Am äußersten Ende einer kleinen mitteldeutschen Stadt, da, wo die letzten Gässchen steil den Berg hinaufklettern, lag das große Nonnenkloster. Es war ein unheimliches Gebäude mit seinen eingesunkenen Fenstern, seinen kreischenden Wetterfahnen und den unaufhörlich um den First kreisenden Dohlenschwärmen. Aus dem Mauergefüge quollen dicke Grasbüschel, und zwischen den zerbröckelten Steinzieraten über dem gewölbten Torweg nickte ein kleiner Wald von Baumschösslingen. Wie zwei altersschwache Kameraden, deren einer den andern stützt, lehnten sich der Bau und ein uraltes Stück Stadtmauer aneinander, und das war vorteilhaft für das Kloster, denn die Mauer war sehr dick; man hatte ihren breiten Rücken mit Erde belastet, und nun sprosste und blühte es da droben so üppig, als gäbe es keine Mauersteine unter der Erdschicht. Freilich war das Ganze nur ein längliches Blumenbeet, von einem kaum fußbreiten Weg durchschnitten; dafür war es aber auch sauber gehalten wie ein Schmuckkästchen. An den Wegrändern blühte ein Kranz weißer Federnelken; Lilien und Nachtviolen standen auf dem Beet, und die glühroten Früchte der Erdbeeren, samt ihren breiten, gezackten Blättern, mischten sich mit dem wilden Thymian, der, am Mauerrand hinabkletternd, seine feinen Zweige behutsam in die Steinritzen legte. Hinter der Mauer lag der ehemalige Klostergarten, jetzt ein wüster ungepflegter Grasfleck, auf dem die wenigen Ziegen der Klosterbewohner ihr karges Futter suchen durften. Aber an der Mauer selbst stand eine ganze Wildnis von Syringen und Haselstauden; die bildeten droben am Gärtchen eine grüne undurchdringliche Wand. Die Syringen hingen im Frühjahr ihre blauen und weisen Blütentrauben über das einzige hölzerne Bänkchen des kleinen Gartens, und ein alter Kastanienbaum breitete seine Äste weit über die Mauer bis in die Straße hinein, deren armselige Häuserreihe hier mündete und von dem letzten Haus nur die Rückwand ohne Fenster sehen ließ.
Es würde wohl nie ein fremder Fuß diesen entlegenen, sehr wenig einladenden Stadtteil betreten haben, wenn nicht das alte Kloster ein Juwel neben sich gehabt hätte, ein köstliches Denkmal längst versunkener Zeiten, die Liebfrauenkirche, um deren zwei schlanke Türme eine ganze reiche Sagenwelt webte und blühte. Die Kirche stand unbenutzt und verschlossen, und nie mehr seit dem letzten Miserere der Nonnen hatten heilige Klänge durch die mächtigen Säulengänge gerauscht. Die Ewige Lampe war verlöscht; die Orgel lag zertrümmert am Boden; um den verlassenen Hochaltar flatterten Schwalben und Fledermäuse, und die prächtigen, anspruchsvollen Grabmonumente alter untergegangener Geschlechter ruhten unter dichten Staubschichten. Nur die Glocken, deren wundervolles harmonisches Zusammenklingen in der ganzen Gegend berühmt war, schwangen sich noch allsonntäglich über den verwaisten Hallen, aber ihr wehmütiger Klang vermochte nicht die Gläubigen dahin zurückzuführen.
Dass man neben diesem Prachtbau mit seinen granitenen Mauern und Säulen das hinfällige Kloster stehen ließ, hatte seinen Grund in der weisen Ökonomie der löblichen Stadtbehörde. Es hatte längst seine eigentliche Bestimmung verloren. Luthers gewaltiges Wort hatte auch hier die Riegel gesprengt. Die zur neuen Lehre bekehrte Stadt duldete die gottgeweihten Jungfrauen, bis die letzte derselben eines seligen Todes verblichen war; dann aber fiel das Klostergebäude der Stadtverwaltung anheim, die es einem Teil der Armen als Asyl einräumte. Seit der Zeit sah man hinter den vergitterten Fenstern statt der bleichen Nonnengesichter bärtige Züge oder den Kopf einer emsig flickenden und keifenden Hausmutter, während auf den ausgewaschenen Steinplatten des Hofes, welche früher nur die leise Sohle und die klösterliche Schleppe der frommen Schwestern berührt hatten, eine Schar wilder zerlumpter Kinder sich tummelte. Außer dem blühenden Gärtchen auf der Mauer aber hatte das alte Haus noch eine freundliche Seite, auf welcher der Blick ausruhen konnte, wenn er all das hier zusammengedrängte menschliche Elend gesehen hatte. Die Ecke, an welche die Stadtmauer stieß, zeigte vier sauber gewaschene Fenster mit weißen Vorhängen, von denen das letzte so auf das Gärtchen mündete, dass es bequem als Tür benutzt werden konnte, was jedenfalls auch geschah, denn an gewissen Tagen in der Woche war es weit geöffnet. Ein Seil voll feiner Wäsche zog sich von da zum Kastanienbaum, und man konnte sehen, wie eine weißliche Gestalt, die aufgesteckte Schürze voll Klammern, geschäftig aus und ein stieg. Das war die alte Jungfer Hartmann. Sie hieß eigentlich Suschen, wurde aber in der ganzen Stadt schon so lange »die Seejungfer« (Libelle) genannt, dass viele Leute ihren eigentlichen Namen gar nicht mehr wussten. Und das kam von ihrem absonderlichen Äußern, nicht etwa um ihrer flüchtigen Grazie oder Farbenschönheit willen – die haben mit dem sechzigsten Lebensjahr selten mehr etwas gemein –, es geschah vielmehr des seltsam huschenden, scheuen Ganges wegen, mit dem diese lange, gestreckte Gestalt durch die Straßen eilte. Im Übrigen glich sie viel eher einer Fledermaus, vermöge ihrer scharfgebogenen, fast durchsichtig mageren Nase, ihrer aschfarbenen Haut und der großen, glanzlosen Augen, welche sich meist schüchtern unter den äußerst dünnen Augendeckeln verbargen. Dieser Eindruck wurde durch das schwarze Bürgerhäubchen vervollständigt, das, knapp anschließend, kein Haar auf der Stirn sehen ließ und zu beiden Seiten abstehende Spitzengarnierungen hatte. Die Seejungfer war das Kind eines sehr armen Schusters, der sie und ihren etwas älteren Bruder Leberecht streng und gottesfürchtig erzogen hatte und für beide Kinder keine kühneren Wünsche hegte, als dass Suschen später im Dienst ihr redliches Brot erwerbe und sein Erstgeborener ihm dereinst auf dem Dreibein gegenübersitzen und das ehrsame Schusterhandwerk betreiben werde. Das stille, sanfte Suschen, für dessen Ideenkreis die engen Wände der Schusterstube vollkommen genügten, war ganz mit dem Lebensziel einverstanden, das der Vater ihr vorgesteckt. Dem jungen Leberecht jedoch wuchsen die Flügel um ein beträchtliches länger, ja, sie reichten sogar bis zur Gottesgelehrtheit hinan. Er besaß glänzende geistige Fähigkeiten, welche ein eiserner Fleiß unterstützte, und so gelang es ihm denn auch, mittels eines Stipendiums Theologie zu studieren. Er hatte bereits sein Examen ausgezeichnet bestanden und einige Male bei großem Zudrang in seiner Vaterstadt vortrefflich gepredigt, als er infolge seiner rastlosen geistigen Tätigkeit auf das Krankenlager sank, um sich nie wieder zu erheben – er starb an der Lungenschwindsucht.
Suschen, die den Bruder wie ein höheres Wesen verehrt hatte, erlag fast ihrem Schmerz, aber sie hatte ein halbverwaistes Kind zu pflegen und zu erziehen; deshalb musste sie sich aufraffen, was sie auch redlich tat. Mit dem Kind hatte es folgende Bewandtnis. Einmal, als bereits der junge Leberecht täglich nach Prima wanderte und Suschen schon seit längerer Zeit von den ehrbaren Bürgersfrauen mit »Jungfer« tituliert wurde, geschah es, dass sich der Storch »sehr verspäteter- und unnötigerweise«, wie sich der entsetzte Schuster ausdrückte, auf dessen Dach abermals niederließ; seit dem letzten Kind das er tot gebracht hatte, war er neun Jahre ausgeblieben. Mit schwerem Herzen und sorgenvoller Stirn zog die Meistersfrau die wurmstichige Wiege aus dem dunkelsten Bodenwinkel, verjagte die erschrockenen Spinnen aus dem kleinen Bett, fuhr mit einem nassen Tuch über dessen schmale Seitenwände, worauf alsbald grobgemalte Engelsköpfe mit brennendroten Backen und himmelblauen Augen triumphierend erschienen, und stellte es sacht neben ihr Bett, unweit des alten Dreibeins, auf welchem der Schuster mit wahrer Wut eine unglückliche Stiefelsohle behämmerte.
Das half aber alles nichts; die Wiege konnte er doch nicht in Stücke zerhämmern, und später hätte er es wahrscheinlicherweise auch gar nicht getan, denn da lag etwas Niedliches darin. Aber es war gerade, als sei der alte Storch mit einem Mal blödsüchtig geworden, und als hätte er die aufgehangenen Leisten in der Schusterstube für Ahnenschilder eines alten erlauchten Geschlechtes gehalten, denn das Kind in der Wiege passte gar nicht in die eigentlich sehr unschöne Schusterfamilie und sah überhaupt nicht aus wie ein Schusterkind; es lag vielmehr mit seiner blendendweißen Haut, dem zartgoldenen, feinen Haar und den großen, blauen Augen wie eine Prinzessin in den groben Kissen. Dafür wurde es aber auch der Augapfel des Vaters – die Mutter starb bei der Geburt der Kleinen – und ein Gegenstand der unausgesetzten Bewunderung seiner Geschwister. Während der junge Lateiner mit gewandter Feder seine Übersetzungen schrieb, erhielt sein Fuß die Wiege in sanftem Schwunge. Alle weiblichen Schönheiten des klassischen Altertums schmückte seine jugendliche Phantasie mit den feinen Zügen des Schwesterchens, und das erste Lächeln des Kindes begeisterte ihn zu Versen. Suschen dagegen ließ der Kleinen die sorgfältigste körperliche Pflege angedeihen. Sie hielt sie stets fleckenlos sauber und ging nie mehr aus ohne das Kind auf dem Arm, denn die Menschen blieben ja auf der Straße stehen und konnten sich nicht satt sehen an dem reizenden kleinen Blondkopf.
Als der Bruder Leberecht tot war und der Schuster auch bald darauf das Zeitliche segnete, da bezog die Seejungfer die ihr mitleidig gewährte Freistätte im alten Kloster und etablierte sich als Feinwäscherin. Sie brachte nichts mit als ihre unerzogene Schwester, die geringen ererbten Habseligkeiten und ihre arbeitsamen Hände. Was aber die Aufmerksamkeit und besonders den Tadel der gaffenden Klosterbewohner erregte, das war ein netter kleiner Glasschrank mit grünen Wollvorhängen, den die Seejungfer in die neue Wohnung schaffen ließ. Dies Schränkchen enthielt die sämtlichen Bücher des verstorbenen Bruders. Für Suschen selbst konnten diese literarischen Schätze freilich keinen Wert haben, denn sie verstand ja nichts von alldem, was darin stand; allein sie hatte oft genug gesehen, mit welch innigem Behagen der Bruder diese Lieblinge musterte, wie er darbte und sparte, um dies oder jenes heißgewünschte Werk anschaffen zu können. Auf jedem Titelblatt stand sein Name mit der zierlichen Schrift, die sie immer bewundern musste; aus jedem Buch guckten einzelne Papierstreifen, welche er bei bemerkenswerten Stellen eingelegt hatte; manches steckte noch im schützenden Papiereinband, der sorgfältig mit Oblaten darübergeklebt war, und das waren für sie lauter Heiligtümer, von denen sie sich um keinen Preis der Welt getrennt hätte, lieber wäre sie Hungers gestorben. Deshalb wurde sie aber auch zum ersten Mal in ihrem Leben heftig, als die Nachbarinnen ihr rieten, das unnütze Zeug zu verkaufen.
Die Seejungfer lebte von nun an nur ihrer Arbeit und der Erziehung ihrer kleinen Schwester Magdalene, die denn auch im Laufe der Zeit zu einem auffallend schönen Mädchen heranblühte. Suschen betrachtete sie oft mit geheimer Lust und sah sie schon im Geiste als die stattliche Hausfrau eines ebenso stattlichen Bürgers und Meisters. Allein das Schicksal fragt ebenso wenig wie ein junges liebendes Herz nach den Plänen einer mütterlichen Liebe und Fürsorge, und so wurde Suschen sehr bald und sehr unsanft aus ihren Versorgungsträumen geweckt.
Nicht weit von der Stadt, in der diese kleine Geschichte spielt, lebte zu jener Zeit auf einem einsamen Schlosse eine einsame verwitwete Prinzessin, in deren Diensten sich, da sie eine leidenschaftliche Kunstliebhaberin war, ein italienischer Künstler befand. Dieser Neapolitaner nun war es, welcher den Strich durch Suschens Zukunftspläne machte. Er war ein schöner Mann mit feurigen, dunklen Augen und kohlschwarzen Locken. Eines Tages sah er die blonde Magdalene Hartmann, wie sie, einen Korb voll feiner Wäsche auf dem Kopfe, durch den Schlossgarten schritt. Alsbald entbrannte er in heftiger Leidenschaft für sie, und als er ihr wenige Wochen darauf, nachdem er verschiedene Male mit ihr gesprochen, in der schattigen Lindenallee des fürstlichen Gartens seine glühende Liebe gestand, da konnte auch sie nicht widerstehen und versprach ihm, wenn auch unter Tränen und heftigen Angstschauern, ihm in seine prächtige, südliche Heimat zu folgen.