Dora Duncker: Mütter

 

 

Dora Duncker

Mütter

Drei tragische Novellen

 

 

 

Dora Duncker: Mütter. Drei tragische Novellen

 

Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Paul Cézanne, Die Seine bei Bercy, 1876

 

ISBN 978-3-8430-8676-9

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9407-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9408-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Berlin (F. Fontane & Co.) 1897.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Dora Duncker: Mütter. Drei tragische Novellen, Berlin: F. Fontane & Co., 1897.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Mütter

Sonntagmorgen. In dem kleinen Häuschen, das ein wenig abseits von den andern, nahe dem Bollwerk liegt, herrscht tiefe Stille.

Die Fensterläden im oberen Stockwerk sind fest geschlossen. Seine Bewohner, ein pensionierter Kanzleirat und seine Frau, sind auf Besuch bei der Tochter in Berlin.

Das Parterregeschoß ist in zwei Hälften geteilt, durch die ein ziegelgepflasterter Flur läuft. Links, hinter den Fenstern, an denen die grünen, breitblätterigen Blattpflanzen stehen, wohnt die Besitzerin des kleinen Hauses, Frau Marianne Harms. Rechts, hinter den blutroten Nelkenstöcken, die selbst im Winter Blüten tragen, ihr Sohn Hans, der Obermatrose, und Alrun, seine junge Frau.

Heut morgen ist außer Frau Marianne, die am Fenster sitzt und an ein paar Strümpfen für ihren Jungen strickt, das Haus vollständig leer.

Alrun ist zur Kirche, und Hans, der Obermatrose ist seit vier Monaten im Dienst auf See.

Frau Marianne, eine stattliche und noch immer schöne Vierzigerin, läßt die klappernden Nadeln in den Schoß sinken. Ihr Auge sucht durch die Blattpflanzen hindurch ein Stück des grauen, wolkigen Novemberhimmels. Dann seufzt sie einen Augenblick schwer auf, wie sie an ihren Jungen denkt, der da weit draußen auf der Südsee seinen[3] schweren Dienst thun muß. Sie fährt sich über die Stirn. Dann fangen die Nadeln wieder zu klappern an. Es ist ja Narrheit, immer nur an Gefahr und Tod zu denken. Sie ist ein Seemannskind, sie war ein Seemannsweib, sie hats nicht anders gekannt, als daß die Männer in ihrer Familie zur See gegangen sind, warum zittert sie nur so unablässig um den Einzigen, da sie doch sonst niemals weder Grauen noch Angst gekannt?

Freilich, er ist das einzige, was ihr geblieben.

Ihren Mann hat das gelbe Fieber fortgerafft. Sie hat die Kinder allein durchbringen und erziehen müssen. Zwei Mädchen und ihren Jüngsten, ihren Hans.

Auch die Töchter hat sie verloren. Die älteste ist im Kindbett gestorben; die zweite, ein schönes, leichtsinniges Geschöpf, ist zu Grunde gegangen. Es ist ihr nichts geblieben, als ihr Hans und seine junge Frau.

Es war gewiß eine Thorheit gewesen, daß er so jung geheiratet hatte. Aber immerhin, es hat ihn glücklich gemacht. Er liebte das junge Weib, das eigentlich noch halb ein Kind war, über alles. Marianne hatte nicht das Herz »nein« zu sagen. Und so hat er das junge Ding ihr ins Haus gebracht, und Marianne sorgt so ziemlich für alles, was Not thut.

Sie thuts gern. Alles thut sie gern ihm, ihrem Jungen zu Liebe.

Wenn er nur erst wieder da wäre, heil wieder da.

Sie wundert sich oft im Stillen über Alrun, daß sie an so viel anderes denken kann, als an ihren jungen Gatten; daß sie lachen kann, wenn die Herbststürme über das Bollwerk sausen, und verdrießlich sein konnte, als der warme[4] Sommerwind noch lind über die Wellen im Hafen strich. Ja, es gab Marianne sogar einen Stich, wenn Alrun viel mehr von dem kleinen Hans sprach, den sie erwartete, als von dem großen, der fern im Süden auf den einsamen Wassern trieb, wenn sie allerlei kleines, weißes Zeug spielend in den hübschen Händen bewegte, während sie selbst unermüdlich Strümpfe und Unterkleider für ihren großen Jungen strickte.

Das Kleine, nun ja, es war ja gewiß ein Glück, daß es kam, und sie schwur auch darauf, wie Alrun es that, daß es ein kleiner Hans werden würde. Aber was wußte sie davon, was aus diesem Kinde einmal werden würde; und was sie an ihrem Hans, an ihrem Goldjungen besaß, das fühlte sie nie tiefer, als wenn er ferne war und sie sich vor Sehnsucht verzehrte nach seinem guten Gesicht mit den freundlichen, blauen Augen, nach seiner vollklingenden, jugendfrischen Stimme, nach seiner ganzen, gediegenen, stetigen Art. Und sie wußte, es war nicht nur Mutterliebe, die sie blind machte. Er galt überall als ein braver, vortrefflicher Mensch.

Am frühen Morgen war die Luft ganz still gewesen. Jetzt hatte sich der Nebel zerteilt und ein stößiger Wind war aufgekommen, so ein launischer, hinterlistiger Wind, der den Seeleuten zu schaffen macht.

Drüben vom Bollwerk her wurden trockene Kastanienblätter haufenweis bis vor das kleine Haus gewirbelt.

Marianne fuhr jedesmal schreckhaft zusammen, wenn ein Windstoß vom Hafen gegen die niedre Hauswand prallte. Sonst war es noch immer ganz still im Hause und auf der breiten Straße vor ihren Fenstern. Die alte, holländische[5] Wanduhr, die ihr Mann mal aus den Kolonien mitgebracht, hatte eben erst zehn geschlagen. Der Gottesdienst war noch im vollen Gange.

Plötzlich, ohne daß Marianne nahe Schritte vernommen hatte, wurde draußen die Klingel gezogen. Da auch das Mädchen, das heut seinen freien Tag hatte, nicht zugegen war, ging Marianne, um selbst zu öffnen.

Der Briefträger stand vor ihr und hielt ihr einen Briefumschlag entgegen, der mit überseeischen Marken und Poststempeln dicht bedeckt war.

»Vom Herrn Obermatrosen«, sagte er schmunzelnd. »Wünsche gute Unterhaltung.«

Damit war er schon wieder aus dem Hausflur heraus, froh, die letzte Sonntagsbestellung erledigt zu haben.

Einen Augenblick hielt Marianne den Brief fest und zärtlich zwischen den Fingern der linken und streichelte mit der rechten Hand liebkosend darüber hin. Dann fuhr plötzlich ein jäher Schreck durch ihre Glieder. Die Schrift war nicht die Schrift ihres Jungen. Es war eine fremde Schrift. Eiskalt lief es ihr über den Rücken und ihre Hände flogen wie entsetzt vor dem Brief zurück, so daß er beinahe zu Boden gefallen wäre.

Sie hatte bis jetzt in dem kalten Flur gestanden, nun raffte sie sich zusammen und sich selbst Mut zusprechend, ging sie in das Zimmer zurück.

Warum gleich an das Schlimmste denken? Man hatte ja von keinem Schiffsunglück gehört. Vielleicht war Hans krank, eine ganz leichte Krankheit, und ein Kamerad schrieb statt seiner, um sie nicht in Unruhe zu lassen. Ja, das wars, das mußte es sein.[6]

Ihre Züge hellten sich förmlich auf und eilfertig zog sie nun die Stricknadel aus dem Strumpf Nummero sechs des neuen halben Dutzend und öffnete den breiten, fest verklebten Umschlag.

Der Brief war nicht lang, aber Marianne brauchte wohl eine halbe Stunde dazu, ehe sie seinen Inhalt begriffen hatte.

Dann war ihre frische, bräunliche Gesichtsfarbe gelb-weiß geworden, und ihre lebhaften, blaugrauen Augen wie erloschen.

Weit vornübergebeugten Hauptes saß sie da. Der Brief war von ihren zitternden Knien herabgeglitten und zu Boden gesunken; statt seiner lagen die krampfhaft in einander verschlungenen Hände in ihrem Schoß und darüber hin murmelten die blutlos gewordenen Lippen wie gedankenabwesend dasselbe und immer dasselbe: »Das kann Dein Wille nicht gewesen sein, lieber Gott – das nicht.«

Die elf dumpfen Schläge der Wanduhr weckten sie aus ihrer stumpfen Verzweiflung. Nein, so war es nicht, so konnte es nicht sein. Sie hob den Brief vom Boden auf, strich ein paarmal über die Augen und begann noch einmal zu lesen, Wort für Wort, Silbe für Silbe:

 

»Südsee, 7. Oktober 1894.

Das Kommando erfüllt hiermit die traurige Pflicht, Ihnen die ergebene Mitteilung zu machen, daß Ihr Sohn, der Obermatrose Hans Harms, auf der Reise von Apia nach Auckland am 4. d. M., früh 7 Uhr, bei Ausübung seines Dienstes den Tod gefunden hat. Der Genannte fiel, als er sich als Ausguckposten auf der Vormarsraa befand, infolge Bruches derselben über Bord, und blieben die sofort angestellten und mehrere Stunden fortgesetzten[7] Rettungsversuche bei dem äußerst stürmischen Wetter leider erfolglos.

Das Kommando bedauert mit Ihnen den Tod eines seiner besten Obermatrosen und spricht gleichzeitig die Versicherung aus, daß das Andenken desselben bei der Besatzung dauernd in Ehren gehalten wird. So überaus schmerzlich der Verlust ist, so dürfen Sie doch in dem Gedanken einen gewissen Trost finden, daß der Verschiedene getreu seinem Eide als braver Soldat im Dienste seines Kaisers und seines Vaterlandes sein Leben dahingegeben hat.

Helder,

Korvetten-Kapitän und Kommandant.«

 

Diesmal hatte sie ganz verstanden.

Sie stieß einen wilden, wahnsinnigen Schrei aus, in den sich etwas wie grimmiges Lachen mischte, Lachen über den Trost, den dieser Fremde da vermessen genug war, ihr geben zu wollen, ihr, einer Mutter, die ihr letztes Kind verliert.

Und nun wieder saß sie reglos da und stierte vor sich hin, lange, lange. Ihr Herzschlag und ihre Gedanken schienen stille zu stehen.

Dann langsam, ganz langsam kam es ihr zu Bewußtsein, daß sie nicht die einzige sei, deren Dasein der Inhalt dieses Briefes vernichtete. Daß ein junges Weib auf der Welt war, dem der Sturm und die tückischen Wellen den Gatten, ein werdendes Kind, dem sie den Vater verschlungen hatten.

Alrun war da und das Kind, das sie unter dem Herzen trug.[8]

Marianne schluchzte auf. Das Kind, das lebendige Erbteil ihres Jungen, das einzige, was ihr von ihm übrig blieb. Wie hatte sie diese beiden vergessen können! Sie mußten geschont, getröstet, erhalten werden.

Mit einem Schlage hatte die Frau ihre Fassung wieder gewonnen. Ihre nächste Pflicht war es, Alrun schonend auf das Furchtbare vorzubereiten. Und mit dem Bewußtsein dieser Pflicht kam eine fast unnatürliche Ruhe, eine Art Fanatismus über sie. Der Gedanke, daß ihr Junge vor allem von ihr verlangt haben würde: schone und tröste mein Weib, nimm Dich meines Kindes an, gab ihr übernatürliche Kraft.

Sie sah auf die Uhr. Es war Mittagszeit. Alrun hätte von der Kirche längst zurück sein müssen. Sie war vermutlich noch zu einer Freundin gegangen, mit der sie plauderte und lachte – während Hans – die Frau durchschauerte es. Gleich aber richtete sie sich wieder stramm in den Schultern auf und machte sich daran, den Tisch zu decken.

Es war Essenszeit. Alrun sollte durch nichts Außergewöhnliches beunruhigt werden.

Kaum, daß Marianne die letzte Gabel neben den Teller gelegt hatte, klang Alruns leichter Schritt unter den Fenstern auf – jetzt ging sie die beiden Steinstufen herauf, jetzt zog sie die Klingel.

Marianne griff sich mit beiden Händen ans Herz. Dann ging sie und öffnete mit ruhigem, freundlichem Antlitz. Hans würde es so gewollt haben.

Vor der Thür stand Alrun und lachte sie an. Einen Augenblick packte es Marianne mit wütendem Grimm, als[9] sie die weißen Zähne zwischen den frischen roten Lippen aufblitzen sah, und die blauen Augen unter dem krausen Blondhaar mit den Lippen um die Wette lachten, aber sie faßte sich schnell und fragte, während sie beide in das Zimmer zurückschritten, in dem der Tisch gedeckt stand, ganz ruhig, nur mit etwas unsicherm Stimmfall, wo Alrun so lange gewesen sei.

»Gleich Mutter, gleich –«, die junge Frau warf sich übermütig auf den nächsten Stuhl – »laß mich nur erst zu Atem kommen. Wir haben so gelacht, Theda und ich, Du glaubst es nicht, Mutter, wie die kleinen Kinder – Du weißt doch, daß die »Windsbraut« seit gestern Abend im Hafen liegt – und Peter Larsen natürlich mit ihr – nur für ein paar Tage – sie müssen schon nächste Woche mit einer Ladung Stückgut wieder fort – und der Peter, der bleibt immer derselbe – was er uns alles für Schnurren erzählt hat – Theda, und die kleinen Krabben erst, die konnten garnicht genug kriegen – aber Du hörst ja garnicht zu, Mutter?«

»Doch, doch, Alrun, ich höre.«

Marianne stand abgewendet da und machte sich mit fliegenden Fingern an dem Tischgerät zu schaffen.

Drunten auf dem Grunde des Meeres lag der Leichnam ihres Jungen – ihres herzlieben, einzigen Jungen – und seine junge Frau lachte, lachte über die läppischen Schnurren eines anderen, den die launischen Wellen sicher in den Hafen zurückgetragen hatten.

Alrun war aufgesprungen und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt.

»Bist böse, Mutter, daß ich so spät nach Hause gekommen bin –?«[10]

Marianne machte sich heftig von Alrun los, ohne sie anzusehen.

»Geh, geh, ich denke nicht daran. Ich – ich habe Hunger. – Es ist spät geworden – geh hinaus, trag' uns die Suppe auf – Minna ißt heut bei ihrem Bruder draußen in Haidhof.«

Alrun ging, wie ihr geheißen war.

Von der Küche her, die auf den Steinflur mündete und für beide Wohnungen gemeinsam war, hörte Marianne sie singen:

 

»Lustiger Matrosensang, hoia ho!«

 

klang es zu ihr herüber.

Ein heiserer Schrei stieg in ihrer Kehle auf. Was quälte sie sich so! Wer weiß, ob es dies junge, leichtfertige Ding gleich zu Boden werfen würde, wenn sie ihm unvorbereitet sagte – dennoch – nein – wenn nicht um Alrun, um des Kindes willen wollte sie stark und liebreich sein.

Alrun kam mit der Suppe zurück.

Sie hatte eine weiße Schürze über das dunkelblaue Wollkleid gebunden. Ihr Gesicht strahlte in Frische und Jugend. Marianne blickte verstohlen nach ihr hin.

Sie war noch ein halbes Kind – warum sollte sie nicht fröhlich sein? Gerade diese Fröhlichkeit hatte Hans so sehr an ihr geliebt. Sie durfte sie deshalb nicht tadeln. O nein, gewiß, sie wollte es auch nicht.

Sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch.

Alrun löffelte ohne abzusetzen ihren Teller aus, dann erst sah sie auf.

»Du ißt ja nicht Mutter –? Fehlt Dir was?«[11]

»Nichts, nein – nur – – –«

»Weißt Du was, Mutter – ich hole Dir eine Flasche von dem kräftigen Rotwein herauf, den Kaufmann Steffen uns voriges Jahr abgelassen hat – der wird Dir gut thun –«

»Nein, laß –«

Sie war schon aus der Thür. Marianne lehnte den Kopf in beide Hände und stöhnte auf. Wenn Alrun nur irgend etwas aufgebracht hätte, an das sie sich hätte klammern können, irgend etwas, das es ihr möglich machte, von dem Entsetzlichen zu beginnen – eine Besorgnis – eine Unruhe. – Wenn sie nur überhaupt von Hans gesprochen hätte – aber nichts, nichts als den Unsinn von Peter Larsen hatte sie im Kopf, daran dachte sie immer fort, auch während der gutherzigen, kleinen Sorgfalt für sie, daß wußte Marianne ganz gut.

»So, Mutter – das wird schmecken.«

Alrun setzte sich wieder.

In dem Augenblick pfiff ein heulender Windstoß um die Hausecke.

»Brrr« – machte Alrun – »gehts schon wieder los. Heut nach der Kirche hats ordentlich gefegt, als wir bei Larsens saßen, aber das machte uns nichts – fidel waren wir – denk nur Mutter, in China –«

Marianne unterbrach sie rasch.

»Meinte – sagte Peter Larsen nicht – es wäre böse gewesen auf See die letzten Wochen –?«

»Ja – sie habens ein paar Mal schlimm gehabt – aber die »Windsbraut« hält was aus –«

»Da wird – am Ende auch – –!«[12]

»Hans, meinst Du –? Nein – im Gegenteil – Peter Larsen sagte, die Südsee wäre glatt wie Öl – Du, Mutter –!«

»Ja –«

Alrun lachte auf.

Die Frau war sich mit der Hand über die Stirne gefahren, um den perlenden Schweiß fortzuwischen, den die Todesqual ihr auspreßte. Alrun, welche die Bewegung bemerkt hatte, meinte:

»Das ist gut – nun wirst Du bald wieder auf dem Posten sein – siehst Du, meine Kur war ganz gut. Hans sagt immer, wenn der Schweiß kommt, ist der Mensch wieder gesund.«

»Hans – so – ja –.« Marianne gurgelte es förmlich heraus und dann plötzlich abgebrochen, gepreßt: »Mich dünkt, Hans hat recht lange nicht geschrieben –«

»Hat Dir das die Laune verdorben, Mutter? Deswegen kannst Du ruhig sein. Noch nicht vier Wochen ist's her, daß der letzte Brief gekommen ist. Na, und wenn's nicht wäre, wenn er nicht geschrieben hätte! Du bist doch auch 'ne Seemannsfrau gewesen, Mutter. – Seemannsfrauen müssen nicht gleich den Kopf hängen lassen, die müssen lustig sein, das sagte auch Peter Larsen heute noch – und so eine wie ich, sagte er, müsse eigentlich jeder Mann auf See haben, dann wäre ihm das Herz nicht schwer, wenn er nach Hause dächte und er könnte noch einmal so gewissenhaft seine schwere Pflicht thun – und er würde sich nie eine andere nehmen, wie eine von meinem Schlag. Und nun, Mutter, wenn Dir's recht ist und Du[13] doch nicht essen magst, können wir uns auch ebenso gut eine gesegnete Mahlzeit sagen.«

Marianne hatte von dem, was Alrun zuletzt gesprochen, kaum ein Wort gehört, jedenfalls nicht eins verstanden; alle ihre Sinne waren weit, weit fort. Ihre Augen sahen nichts, als den starren Leichnam ihres Kindes auf dem Grund des Meeres, ihre Ohren hörten nur das Rauschen und Rollen und Dröhnen von Sturm und Wellen, die an ihrem Kinde zum Mörder geworden waren, ihre Hände tasteten nach der Todesbotschaft, die sie auf der Brust eingeknöpft trug.

Jetzt erst, als Alrun aufstand und den Stuhl hinter sich fortrückte, erwachte Marianne aus ihrer Betäubung.

Mechanisch erhob sie sich. Dann, ohne daß sie es eigentlich wahrgenommen, hatte sie ein dunkles Gefühl, daß Alrun das Zimmer verlassen habe, daß sie allein sei.

Nun konnte sie wieder denken, wie es geschehen sollte, daß Alrun das Furchtbare erfuhr.

Sie sah auf die Wanduhr. Es war Zwei vorüber. Seit vier Stunden wußte sie, daß Alrun Witwe sei – und sie ließ sie noch immer weiter lachen.

Die Thür vom Flur her kreischte in den Angeln. Marianne hatte das vordem noch nie bemerkt. Jetzt fuhr sie bei dem Geräusch schreckhaft zusammen.

Alrun in Hut und Mantel trat bei ihr ein.

Sie starrte sie an.

»Du – Du willst schon wieder fort?«

»Warum nicht –? Wir haben uns verabredet – Theda, Peter und ich – wir wollen durch die Haide nach Wolfshagen –«

»Das, das wirst Du nicht!«[14]

Alrun fuhr vor diesem gänzlich ungewohnten Ton zurück. Ihre Brauen zogen sich zusammen. Was sollte das bedeuten? Die Mutter, die ihr auf Hans' Geheiß jeden Willen ließ, verbot ihr plötzlich ein ganz unschuldiges Vergnügen, wie einem kleinen Kinde, ohne Grund, ohne Ursache.

Alrun lehnte sich auf.

»Weshalb nicht?« fragte sie trotzig. »Es ist Sonntag Nachmittag und nichts zu versäumen – und Du – Du gehst ja sonntags immer zu Onkel Willem?«

»Ich – ich werde heut nicht zu Onkel Willem gehen – ich – Du weißt ja – ich bin nicht ganz auf dem Posten. Aber wenn Du noch ausgehen willst – um meinetwillen brauchst Du nicht zu bleiben –«, Marianne stockte, – »nur gerade nach Wolfshagen mit den Beiden – eine förmliche Lustpartie –«

Alrun warf die Lippen auf.

»Eine Lustpartie nun gerade nicht – aber lustig wärs schon gewesen mit Theda und Peter –« dann zuckte sie mit den Achseln und war mit einer raschen Bewegung zur Thür hinaus. Marianne hörte, wie Alrun die Thür ihrer kleinen Wohnung jenseits des Flurs heftig ins Schloß warf.

Dann faltete sie die Hände:

»Nun hilf mir, hilf Du mir, lieber Gott, daß ich's ihr sage auf die rechte Art.«

Nach Tisch pflegten die Frauen, wenn keine besondere Hausarbeit vorlag, mit einer Näherei beschäftigt in Mariannens Zimmer zu sitzen. Dann und wann kam auch wohl gerade um diese Stunde ein Besuch.

Heute rührte sich nichts an der Klingel und auch Alrun kam nicht über den Flur zurück.[15]

Nach einer Stunde verzweifelnden Brütens kroch die Frau mehr als sie ging, über den Gang bis vor Alruns Zimmerthür. Es kostete sie einen schweren Entschluß, das kleine warme Nest zu betreten, das ihr Junge mit so viel Liebe für sein junges Glück geschmückt, und das er nun auf immer mit dem kalten Wellengrabe vertauscht hatte.

Leise klinkte Marianne die Thür auf. Alrun saß auf dem erhöhten Tritt am Fenster, an dem die Nelkenstöcke blühten und nähte an einem winzigen Stückchen Leinewand.

Sie nickte der Eintretenden zu, ohne das Auge von der Arbeit zu erheben. Die Frau war mitten im Zimmer stehen geblieben. Ihr Herz war nicht so verhärtet durch den furchtbaren Schicksalsschlag, daß es dies liebliche Bild harrenden Mutterglücks nicht in sich aufgenommen hätte. Und das alles hatte der Tod ihrem Hans geraubt!

Sie rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Da blickte Alrun auf und hielt der Mutter lächelnd ein winziges, spitzenumsäumtes Kleidungsstück entgegen.

»Fertig! Was Hans sagen wird, wenn er das sieht!«

Da war's um die Kraft der Frau geschehen. Mit einem langen, wehen, unartikulierten Laut brach sie zusammen.

Alrun war neben der Ohnmächtigen niedergekniet. Sie hatte ihr das Gesicht mit Wasser benetzt, ihr die kalten, erstarrten Hände gerieben, Marianne hat sich nicht gerührt. Da war Alrun entsetzt vor ihr zurückgewichen. Mein Gott, wenn sie tot wäre! Sie hatte um Hilfe rufen wollen, da war ihr eingefallen, daß das Haus leer war, daß sie allein sei mit der Bewußtlosen.

Ein schwerer, stöhnender Laut von Mariannens Lippen[16]