. Nicht von selbst. Die Menschen schubsen«, sagt sie. »Es sind immer die Menschen. Alle zusammen. Die Regierung existiert nicht abgekoppelt von den Menschen, nicht in einer Demokratie.«

»Guck, guck, guck!«, ruft Hannah-Marie. »Da! Ein Wal!«

Ich nicke. Hannah-Marie sieht immer Wale im Sankt-Lorenz-Strom, seit sie gehört hat, dass es an seiner Mündung welche gibt.

»Aber warum schubsen sie?«, frage ich. »Warum wollen alle diese Menschen nach rechts? Ist das nur die Angst? Die Seifenblase, die sie verteidigen wollen? Oder ist es noch etwas anderes?«