Peter Wolf drängte sich auf der Suche nach freien Plätzen im Zug durch die Menschenmassen.
„Hier drüben“, rief er seiner Frau zu und zeigte auf ein Abteil mit vier leeren Sitzen. Er blockierte die Tür mit seinen breiten Schultern, um andere Passagiere davon abzuhalten, sich hineinzuquetschen. Kurze Zeit später saßen endlich alle.
„Ich hätte nicht gedacht, dass die Züge so überfüllt sind“, sagte Frau Klausen, seine Schwiegermutter.
„So ist es schon eine ganze Weile. Seit sie begonnen haben, alle Passagierzüge für Truppentransporte zu nutzen“, antwortete Ursula, Peters Schwägerin.
„… und alle Privatfahrzeuge für die Kriegsanstrengungen zu requirieren“, fügte seine Frau Anna hinzu.
„Es ist ein Wunder, dass wir alle Reisegenehmigungen bekommen haben“, sagte Peter und half der hochschwangeren Ursula aus ihrem leichten Sommermantel. Dann hievte er die schweren Koffer nach oben ins Gepäcknetz.
„Nun, wir werden einer besonderen Zeremonie der Nazis beiwohnen, also reisen wir ja nicht wirklich zum Vergnügen.“ Bei diesen Worten schürzte Anna die Lippen. Peter wusste, wie sehr seine Frau die Nazis für alles hasste, was sie ihrer Familie angetan hatten.
„Ich bin so froh, dass ihr Mädels mit mir zusammen Lydia besuchen könnt; es wird für uns alle eine dringend benötigte Erholung von den ganzen Fliegerangriffen auf Berlin sein“, sagte Frau Klausen, während sich der Zug in Bewegung setzte. „Darf ich dort drüben sitzen? Mir wird schlecht, wenn ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze.“
Peter stand auf und tauschte den Platz mit ihr. Jetzt saß er Anna gegenüber und konnte auf der Fahrt nicht mit ihr Händchen halten. Dafür hatte er aber das Vergnügen, ihr hübsches Gesicht mit den dunkelblauen Augen anzuschauen, das von leuchtend blonden Haaren eingerahmt wurde. Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Soweit es ihn anging, war es ebenso angenehm, sie zu bewundern, wie ihre Hand zu halten. Er war wirklich ein Glückspilz, dass er ein zweites Mal die Liebe gefunden hatte, nachdem seine erste Frau gestorben war – damals, als er noch den Namen Piotr Zdanek getragen hatte.
Ursula, ein Jahr älter als Anna, hatte die gleichen blauen Augen und blonden Haare, aber statt Annas glatten Strähnen fiel ihr Haar in natürlichen Wellen um ihr Gesicht bis auf die Schultern. Jedenfalls nahm er das an, denn welche Ahnung hatte er schon von den kleinen Tricks, die Frauen anwendeten, um ihre Gesichter und ihr Haar elegant, aber natürlich aussehen zu lassen? Anna und Ursula waren ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, die vor fünfundzwanzig Jahren so ausgesehen haben musste wie die beiden jetzt.
In Gedanken versunken folgte er dem Gespräch der Frauen nur mit halbem Ohr. Er sorgte sich um das Geschehen im europäischen Kriegstheater. Durch seine heimlichen Kontakte zu den Briten wusste er, dass in seinem Heimatland Polen bald etwas Großes passieren würde, doch niemand kannte die genauen Details.
„… ich war seit Jahren nicht mehr in Kleindorf.“ Annas süße Stimme erregte seine Aufmerksamkeit und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Sag mir, wie es bei eurer Tante Lydia ist“, bat er.
„Um unsere kleine Schwester Lotte zu zitieren: Es ist laaaaaangweilig.“ Anna lachte. „Das Dorf, in dem der Bauernhof unserer Tante Lydia liegt, hat noch nicht einmal einen Bahnhof. Wir werden von Mindelheim aus mit dem Bus nach Kleindorf fahren müssen und dann sind es noch zwanzig Minuten Fußweg.“
„Ich habe mit ihr ausgemacht, dass sie unser Gepäck mit dem Ochsengespann abholt“, sagte Frau Klausen und zwinkerte Peter zu. Er scheute sich nicht vor körperlicher Arbeit, aber die Aussicht, ihre vielen Koffer nicht zum Bauernhof schleppen zu müssen, erleichterte ihn gewaltig.
Bei jedem Halt drängten mehr Menschen in den Zug, besetzten die beiden noch freien Sitze in ihrem Abteil und standen zuhauf in den Gängen, sodass ein Besuch der Toilette fast unmöglich wurde. Auf halbem Weg nach München, wo sie umsteigen mussten, wurde es so voll, dass keine weiteren Passagiere mehr einsteigen konnten und die Leute anfingen, durch die Fenster zu klettern. Mindestens fünfzehn Personen quetschten sich inzwischen in ihr Abteil, jeder beseelt von dem verzweifelten Wunsch, an sein Ziel zu gelangen.
„Es ist sehr heiß hier drinnen“, murmelte Ursula leise. Sie neigte nicht dazu, sich zu beschweren, wenn man sowieso nichts an der Situation ändern konnte.
„Hier, trink etwas Wasser“, sagte Anna und bot ihr ihre Feldflasche an.
Ursula nahm sie, trank einen kleinen Schluck und gab sie zurück. „Danke.“
Peter sah Ursula an, die sehr blass war, abgesehen von den geröteten, erhitzten Wangen. Sie hielt ihre Hände über ihren Bauch, als wollte sie das Kind darin vor zufälligen Stößen durch die stehenden Passagiere schützen. Kurzerhand schob er einige Leute beiseite und stand von seinem Platz am offenen Fenster auf, um mit ihr zu tauschen. „Setz dich hierher.“
„Danke“, sagte Ursula und fächerte sich die kühlere Luft von draußen zu.
Nach endlosen Stunden erreichten sie schließlich München und stiegen in einen etwas weniger überfüllten Regionalzug nach Mindelheim um. Als sie dort ankamen, wartete zu ihrer großen Überraschung Tante Lydia bereits am Bahnsteig auf sie.
„Tante Lydia“, rief Anna und schob sich winkend durch die Menge. Peter folgte seiner Frau, die Hände voller Gepäck.
„Lydia, du bist den ganzen Weg hierhergekommen. Wir hätten doch den Bus nehmen können“, sagte Frau Klausen und begrüßte ihre Schwester.
„Frida. Es ist schön, dich zu sehen. Ich bin so froh, dass ihr alle kommen konntet.“ Lydia umarmte ihre Schwester kurz, ehe sie ihre Nichten ansah. „Anna, Ursula. Wie lange ist es her? Vier Jahre? Oder länger?“
„Ich glaube, es ist fast fünf Jahre her, dass wir uns gesehen haben. Seit dieser Krieg begonnen hat“, antwortete Ursula.
„Tante Lydia, das ist mein Mann Peter“, sagte Anna.
„Peter, willkommen in Bayern. Zu schade, dass ich nicht zu eurer Hochzeit kommen konnte“, sagte Lydia mit einem Lächeln und schüttelte seine Hand.
„Danke, Frau Meier“, antwortete er. Lydia war etwa in seinem Alter, aber da sie die Schwester seiner Schwiegermutter war, hielt er eine förmliche Begrüßung für angebracht.
„Bitte, nenn mich Lydia. Kommt, wir müssen den Bus erwischen.“ Lydia trieb sie an und führte sie aus dem winzigen Bahnhof heraus, wo der Bus bereits auf die ankommenden Passagiere wartete. In Kleindorf angekommen, wartete bereits Lydias ältester Sohn Jörg, der gerade elf Jahre alt geworden war, mit einem Ochsengespann auf sie. Irgendwie schafften sie es, alle Personen unterzubringen und das Gepäck auf den klapprigen Karren zu stapeln, sodass sie kurze Zeit später vor einem sehr sauberen und ordentlichen Bauernhaus anhielten.
Lydia zeigte ihnen ihre Zimmer und bat sie dann, zum Essen in die Küche zu kommen. Anschließend trug Peter mit Jörgs Hilfe die Koffer nach oben. Vor dem Zimmer, das für Peter und Anna gedacht war, hielt der Junge kurz inne. „Dieses hier war früher Lottes, Gott hab sie selig.“
„Ich bin mir sicher, da, wo sie jetzt ist, geht es ihr besser“, sagte Peter mit einem ernsten Ton. Niemand außer der engsten Familie wusste, dass Lotte nicht wirklich tot war, sondern unter dem falschen Namen Alexandra Wagner weiterlebte. Trotz der offensichtlichen Trauer in den Augen des Jungen war es besser, ihn nicht in dieses Geheimnis einzuweihen. Als Jörg gegangen war, schloss Peter die Tür und nahm Anna in die Arme.
„Es stimmt, weißt du“, murmelte sie an seiner Schulter.
„Was stimmt?“
„Wo auch immer Lotte ist, geht es ihr besser als in Ravensbrück.“
„Das ist vorbei. Sie ist jetzt in Sicherheit.“ Er drückte Anna fester an sich. Die Lüge versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er hatte ihre jüngere Schwester nur einmal auf seiner Hochzeit gesehen, aber er hatte Lottes Plan, für die Alliierten zu spionieren, nie gutgeheißen. Besonders nicht, als sie ihnen erzählte, dass sie nach Warschau geschickt wurde. So sehr er seine Heimatstadt liebte; die polnische Hauptstadt war im Moment kein sicherer Ort – nicht, wenn weltverändernde Umstände kurz bevorstanden.
„Du hast recht. Lass uns runtergehen und dich allen vorstellen.“ Anna gab ihm einen Kuss, ehe sie ihr Kleid glatt strich und ihn in die Küche führte, wo Lydia und ihre sechs Kinder auf sie warteten. Lydias Mann war erst vor einigen Wochen auf Heimaturlaub gewesen, auf seinem Weg von irgendwo in Serbien nach Frankreich. Gerüchten zufolge würden die Alliierten versuchen, in Frankreich einzumarschieren, also hatte Hitler zahlreiche Truppen in den Westen verlegt.
„Das Essen ist fertig. Wascht euch die Hände und setzt euch“, sagte Lydia den Kindern und zeigte den Gästen ihre Plätze. Peter bewunderte diese Frau Mitte Dreißig, die nicht nur ihre sechs Kinder unter zwölf Jahren im Griff hatte, sondern sich auch noch um den ganzen Bauernhof kümmerte. Und das alles ohne die Hilfe ihres Ehemanns. Aber eigentlich sollte es ihn nicht wundern, denn seine Anna und die anderen Klausen-Frauen waren alle so tatkräftig.
„Lydia, dieses Essen ist hervorragend“, lobte Frau Klausen ihre Schwester.
„Das ist es auf jeden Fall. Ich glaube, ein so köstliches Mahl habe ich seit Jahren nicht mehr gegessen“, fügte Peter hinzu. Aufgrund der Rationierungen bekamen sie in Berlin nur noch selten frisches Gemüse oder Milch, aber hier auf dem Bauernhof schienen Lebensmittel kein so großes Problem zu sein wie in der Stadt.
„Danke, dass ich hier sein darf“, sagte Peter später, während Anna und Lydias Töchter den Tisch abräumten. Ursula entschuldigte sich, denn sie war erschöpft von der langen Reise, sodass nur er und Frau Klausen mit Lydia im Wohnzimmer saßen.
„Du bist herzlich willkommen. Danke, dass du meine Schwester und Nichten hierher begleitet hast, um mit mir zu feiern. Ich weiß, wie schwierig Reisen dieser Tage sind.“
„Es tat gut, aus der Stadt herauszukommen.“
„Wir hören so viel Schreckliches über die Fliegerangriffe. Ich bin froh, dass wir weit genug von den Großstädten weg sind und kaum mal ein feindliches Flugzeug zu Gesicht bekommen.“ Lydia goss ihm und ihrer Schwester ein Glas selbst gebrannten Schnaps ein.
„Der ist gut“, sagte Peter, nachdem die klare Flüssigkeit seine Kehle herabgeronnen war. „Wann findet die Verleihung statt?“
„Übermorgen, am Muttertag.“ Lydia lachte kurz auf. „Die hiesige Partei macht einen riesigen Wirbel daraus. Es wird ein Fest geben mit Musik und Paraden und der Bürgermeister von Mindelheim, Herr Keller, wird eine Rede halten. Dann überreicht jemand vom Propagandaministerium allen arischen Frauen, die mindestens vier gesunde Kinder geboren haben, das Mutterkreuz.“
„Da Lydia gerade ihr sechstes Kind bekommen hat, bekommt sie das silberne Kreuz verliehen“, erläuterte Frau Klausen.
Lydia wiegte ihre Jüngste auf den Armen in den Schlaf. „Ich könnte ehrlich gesagt auf die Zeremonie verzichten, aber seit den unseligen Geschehnissen mit Lotte bin ich froh über alles, was mir hilft, meinen guten Ruf bei der Verwaltung und Herrn Keller zu wahren. Das Silberkreuz ist sehr prestigeträchtig und gibt mir den Sonderstatus einer würdigen Mutter. Mit dieser Ehrung bin ich kaum noch angreifbar und deshalb werde ich gute Miene zum bösen Spiel machen.“
Peter nickte voller Verständnis für Lydia. Er war erstaunt gewesen, dass die Familie solch ein Trara um die Teilnahme an der Verleihung des Mutterkreuzes machte, aber jetzt verstand er. Der Bürgermeister hatte schon lange ein Auge auf Lydias Hof geworfen und wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn an sich zu reißen. Aber die Trägerin eines silbernen Mutterkreuzes konnte er nicht anrühren. Erst müsste man ihr die Auszeichnung wieder aberkennen.
„Macht es euch etwas aus, wenn ich mich zurückziehe?“, fragte Lydia. „Ich muss die Kinder ins Bett bringen und die Kühe müssen morgen in der Frühe gemolken werden.“ Sie sah plötzlich müde aus.
Frau Klausen winkte ab. „Wir kommen schon zurecht. Anna und ich werden uns um das restliche Geschirr kümmern. Wir wollen dir nicht zur Last fallen.“
„Danke, meine Liebe. Ich bin froh, dass ihr alle da seid. Bis morgen.“ Lydia drückte den Säugling auf ihrem Arm an sich und ging in die Küche, um ihre anderen Kinder ins Bett zu schicken.
Um diese Jahreszeit war es abends lange hell und so kam Anna später ins Wohnzimmer, um Peter zu fragen, ob er spazieren gehen wolle. Er stimmte zu, denn ein romantischer Abendspaziergang mit seiner Frau war etwas, wofür er viel zu selten Gelegenheit hatte.
Anna hakte sich bei ihm ein und führte ihn über den weitläufigen Hof, zeigte ihm die Scheune, den Kuhstall und einige Felder. Ihm wurde das Herz schwer und er wurde immer stiller.
Als sie zum Bauernhaus zurückkehrten, fragte sie ihn: „Was bedeutet dieser Ausdruck auf deinem Gesicht?“
„Es ist nur … der Hof hier erinnert mich an zu Hause.“ Eine Welle des Heimwehs überkam ihn, als er sich an seine glückliche Kindheit auf dem Bauernhof seiner Großeltern in der Nähe von Lodz erinnerte. Aber das war in einem anderen Leben gewesen. Bevor er seine erste Frau Ludmila kennengelernt hatte und mit ihr nach Warschau gezogen war. Bevor er zum polnischen Militär gegangen war. Bevor Hitler in Polen eingefallen war und Peter mit seiner Einheit über Rumänien und den Iran nach Großbritannien geflohen war, um sich dort der britischen Armee anzuschließen.
Und bevor die Nazis Ludmila und seinen Sohn Janusz umgebracht hatten, weil sie Juden waren.
Am Sonntagmorgen fieberten alle auf das große Ereignis hin, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Lydias Kinder freuten sich auf die Abwechslung vom Alltag, denn Festivitäten und fröhliche Feiern waren rar gesät. Die Erwachsenen verabscheuten allerdings den Aufmarsch der Hitlerjugend und die Propagandareden, die man zuerst über sich ergehen lassen musste.
Auf dem Marktplatz in Mindelheim hatten sich bereits Hunderte Menschen versammelt. Lydia schien jeden der Anwesenden zu kennen und sie begrüßten mehr Leute, als Peter sich je merken könnte.
Der Marktplatz war mit festlichen roten und weißen Bändern geschmückt und die Hakenkreuzfahne hing aus praktisch jedem Fenster. Auf einer Seite war ein hölzernes Podium errichtet worden, auf dem momentan eine Gruppe des Jungmädelbundes gymnastische Übungen vorführte.
Sie beendete ihre Vorstellung unter dem donnernden Applaus der Zuschauer, worauf die meisten Mädels mit vor Anstrengung und Stolz geröteten Gesichtern zu ihren Eltern eilten. Dann betrat ein Mann in Paradeuniform das Podium, der laut Lydia Herr Keller war, Bürgermeister, Parteiführer und Polizeichef in Personalunion.
Peter bemerkte, wie Anna trotz des wunderbar sonnigen Tages erschauerte, und legte seinen Arm um ihre Schultern.
„Das ist er“, flüsterte sie.
„Leise.“ Peter legte einen Finger auf ihre Lippen, um sie davon abzuhalten, etwas Falsches zu sagen.
Der Bürgermeister hielt eine lange Rede über die Tugenden der deutschen Mutter und erinnerte alle daran, dass heute ein Tag der Freude und des Feierns war, trotz der Opfer, die manche erbringen mussten. Peter blickte sich um und sah, dass mehr als eine Frau sich heimlich die Augen abtupfte. In den letzten Jahren war der Muttertag wegen der vielen gefallenen Soldaten für so viele von ihnen zu einer traurigen Angelegenheit geworden.
„… der Geburtenkrieg muss weitergehen. Es ist die Pflicht einer jeden reinen, deutschen Mutter, dem Reich und dem Führer Kinder zu gebären. Sie dürfen sich in ihren Bemühungen, Soldaten für unsere großartige Armee zu produzieren, nicht von Unsicherheit oder den widerlichen Angriffen unserer Feinde abbringen lassen …“
Peter blendete die abstoßenden Worte des Bürgermeisters aus. Welche Frau würde sich bestärkt fühlen, Kinder zu bekommen, nur um sie zum Sterben in den Krieg zu schicken? Und das ohne Ehemänner? Soweit er wusste, brauchte man einen Mann, um ein Kind zu empfangen, aber die Anzahl der Männer, die der Feier beiwohnten, war verschwindend gering. Bestimmt arbeiteten die Nazis schon an einer abscheulichen Lösung für dieses Problem.
Anna stieß ihn mit dem Ellbogen an. „Woran denkst du?“
Er machte ein betretenes Gesicht und beobachtete, wie ein Mitarbeiter des Propagandaministeriums aufs Podium stieg und die Namen von Frauen zu verlesen begann, die das Mutterkreuz in Bronze erhalten sollten, für die herausragende Leistung, dem Führer vier rassenreine, erbtüchtige und gesunde Kinder geschenkt zu haben.
Als Nächstes kamen die Abzeichen in Silber für diejenigen Frauen, die sechs Kinder bekommen hatten, und Frau Klausen musste ihre Schwester vorwärts schubsen, als ihr Name aufgerufen wurde. Applaus und Jubel begleiteten die Frauen, die sich dem Podium näherten. Der Beamte verlieh ihnen der Reihe nach die Orden, schüttelte ihre Hände und beendete seine Gratulationen mit den Worten: „Das Kind adelt die Mutter.“
Lydia stieg wieder vom Podium herunter und kehrte mit dem Kreuz um den Hals zu ihrer Familie zurück, während es mit der Ehrung der Frauen weiterging, die das goldene Kreuz für acht Kinder bekamen. Lydias Töchter wollten den glänzenden Orden unbedingt anfassen und sie reichte ihn herum, damit jeder ihn begutachten konnte.
Für die Mädels schien es nicht mehr zu sein als eine schicke, glitzernde Halskette, ohne die düstere Bedeutung der Nazisymbole. Am liebsten hätten sie damit gespielt.
Es war das erste Mal, dass Peter einen solchen Orden aus der Nähe sah: ein Marienkreuz mit dem Hakenkreuz auf der Vorderseite, umgeben von weiß-blauer Emaille. Die Aufschrift rund um das Hakenkreuz lautete Der Deutschen Mutter. Die Medaille hing an einem langen blau-weißen Band, das man um den Hals legen konnte.
„Dürfen wir jetzt spielen?“, fragte die dreijährige Maria.
Da der offizielle Teil der Feierlichkeiten vorbei war, hatte Lydia damit kein Problem. Eine Blaskapelle der Hitlerjugend betrat das Podium und spielte bekannte Volkslieder. Obwohl die Festlichkeiten von den Nazis veranstaltet wurden, genoss Peter die ausgelassene Atmosphäre und folgte bald dem Beispiel anderer Paare und lud seine Anna zum Tanz.
Der Krieg machte das Leben so schwer, dass die fröhliche Stimmung des Tages eine willkommene Abwechslung war.