Für Ruth Schaber – zweiundsechzigmal Venedig und kein Ende der Reise in Sicht
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Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
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ISBN 978-3-7117-1092-5
eISBN 978-3-7117-5396-0
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Susanne Schaber wurde in Innsbruck geboren und ist mit dem Blick über die Berge und Grenzen aufgewachsen. Sie lebt heute als Literaturkritikerin und Reiseschriftstellerin in Wien. Im Picus Verlag erschienen ihre Lesereisen Triest und Friaul, Island, Pyrenäen und Korsika.
Eine Stadt sticht in See
Picus Verlag Wien
Die Sterne entlang
Piero Dri baut Rudergabeln und kennt die Wege durchs Wasser
Heimathafen Harry’s Bar
Enten, Nebel und Liebeshändel: Mr. Hemingway erkundet die Lagune
Wo der Mythos wohnt
Wie man mit List und Tücke bis ganz nach oben steigt
Höhenflug durch die gläserne Decke
Marina und Susanna Sent schreiben die Geschichte Muranos um
Zwischen Holz und Leinwand schimmert Tizian-Rot
Die venezianischen Maler holen die Kunst aus dem Elfenbeinturm
Eine Stadt sticht in See
Der Architekt als Kapitän: Palazzi und Häuser segeln durch die Zeiten
»Ich habe alles gelebt«
Nichts zu bereuen: Peggy Guggenheim feiert Kunst und Exzentrik
Risi e bisi, carciofi und pasta e fagioli
Der Garten der Venezianer: Kulinarische Spurensuche Für auf Sant’Erasmo
Schmiegsames Gold, flammendes Metall
Mariano Fortuny und Henriette Negrin wandern zwischen den Welten
Fare bella figura auf den Bühnen der Stadt
Venezianische Anachronismen: Die Schuhmacherin Gabriele Gmeiner
Wenn Steine sprechen
Luigi Nono, der prete rosso und die Klänge von Marmor und Meer
Auf schwankendem Boden
Streifzüge durchs Ghetto
E la nave va
Venedig wird nicht untergehen
»Jedes Mal, wenn ich eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig.«
Mit einem einfachen Stück Holz, das durch seine Hände gleitet, beginnt für Piero Dri eine aufregende Reise: In den Jahresringen und Maserungen mächtiger Walnussstämme erkennt er seine Route, in den eingeschlossenen Ästen die Wegmarken. Und schon startet seine imaginäre Fahrt. Es dauert nicht lange, bis seine Heimat Venedig hinter ihm liegt und er in ferne Gestade aufbricht.
Piero Dri ist remer. Er baut Ruder für Gondeln und Boote und ist berühmt für seine fórcole, wie die Rudergabeln im lokalen Dialekt heißen. Jede einzelne ist eine Herausforderung, sich neuen Ufern zu nähern, wie er erzählt, und damit abzutauchen in ferne Lebenswelten und in die Geschichte eines Handwerks, das den Stürmen der Zeiten getrotzt hat.
Vier remer gibt es heute noch in Venedig, Piero Dri ist der jüngste und vielleicht auch der leidenschaftlichste. Ein mittelgroßer junger Mann mit braunen, vorwitzigen Augen und einem offenen Lachen. Seine Sprache steckt voller Poesie. »Eine fórcola fertigzustellen gleicht der Ankunft in einem fremden Hafen«, verrät er, einem Freudentanz nach Tagen und Wochen der Einsamkeit auf dem offenen Meer. Piero ist ein Querdenker und darin ein gewinnender Charakter. Er fürchtet sich nicht, als Einzelgänger zu gelten. Nur nicht im Schwarm der Fische mitschwimmen, das ist seit jeher sein Credo.
Schon als Kind schließt er sich seinem Großvater an, der einen sàndolo besitzt, eine Art Gondel, die früher beim Fischen und auf der Entenjagd verwendet wurde. Gemeinsam erkunden die beiden die Lagune. Einmal jährlich wird das Gefährt zur Generalüberholung in die Werft gebracht. Als sein nonno stirbt, erbt Piero den sàndolo. Und weil er kein Geld hat für den teuren Service, legt er selbst Hand an. Eine gute Schule.
Nach seiner maturità am Liceo Scientifico schreibt er sich an der Universität von Padua für Astronomie ein. Ohne Sterne kein Navigieren: Wahrscheinlich haben ihm auch die venezianischen Seeleute den Kurs vorgegeben. Ein wesentlicher Grund für die Wahl eines eher exotischen Fachs aber ist die Überschaubarkeit des Instituts, jede Form der Massenabfertigung scheint ihm unerträglich. Es gibt Seminare und Vorlesungen, da sitzen nur zwei oder drei Studenten im Saal.
Pieros Zeugnisse sind erstklassig. Doch er gerät in eine Krise. Auf den Ausflügen mit seinem sàndolo spürt er, wohin es ihn wirklich zieht: Er möchte zurück nach Castello, wo er aufgewachsen ist, und mit seiner Hände Arbeit Geld verdienen. Und er ist mutig genug, dem Ruf seines Herzens zu folgen. Also spricht er bei Maestro Paolo Brandolisio vor, einem Schüler von Giuseppe Carli, einer gefeierten Remer-Legende. Paolo winkt ab, Piero bleibt hartnäckig. Bis er Brandolisio weichgeklopft hat. Sieben Jahre lang geht er bei ihm in die Lehre und beendet daneben noch sein Studium der Astronomie, und das mit Bestnoten und höchsten Ehren.
Und nun? Piero horcht neuerlich in sich hinein und fällt einen radikalen Entschluss: keine Karriere bei der NASA oder einem anderen prestigeträchtigen Unternehmen. Stattdessen kehrt er nach Venedig zurück, zu seinen Wurzeln. In einer dunklen Ecke von Cannaregio, ganz in der Nähe von Ca’ d’Oro, findet er einen verwahrlosten Lagerraum und hat Glück. Dem Besitzer imponieren die Pläne des ambitionierten Handwerkers, und er überlässt ihm das Magazin zu einem günstigen Zins. Nicht selbstverständlich in einer Stadt, in der jeder Quadratmeter teuer vermietet oder verkauft wird. Piero schlüpft bei seinen Eltern unter, eine eigene Wohnung kann er sich nicht leisten. Er investiert all seine Ersparnisse, renoviert die desolaten Räumlichkeiten und funktioniert sie zur Werkstatt um. »Il Forcolaio Matto« nennt er seinen Betrieb: der verrückte Fórcola-Hersteller. Man muss wohl auch verrückt oder ein unverbesserlicher Optimist sein wie Piero Dri, um sich als remer zu behaupten.
Ohne Boote kein Venedig. Seit der ersten dauerhaften Besiedlung von Torcello und dem Gebiet von Rialto waren die Lagunenbewohner als tüchtige Fischer und Seefahrer berühmt. Sie handelten mit Meeresgetier und Salz, beförderten Güter von Hafen zu Hafen und transportierten Truppen, Beamte und Kaufleute bis nach Byzanz. Mit der Intensivierung der eigenen Geschäftsbeziehungen wuchs der Bedarf an Schiffen. 1104 legte man auf einem sumpfigen Gelände im Westen von Castello den Grundstein fürs Arsenale, das zur bedeutendsten Werft Europas aufstieg und für die Venezianer zum Fundament ihrer Macht avancierte. Die Fabriken wurden laufend erweitert und umfassen heute noch vierundzwanzig Hektar, was einem Zehntel des historischen Zentrums entspricht: das achte Weltwunder, wie man das größte vorindustrielle Wirtschaftsunternehmen dieser Erde nannte. »Gleich wie man in Venedigs Arsenal/ Das Pech im Winter sieht aufsiedend wogen,/ Womit das lecke Schiff, das manches Mal/ Bereits bei Sturmgetos das Meer durchzogen,/ Kalfatert wird – da stopft nun der in Eil/ Mit Werg die Löcher aus am Seitenbogen […]«, so Dante im XXI. Gesang seines »Inferno«, nachdem er 1306 das unermüdliche Getriebe in der Werft bestaunt hatte. Tausende Arbeiter waren im Arsenale beschäftigt, Boote zu bauen und vom Stapel laufen zu lassen oder auch Reparaturen durchzuführen. Hohe Mauern und Türme begrenzten das Gelände, strenge Gesetze sorgten dafür, dass die Art der Werkzeuge und technischen Abläufe geheim blieben. Solcherart schob man der damals schon recht verbreiteten Industriespionage den Riegel vor.
1423, so eine Schätzung des damaligen Dogen Francesco Foscari, besaß Venedig fünfunddreißig Galeeren, dreihundert Segelschiffe und dreitausend bescheidenere Boote. Sechsunddreißigtausend Seeleute verdingten sich im Dienst der Stadt, ein knappes Viertel der Bevölkerung. Ihnen garantierte man Freiheiten und Schutz, die in einem erstmals kodifizierten Seerecht festgeschrieben waren.
Eine Blütezeit. Ihr Ende kündigte sich an, als Portugal, Spanien sowie England und die Niederlande erfolgreich in See stachen und die Konkurrenz auf den Märkten stieg. Das Netz venezianischer Handelsrouten wurde kleiner, die Flotte überschaubar. Der langsame Niedergang der Serenissima. Bis die Flut der Touristen über die Lagune hereinbrach und sich neue Verdienstmöglichkeiten ankündigten. Das Arsenale wurde 1960 geschlossen und ist heute Schauplatz der Biennale und zudem ein beeindruckendes Industriedenkmal.
Licht dringt in den engen Ramo dell’ Oca. Durch die Fenster der bottega »Il Forcolaio Matto« blickt man in die hell erleuchtete Werkstatt. Dort ist Piero Dri ins Gespräch mit einem gondoliere vertieft: Die beiden Männer beugen sich über einen Holzblock, diskutieren und gestikulieren. Als die Glocke über der Tür läutet und Besucher eintreten, verabschiedet man sich mit einem festen Händedruck. Die Verbindung mit seinen Auftraggebern sei eng, so Piero. Treueste Abnehmer sind die gondolieri vom nahegelegenen Standplatz Santa Sofia oder auch Sportlerinnen und Sportler aus einem der zahlreichen Ruderclubs. Nach ausführlichen Vorgesprächen sieht sich der Kunde dem Maßband und der Waage gegenüber: Größe, Gewicht und der Abstand zwischen Ferse und Knie steuern den Entwurf der Gabel. Nur wenn die fórcola perfekt geformt ist, gelingt es in den engen Gassen, die Schwankungen der durch unerwartete Kurven und Manöver aus dem Takt geratenen Gondeln auszugleichen.
Voga veneta heißt die Technik, im Stehen zu rudern und sich auf diese Weise wendig und schnell durchs Wasser zu bewegen. Ob Gondel, ballotina, sàndolo oder caorlina: Die Boote sind schmal und flach, ursprünglich ein Erbe der Römer, die damit seichte Seen und Flüsse durchkreuzten. Bei der Gondel bildet der ferro di prua, ein über zwanzig Kilogramm schwerer Bugbeschlag, ein Gegengewicht zu den Ruderern, die an Bord sind. Seine sechs Zacken repräsentieren die sestieri, die sechs Stadtteile also, und laufen in einer Art Horn aus, das für die Kopfbedeckung der Dogen steht.
Auch die fórcola findet man in dieser Ausprägung nirgendwo sonst. Jede von ihnen ist ein Unikat, für das Piero die Stämme ausladender, gut getrockneter Walnussbäume verwendet. Die Herstellung selbst kann bis zu vierzig Stunden dauern. Und natürlich ist jede von ihnen signiert. Kunstwerke. Die meisten landen auf einem Boot, einige werden zum Blickfang in palazzi und noblen Wohnungen auf der ganzen Welt: Inzwischen sind Rudergabeln beliebte Objekte für jene, die sich ein Stück Venedig nach Hause holen. Keine Souvenirs, sondern wirkliche Statements, und damit ein Bekenntnis zu einer Stadt, die sich gegen Gleichmacherei und Globalisierung aufbäumt.
Auch Piero beobachtet die Entwicklung seiner Heimat wachen Auges. Etliche Veränderungen schmerzen ihn. Früher einmal seien Gondel und sàndolo viel stärker im Alltag verankert gewesen, erzählt er. Man sei damit zum Bäcker gerudert oder zum Fischmarkt. Heute ringt man um jeden der knapp gewordenen Freiräume. Motorboote und Kreuzfahrtschiffe wühlen das Wasser so stark auf, dass es gondolieri und Ruderer schwer haben, das Gleichgewicht zu halten. Sie verteidigen ihr angestammtes Revier und verfluchen die Touristenströme. Regatten sind immer noch Höhepunkte der Sommersaison, und die gondolieri hochgeschätzte Mitglieder der Gesellschaft. Auch wenn sie manches von ihrer Eigenständigkeit aufgegeben haben. Ein Gutteil von ihnen steht bei mächtigen Agenturen unter Vertrag und fühlt sich von Ignoranten herabgewürdigt, die ihr Können nicht zu schätzen wissen: Die meisten Gäste steigen reichlich arrogant ins Boot, versuchen den Fixpreis zu drücken, ehe sie zum Aufbruch blasen und ihr Handy aus der Tasche fischen. Wovon sehen sie nun mehr, von den Kanälen, palazzi und Kirchen oder von den Nachrichten am Display? Die gondolieri sind oft frustriert, weil man sie zu schnöden Dienstleistern und Komparsen degradiert hat. Ihr Stolz ist verschwunden und ihr Wissen um die Serenissima liegt brach, wenn es nicht abgerufen wird. Wenn die Gondeln Trauer tragen.
»Venedig ist nicht New York, London oder Stockholm, Venedig ist unverwechselbar«, so Piero Dri. »Wir müssen aufpassen, uns nicht zu verlieren. Nur so können wir den Besuchern all das zeigen, was Teil unserer Geschichte und Identität ist.« Ein Umdenken hat begonnen. Er selbst bietet Workshops für interessierte Laien an und engagiert sich bei »Venezia Autentica«, einer Vereinigung ambitionierter Betriebe, Geschäfte und Restaurants. Mit gut gebündelten Kräften möchte man die lokale Lebensweise und Kultur ins Heute retten und den einheimischen Unternehmern finanzielle Perspektiven bieten für die Herstellung oder den Vertrieb von Waren, die nicht in den Fabriken Chinas oder Indiens gefertigt sind.
Qualität muss ihren Preis haben, darauf besteht Piero. Natürlich weiß er, dass er gegen Windmühlen ankämpft, weil der Billigtourismus das UNESCO-Weltkulturerbe wie ein unersättlicher Krake umschlingt. »Ab und zu bin ich niedergeschlagen, wenn ich sehe, was sich rundum tut. Zuletzt wurde die Fiaschetteria Toscana zugesperrt, eine der ältesten trattorie, die wir noch hatten. Eine Burger-King-Filiale ist in die Räumlichkeiten eingezogen.« Er schüttelt den Kopf, lässt die Schultern hängen. Und gibt sich gleich wieder einen Ruck: »Doch ich lasse mich nicht unterkriegen.«
Die Entscheidung gegen die Astronomie und eine Laufbahn außerhalb seiner Heimat hat Piero nicht bereut. Venedig ist für ihn das Modell einer idealen Stadt, wie es Italo Calvino so treffend festgehalten hat, mit einem selbstverständlichen Miteinander: ein schneller caffè zwischendurch, ein Glas Wein zum neuesten Tratsch, am besten in einer der Bars in den versteckten Hintergassen, wo man ab und zu noch unter sich ist. Vor allem aber profitiert man von ihrer besonderen Lage: umgeben von Wasser, mit unzähligen Möglichkeiten, sich davonzumachen Richtung Festland, Berge und Meer.
Wenn Piero mit seinem sàndolo durch die Lagune gleitet, dann ist seine Welt in Ordnung, zumindest für ein paar Stunden. Und was die Zukunft ihm und Venedig bringen wird? Das steht in den Sternen.
Der Held ist müde. Mehrere Kriege liegen hinter ihm, mit Verletzungen und posttraumatischen Neurosen. Schon als Neunzehnjähriger ist er 1918 am Westufer der Piave, eine Autostunde nördlich von Venedig, ins Explosionsfeld einer Mörsergranate geraten. Zweihundert Splitter haben sich in sein Bein gebohrt. Kurz darauf traf ihn die Salve eines Maschinengewehrs und verwundete seinen rechten Fuß und das Kniegelenk. Und trotzdem suchte er weiterhin die Gefahren der Schlachtfelder, warf sich in den Spanischen Bürgerkrieg und begleitete als Reporter 1944 die Invasion der Alliierten und die Befreiung von Paris. Gleichzeitig schrieb er Romane und Short Storys, die zu Welterfolgen avancierten.
Ernest Hemingway steht im Ruf eines Klassikers der Moderne, ein raubeiniger Macho und Vertreter jener Lost Generation, die den Glauben an die Segnungen der westlichen Zivilisation längst verloren hat. Nun nähert sich sein fünfzigster Geburtstag. Kein Grund für Jubel. Der Autor fühlt sich ausgebrannt. Seit dem Triumph seines 1940 erschienenen Buches »Wem die Stunde schlägt« hat er neben Journalistischem nichts Wesentliches