Kurt Lewin wurde am Neujahrstag 2009 in Uppsala begraben, auf den Tag genau 66 Jahre nach seiner Ankunft in Schweden. Vorausgegangen war eine spektakuläre Flucht aus Nazi-Deutschland in einem mit französischen Furnieren beladenen Eisenbahnwaggon von Berlin nach Schweden. In einem der strengsten Winter des vergangenen Jahrhunderts, den am Heiligabend 1942 auch die 6. Armee in Stalingrad zu erleiden hatte, legte sich Lewin bei minus 20 Grad mit seinem Freund Joachim Markuse und dessen Frau Gerda in einen Güterwaggon. Auf ihrer Fahrt nach Sassnitz müssen die drei nicht nur eine körperliche Tortur überstehen, sondern sie lassen auch ihr ganzes bisheriges Leben in Deutschland Revue passieren. Zeitgleich arbeiten die schwedischen Nazis fieberhaft an Listen mit den „noch nicht gehängten Juden“ im eigenen Land, während die Regierungen in Stockholm und Berlin über weitere Rohstofflieferungen, Kredite und militärische Beihilfe verhandeln. Lewin wird später zu einem wahren Star der Kammermusik werden und reist mit dem legendären „Kyndelquartett“ um den Globus - ein Weltruhm, der durchaus mit dem von vier anderen Schweden in der Popmusik vergleichbar ist: ABBA. Die Lebensgeschichte des deutschen Juden Kurt Lewin und die seiner Bratsche beschreibt nicht nur die deutsche Geschichte zwischen der Weimarer Republik und heute, zwischen der Nazi-Größe Goebbels und der Neonazi-Größe Rieger, sie beschreibt auch die „braune“ Vergangenheit des „neutralen“ Schwedens im Zweiten Weltkrieg und die rechtsextreme Situation dort bis heute. Sie ist ein Zeugnis von Mut und Heldenmut - im letzten Fall von dem des dänischen Holzhändlers Larsen, der für seine Fluchthilfe in die Liste der „Gerechten“ in Yad Vashem aufgenommen worden ist. Gleichzeitig erzählt der Roman von Liebe und Freundschaft, Opfern und Tätern, Verlust und Verzeihen. Der Autor Lars Bessel hat Kurt Lewin mehrfach persönlich getroffen: „Der Bratschist“ ist eine wahre Geschichte - meistens jedenfalls ...
Der Autor Lars Bessel (43) ist freier Journalist und arbeitet für Print, Radio, TV und Online. "Der Bratschist" ist sein Erstlingswerk und beruht auf einer wahren Begebenheit. Lars Bessel lebt mit seiner Familie in Schleswig-Holstein.
Originalausgabe
© Lars Bessel 2013 / aviso media - LBMD-Verlag
Umschlag: Lars Bessel
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
ISBN: 978-3-7322-6506-0
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Für die vielen Namenlosen.
Kommt einer
von ferne
mit einer Sprache
die vielleicht die Laute
verschließt
mit dem Wiehern der Stute
oder
dem Piepen
junger Schwarzamseln
oder
auch wie eine knirschende Säge
die alle Nähe zerschneidet
Kommt einer
von ferne
mit Bewegungen des Hundes
oder
vielleicht der Ratte
und es ist Winter
so kleide ihn warm
kann auch sein
er hat Feuer unter den Sohlen
(vielleicht ritt er
auf einem Meteor)
so schilt ihn nicht
falls dein Teppich durchlöchert schreit –
Ein Fremder hat immer
seine Heimat im Arm
wie eine Waise
für die er vielleicht nichts
als ein Grab sucht.
Nelly Sachs (jüdischer Flüchtling & deutsch-schwedische Literaturnobelpreisträgerin)
„Kommt einer von ferne“, aus: Nelly Sachs, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Aris Fioretos, Band 2: Gedichte 1951-1970. Herausgegeben von Ariane Huml und Matthias Weichelt. © Suhrkamp Verlag Berlin 2010.
I.
„Heil Hitler!“ Es fühlte sich falsch an, was er sich gerade selber sagen hörte. Und doch so normal. Sein etwas unbeholfener Gruß mit der rechten Hand wurde an diesem Wintermorgen des 24. Dezember 1942 nur mit einem mürrischen Kopfnicken beantwortet. Eine alte, buckelige Frau kam ihm auf der sonst noch menschenleeren Rigaer Straße in Friedrichshain auf dem leicht verschneiten Fußweg entgegen, trotz dicken Mantels, Handschuhen und Mütze fröstelnd. Doch es lag nicht nur am kalten Ostwind, der Berlin im vierten Kriegswinter so sehr frieren ließ. Mit dem Wind kam ebenfalls die Kunde, dass in Stalingrad das 1000-jährige Reich nach knapp zehn Jahren bereits am Scheideweg stand. Auch für Kurt Lewin sollte es „nach dem Osten gehen“, doch sein Ziel war nun ein anderes. Mit festem Schritt in den noch ungewohnten Schaftstiefeln der SA und der SS führte ihn sein Weg knapp fünf Kilometer weit gen Süden über die Spree nach Treptow, zum Güterbahnhof.
Kurt Lewin, gerade einmal 24 Jahre alt, ein Mann von durchschnittlicher Statur mit blauen Augen und trotz des jungen Alters nur noch vergleichsweise wenigen blonden Haaren. Zu sehen war davon allerdings wenig. Die dunkle Wollmütze hatte er tief in die hohe Stirn gezogen, den Kragen seines leicht verschlissenen Mantels hochgeklappt. Einzelne Schneeflocken fielen vom dunkelgrauen Himmel über der Hauptstadt, in den Straßenschluchten war es noch nahezu Nacht. Auch wenn um sieben Uhr an diesem Morgen des Heiligen Abends sicherlich schon halb Berlin wach war, so war davon kaum etwas zu bemerken.
Die Drohung des Groß-Berliner Gauleiters, Reichspropagandaminister Dr. Josef Goebbels, mit „energischen Strafen, eventuell bei hartnäckiger Missachtung der Verdunklungsvorschriften sogar mit Freiheitsstrafen“ hatte Wirkung gezeigt. Da Berlin bereits seit längerem von feindlichen Luftangriffen verschont geblieben war, waren die Reichshauptstädter großzügiger mit diesen Vorschriften umgegangen. Doch seitdem die Berliner Polizei stichprobenartige Kontrollen vornahm, war Berlin tatsächlich zu den täglich wechselnden Zeiten stockdunkel. An diesem 24. Dezember bis morgens um 7.40 Uhr – so stand es in den Zeitungen.
Soeben hatte Kurt Max Lewin, seit 1. Januar 1939 offiziell Kurt Israel Lewin, seine Wohnung in der Eldenaer Straße 29 zum definitiv letzten Mal abgeschlossen. Es befand sich sowieso kaum noch etwas darin: Was er in den vergangenen Tagen nicht mehr hatte verkaufen können, war bei seinem Tabakhändler Fritz Kuhn in der Elsenstraße auf dem Dachboden gelandet, einer jener „Aufbewarier“, die jüdischen Besitz vor der Beschlagnahme durch die Nazis bewahrten. Betten, Schränke, Tische und Stühle blieben allerdings im dritten Stock jenes Wohnhauses zurück, das für viele Jahre sein Zuhause gewesen war. Als Kurt Lewin den Schlüssel aus dem Türschloss zog, fiel sein Blick letztmalig auf jenen Gelben Stern, der seit 15. April dieses Jahres neben dem Namensschild „Lewin“ angebracht war. Den „Judenstern“ an seinem Mantel hatte Lewin bereits abgetrennt und nur noch solange mit einer Stecknadel provisorisch befestigt, bis er das Haus endgültig verlassen hatte. Als er die Wohnungstür des gefürchteten Blockwartes Meier im ersten Stock passierte, hörte er jedoch nichts. Bevor Lewin die Haustür von innen öffnete, zog er die Stecknadel aus seinem Mantel und steckte den Stern in die Tasche. Das Minutenlicht im Hausflur verlosch, die Tür öffnete und schloss sich - und als er die kalte Winterluft in seinem Gesicht spürte, war ihm klar, er ist frei. Vogelfrei.
II.
Auch Joachim Markuse, oder korrekter Joachim Israel Markuse, war früh aufgestanden und hatte dasselbe Ziel wie sein Freund Kurt. Von der Plesserstraße 10 waren es allerdings keine 1000 Meter, die er bis zum Bahnhof zurücklegen musste. Markuse, ein Jahr älter als Kurt Lewin aber von ähnlich „arischem“ Aussehen, hatte seinen „Judenstern“ noch immer auf der linken Seite seines Mantel vorschriftsmäßig befestigt; jenes handtellergroße Abzeichen in gelber Farbe mit dem Wort „Jude“ in schwarzer Schrift darauf, das Menschen wie er lieber als „Davidstern“ bezeichneten. Fest angenäht sein musste das zehn Reichspfennige teure, grobe Stück Stoff, was die Gestapo auch gern einmal mit einem Bleistift kontrollierte. Joachim Markuse hatte aber auch gar keinen Grund, seinen Stern zu entfernen, er war wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, zur Zwangsarbeit. Während seine Frau Gerda in der gemeinsamen Wohnung blieb, machte er sich um sieben Uhr auf zum Güterbahnhof Treptow. An diesem 24. Dezember sollte noch schnell eine wertvolle Fracht verladen werden: Furniere eines dänischen Holzhändlers für einen Kunden in Schweden.
Joachim Markuse ging langsam, in den neuen Stiefeln taten ihm seine Füße weh, auch wenn sie nach dem Unfall damals an sich wieder gut geheilt waren. Doch vielmehr drückte die Verantwortung auf seine Schultern, war er es doch gewesen, der zu all dem, was heute und in den nächsten Wochen geschehen würde, die Idee gehabt hatte. Ein junger Mann riss ihn aus seinen Gedanken: „Du Judensau! Hast Du keine Augen im Kopf, mach gefälligst Platz!“ Markuse hatte ganz vergessen, den Fußweg für diesen jungen Deutschen in seiner schmucken braunen Uniform frei zu machen. Nur knapp konnte er einem Schlag ausweichen, was den SA- Nachwuchs zu weiteren Beschimpfungen veranlasste. Abgesehen von ganzen Straßenzügen, die für Juden schon seit Jahren gesperrt waren, wie etwa Teile der Wilhelmstraße und die Straße Unter den Linden, hatten alle Berliner mit gelbem Stern die Straßenseite zu wechseln, wenn Arier in Sichtweite kamen. Markuse tat es und hörte im Weitergehen noch etwas von „deportieren“ und „KZ“.
Ein Konzentrationslager würde er mit Sicherheit in seinem Leben nicht betreten, da war sich Joachim Markuse sicher. Dem Zynismus anderer Juden hatte er nie recht etwas abgewinnen können, die sich seit einiger Zeit nicht mehr mit „Auf Wiedersehen“ verabschiedeten, sondern mit „Wir sehen uns im Massengrab“. Beliebt war unter Berlins Juden auch die Frage: „Wollen Sie sich das Leben nehmen oder mit evakuieren lassen?“ Joachim Markuse hatte für sich, seine Frau und seinen Freund einen anderen Plan: die Flucht. Im Vergleich hatte sie einen großen Vorteil, hatte er – nun doch zynisch – schon vor einigen Monaten festgestellt: „Wenn sie uns erwischen, dann werden wir jedenfalls sofort erschossen.“ Doch so weit war es noch nicht, als er gegen viertel nach sieben bei seiner Arbeitstelle am Güterbahnhof ankam.
III.
Als Kurt Lewin um kurz vor acht die Gleisanlagen ebenfalls zu Fuß erreichte, ging im Osten bereits langsam die fahle Wintersonne auf. Gelblich schimmernde Lampen erfüllten den Bahnhof nahezu mit weihnachtlicher Atmosphäre, noch immer rieselte ein wenig Schnee, und in einer Aufsichtsbaracke sang jemand „O du fröhliche …“. Als der gut gelaunte Zollbeamte die Tür seines Verschlages öffnete, drang der Geruch von Malzkaffee auf die Gleisanlagen, und mit einem zackigen Hackenschlag ertönte seinerseits ein ebenso fröhliches „Heil Hitler!“ Lewin erwiderte den Gruß, wenn auch nicht ganz so fröhlich. Unweit entfernt stand ein Pferdefuhrwerk, an dem sich mehrere Männer zu schaffen machten. Die erste Ladung der Furniere für Mjölby war bereits vor einer halben Stunde eingetroffen und wurde nun auf einen Güterwaggon der Reichsbahn verladen.
„Nicht so lahmarschig, Jungs, packt mal ordentlich an, damit unser Kutscher rechtzeitig zu Mutti unter den Weihnachtsbaum kommt!“ Diese Stimme kannte Lewin nur zu gut, es war die des Vorarbeiters, seines alten Freundes Joachim Markuse. Um ihn herum zwei weitere Zwangsarbeiter mit Stern, der eine gelb mit der Aufschrift „Jude“, der andere Stern mit einem „P“ für Pole. Außerdem ein deutscher Arbeiter, ohne Stern. „Da bist du ja endlich“, schimpfte Markuse, als er den noch fehlenden Holzpacker kommen sah. „Arbeitsbeginn war vor einer halben Stunde! Kannst du die Uhr nicht lesen oder bist du noch besoffen?“ Der Zöllner kam Lewin, den er für einen anständigen Deutschen hielt, zu Hilfe und forderte den jüdischen Vorarbeiter deutlich aber nicht unfreundlich auf, diesen Arbeiter nicht so anzuraunzen. Lewin lächelte. Markuse auch. Als der Zöllner schließlich noch auf die große Uhr am Bahnsteig deutete, mussten sogar alle lachen: Die Uhr stand, wie viele in Berlin, seit Monaten auf zwölf Uhr. Als es tatsächlich so spät war, wurde bereits die dritte und letzte Fuhre Furnierholz umgeladen. Bislang lief somit alles nach Plan.
Markuse wusste genau, was er tat. Schon 1933 hatte er nach seinem unfreiwilligen Schulabgang bei der renommierten Edelholz- und Furnierhandlung der Gebrüder Freudenheim in der Frankfurter Allee eine kaufmännische Lehre absolviert. Nachdem die Firma, wie alle anderen jüdischen Geschäfte auch, ab Sommer 1938 „arisiert“ worden war, wurde Markuse von Richard Häussler ebenso günstig übernommen, wie die gesamte Firma. Da Marcuse trotz seines jüdischen Glaubens als verlässlicher Mitarbeiter galt, der nicht nur über kräftige Arme, sondern auch über ein kluges Köpfchen verfügte, hatte Häussler seinem „tüchtigen Vorarbeiter“ schon tags zuvor mitgeteilt, er werde die Verladung an Heiligabend nicht kontrollieren können. „Wir haben Glück gehabt und einen richtig schönen, großen Weihnachtsbaum ergattert“, schwärmte Häussler dem wohlwollend dreinschauenden Marcuse vor. „Und so einen Baum zu schmücken, das braucht seine Zeit. Ich hoffe Sie sind mir nicht böse, Joachim, aber Ihr Juden habt mit Weihnachten, dem Christkind und all dem Schnickschnack doch sowieso nichts am Hut.“ Marcuse war durchaus einverstanden, die Verladung der wertvollen Fracht allein zu bewerkstelligen – und lächelte.
Schnell, sauber und sicher wurden die dünnen Hölzer im Waggon verstaut. Die Edelholzfurniere kamen aus dem besetzten Frankreich und gehörten einem gewissen Sigurd Larsen, ein dänischer Holzhändler mit Firmensitz in Berlin, den Marcuse schon als Lehrling bedient hatte. Larsen ließ es sich, anders als Häussler, nicht nehmen, persönlich an der Verladestation vorbeizuschauen. Was er gegen Mittag zu sehen bekam, beruhigte ihn: Der Zeitplan war eingehalten worden, fast der gesamte Waggon war bereits fertig beladen – mit einer Ausnahme: Auf der gegenüberliegenden Seite der Schiebetür blieb am linken Ende des Waggons eine etwa zwei mal zwei Meter große Fläche frei. Da Markuse dafür gesorgt hatte, dass nur er selbst und sein Freund Kurt, jener „anständige deutsche Arbeiter“, im Waggon selbst stapelten, blieb dieses Versteck für alle anderen unsichtbar.
IV.
Auch Fritz Kuhn hatte seinen Tabakladen an der Elsenstraße wie vorgeschrieben an diesem Donnerstag um 8.30 Uhr geöffnet und durfte ihn erst um 17 Uhr wieder schließen, allerdings auch nicht später. Die Mittagspause war am Heiligabend zudem gestrichen worden, „um eine reibungslose Verteilung der von Reichsmarschall Göring angekündigten Sonderzuteilungen sicherzustellen“, wie es in der Zeitung hieß. Zwar gab es zu Weihnachten 1942 gar keine Sonderzuteilung für Tabakwaren, Vater Kuhn saß trotzdem wie befohlen den lieben langen Tag in seinem Laden und las Zeitung.
„Die Front spricht zur Heimat – Die Heimat spricht zur Front“ lautete die größte Überschrift der „Berliner Morgenpost“. Es war die Ankündigung für die „Weihnachtsringsen-dung des Großdeutschen Rundfunks“, in deren Mittelpunkt die traditionelle Ansprache von Dr. Goebbels um 21 Uhr stand. Rechts ein Foto des Führers: Adolf Hitler bei einer Besprechung in seinem Hauptquartier, dazu verschiedene Meldungen, etwa die über eine Weihnachtsspende der ausländischen Frauenschaft, und dass es in Ägypten keine Autoreifen mehr zu kaufen gibt. „Autoreifen“, schüttelte Kuhn ungläubig sein weißes Haupt und schob die Lesebrille wieder ein wenig die schmale Nase empor, „was anständiges zu essen wäre auch denen da unten sicherlich lieber.“ Bevor er über den Artikel unten rechts auf dem Titelblatt zu schimpfen begann, sah er zur Sicherheit noch einmal von seinem Holzstuhl hinter dem Ladentisch hoch und versicherte sich, dass nicht doch zufällig jemand seinen Laden unbemerkt betreten hatte. „So eine Sauerei, wie die uns verarschen!“ Die „MoPo“ berichtete unter der Überschrift „Die schweren Kämpfe am Don halten an“ über „hohe Verluste der Sowjets zwischen Wolga und Don und in Stalingrad“. Nicht nur Fritz Kuhn konnte und wollte diese Durchhalteparolen nicht mehr glauben.
Seine Frau Else war unterdessen zum Einkaufen gegangen. Immerhin war zusammen mit der „Lebensmittelkarte der 44. Zustellperiode“ eine sogenannte „Weihnachtssonderkarte“ ausgegeben worden. Zwar war diese bis zum 31. Januar gültig, „aber wer weiß schon, ob wir dann noch leben“, hatte Else Kuhn gesagt und ihrem Mann einen Abschiedskuss gegeben. Nun stand sie in langen Schlagen, beim Bäcker, beim Schlachter, im Kolonialwarenladen. Es galt immerhin zusätzlich 500 Gramm Weizenmehl, 200 Gramm Fleisch, 125 Gramm Butter, 62,5 Gramm Käse, 250 Gramm Zucker, 125 Gramm Hülsenfrüchte, 50 Gramm Bohnenkaffee sowie 0,35 Liter Trinkbranntwein zu bekommen. Juden waren von solchen Sonderrationen seit Kriegsbeginn und der damit einhergehenden Lebensmittelrationierung ausgenommen. Es war ein langer Weg geworden, den Else Kuhn zurücklegen musste, um alles zu bekommen. Beladen mit allerlei Paketen und Taschen, blieb sie plötzlich stehen und lauschte. Aus der Ferne klang seit langem erstmals wieder das berühmte Glockengeläut vom Turm der Parochialkirche - es ertönten Weihnachtslieder, die Christvesper musste bereits zuende sein. Und während die ersten schon damit begannen, die Fenster ihrer weihnachtlich geschmückten Stuben zu verdunkeln, machte sich nicht nur Mutter Kuhn auf den Heimweg, sondern auch ihre Tochter Brigitte mit dem kriegsversehrten Schwiegersohn Hans.
Die beiden waren am frühen Nachmittag mit dem Handwagen eines benachbarten Kohlenhändlers unterwegs gewesen. Auch der Karren war voll beladen mit Lebensmitteln, dazu ein kleiner Spirituskocher, Kanister und Flaschen mit Wasser und Getränken, Decken, Kerzen und Streichhölzer, eine Taschenlampe mit Ersatzbatterie, Band, ein Eimer sowie viel altes Zeitungspapier aus Papas Laden. Die beiden waren auf dem Weg zu Brigittes Oma, das jedenfalls hätten sie gesagt, wenn ein Schutzmann sie angesprochen hätte. Doch niemand sprach sie an. Die Menschen, die an diesem 24. Dezember im Osten Berlins unterwegs waren, hatten genug mit sich selbst zu tun: Einige kauften noch im letzten Moment einen Weihnachtsbaum, die auf vielen Plätzen nun zu Sonderpreisen angeboten wurden. Andere besorgten wie Mutter Else noch Lebensmittel für das Fest. Wieder andere schlenderten über einen der zahlreichen Weihnachtsmärkte in der Stadt, tranken einen Glühwein und versuchten sich erneut so etwas wie Normalität vorzugaukeln. Wer nicht durch die Stadt streifte, schmückte daheim den Tannenbaum, arbeitete wie Papa Fritz – oder war Jude.
Völlig unbehelligt kamen Brigitte und Hans deshalb samt ihrer lebenswichtigen Fracht am Güterbahnhof in Treptow an. Einige Bahnarbeiter, die notfalls den Schnee von den Gleisen hätten schaufeln sollen, hatten in einem leeren Ölfass ein kleines Feuer entzündet, um sich zu wärmen. Um sie herum lagen einige alte Bretter, ein wenig trockenes Geäst und etwas dorniges Buschwerk. „Hier entlang“, hörten die beiden wie aus dem Nichts eine Stimme flüstern. Es war Sigurd Larsen, der den beiden den Weg zwischen den mit zahllosen Waggons vollgestellten Rangiergleisen hindurch bis zu dem Wagen mit seinen Furnieren zeigte. Dies war zweifelsohne der gefährlichste Teil des Weges, denn hier hätte ihnen auch kein noch so feierlich gestimmter Gestapo-Beamter mehr die Geschichte mit der eigenen Großmutter geglaubt …
V.
Gerda Marcuse war fürchterlich nervös, schon am Morgen. Genau genommen hatte sie die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Nun war Joachim gegangen, für immer. Ob sie ihn je wiedersehen würde? Immerhin hätte auch sie heute zur Arbeit gehen müssen, im übrigen genauso wie Kurt Lewin. Sie hatten sich eine Krankmeldung besorgt, Gerda aufgrund einer „fiebrigen Grippe“, Kurt wegen einer angeblichen Magenentzündung. Die Dokumente hatten sie noch am Abend zuvor in den Briefkasten ihrer Arbeitgeber gesteckt. Doch was, wenn aus ihrer feinmechanischen Fabrik jemand aufgrund weihnachtlicher Gefühlswallungen plötzlich sein Mitgefühl für die jüdische Zwangsarbeiterin Gerda entdeckte und sie besuchte? Was, wenn Kurt ohne Stern erwischt worden war und nun in der Prinz-Heinrich-Straße im Gestapo- Verhör auch seine Freunde verriet? Was, wenn es den SS-Schergen um den „Schlächter von Wien“, der seit gut vier Wochen auch in Berlin die Juden ohne Vorwarnung abholen ließ, einfiel, sich gerade Gerdas Deportation zum Weihnachtsgeschenk zu machen? Gerda war nicht nur nervös, sie hatte Angst. Panische Angst. Angst zum Verrückt werden.
Gerda war gerade 19 Jahre alt geworden. Eine zierliche Frau mit langen brünetten Haaren, einem etwas dunkleren Teint, einem wunderschönen Lächeln und einem Dekolleté, von dem die Männer nur schwer ihren Blick abwenden konnten. Seit eineinhalb Jahren war sie bereits mit Joachim liiert, kennen gelernt hatte Gerda Berlowitz ihn bei einer Veranstaltung des jüdischen Kulturbundes, bei dem auch Kurt Lewin engagiert war. Schließlich hatten Gerda und Joachim ihr Aufgebot beim Rathaus in Treptow angemeldet und am 2. Januar 1942 geheiratet. Sollten sie ihren ersten Hochzeitstag gemeinsam erleben? Und wenn ja, wo?
Als es endlich auf 14 Uhr zuging, wurde sie ruhiger. Kein „Möbelwagen“ war vorgefahren, um sie abzuholen, niemand hatte mit Fäusten an die Tür geschlagen, niemand nach ihrem Gesundheitszustand gefragt. Zum letzten Mal zog sie sich in ihrer Wohnung an, zog so viel an, wie noch niemals zuvor. Zum Schluss den Pelzmantel ihrer Mutter, den hätte sie zwar schon im Sommer zusammen mit vielen anderen warmen Kleidungsstücken abgeben müssen, aber das ging nicht. Schon damals hatte ihr Mann die Idee geboren, zu fliehen - in einem Güterwaggon nach Dänemark. „Zieh dich warm an“, hatte Joachim erst vor kurzem doppeldeutig gemeint, „die bekommen jetzt schon nicht mal mehr die normalen Personenwaggons warm, wie soll es dann erst bei uns werden …“
Als Gerda die Plesserstraße betrat, war sie das erste Mal seit fast genau vier Jahren wieder nur Gerda, nicht Gerda Sara. Denn wie die jüdischen Männer den zusätzlichen Vornamen Israel annehmen mussten, wurden die Frauen zu Saras. Als Gerda in ihrem Pelzmantel ohne Stern gen Güterbahnhof ging, musste sie unweigerlich schmunzeln. In ihrem großen Korb hatte sie obenauf belegte Brote für die Männer und eine Thermoskanne mit schwarzem Tee. Doch darunter lag noch etwas: eine Bratsche. „Nicht ohne meine Bratsche“, hatte Kurt erklärt, als Joachim Markuse ihn in seinen Fluchtplan eingeweiht hatte. „Wie gut, dass Kurt kein Klavier spielt …“, dachte Gerda und ging geradewegs auf den Wachmann am Bahnhof zu. „Ich möchte zu meinem Mann“, erklärte sie mit fester Stimme und zeigte stumm auf die mittägliche Stärkung in ihrem Korb. Sie durfte passieren. Alles schien auf einmal ganz einfach.
„Du musst sofort verschwinden, komm’ in einer Stunde wieder!“ Joachims Begrüßung war nicht so, wie Gerda sich das vorgestellt hatte. Wieder stieg die Angst in ihr auf. Schnell stellte sie den Korb in der Nähe ihres Mannes ab und verschwand. Doch wohin? Eine Jüdin im Pelzmantel, ohne Stern? Wohin sollte sie gehen? Wohlmöglich würde sie jemand erkennen, sie anzeigen? Vielleicht fragte ein Polizist nach ihrem Ausweis? Der Schneefall wurde stärker, die Menschen auf der Straße weniger. Aus irgendeiner Wohnung in irgendeiner Straße, durch die sie gerade ziellos ging, hörte sie Musik. Keine Weihnachtsmusik. Eine der Lieblingssängerinnen Hitlers war zu hören: Zarah Leander. Mit unverwechselbarer Stimme klang aus dem Volksempfänger „Es wird einmal ein Wunder geschehen …“
VI.
Es wurde langsam dunkel über und in Berlin. Gerda war nach ihrem ängstlichen Umherirren erneut von Joachim weggeschickt worden, diesmal jedoch nur für weitere 15 Minuten. Als sie nun zum dritten Mal am Bahnhof ankam, war niemand mehr zu sehen – keine Wachmänner, keine Soldaten, kein Zöllner, kein Kutscher. Langsam ging sie am Gleis entlang. Am Ende des Bahnsteigs angekommen, hörte sie zwei Männer leise miteinander reden. Joachim und Kurt waren bereits dabei, das Fluchtgepäck vom Handkarren des Kohlenhändlers in den Eisenbahnwaggon zu schaffen. „Geh’ Du ’rein und verstau’ alles ordentlich.“ Diesmal klang Joachims Stimme freundlicher, wenngleich noch immer angespannt.
Der Wagen war fast bis obenhin vollgepackt mit Holz. Nur mit Mühe konnte Gerda hinauf- und hinüberklettern, dann war es dunkel. Sie hielt sich irgendwo oben fest, aber ihre Füße konnten den Boden noch nicht berühren. Sie musste sich fallen lassen – und kam nach zwei Zentimetern auf dem Boden des Waggongs zum Stehen. Als sich ihre Augenlangsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie schwach die Wände ihres gemeinsamen Versteckes, an zwei Seiten die Furnierhölzer, an zwei Seiten die geschlossene Außenwand des Waggons. Schnell war alles verpackt, die Kanister und Flaschen, das Essen, die Decken – und natürlich Kurts Bratsche. „Ich bin fertig“, flüsterte sie über die Holzwand gen Ausgang.
Statt einer Antwort hörte sie einen unterdrücken Schrei, allerdings nicht vor Entsetzen, sondern vor Schmerz. Kurt hatte sich beim Einsteigen einen Holzsplitter tief in den rechten Handballen gestoßen. Als er ihn mit einem kurzen Ruck wieder hinauszog, lief Blut über seine Finger, das er am Rahmen der Schiebetür abwischte. Joachim folgte als letzter ins Versteck. Vier Quadratmeter für drei Erwachsene, mehr Platz hatten sie nicht. Wenn Joachims Plan aufging, wollten sie in spätestens drei Wochen am Ziel sein.
Die drei lagen erst wenige Minuten in ihrem Versteck, als draußen erneut Stimmen laut wurden. Der Zöllner war zurück und mit ihm Sigurd Larsen. Viel war im Waggon nicht zu verstehen, nur Wortfetzen: „Frachtpapiere“, „scheußlich kalt“, „Frohe Weihnachten“. Dann wurde die Tür des Waggons zugeschoben und der Zöllner machte eine Plombe ans Schloss. Der Exodus konnte beginnen.
VII.
Die Fahrertür des himmelblauen Opel P4 quietschte zwar etwas und seit den von den Nazis gern „Reichskristallnacht“ genannten Plünderungen jüdischer Geschäfte vom 9. auf den
10. November 1939 hatte er von umherfliegenden Schaufensterscherben ein paar Kratzer im Lack, doch ansonsten sah der Wagen für seine mittlerweile sieben Jahre noch immer sehr gepflegt aus. Und viel wichtiger noch: er sprang sofort an, auch an diesem kalten Spätnachmittag. Es war mittlerweile kurz nach fünf, und Berlin begann, Weihnachtsgeschenke zu verteilen, kaum ein Mensch war noch unterwegs. Gern wäre auch Sigurd Larsen zu seiner Familie gefahren, doch die war fast 800 Kilometer weit weg. Die Fähren nach Dänemark waren seit langem für den zivilen Transport gesperrt, vom derzeitigen Packeis ganz zu schweigen. Bliebe nur die neue Autobahn nach Hamburg und weiter über Land.
Auf dem Weg in seine Berliner Wohnung träumte Larsen von einem lichterglänzenden Weihnachtsbaum, großen Kinderaugen und einer sanft lächelnden Ehefrau, von einem Weihnachtsbraten und einer hellerleuchteten Stadt. Berlin war dunkel, an seinem Auto warf das Standlicht nur einen schwachen Schein auf die immer stärker schneebedeckten Straßen. Ob seine Familie jetzt wohl auch an ihn dachte? Hoffentlich war das Paket mit seinen Weihnachtsgeschenken noch rechtzeitig in Kopenhagen angekommen. Zwar hatte die Reichspost versichert, innerhalb der von Deutschland besetzten Gebiete werde jedes Päckchen, das bis zum 14. Dezember aufgegeben wurde, rechtzeitig zum Fest zugestellt, aber sicher sein konnte man sich da mitten im Krieg nicht. Er würde es erst in ihrem nächsten Brief erfahren, denn Auslandstelefonate waren nicht nur sehr teuer, sondern ohne militärische Notwendigkeit nahezu unmöglich.
Nachdem er seinen Opel in einer kleinen Seitenstraße sicher geparkt hatte, ging er die wenigen Schritte bis zu dem fünfstöckigen Wohnhaus in der Putlitzstraße zu Fuß. Wäre er in die entgegengesetzte Richtung gegangen, er wäre wieder zu einem Güterbahnhof gelangt, dem von Moabit. Seit über einem Jahr wurden auch hier Berliner Juden in Eisenbahnwaggons verladen. „Evakuiert nach dem Osten“, wie es hieß. Larsen versuchte, nicht genauer über das vermeintliche Schicksal all derer nachzudenken, denen er nicht hatte helfen können. „Wie es wohl Gerda, Joachim und Kurt jetzt geht?“
Ohne das Licht anzuknipsen, betrat Larsen seine geräumige 5-Zimmer-Wohnung und schloss zunächst die Verdunklungsrollos. Nachdem er die kleine Küchenlampe eingeschaltet hatte, wärmte er sich einen Rest Kohl und Kartoffeln auf dem Gasherd auf. Ein Weihnachtsessen sah für ihn anders aus. Bei einem Glas Rotwein saß er schließlich im Lehnsessel des Wohnzimmers und spürte die Kälte, ihm fehlten die Kinder und seine Frau. Doch was war seine Einsamkeit gegen das Schicksal derer, denen die Nazis alles genommen hatten? Immerhin, er war ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden, hatte eine wundervolle Familie gründen können. Hätte ihm das jemand vor 25 Jahren gesagt, er hätte ihn milde belächelt. Damals lag Sigurd Larsen, ein großer Mann von stattlicher Statur, in einem kleinen Kaff an der Maas irgendwo zwischen Sedan und Verdun schwer verwundet im Lazarett. Es gab nicht viele, die etwas darauf gaben, dass er das Ende des Ersten Weltkrieges würde noch erleben können. Doch er tat es, wenn auch gezeichnet durch eine große Narbe auf der Stirn, und ein linkes Bein, das er seitdem nachzog. Als Sohn einer ostpreußischen Mutter aus dem Landkreis Gumbinnen östlich von Königsberg und eines dänischen Vaters war er nicht mit fliegenden Fahnen in den Krieg gegen Frankreich gezogen, und dennoch verstand er jenen Krieg noch heute besser als diesen, den er nun miterleben musste. Was war nur aus diesem Land geworden?
Statt weiter darüber nachzudenken, löschte er das Licht in der Wohnstube und ging an seinen Schreibtisch im Arbeitszimmer nebenan. „Ladung ist unterwegs. Stopp. Eintreffen Anfang 43. Stopp. Bitte um Bestätigung bei Eintreffen. Stopp. Larsen Furniere A/S“ Das Telegramm werde er erst am Montag zur Post bringen können, fiel ihm ein, denn auf die beiden Feiertage folgte in diesem Jahr gleich noch ein Sonntag. Aber vor dem 28. Dezember konnte die Fracht sowieso nicht in Schweden sein.
VIII.
„Sie sind der einzige, der unser Leben noch retten kann!“ So hatte Joachim Markuse ihn Anfang dieses Jahres angefleht. Trotz einer zweiten Flasche Rotwein konnte Sigurd Larsenauch weit nach Mitternacht noch immer nicht einschlafen und dachte nach. Nach Dänemark sollte er den Markuse und seine Frau bringen, doch das wollte Larsen nicht. Weder sei ein von den Nazis besetztes Land ein besonders kluges Fluchtziel für Juden, noch wolle er seine eigene Familie in zusätzliche Gefahr bringen. Immerhin hatte Larsen schon vielen Juden geholfen, ihr Vermögen illegal ins Ausland zu schaffen, ein noch größeres Risiko wollte er seiner Familie nicht zumuten. Die Gestapo klopfte nachts auch an Türen in Kopenhagen. Schweden, das sei das richtige Ziel, hatte Larsen damals erklärt. Den Versuch, das junge Ehepaar von der Flucht abzubringen, hatte er nie unternommen – wer Augen und Ohren hatte, wusste, was in Deutschland passierte. Wer außerdem noch den Auslandsdienst der BBC aus London hörte, erst recht.
Das Abhören von Feindsendern war selbstverständlich verboten, und in jedem Mietshaus in Berlin gab es mindestens einen, der darauf auch ein Ohr hatte – sowohl in Moabit als auch in Friedrichshain. In der Eldenaer Straße 29, die Kurt Lewin noch am Morgen hatte sein Zuhause nennen können, war dieser jemand der von allen Mietern gefürchtete Blockwart Hubert Meier. Schon einmal hatte er sehr erfolgreich im Sinne der Partei ein paar Volksschädlinge ermitteln können: die Querbergs aus dem zweiten Stock. Meier, ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem noch kleineren Oberlippenbart sowie sehr kurzen, schwarzen Haaren samt sauberem Scheitel, gehörte schon frühzeitig zur Bewegung. Bereits kurz nach der Machtübernahme der NSDAP am 30. Januar 1933 stellte er seinen Aufnahmeantrag und betrachtete immer wieder mit großem Stolz die Mitgliedsnummer in seinem Parteibuch: 939.010. Er hatte Glück gehabt und erhielt sein Parteiabzeichen noch vor dem vorübergehenden Aufnahmestopp am 1. Mai 1933. Seitdem hatte der kleine Mann, der zuvor von fast allen Menschen in seiner Umgebung gern übersehen worden war, eine für seine Verhältnisse große Karriere gemacht. Statt schlecht bezahlter Gelegenheitsarbeiten hatte die Partei ihm eine feste Anstellung als Hausmeister verschafft. Er trug nun Verantwortung, nicht nur für das Haus, in dem er selbst wohnte, sondern sogar für vier weitere Häuser - für die beiden nebenan in der Eldenaer Straße, die Nummern 27 und 25, und für die beiden in der angrenzenden Nebenstraße, die Nummern 1 und 3 der Proskauer Straße.
Das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuschte Hubert Meier nie. Die Hausflure waren stets in einwandfreiem Zustand, die Hinterhöfe gepflegt, die Mieter verdunkelten anständig. Einige von denen waren Meier jedoch ein Dorn im Auge. In der Eldenaer 25 etwa wohnten unterm Dach zwei Männer zusammen: da er noch nie Damenbesuch bei ihnen gesehen hatte, wohnten zu seiner Schande offenbar Schwule in einem seiner Häuser. Ausgebombte fanden keine neue Bleibe, während bei ihm Asoziale vor sich hin vegetierten. Oder in der Proskauer 1, direkt nebenan, die Lehmanns damals mit ihrem behinderten Kind. Das Problem hatte er aber zum Glück schon auf seine Weise gelöst. Aber dann waren da auch noch dieser Jude Lewin im dritten Stock seines eigenen Hauses und direkt nebenan diese Kommunistenfamilie Scheffler. „Hart durchgreifen“, das war das einzige, was half. Bei den Querbergs war es ihm nun endlich gelungen! Monatelang hatte er kaum geschlafen, hatte seine Hausmeisterarbeiten des tags vernachlässigen müssen, um sich des nächtens wach zu halten. Er horchte - in seiner Wohnung, auf dem Flur. Zuvor hatte er nur zu diesem Zweck noch die quietschenden Treppenstufen bearbeitet, damit die Querbergs auch nichts von ihrer Observation bemerkten. Das Ergebnis war eindeutig: mehrmals in der Woche schaltete das Ehepaar den Volksempfänger an, um sich die Verleumdungen aus London anzuhören. Seine Aufzeichnungen waren lückenlos: „Mittwoch, 7.10., 22.30 Uhr“, „Dienstag, 20.10., 22.00 Uhr“, „Freitag, 30.10., 22.00 Uhr“, „Donnerstag, 5.11., 23.00 Uhr“. Ende November hatte er diese Notizen, die noch weitere Eintragungen umfassten, der Gestapo übergeben.Nachdem in den darauffolgenden Tagen wider Erwarten nichts passierte, ließ er das Bezirksbüro der Partei davon wissen und am 18. Dezember 1942 war es dann endlich soweit.
Gegen fünf Uhr in der Frühe wurde Meier aus dem Schlaf gerissen. Die Türklingel wollte gar nicht aufhören zu schellen, weshalb Meier sich trotz erheblicher Kopfschmerzen einen Bademantel überzog, nur knapp vermied, über eine leere Schnapsflasche auf dem Teppichboden zu fallen, um dann zunächst seine Wohnungs- und schließlich die Haustür zu öffnen. Als er in diesem Moment jedoch zwei Gestapo-Beamte in langen, schwarzen Ledermänteln sowie zwei junge SA-Männer in ihren braunen Uniformen vor sich sah, war Meier auf Schlag stocknüchtern. „Zweeter Stock rechts“, meldete Meier, die Hacken in den Filzpantoffeln so gut es ging zusammengeschlagen und die Hände an der Bademantelnaht. Zu gern hätte er gesehen, was er nun nur hören konnte, doch sein wenig standesgemäßer Anzug ließ mehr nicht zu. Über ihm wurde kräftig an die Tür der Querbergs geschlagen, einer der Beamten rief „Polizei, aufmachen, sofort“ und wenig später drehte sich der Schlüssel im Schloss der Querbergs. Zu Meiers Enttäuschung ließen die Vertreter der Staatsmacht die Tür hinter sich wieder zufallen, die Vorstellung war für Meier zu ende. Durch seinen Türspion konnte er allerdings keine zehn Minuten später seinen Erfolg in ganzem Ausmaß genießen und sehen, wie die Querbergs abgeführt wurden.
IX.
Kurt Lewin saß kerzengerade in seinem Bett, als die Gestapo an die Tür hämmerte. Sein Puls raste, das Herz klopfte ihm bis in den Hals. Erst jetzt nahm er wirklich wahr, dass sie nicht vor seiner Tür waren, nicht ihn abholen wollten, sondern ein Stockwerk tiefer standen. Auch Lewins „Untermieter“ hatte das Geschrei gehört und stand nun kreidebleich in Lewins Schlafzimmertür. Alfred Balthoff, Künstlername Freddie Berliner, war Schauspieler und seit einigen Wochen ein sogenanntes „U-Boot“, ein untergetauchter Jude mitten in Berlin.
Die beiden Männer wagten nicht zu sprechen. Das war allerdings auch nicht nötig, sie wussten, dass sie beide dasselbe dachten und fühlten. Lewin schaute auf die Uhr, ging ins Bad und zog sich nach einer kurzen Morgentoilette wortlos an. Nachdem er eine Scheibe trockenes Brot gegessen hatte, nahm er seinen Mantel mit dem Gelben Stern, nickte Freddie so aufmunternd wie möglich zu und ging zur Arbeit. Als er ein Stockwerk tiefer an der Wohnung der Querbergs vorbeikam, war die Tür mit einem Polizeisiegel versehen. Auf dem Treppenabsatz waren Blutstropfen zu erkennen. Ein kalter Schauer lief Lewin über den Rücken. Erst vor wenigen Wochen waren seine Eltern abgeholt worden, besser gesagt, sein Vater.
Johanna und Sally Lewin waren im Sommer 1942 von der Eldenaer Straße in die Altonaer Straße 29 nach Tiergarten gezogen. Kurt besuchte sie oft. Der Weg von Friedrichshain zur Zwangsarbeit im Westhafen war fast doppelt so lang wie der Weg von dort zu seinen Eltern. Auch am Donnerstag, den 22. Oktober, fuhr Kurt Lewin mit der Elektrischen nicht zur eigenen, sondern zur Wohnung der Eltern. Als sein Vater ihm langsam die Tür öffnete, wusste Kurt, was passiert war. „Staatspolizeiliche Verfügung“ stand oben auf dem Schreiben, das Sally Lewin vom Küchentisch nahm. „Es wird Ihnen hiermit eröffnet, dass Sie innerhalb von 7 Stunden Ihre Wohnung zu verlassen haben …“ Kurt blickte kurz auf, sah das erste Mal in seinem Leben Tränen in den Augen seines Vaters und erst jetzt die beiden gepackten Koffer im Flur. „Den Brief haben wir heute morgen um 10 Uhr bekommen.“ Jetzt war es kurz vor fünf Uhr am Nachmittag. „Mutter?“, fragte Kurt, als gelte es keine Zeit mit längeren Fragen mehr zu vergeuden. „Im Wohnzimmer“, lautete die Antwort des Vaters.
Als Fäuste an die Tür schlugen, saß Kurt Lewin in der Stube, hielt die kalte Hand seiner 62-jährigen Mutter mit zittrigen Fingern fest umklammert. „Es ist besser so“, hörte er wie durch einen dichten Nebel seinen Vater sagen, als der den Flur entlang ging, um zu öffnen. Zwei SA-Männer betraten die Wohnung. „Wo ist Ihre Frau?“ „Sie lebt nicht mehr.“ „Auch gut. Wo sind die Schlüssel?“ In der staatspolizeilichen Verordnung hieß es: „Den Haupt- und Korridorschlüssel haben Sie mit einem Bändchen und einem daran befestigten Stück Pappe zu versehen und Ihren Namen und Wohnung darauf zu schreiben. Diese Schlüssel haben Sie dem Ihnen dieses Eröffnenden zu übergeben.“ Sally Lewin tat es. Die beiden Uniformierten inspizierten daraufhin die Wohnung und fanden Kurt mit seiner Mutter im Wohnzimmer. „Was ist mit mir?“, fragte Kurt die etwa gleichaltrigen SA-Männer. „Wer bist du?“ Nachdem sie Kurts Ausweis und Kennkarte sowie ihre „Evakuierungsliste“ kontrolliert hatten, lautete die knappe Antwort „Nichts, du stehst nicht auf der Liste.“
Der Leichnam von Johanna „Sara“ Lewin wurde noch am selben Abend von einem jüdischen Bestatter abgeholt. Ein jüdischer Arzt hatte zuvor den Totenschein ausgefüllt und als Ursache „Herzschlag“ eingetragen. In den Unterlagen des jüdischen Friedhofes Weißensee sollte dieser Eintrag später auf Anordnung des Bezirksamtes in „Freitod“ geändert werden. Nun war Kurt Lewin allein in der elterlichen Wohnung, ganz allein. An sich hätten die SA-Männer die Tür sofort versiegeln sollen, aber da sie nicht auf den Bestatter warten wollten, sollte dies am kommenden Morgen nachgeholt werden. Sally „Israel“ Lewin samt seines Koffers wurde sofort mitgenommen zum Sammellager an der Großen Hamburger Straße, einem ehemaligen jüdischen Altenheim. Zwei Tage später, am 24. Oktober, sahen sich Vater und Sohn noch ein letztes Mal wieder, auf dem Friedhof. Die Zeremonie war feierlich aber kurz, die SA wartete am Eingang. Nachdem der schlichte Sarg mit der sterblichen Hülle von Johanna Lewin herabgelassen worden war, das Gesicht nach Osten in Richtung Jerusalem gerichtet, sprach der Sohn traditionsgemäß das Kaddisch: „Möge sein großer Name verherrlicht und geheiligt werden in der Welt, die er erschaffen hat nach seinem Willen, und möge er sein Reich zur Herrschaft bringen bei eurem Leben und in euren Tagen und beim Leben des gesamten Hauses Israel, bald und in kurzer Zeit; und erwidert darauf: Amen! Sein großer Name sei gelobt in Ewigkeit und in aller Ewigkeit Ewigkeit …“ Für einen kurzen Moment war Sally Lewin glücklich, konnte sein Sohn doch wenigstens am Grab der Mutter das Kaddisch sprechen, an seinem eigenen sicherlich nicht. Da es noch keinen Grabstein gab, legten Vater und Sohn jeweils einen kleinen Stein auf den Boden am Kopfende des Grabes. Es folgte ein letzter Kuss auf die Stirn seines Sohnes, bevor sich Sally Lewin wieder in die Hände seiner Häscher begab. Ein letzter Blick. Kein Wort mehr. Nie mehr.
X.
„Für Spitzel ist in diesem Haus eben kein Platz, genauso wenig wie für Kommunisten und Juden!“ Die keifende Stimme von Blockwart Meier riss Kurt Lewin aus seinen Erinnerungen. Er schaute nur kurz in die grinsende Fratze jenes Mannes, der sich direkt vor ihn gestellt hatte, beide Arme in die Hüften gestemmt. Dann schaute er noch einmal auf die Bluttropfen am Boden und ging wortlos weiter die Treppe hinab. „Vielleicht bist du ja schon morgen der nächste, Kurt Israel,“ hallte es hinter ihm her den Hausflur hinab.
Zwei Monate war es nun schon fast auf den Tag genau her, dass seine Mutter gestorben war, dachte Lewin in der Straßenbahn. Dank einer Sondererlaubnis als Zwangsarbeiter in „kriegswichtiger Produktion“ durfte er trotz des Gelben Sterns auf dem Weg zum Westhafen und wieder zurück sowohl die Elektrische als auch die U-Bahn benutzen. Die Wartehäuschen gleichwohl waren auch für ihn seit Juli tabu: „Nur für Deutsche“.