Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen

 

 

Wilhelm von Humboldt

Ideen zu einem Versuch,

die Grenzen der Wirksamkeit

des Staats zu bestimmen

 

 

 

Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Wilhelm von Humboldt, Kreidezeichnung von Johann Joseph Schmeller

 

ISBN 978-3-8430-6657-0

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-6434-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-6440-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden 1792. Der vollständige Text wurde erstmals 1851 im Verlag von Eduard Trewendt, Breslau posthum publiziert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

Le difficile est de ne promulguer que des lois nécessaires, de rester à jamais fidèle à ce principe vraiment constitutionnel de la société, de se mettre en garde contre la fureur de gouverner, la plus funeste maladie des gouvernemens modernes.

Mirabeau l'aîné, Sur l'education publique. p. 69.

 

 

1. Einleitung
Bestimmung des Gegenstandes der Untersuchung. – Seltene Bearbeitung und Wichtigkeit desselben. – Historischer Blick auf die Grenzen, welche die Staaten ihrer Wirksamkeit wirklich gesetzt haben. – Unterschied der alten und neueren Staaten. – Zweck der Staatsverbindung überhaupt. – Streitfrage, ob derselbe allein in der Sorgfalt für die Sicherheit, oder für das Wohl der Nation überhaupt bestehen soll? – Gesetzgeber und Schriftsteller behaupten das Letztere. – Den- noch ist eine fernere Prüfung dieser Behauptung notwendig. – Diese Prüfung muß von dem einzelnen Menschen und seinen höchsten Endzwecken ausgehen.

Wenn man die merkwürdigsten Staatsverfassungen mit einander und mit ihnen die Meinungen der bewährtesten Philosophen und Politiker vergleicht, so wundert man sich vielleicht nicht mit Unrecht, eine Frage so wenig vollständig behandelt und so wenig genau beantwortet zu finden, welche doch zuerst die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen scheint, die Frage nämlich: zu welchem Zweck die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranken sie ihrer Wirksamkeit setzen soll. Den verschiedenen Anteil, welcher der Nation oder einzelnen ihrer Teile an der Regierung gebührt, zu bestimmen, die mannigfaltigen Zweige der Staatsverwaltung gehörig zu verteilen und die nötigen Vorkehrungen zu treffen, daß nicht ein Teil die Rechte des andren an sich reiße, damit allein haben sich fast alle beschäftigt, welche selbst Staaten umgeformt oder Vorschläge zu politischen Reformationen gemacht haben. Dennoch müßte man, dünkt mich, bei jeder neuen Staatseinrichtung zwei Gegenstände vor Augen haben, von welchen beiden keiner ohne großen Nachteil übersehen werden dürfte: einmal die Bestimmung des herrschenden und dienenden Teils der Nation und alles dessen, was zur wirklichen Einrichtung der Regierung gehört, dann die Bestimmung der Gegenstände, auf welche die einmal eingerichtete Regierung ihre Tätigkeit zugleich ausbreiten und einschränken muß. Dies letztere, welches eigentlich in das Privatleben der Bürger eingreift und das Maß ihrer freien ungehemmten Wirksamkeit bestimmt, ist in der Tat das wahre, letzte Ziel, das erstere nur ein notwendiges Mittel, dies zu erreichen. Wenn indes dennoch der Mensch dies erstere mit mehr angestrengter Aufmerksamkeit verfolgt, so bewährt er dadurch den gewöhnlichen Gang seiner Tätigkeit. Nach einem Ziele streben und dies Ziel mit Aufwand physischer und moralischer Kraft erringen, darauf beruht das Glück des rüstigen, kraftvollen Menschen. Der Besitz, welcher die angestrengte Kraft der Ruhe übergibt, reizt nur in der täuschenden Phantasie. Zwar existiert in der Lage des Menschen, wo die Kraft immer zur Tätigkeit gespannt ist und die Natur um ihn her immer zur Tätigkeit reizt, Ruhe und Besitz in diesem Verstande nur in der Idee. Allein dem einseitigen Menschen ist Ruhe auch Aufhören einer Äußerung, und dem Ungebildeten gibt ein Gegenstand nur zu wenigen Äußerungen Stoff. Was man daher von dem Überdruß am Besitze, besonders im Gebiete der feineren Empfindungen, sagt, gilt ganz und gar nicht von dem Ideale des Menschen, welches die Phantasie zu bilden vermag, im vollesten Sinne von dem ganz Ungebildeten und in immer geringerem Grade, je näher immer höhere Bildung jenem Ideale führt. Wie folglich, nach dem Obigen, den Eroberer der Sieg höher freut als das errungene Land, wie den Reformator die gefahrvolle Unruhe der Reformation höher als der ruhige Genuß ihrer Früchte, so ist dem Menschen überhaupt Herrschaft reizender als Freiheit oder wenigstens Sorge für Erhaltung der Freiheit reizender als Genuß derselben. Freiheit ist gleichsam nur die Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Tätigkeit; Herrschaft, Regierung überhaupt zwar eine einzelne, aber wirkliche Tätigkeit. Sehnsucht nach Freiheit entsteht daher nur zu oft erst aus dem Gefühle des Mangels derselben. Unleugbar bleibt es jedoch immer, daß die Untersuchung des Zwecks und der Schranken der Wirksamkeit des Staats eine große Wichtigkeit hat und vielleicht eine größere als irgendeine andre politische. Daß sie allein gleichsam den letzten Zweck aller Politik betrifft, ist schon eben bemerkt worden. Allein sie erlaubt auch eine leichtere und mehr ausgebreitete Anwendung. Eigentliche Staatsrevolutionen, andre Einrichtungen der Regierung sind nie ohne die Konkurrenz vieler, oft sehr zufälliger Umstände möglich und führen immer mannigfaltig nachteilige Folgen mit sich. Hingegen die Grenzen der Wirksamkeit mehr ausdehnen oder einschränken kann jeder Regent – sei es in demokratischen, aristokratischen oder monarchischen Staaten – still und unbemerkt, und er erreicht vielmehr seinen Endzweck nur um so sicherer, je mehr er auffallende Neuheit vermeidet. Die besten menschlichen Operationen sind diejenigen, welche die Operationen der Natur am getreuesten nachahmen. Nun aber bringt der Keim, welchen die Erde still und unbemerkt empfängt, einen reicheren und holderen Segen als der gewiß notwendige, aber immer auch mit Verderben begleitete Ausbruch tobender Vulkane. Auch ist keine andre Art der Reform unsrem Zeitalter so angemessen, wenn sich dasselbe wirklich mit Recht eines Vorzugs an Kultur und Aufklärung rühmt. Denn die wichtige Untersuchung der Grenzen der Wirksamkeit des Staats muß – wie sich leicht voraussehen läßt – auf höhere Freiheit der Kräfte und größere Mannigfaltigkeit der Situationen führen. Nun aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handlenden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und diesem Reichtum, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht. Ebenso sind die Mittel, durch welche die Reform zu bewirken stände, einer fortschreitenden Bildung, wenn wir eine solche annehmen, bei weitem angemessener. Wenn sonst das gezückte Schwert der Nation die physische Macht des Beherrschers beschränkt, so besiegt hier Aufklärung und Kultur seine Ideen und seinen Willen, und die umgeformte Gestalt der Dinge scheint mehr sein Werk als das Werk der Nation zu sein. Wenn es nun schon ein schöner, seelenerhebender Anblick ist, ein Volk zu sehen, das im vollen Gefühl seiner Menschen- und Bürgerrechte seine Fesseln zerbricht, so muß – weil, was Neigung oder Achtung für das Gesetz wirkt, schöner und erhebender ist, als was Not und Bedürfnis erpreßt – der Anblick eines Fürsten ungleich schöner und erhebender sein, welcher selbst die Fesseln löst und Freiheit gewährt und dies Geschäft nicht als Frucht seiner wohltätigen Güte, sondern als Erfüllung seiner ersten, unerläßlichen Pflicht betrachtet. Zumal da die Freiheit, nach welcher eine Nation durch Veränderung ihrer Verfassung strebt, sich zu der Freiheit, welche der einmal eingerichtete Staat geben kann, ebenso verhält als Hoffnung zum Genuß, Anlage zur Vollendung.

Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Staatsverfassungen, so würde es sehr schwierig sein, in irgendeiner genau den Umfang zu zeigen, auf welchen sich ihre Wirksamkeit beschränkt, da man wohl in keiner hierin einem überdachten, auf einfachen Grundsätzen beruhenden Plane gefolgt ist. Vorzüglich hat man immer die Freiheit der Bürger aus einem zwiefachen Gesichtspunkte eingeengt, einmal aus dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit, die Verfassung entweder einzurichten oder zu sichern; dann aus dem Gesichtspunkte der Nützlichkeit, für den physischen oder moralischen Zustand der Nation Sorge zu tragen. Je mehr oder weniger die Verfassung, an und für sich mit Macht versehen, andre Stützen brauchte, oder je mehr oder weniger die Gesetzgeber weit ausblickten, ist man bald mehr bei dem einen, bald bei dem andren Gesichtspunkte stehengeblieben. Oft haben auch beide Rücksichten vereint gewirkt. In den älteren Staaten sind fast alle Einrichtungen, welche auf das Privatleben der Bürger Bezug haben, im eigentlichsten Verstande politisch. Denn da die Verfassung in ihnen wenig eigentliche Gewalt besaß, so beruhte ihre Dauer vorzüglich auf dem Willen der Nation, und es mußte auf mannigfaltige Mittel gedacht werden, ihren Charakter mit diesem Willen übereinstimmend zu machen. Eben dies ist noch jetzt in kleinen republikanischen Staaten der Fall, und es ist daher völlig richtig, daß – aus diesem Gesichtspunkt allein die Sache betrachtet – die Freiheit des Privatlebens immer in eben dem Grade steigt, in welchem die öffentliche sinkt, da hingegen die Sicherheit immer mit dieser gleichen Schritt hält. Oft aber sorgten auch die älteren Gesetzgeber und immer die alten Philosophen im eigentlichsten Verstande für den Menschen, und da am Menschen der moralische Wert ihnen das Höchste schien, so ist z. B. Platos Republik, nach Rousseaus äußerst wahrer Bemerkung, mehr eine Erziehungs- als eine Staatsschrift. Vergleicht man hiermit die neuesten Staaten, so ist die Absicht, für den Bürger selbst und sein Wohl zu arbeiten, bei so vielen Gesetzen und Einrichtungen, die dem Privatleben eine oft sehr bestimmte Form geben, unverkennbar. Die größere innere Festigkeit unsrer Verfassungen, ihre größere Unabhängigkeit von einer gewissen Stimmung des Charakters der Nation, dann der stärkere Einfluß bloß denkender Köpfe – die ihrer Natur nach weitere und größere Gesichtspunkte zu fassen imstande sind –, eine Menge von Erfindungen, welche die gewöhnlichen Gegenstände der Tätigkeit der Nation besser bearbeiten oder benutzen lehren, endlich und vor allem gewisse Religionsbegriffe, welche den Regenten auch für das moralische und künftige Wohl der Bürger gleichsam verantwortlich machen, haben vereint dazu beigetragen, diese Veränderung hervorzubringen. Geht man aber der Geschichte einzelner Polizeigesetze und Einrichtungen nach, so findet man oft ihren Ursprung in dem bald wirklichen, bald angeblichen Bedürfnis des Staats, Abgaben von den Untertanen aufzubringen, und insofern kehrt die Ähnlichkeit mit den älteren Staaten zurück, indem insofern diese Einrichtungen gleichfalls auf die Erhaltung der Verfassung abzwecken. Was aber diejenigen Einschränkungen betrifft, welche nicht sowohl den Staat als die Individuen, die ihn ausmachen, zur Absicht haben, so ist und bleibt ein mächtiger Unterschied zwischen den älteren und neueren Staaten. Die alten sorgten für die Kraft und Bildung des Menschen als Menschen; die neueren für seinen Wohlstand, seine Habe und seine Erwerbfähigkeit. Die alten suchten Tugend, die neueren Glückseligkeit. Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drückender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des Menschen eigentümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein; und daher zeigen alle älteren Nationen eine Einseitigkeit, welche (den Mangel an feinerer Kultur und an allgemeinerer Kommunikation noch abgerechnet) großenteils durch die fast überall eingeführte gemeinschaftliche Erziehung und das absichtlich eingerichtete gemeinschaftliche Leben der Bürger überhaupt hervorgebracht und genährt wurde. Auf der andren Seite erhielten und erhöheten aber auch alle diese Staatseinrichtungen bei den alten die tätige Kraft des Menschen. Selbst der Gesichtspunkt, den man nie aus den Augen verlor, kraftvolle und genügsame Bürger zu bilden, gab dem Geiste und dem Charakter einen höheren Schwung. Dagegen wird zwar bei uns der Mensch selbst unmittelbar weniger beschränkt, als vielmehr die Dinge um ihn her eine einengende Form erhalten, und es scheint daher möglich, den Kampf gegen diese äußeren Fesseln mit innerer Kraft zu beginnen. Allein schon die Natur der Freiheitsbeschränkungen unsrer Staaten, daß ihre Absicht bei weitem mehr auf das geht, was der Mensch besitzt, als auf das, was er ist, und daß selbst in diesem Fall sie nicht – wie die alten – die physische, intellektuelle und moralische Kraft nur, wenngleich einseitig, üben, sondern vielmehr ihr bestimmende Ideen als Gesetze aufdringen, unterdrückt die Energie, welche gleichsam die Quelle jeder tätigen Tugend und die notwendige Bedingung zu einer höheren und vielseitigeren Ausbildung ist. Wenn also bei den älteren Nationen größere Kraft für die Einseitigkeit schadlos hielt, so wird in den neueren der Nachteil der geringeren Kraft noch durch Einseitigkeit erhöht. Überhaupt ist dieser Unterschied zwischen den alten und neueren überall unverkennbar. Wenn in den letzteren Jahrhunderten die Schnelligkeit der gemachten Fortschritte, die Menge und Ausbreitung künstlicher Erfindungen, die Größe der gegründeten Werke am meisten unsre Aufmerksamkeit an sich zieht, so fesselt uns in dem Altertum vor allem die Größe, welche immer mit dem Leben eines Menschen dahin ist, die Blüte der Phantasie, die Tiefe des Geistes, die Stärke des Willens, die Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Wert gibt. Der Mensch, und zwar seine Kraft und seine Bildung, war es, welche jede Tätigkeit rege machte; bei uns ist es nur zu oft ein ideelles Ganze, bei dem man die Individuen beinah zu vergessen scheint, oder wenigstens nicht ihr inneres Wesen, sondern ihre Ruhe, ihr Wohlstand, ihre Glückseligkeit. Die alten suchten die Glückseligkeit in der Tugend, die neueren sind nur zu lange diese aus jener zu entwickeln bemüht gewesen1; und der selbst2, welcher die Moralität in ihrer höchsten Reinheit sah und darstellte, glaubt, durch eine sehr künstliche Maschinerie seinem Ideal des Menschen die Glückseligkeit, wahrlich mehr wie eine fremde Belohnung als wie ein eigen errungenes Gut, zuführen zu müssen. Ich verliere kein Wort über diese Verschiedenheit. Ich schließe nur mit einer Stelle aus Aristoteles' Ethik: »Was einem jeden, seiner Natur nach, eigentümlich ist, ist ihm das Beste und Süßeste. Daher auch den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn nämlich darin am meisten der Mensch besteht, am meisten beseligt.3

Schon mehr als einmal ist unter den Staatsrechtslehrern gestritten worden, ob der Staat allein Sicherheit oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichten müsse. Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens hat vorzüglich auf die erstere Behauptung geführt; indes die natürliche Idee, daß der Staat mehr als allein Sicherheit gewähren könne und ein Mißbrauch in der Beschränkung der Freiheit wohl möglich, aber nicht notwendig sei, der letzteren das Wort redete. Auch ist diese unleugbar sowohl in der Theorie als in der Ausführung die herrschende. Dies zeigen die meisten Systeme des Staatsrechts, die neueren philosophischen Gesetzbücher und die Geschichte der Verordnungen der meisten Staaten. Ackerbau, Handwerke, Industrie aller Art, Handel, Künste und Wissenschaften selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat. Nach diesen Grundsätzen hat das Studium der Staatswissenschaften eine veränderte Gestalt erhalten, wie Kameral- und Polizeiwissenschaft z. B. beweisen; nach diesen sind völlig neue Zweige der Staatsverwaltung entstanden, Kameral-, Manufaktur- und Finanz-Kollegia. So allgemein indes auch dieses Prinzip sein mag, so verdient es, dünkt mich, doch noch allerdings eine nähere Prüfung, und diese Prüfung muß von dem einzelnen Menschen und seinen höchsten Endzwecken ausgehen ...

 

Fußnoten

 

1 Nie ist dieser Unterschied auffallender, als wenn alte Philosophen von neueren beurteilt werden. Ich führe als ein Beispiel eine Stelle Tiedemanns über eins der schönsten Stücke aus Platos Republik an: Quanquam autem per se sit iustitia grata nobis: tamen si exercitium eius nullam omnino afferret utilitatem, si iusto ea omnia essent patienda, quae fratres commemorant; iniustitia iustitiae foret praeferenda; quae enim ad felicitatem maxime faciunt nostram, sunt absque dubio aliis praeponenda. Iam corporis cruciatus, omnium rerum inopia, farnes, infamia, quaeque alia euenire iusto fratres dixerunt, animi illam e iustitia manantem voluptatem dubio procul longe superant, essetque adeo iniustitia iustitiae antehabenda et in virtutum numero collocanda. Tiedemann in argumentis Dialog Platonis. Ad l. 2. de republica.

 

2 Kant über das höchste Gut in den Anfangsgründen der Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft.

 

3 Το οικειον εκαστω τη φυσει, κρατιστον και ηδιστον εσθ' εκαστω· και τω ανθρωπω δη ο κατα τον νουν βιος, ειπερ μαλιστα τουτο ανθρωπος, ουτος αρα και ευδαιμονεστατος. l. X. c. 7. in fin.

 

2. Betrachtung des einzelnen Menschen, und der höchsten Endzwecke des Daseins desselben
Der höchste und letzte Zweck jedes Menschen ist die höchste und proportionierlichste Ausbildung seiner Kräfte in ihrer individuellen Eigentümlichkeit. – Die notwendigen Bedingungen der Erreichung desselben: Freiheit des Handelns, und Mannigfaltigkeit der Situationen. – Nähere Anwendung dieser Sätze auf das innere Leben des Menschen. – Bestätigung derselben aus der Geschichte. – Höchster Grundsatz für die ganze gegenwärtige Untersuchung, auf welchen diese Betrachtungen führen.

Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus. Zwar ist nun einesteils diese Mannigfaltigkeit allemal Folge der Freiheit, und andernteils gibt es auch eine Art der Unterdrückung, die, statt den Menschen einzuschränken, den Dingen um ihn her eine beliebige Gestalt gibt, so daß beide gewissermaßen eins und dasselbe sind. Indes ist es der Klarheit der Ideen dennoch angemessener, beide noch voneinander zu trennen. Jeder Mensch vermag auf einmal nur mit einer Kraft zu wirken, oder vielmehr sein ganzes Wesen wird auf einmal nur zu einer Tätigkeit gestimmt. Daher scheint der Mensch zur Einseitigkeit bestimmt, indem er seine Energie schwächt, sobald er sich auf mehrere Gegenstände verbreitet. Allein dieser Einseitigkeit entgeht er, wenn er die einzelnen, oft einzeln geübten Kräfte zu vereinen, den beinah schon verloschnen wie den erst künftig hell aufflammenden Funken in jeder Periode seines Lebens zugleich mitwirken zu lassen und statt der Gegenstände, auf die er wirkt, die Kräfte, womit er wirkt, durch Verbindung zu vervielfältigen strebt. Was hier gleichsam die Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der Gegenwart wirkt, das wirkt in der Gesellschaft die Verbindung mit andren. Denn auch durch alle Perioden des Lebens erreicht jeder Mensch dennoch nur eine der Vollkommenheiten, welche gleichsam den Charakter des ganzen Menschengeschlechts bilden. Durch Verbindungen also, die aus dem Innren der Wesen entspringen, muß einer den Reichtum des andren sich eigen machen. Eine solche charakterbildende Verbindung ist, nach der Erfahrung aller, auch sogar der rohesten Nationen, z. B. die Verbindung der beiden Geschlechter. Allein wenn hier der Ausdruck sowohl der Verschiedenheit als der Sehnsucht nach der Vereinigung gewissermaßen stärker ist, so ist beides darum nicht minder stark, nur schwerer bemerkbar, obgleich eben darum auch mächtiger wirkend, auch ohne alle Rücksicht auf jene Verschiedenheit und unter Personen desselben Geschlechts. Diese Ideen, weiter verfolgt und genauer entwickelt, dürften vielleicht auf eine richtigere Erklärung des Phänomens der Verbindungen führen, welche bei den Alten, vorzüglich den Griechen, selbst die Gesetzgeber benutzten und die man oft zu unedel mit dem Namen der gewöhnlichen Liebe und immer unrichtig mit dem Namen der bloßen Freundschaft belegt hat. Der bildende Nutzen solcher Verbindungen beruht immer auf dem Grade, in welchem sich die Selbständigkeit der Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält. Denn wenn ohne diese Innigkeit der eine den andren nicht genug aufzufassen vermag, so ist die Selbständigkeit notwendig, um das Aufgefaßte gleichsam in das eigne Wesen zu verwandeln. Beides aber erfordert Kraft der Individuen und eine Verschiedenheit, die, nicht zu groß, damit einer den andren aufzufassen vermöge, auch nicht zu klein ist, um einige Bewundrung dessen, was der andre besitzt, und den Wunsch rege zu machen, es auch in sich überzutragen. Diese Kraft nun und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Größe des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muß und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung. Wie diese Eigentümlichkeit durch Freiheit des Handlens und Mannigfaltigkeit der Handlenden gewirkt wird, so bringt sie beides wiederum hervor. Selbst die leblose Natur, welche nach ewig unveränderlichen Gesetzen einen immer gleichmäßigen Schritt hält, erscheint dem eigengebildeten Menschen eigentümlicher. Er trägt gleichsam sich selbst in sie hinüber, und so ist es im höchsten Verstande wahr, daß jeder immer in eben dem Grade Fülle und Schönheit außer sich wahrnimmt, in welchem er beide im eignen Busen bewahrt. Wieviel ähnlicher aber noch muß die Wirkung der Ursache da sein, wo der Mensch nicht bloß empfindet und äußere Eindrücke auffaßt, sondern selbst tätig wird?

Versucht man es, diese Ideen durch nähere Anwendungen auf den einzelnen Menschen noch genauer zu prüfen, so reduziert sich in diesem alles auf Form und Materie. Die reinste Form mit der leichtesten Hülle nennen wir Idee, die am wenigsten mit Gestalt begabte Materie sinnliche Empfindung. Aus der Verbindung der Materie geht die Form hervor. Je größer die Fülle und Mannigfaltigkeit der Materie, je erhabener die Form. Ein Götterkind ist nur die Frucht unsterblicher Eltern. Die Form wird wiederum gleichsam Materie einer noch schöneren Form. So wird die Blüte zur Frucht, und aus dem Samenkorn der Frucht entspringt der neue, von neuem blütenreiche Stamm. Je mehr die Mannigfaltigkeit zugleich mit der Feinheit der Materie zunimmt, desto höher die Kraft, denn desto inniger der Zusammenhang. Die Form scheint gleichsam in die Materie, die Materie in die Form verschmolzen; oder, um ohne Bild zu reden, je ideenreicher die Gefühle des Menschen und je gefühlvoller seine Ideen, desto unerreichbarer seine Erhabenheit. Denn auf diesem ewigen Begatten der Form und der Materie oder des Mannigfaltigen mit der Einheit beruht die Verschmelzung der beiden im Menschen vereinten Naturen und auf dieser seine Größe. Aber die Stärke der Begattung hängt von der Stärke der Begattenden ab. Der höchste Moment des Menschen ist dieser Moment der Blüte4. Die minder reizende, einfache Gestalt der Frucht weist gleichsam selbst auf die Schönheit der Blüte hin, die sich durch sie entfalten soll. Auch eilt nur alles der Blüte zu. Was zuerst dem Samenkorn entsprießt, ist noch fern von ihrem Reiz. Der volle dicke Stengel, die breiten, auseinanderfallenden Blätter bedürfen noch einer mehr vollendeten Bildung. Stufenweise steigt diese, wie sich das Auge am Stamme erhebt; zartere Blätter sehnen sich gleichsam, sich zu vereinigen, und schließen sich enger und enger, bis der Kelch das Verlangen zu stillen scheint5. Indes ist das Geschlecht der Pflanzen nicht von dem Schicksal gesegnet. Die Blüte fällt ab, und die Frucht bringt wieder den gleich rohen und gleich sich verfeinernden Stamm hervor. Wenn im Menschen die Blüte welkt, so macht sie nur jener schöneren Platz, und den Zauber der schönsten birgt unsrem Auge erst die ewig unerforschbare Unendlichkeit. Was nun der Mensch von außen empfängt, ist nur Samenkorn. Seine energische Tätigkeit muß es, seis auch das schönste, erst auch zum segenvollsten für ihn machen. Aber wohltätiger ist es ihm immer in dem Grade, in welchem es kraftvoll und eigen in sich ist. Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte. Physische und moralische Natur würden diese Menschen schon noch aneinander führen, und wie die Kämpfe des Kriegs ehrenvoller sind als die der Arena, wie die Kämpfe erbitterter Bürger höheren Ruhm gewähren als die getriebener Mietsoldaten, so würde auch das Ringen der Kräfte dieser Menschen die höchste Energie zugleich beweisen und erzeugen.

Ist es nicht eben das, was uns an die Zeitalter Griechenlands und Roms, und jedes Zeitalter allgemein an ein entfernteres, hingeschwundnes, so namenlos fesselt? Ist es nicht vorzüglich, daß diese Menschen härtere Kämpfe mit dem Schicksal, härtere mit Menschen zu bestehen hatten? daß die größere ursprüngliche Kraft und Eigentümlichkeit einander begegnete und neue wunderbare Gestalten schuf? Jedes folgende Zeitalter – und in wieviel schnelleren Graden muß dies Verhältnis von jetzt an steigen? – muß den vorigen an Mannigfaltigkeit nachstehen, an Mannigfaltigkeit der Natur – die ungeheuren Wälder sind ausgehauen, die Moräste getrocknet usf. –, an Mannigfaltigkeit der Menschen, durch die immer größere Mitteilung und Vereinigung der menschlichen Werke, durch die beiden vorigen Gründe6. Dies ist eine der vorzüglichsten Ursachen, welche die Idee des Neuen, Ungewöhnlichen, Wunderbaren so viel seltner, das Staunen, Erschrecken beinah zur Schande und die Erfindung neuer, noch unbekannter Hilfsmittel, selbst nur plötzliche, unvorbereitete und dringende Entschlüsse bei weitem seltner notwendig macht. Denn teils ist das Andringen der äußeren Umstände gegen den Menschen, welcher mit mehr Werkzeugen, ihnen zu begegnen, versehen ist, minder groß; teils ist es nicht mehr gleich möglich, ihnen allein durch diejenigen Kräfte Widerstand zu leisten, welche die Natur jedem gibt und die er nur zu benutzen braucht; teils endlich macht das ausgebreitetere Wissen das Erfinden weniger notwendig, und das Lernen stumpft selbst die Kraft dazu ab. Dagegen ist es unleugbar, daß, wenn die physische Mannigfaltigkeit geringer wurde, eine bei weitem reichere und befriedigendere intellektuelle und moralische an ihre Stelle trat und daß Gradationen und Verschiedenheiten von unsrem mehr verfeinten Geiste wahrgenommen und unsrem, wenngleich nicht ebenso stark gebildeten, doch reizbaren kultivierten Charakter ins praktische Leben übergetragen werden, die auch vielleicht den Weisen des Altertums oder doch wenigstens nur ihnen nicht unbemerkt geblieben wären. Es ist im ganzen Menschengeschlecht wie im einzelnen Menschen gegangen. Das Gröbere ist abgefallen, das Feinere ist geblieben. Und so wäre es ohne allen Zweifel segenvoll, wenn das Menschengeschlecht ein Mensch wäre oder die Kraft eines Zeitalters ebenso als seine Bücher oder Erfindungen auf das folgende überginge. Allein dies ist bei weitem der Fall nicht. Freilich besitzt nun auch unsre Verfeinerung eine Kraft, und die vielleicht jene gerade um den Grad ihrer Feinheit an Stärke übertrifft; aber es fragt sich, ob nicht die frühere Bildung durch das Gröbere immer vorangehen muß. Überall ist doch die Sinnlichkeit der erste Keim wie der lebendigste Ausdruck alles Geistigen. Und wenn es auch nicht hier der Ort ist, selbst nur den Versuch dieser Erörterung zu wagen, so folgt doch gewiß soviel aus dem Vorigen, daß man wenigstens diejenige Eigentümlichkeit und Kraft, nebst allen Nahrungsmitteln derselben, welche wir noch besitzen, sorgfältigst bewachen müsse.

Bewiesen halte ich demnach durch das Vorige, daß die wahre Vernunft dem Menschen keinen andren Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andre Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder einzelne nach dem Maße seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich gibt. Von diesem Grundsatz darf, meines Erachtens, die Vernunft nie mehr nachgeben, als zu seiner eignen Erhaltung selbst notwendig ist. Er mußte daher auch jeder Politik und besonders der Beantwortung der Frage, von der hier die Rede ist, immer zum Grunde liegen.

 

Fußnoten

 

4 Blüte, Reife. Neues deutsches Museum, 1791. Junius, Nr. 3.

 

5 Goethe, Über die Metamorphose der Pflanzen.

 

6 Eben dies bemerkt einmal Rousseau im Emile.

 

3. Übergang zur eigentlichen Untersuchung. Einteilung derselben. Sorgfalt des Staats für das positive, insbesondere physische, Wohl der Bürger
Umfang dieses Abschnitts. – Die Sorgfalt des Staats für das positive Wohl der Bürger ist schädlich. Denn sie – bringt Einförmigkeit hervor; – schwächt die Kraft; – stört und verhindert die Rückwirkung der äußeren, auch bloß körperlichen Beschäftigungen, und der äußeren Verhältnisse überhaupt auf den Geist und den Charakter der Menschen; – muß auf eine gemischte Menge gerichtet werden, und schadet daher den Einzelnen durch Maßregeln, welche auf einen jeden von ihnen, nur mit beträchtlichen Fehlern passen; – hindert die Entwicklung der Individualität und Eigentümlichkeit des Menschen; – erschwert die Staatsverwaltung selbst, vervielfältigt die dazu erforderlichen Mittel, und wird dadurch eine Quelle mannigfaltiger Nachteile; – verrückt endlich die richtigen und natürlichen Gesichtspunkte der Menschen, bei den wichtigsten Gegenständen. – Rechtfertigung gegen den Einwurf der Übertreibung der geschilderten Nachteile. – Vorteile des, dem eben bestrittenen entgegengesetzten Systems. – Höchster, aus diesem Abschnitt gezogener Grundsatz. – Mittel einer auf das positive Wohl der Bürger gerichteten Sorgfalt des Staats. – Schädlichkeit derselben. – Unterschied der Fälle, wenn etwas vom Staat, als Staat, und wenn dasselbe von einzelnen Bürgern getan wird. – Prüfung des Einwurfs: ob eine Sorgfalt des Staats für das positive Wohl nicht notwendig ist, weil es vielleicht nicht möglich ist, ohne sie, dieselben äußeren Zwecke zu erreichen, dieselben notwendigen Resultate zu erhalten? – Beweis dieser Möglichkeit, – vorzüglich durch freiwillige gemeinschaftliche Veranstaltungen der Bürger. – Vorzug dieser Veranstaltungen vor den Veranstaltungen des Staats.

In einer völlig allgemeinen Formel ausgedrückt, könnte man den wahren Umfang der Wirksamkeit des Staats alles dasjenige nennen, was er zum Wohl der Gesellschaft zu tun vermochte, ohne jenen eben ausgeführten Grundsatz zu verletzen; und es würde sich unmittelbar hieraus auch die nähere Bestimmung ergeben, daß jedes Bemühen des Staats verwerflich sei, sich in die Privatangelegenheiten der Bürger überall da einzumischen, wo dieselben nicht unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte des einen durch den andren haben. Indes ist es doch, um die vorgelegte Frage ganz zu erschöpfen, notwendig, die einzelnen Teile der gewöhnlichen oder möglichen Wirksamkeit der Staaten genau durchzugehen.

Der Zweck des Staats kann nämlich ein doppelter sein; er kann Glück befördern oder nur Übel verhindern wollen, und im letzteren Fall Übel der Natur oder Übel der Menschen. Schränkt er sich auf das letztere ein, so sucht er nur Sicherheit, und diese Sicherheit sei es mir erlaubt, einmal allen übrigen möglichen Zwecken, unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint, entgegenzusetzen. Auch die Verschiedenheit der vom Staat angewendeten Mittel gibt seiner Wirksamkeit eine verschiedene Ausdehnung. Er sucht nämlich seinen Zweck entweder unmittelbar zu erreichen, seis durch Zwang – befehlende und verbietende Gesetze, Strafen – oder durch Ermunterung und Beispiel; oder mittelbar, indem er entweder der Lage der Bürger eine demselben günstige Gestalt gibt und sie gleichsam anders zu handlen hindert, oder endlich, indem er sogar, ihre Neigung mit demselben übereinstimmend zu machen, auf ihren Kopf oder ihr Herz zu wirken strebt. Im ersten Falle bestimmt er zunächst nur einzelne Handlungen, im zweiten schon mehr die ganze Handlungsweise und im dritten endlich Charakter und Denkungsart. Auch ist die Wirkung der Einschränkung im ersten Falle am kleinsten, im zweiten größer, im dritten am größesten, teils weil auf Quellen gewirkt wird, aus welchen mehrere Handlungen entspringen, teils weil die Möglichkeit der Wirkung selbst mehrere Veranstaltungen erfordert. So verschieden indes hier gleichsam die Zweige der Wirksamkeit des Staats scheinen, so gibt es schwerlich eine Staatseinrichtung, welche nicht zu mehreren zugleich gehörte, da z. B. Sicherheit und Wohlstand so sehr voneinander abhängen, und was auch nur einzelne Handlungen bestimmt, wenn es durch öftere Wiederkehr Gewohnheit hervorbringt, auf den Charakter wirkt. Es ist daher sehr schwierig, hier eine dem Gange der Untersuchung angemessene Einteilung des Ganzen zu finden. Am besten wird es indes sein, zuvörderst zu prüfen, ob der Staat auch den positiven Wohlstand der Nation oder bloß ihre Sicherheit abzwacken soll, bei allen Einrichtungen nur auf das zu sehen, was sie hauptsächlich zum Gegenstande oder zur Folge haben, und bei jedem beider Zwecke zugleich die Mittel zu prüfen, deren der Staat sich bedienen darf.

Ich rede daher hier von dem ganzen Bemühen des Staats, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, von aller Sorgfalt für die Bevölkerung des Landes, den Unterhalt der Einwohner teils geradezu durch Armenanstalten, teils mittelbar durch Beförderung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, von allen Finanz- und Münzoperationen, Ein- und Ausfuhrverboten usf. (insofern sie diesen Zweck haben), endlich allen Veranstaltungen zur Verhütung oder Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staats, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten oder zu befördern die Absicht hat. Denn da das moralische nicht leicht um seiner selbst willen, sondern mehr zum Behuf der Sicherheit befördert wird, so komme ich zu diesem erst in der Folge.

Alle diese Einrichtungen nun, behaupte ich, haben nachteilige Folgen und sind einer wahren, von den höchsten, aber immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden Politik unangemessen.

1. Der Geist der Regierung herrscht in einer jeden solchen Einrichtung, und wie weise und heilsam auch dieser Geist sei, so bringt er Einförmigkeit und eine fremde Handlungsweise in der Nation hervor. Statt daß die Menschen in Gesellschaft treten, um ihre Kräfte zu schärfen, sollten sie auch dadurch an ausschließendem Besitz und Genuß verlieren, so erlangen sie Güter auf Kosten ihrer Kräfte. Gerade die aus der Vereinigung mehrerer