Tollkühner Aufstand

Tollkühner Aufstand

Kriegsjahre einer Familie

Marion Kummerow

Übersetzt von Annette Spratte

Marion Kummerow

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Anmerkungen der Autorin

Bücher von Marion Kummerow

Kontaktinformationen

Kapitel 1

Warschau, Mai 1944


Voller Aufregung über ihren neuen Lebensabschnitt stieg Lotte aus dem Zug. Mit dem Marschbefehl und weiteren Anweisungen in der Hand machte sie sich auf den Weg zum Wehrmachtsheim für Helferinnen in Warschau, der Hauptstadt des Generalgouvernements, vormals Polen.

Mit ihrem kleinen Koffer ging sie vom Hauptbahnhof aus die drei Blocks zu Fuß. Die Frühlingssonne schien auf sie herab, erwärmte die Luft und warf einen atemberaubenden Glanz über die Stadt. Lotte nahm den strahlenden Sonnenschein als gutes Omen.

Warschau war viel schöner, als sie es sich vorgestellt hatte. Völlig anders als ihre geliebte Heimatstadt Berlin, die wegen der ständigen Bombardierungen durch die Alliierten in Schutt und Asche lag. Fünfzehn Minuten später kam sie vor dem Wohnheim an und öffnete die schwere Holztür.

„Kann ich Ihnen helfen?“, begrüßte sie eine junge Frau, die eine Helferinnenuniform trug, bestehend aus einer grauen Jacke mit Reichsadler und Hakenkreuz sowie einem Schiffchen. Ein farblich passender grauer Rock, eine weiße Bluse mit schwarzer Krawatte und schwarze Schuhe vervollständigten das Ensemble. Auf dem rechten Ärmel prangte das Blitzabzeichen, das die Trägerin als Nachrichtenhelferin auswies.

„Mir wurde gesagt, dass ich sofort nach der Ankunft des Zuges hierherkommen soll“, sagte Lotte und fügte hinzu: „Ich heiße Alexandra Wagner und bin eine Wehrmachthelferin.“ Sie hielt der Frau den Marschbefehl hin und versuchte, ihre Nervosität zu unterdrücken. So viel war in den letzten paar Monaten passiert, einschließlich der Notwendigkeit, ihren eigenen Tod vorzutäuschen und eine neue Identität anzunehmen. Aber das hier war ihre Chance, alles hinter sich zu lassen und etwas Sinnvolles zu tun.

„Sehr gut, Alexandra. Ich bin Karin. Wir haben dich bereits erwartet. Bitte folge mir.“

Lotte folgte Karin durch die Eingangshalle und einen langen Flur, der Türen auf beiden Seiten hatte. Vor einer Tür mit der Aufschrift „Büro“ hielten sie an.

„Oberführerin Kaiser wird dich einweisen. Sie ist unsere Hausmutter und Vorgesetzte für alles, abgesehen von unserem Arbeitseinsatz.“ Karin senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Es ist besser, mit ihr auf gutem Fuß zu stehen.“ Dann klopfte sie an die Tür und kurz darauf rief eine strenge Stimme: „Herein.“

„Oberführerin, hier ist unser Neuankömmling“, sagte Karin und beeilte sich, an ihren Posten zurückzukehren.

Hinter einem riesigen Schreibtisch saß eine uniformierte Frau von etwa vierzig Jahren. Sie stand auf und streckte ihre Hand aus. „Willkommen, Helferin Wagner. Dürfte ich Ihren Marschbefehl sehen?“

Lotte überreichte ihn, etwas verwirrt über die Anrede mit ihrem neuen Titel, anstatt des informelleren Fräulein. Erst in diesem Moment wurde ihr der Ernst ihrer Mission bewusst. Ab sofort war das Ganze kein Spiel mehr.

Die ältere Frau nickte. „Ich werde Sie zur Kleiderausgabe bringen und danach erkläre ich Ihnen, wo der Schlafraum ist. Sie sind zwar kein Soldat, aber bei der Wehrmacht angestellt. Es wird erwartet, dass Sie sich jederzeit entsprechend verhalten und kleiden.“

Lotte nickte und folgte Frau Kaiser durch das Gewirr an Gängen, während sie versuchte, ihre Nervosität zu unterdrücken. Zunächst einmal würde sie sich darauf konzentrieren, ihre Uniform zu bekommen und herauszufinden, wo sie schlafen sollte. Alles Weitere konnte warten.

In der Kleiderausgabe begann Oberführerin Kaiser, Uniformstücke aus den Regalen zu ziehen, legte sie auf einen Tresen und hakte sie auf ihrer Liste ab. Bald stapelten sich ein graues Kostüm, zwei weiße Blusen, eine schwarze Krawatte, drei Paar hässliche Wollsocken, ein leichter Mantel und ein Schiffchen vor Lotte.

„Sie erhalten auch ein Paar Schuhe. Welche Größe?“

„Neununddreißig“, sagte Lotte.

Die Oberführerin holte ein Paar robuster schwarzer Schuhe aus einem Regal und fügte sie dem Stapel hinzu. „Bitte sehr. Ziehen Sie die Uniform bitte hinter der Tür da drüben an. Ich werde in meinem Büro auf Sie warten. Finden Sie den Weg zurück?“

„Ja, Oberführerin. Danke“, sagte Lotte, nahm ihre neuen Sachen mit in den kleinen Ankleideraum, der eher einem größeren Kleiderschrank glich, und zog sich um. Sie betrachtete sich im Spiegel auf der Rückseite der Tür und streckte dem Reichsadler, der auf ihrer Brusttasche prangte, die Zunge heraus.

Obwohl sie die Symbole der Naziherrschaft hasste, konnte sie nicht anders, als sich einmal zu drehen und sich in der schicken, neuen Uniform zu bewundern. Ihre Jacke hatte keinen einzelnen Blitz auf dem Ärmel wie Karins, sondern ein Abzeichen mit sechs Blitzen, die im Kreis angeordnet waren und sie als Funkerin zu erkennen gaben.

Der Rock hing etwas lose auf ihren knochigen Hüften, aber mit Nadel und Faden würde sie ihn schon passend machen. Mit einem weiteren Blick in den Spiegel setzte sie das Schiffchen auf und rückte es verwegen schräg auf den Kopf, so wie die Frauen auf den Propagandapostern ihre Kappen trugen.

Perfekt, dachte sie und vergaß für einen winzigen Moment, dass sie nicht hier war, um die deutschen Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Einige Minuten später verließ sie die Kammer und kehrte in das Büro von Oberführerin Kaiser zurück.

„Es passt alles“, sagte Lotte, nachdem sie hereingebeten worden war.

Oberführerin Kaiser musterte sie von oben bis unten und nickte einmal. „Sehr schön, Helferin. Gehen Sie geradeaus durch die Tür am Ende des Flures. Ich habe Ihnen ein Bett im Schlafsaal drei zugeteilt. Ich nehme an, Sie werden keine Probleme haben, dort hinzufinden?“

„Ich werde mich schon zurechtfinden. Danke für Ihre Hilfe, Oberführerin.“

Die Frau wandte sich ab und Lotte wurde klar, dass sie entlassen war. Sie verließ das Büro so leise wie möglich und ging den Flur entlang, bis sie eine Tür mit der Nummer drei erreichte.

Im Raum dahinter gab es jeweils zwei Betten an den Seitenwänden, vier Spinde, einen Tisch mit zwei Stühlen am Fenster und ein Waschbecken in der Ecke. Ihr neues Quartier war bestenfalls spartanisch, aber dennoch eine gewaltige Verbesserung zu den Baracken des Konzentrationslagers Ravensbrück.

Lotte überlegte noch, welches der sorgfältig gemachten Betten ihres war, als die Tür aufflog und zwei schwatzende Mädels eintraten. Als sie Lotte mitten im Raum stehen sahen, blieben sie abrupt stehen. Die Abzeichen an ihren Uniformen verrieten, dass die eine Nachrichtenhelferin und die andere Funkerin war wie sie selbst.

„Hallo, ich bin Alexandra Wagner. Oberführerin Kaiser hat mir dieses Quartier zugewiesen.“ Lotte streckte den beiden ihre Hand entgegen.

Das eine Mädel, eine hübsche Brünette, strich ihren Rock glatt und schüttelte kichernd Lottes Hand. „Wir nennen sie den Drachen, wenn sie es nicht hört. Du wirst bald herausfinden, dass sie ihrem Spitznamen alle Ehre macht. Ich bin übrigens Heidi.“

Die andere, kaum älter als zwanzig, das lange blonde Haar sorgfältig in modische Wellen gelegt, trat als Nächste vor. „Ich bin Gerlinde. Nett, dich kennenzulernen.“ Sie folgte Lottes verwirrtem Blick durch den Raum und fügte hinzu: „Das Bett da drüben ist deins, über meinem. Auf der anderen Seite schlafen Heidi und Karin. Die hast du wahrscheinlich schon kennengelernt, sie hat heute Türdienst.“

Heidi schmollte. „Noch so eine Erfindung des Drachens. Sie führt eine Liste, wer wann kommt und geht. Eine Minute zu spät und du hast Küchendienst oder sonst eine lästige Strafarbeit.“

„Danke für die Warnung“, sagte Lotte und warf einen weiteren Blick auf die beiden schicken Mädels. Sie erweckten den Eindruck, als wäre es ihre größte Sorge, ob ihre Frisuren aussahen wie im neuesten Modemagazin.

Lotte selbst hatte nie viel darum gegeben, elegant auszusehen, und trug lieber praktische Halbschuhe als hohe Absätze. Ihre feuerroten Haare waren so unbezähmbar wie ein Wirbelsturm, aber seit sie der Wehrmacht beigetreten war, trug sie ihre Haare in geflochtenen Zöpfen, um halbwegs ordentlich auszusehen.

Disziplin war für Lotte allerdings kein Problem. Nicht mehr. Sie hatte es auf die harte Art gelernt. Die härteste, um genau zu sein. In Ravensbrück konnte eine Frau für Verspätungen oder sonstigen Ungehorsam zu Tode geprügelt werden. Nein, Lotte würde das Musterbeispiel einer Wehrmachthelferin sein.

Sie verstaute ihre Habe im Spind, während Heidi und Gerlinde sie mit Fragen löcherten. Lotte antwortete vorsichtig auf den Wissensdurst ihrer neuen Kameradinnen und wiederholte ihre sorgfältig einstudierte Tarngeschichte: „Ich bin ein Einzelkind und meine Eltern sind vor einiger Zeit bei einem Bombenangriff gestorben. Als ich im Februar achtzehn wurde, habe ich mich entschieden, meinen Teil zu den Kriegsanstrengungen beizutragen, und mich als Wehrmachthelferin gemeldet. Ich wurde drei Monate lang in der Nähe von Köln ausgebildet und jetzt bin ich hier.“

„Köln? Das klingt aufregend. Erzähl uns, wie es war. Bist du Tanzen gegangen? Ins Kino? Hattest du viele Verehrer?“, fragte Gerlinde mit großen, verträumten Augen.

„Wir waren ja nicht direkt in Köln, sondern ein paar Dutzend Kilometer entfernt. Und Tanzlokale gab es da keine.“ Lotte konnte über Gerlindes Naivität nur staunen. Hatte sie auch nur die geringste Ahnung von dem trostlosen Zustand der Stadt, die das Ziel Hunderter Luftangriffe gewesen war?

„Seid ihr schon lange hier?“, fragte Lotte ihre neuen Kameradinnen.

„Wir sind letzte Woche angekommen“, sagte Heidi.

„Es ist unglaublich aufregend hier“, fügte Gerlinde hinzu.

„All diese feschen Soldaten …“

„Und die Freizeitangebote …“

„Und die schicke Uniform …“

„Wenn der Drache nicht wäre, wäre es das reinste Paradies.“

„Paradies?“ Lotte lachte ihre übereifrigen Mitbewohnerinnen im Stillen aus. „Und ich dachte, wir seien im Krieg.“

„Pah …, der Krieg … Die Front ist weit weg und hier ist es so viel besser als zu Hause.“ Heidi setzte sich auf ihr Bett, nahm einen Lippenstift und einen Handspiegel aus ihrer Handtasche und zog sorgfältig ihre Lippen nach.

„Woher kommt ihr?“, fragte Lotte.

Da Heidi mit Schminken beschäftigt war, antwortete Gerlinde für beide. „Wir kommen aus demselben Dorf in Ostpreußen. Unsere Eltern sind die größten Grundbesitzer in der Gegend, aber anstatt uns in Königsberg zur Schule zu schicken, bestanden sie darauf, dass wir im Dorf bleiben und Privatlehrer bekommen.“

Heidi verstaute die Schminkutensilien wieder in der Handtasche und fügte hinzu: „Langweilig … Du kannst dir nicht vorstellen, wie langweilig das war. Besonders nachdem alle jungen Männer weggegangen sind, um Soldaten zu werden. Was soll ein Mädel denn tun, wenn keine Männer zu haben sind? Wir konnten doch nicht herumsitzen und mit den Kühen plaudern, oder?“

„Vermutlich nicht“, sagte Lotte, die Heidis Beschwerden kaum beachtete. Trotz der Tatsache, dass Lottes Familie nicht reich war, erinnerten sie ihre beiden Mitbewohnerinnen an sie selbst vor weniger als einem Jahr.

Behütet. Gelangweilt. Ahnungslos, was wirklich in Deutschland vor sich ging. Eine einzige unbedachte Entscheidung hatte Lottes gesamte Welt auf den Kopf gestellt und sie beinahe das Leben gekostet. Sie bereute ihre Handlungen nicht, aber dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte, die Konsequenzen ordentlich zu überdenken – und die Tatsache, dass ihre beste Freundin Irmhild gestorben war. Ihretwegen. Die wieder aufkeimenden Schuldgefühle drohten sie zu ersticken.

Nein, Lotte würde die Freiheit oder das Leben nie wieder als selbstverständlich betrachten. Dank ihrer Schwestern hatte sie eine zweite Chance bekommen und sie hatte vor, diese zu nutzen, um dem Wahnsinn dieses Krieges ein schnelleres Ende zu bereiten.

„... also haben wir uns als Wehrmachthelferinnen gemeldet. Warum bist du hier?“

Um für die Alliierten zu spionieren. Lotte biss sich auf die Lippe. In ihrem früheren Leben als impulsiver Backfisch wäre sie vielleicht damit herausgeplatzt, was in ihrem Kopf vorging, aber seit sie eine falsche Identität angenommen hatte, legte sie jedes Wort auf die Goldwaage, ehe sie es aussprach. „Warum ich hier bin? Um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen natürlich.“ Diese Antwort schien ihre beiden neuen Freundinnen nicht zufriedenzustellen und sie fügte hinzu: „Und auch wegen der schicken Uniform. Findet ihr nicht, dass ich damit aussehe wie Marika Rökk?“

„Marika Rökk“, kreischte Heidi. „Sie muss die schönste Schauspielerin im ganzen Reich sein. Sogar der Führer bewundert sie.“

„Mit der Uniform siehst du wirklich adrett aus und alle Männer werden sich den Hals nach dir verdrehen. Du wirst schon sehen“, sagte Gerlinde und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Komm, wir zeigen dir Warschau und dann können wir in der Kantine zu Abend essen.“ Heidi ordnete ihren Rock und trat vor den kleinen Spiegel über dem Waschbecken, um ihr Schiffchen zu richten.

„Müsst ihr nicht arbeiten?“, fragte Lotte.

„Nein, für heute sind wir fertig“, antwortete Gerlinde und nahm ihre Hand. „Komm. Wir sind doch hier, um Spaß zu haben, nicht wahr?“

„Klar.“ Lotte setzte ein begeistertes Lächeln auf, obwohl Spaß das Letzte war, das sie im Kopf hatte.

Die drei gingen die Nowy Świat, die Neue Welt Straße entlang, bis Gerlinde vor einem riesigen, majestätischen Gebäude stehen blieb und sagte: „Das ist das Theater. Am Wochenende gibt es hier Vorstellungen für die Truppen.“

Lotte nickte. Anscheinend war die Arbeit als Wehrmachthelferin für die Mädels ein einziges großes Abenteuer, mit dem sie ihrem langweiligen Zuhause oder ihren ausgebombten Heimatstädten entfliehen konnten.

Nach fünfzehn Minuten Fußmarsch erreichten sie das Gebäude, das dem gesamten deutschen Militärpersonal, einschließlich der weiblichen Angestellten, als Kantine diente.

Gerlinde und Heidi begrüßten einige andere Mädels und stellten ihnen Lotte vor. „Das ist Alexandra, unsere neue Zimmergenossin. Sie ist Funkerin und wird morgen anfangen.“

Die anderen Mädels waren hauptsächlich Nachrichtenhelferinnen oder Krankenschwestern und es gab nur wenige Funkerinnen wie sie selbst. Alle redeten, lachten und aßen Mengen an Lebensmitteln, die Lotte in einem Land mit Rationierungen schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie suchten sich einen leeren Tisch und setzten sich.

Gerlinde zeigte auf die Fülle an gut aussehenden Männern, alle stutzerhaft und darauf bedacht, die anwesenden Frauen zu umgarnen. Sie konnte nicht aufhören, davon zu schwärmen, wie schneidig sie in ihren Uniformen aussahen, und zog selbst jede Menge Aufmerksamkeit und einladende Blicke aus dem ganzen Saal auf sich.

Lotte sah dem Treiben unbehaglich zu. Weder das aufgeblasene Verhalten der Männer noch die Reaktionen der Frauen gefielen ihr. Zu Hause hatte sie wilde Geschichten über die lose Moral der Helferinnen gehört, die oft Blitzmädels genannt wurden, und das nicht nur wegen der Blitzabzeichen auf ihren Ärmeln, sondern auch wegen des Tempos, mit dem einige von ihnen mit einem der Offiziere im Bett landeten.

Lotte hatte jedenfalls nicht vor, diesem Ruf gerecht zu werden. Sie hatte wichtigere Dinge im Kopf. Oberführerin Kaiser hatte ihr erklärt, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn Wehrmachthelferinnen mit einem der Soldaten ausgingen, und Lotte würde ihrer Vorgesetzten nicht den geringsten Grund liefern, mit ihrer Arbeit oder ihrer Person unzufrieden zu sein.

„Die Männer hier sehen so gut aus“, schwärmte Gerlinde auf dem Heimweg.

„Ist mir gar nicht aufgefallen.“

Gerlinde schüttelte den Kopf: „Das ist dir nicht aufgefallen? Hattest du die Augen geschlossen?“

„Nein, ich vermute, ich freue mich einfach auf die Arbeit“, antwortete Lotte und kämpfte gegen eine Welle der Nostalgie an. Nach den Vorfällen im letzten Jahr würde sie nie wieder so unbeschwert sein können.

„Nun, dafür ist Morgen da“, sagte Heidi und öffnete die Holztür des Heims für Wehrmachthelferinnen. Oberführerin Kaiser wartete bereits in der Nähe des Eingangs und notierte, wer wann nach Hause kam.

Etwa eine Stunde später krochen die vier Mädchen unter ihre Decken. Lotte schaltete das Licht aus, aber obwohl ihre Kameradinnen Minuten später tief und fest schliefen, lag sie noch mehrere Stunden wach und dachte über die Zukunft nach. Einerseits war sie aufgeregt, endlich in ihr neues Leben zu starten, aber andererseits hatte sie Angst.

Große Angst.

Kapitel 2

Peter Wolf drängte sich auf der Suche nach freien Plätzen im Zug durch die Menschenmassen.

„Hier drüben“, rief er seiner Frau zu und zeigte auf ein Abteil mit vier leeren Sitzen. Er blockierte die Tür mit seinen breiten Schultern, um andere Passagiere davon abzuhalten, sich hineinzuquetschen. Kurze Zeit später saßen endlich alle.

„Ich hätte nicht gedacht, dass die Züge so überfüllt sind“, sagte Frau Klausen, seine Schwiegermutter.

„So ist es schon eine ganze Weile. Seit sie begonnen haben, alle Passagierzüge für Truppentransporte zu nutzen“, antwortete Ursula, Peters Schwägerin.

„… und alle Privatfahrzeuge für die Kriegsanstrengungen zu requirieren“, fügte seine Frau Anna hinzu.

„Es ist ein Wunder, dass wir alle Reisegenehmigungen bekommen haben“, sagte Peter und half der hochschwangeren Ursula aus ihrem leichten Sommermantel. Dann hievte er die schweren Koffer nach oben ins Gepäcknetz.

„Nun, wir werden einer besonderen Zeremonie der Nazis beiwohnen, also reisen wir ja nicht wirklich zum Vergnügen.“ Bei diesen Worten schürzte Anna die Lippen. Peter wusste, wie sehr seine Frau die Nazis für alles hasste, was sie ihrer Familie angetan hatten.

„Ich bin so froh, dass ihr Mädels mit mir zusammen Lydia besuchen könnt; es wird für uns alle eine dringend benötigte Erholung von den ganzen Fliegerangriffen auf Berlin sein“, sagte Frau Klausen, während sich der Zug in Bewegung setzte. „Darf ich dort drüben sitzen? Mir wird schlecht, wenn ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze.“

Peter stand auf und tauschte den Platz mit ihr. Jetzt saß er Anna gegenüber und konnte auf der Fahrt nicht mit ihr Händchen halten. Dafür hatte er aber das Vergnügen, ihr hübsches Gesicht mit den dunkelblauen Augen anzuschauen, das von leuchtend blonden Haaren eingerahmt wurde. Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Soweit es ihn anging, war es ebenso angenehm, sie zu bewundern, wie ihre Hand zu halten. Er war wirklich ein Glückspilz, dass er ein zweites Mal die Liebe gefunden hatte, nachdem seine erste Frau gestorben war – damals, als er noch den Namen Piotr Zdanek getragen hatte.

Ursula, ein Jahr älter als Anna, hatte die gleichen blauen Augen und blonden Haare, aber statt Annas glatten Strähnen fiel ihr Haar in natürlichen Wellen um ihr Gesicht bis auf die Schultern. Jedenfalls nahm er das an, denn welche Ahnung hatte er schon von den kleinen Tricks, die Frauen anwendeten, um ihre Gesichter und ihr Haar elegant, aber natürlich aussehen zu lassen? Anna und Ursula waren ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, die vor fünfundzwanzig Jahren so ausgesehen haben musste wie die beiden jetzt.

In Gedanken versunken folgte er dem Gespräch der Frauen nur mit halbem Ohr. Er sorgte sich um das Geschehen im europäischen Kriegstheater. Durch seine heimlichen Kontakte zu den Briten wusste er, dass in seinem Heimatland Polen bald etwas Großes passieren würde, doch niemand kannte die genauen Details.

„… ich war seit Jahren nicht mehr in Kleindorf.“ Annas süße Stimme erregte seine Aufmerksamkeit und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Sag mir, wie es bei eurer Tante Lydia ist“, bat er.

„Um unsere kleine Schwester Lotte zu zitieren: Es ist laaaaaangweilig.“ Anna lachte. „Das Dorf, in dem der Bauernhof unserer Tante Lydia liegt, hat noch nicht einmal einen Bahnhof. Wir werden von Mindelheim aus mit dem Bus nach Kleindorf fahren müssen und dann sind es noch zwanzig Minuten Fußweg.“

„Ich habe mit ihr ausgemacht, dass sie unser Gepäck mit dem Ochsengespann abholt“, sagte Frau Klausen und zwinkerte Peter zu. Er scheute sich nicht vor körperlicher Arbeit, aber die Aussicht, ihre vielen Koffer nicht zum Bauernhof schleppen zu müssen, erleichterte ihn gewaltig.

Bei jedem Halt drängten mehr Menschen in den Zug, besetzten die beiden noch freien Sitze in ihrem Abteil und standen zuhauf in den Gängen, sodass ein Besuch der Toilette fast unmöglich wurde. Auf halbem Weg nach München, wo sie umsteigen mussten, wurde es so voll, dass keine weiteren Passagiere mehr einsteigen konnten und die Leute anfingen, durch die Fenster zu klettern. Mindestens fünfzehn Personen quetschten sich inzwischen in ihr Abteil, jeder beseelt von dem verzweifelten Wunsch, an sein Ziel zu gelangen.

„Es ist sehr heiß hier drinnen“, murmelte Ursula leise. Sie neigte nicht dazu, sich zu beschweren, wenn man sowieso nichts an der Situation ändern konnte.

„Hier, trink etwas Wasser“, sagte Anna und bot ihr ihre Feldflasche an.

Ursula nahm sie, trank einen kleinen Schluck und gab sie zurück. „Danke.“

Peter sah Ursula an, die sehr blass war, abgesehen von den geröteten, erhitzten Wangen. Sie hielt ihre Hände über ihren Bauch, als wollte sie das Kind darin vor zufälligen Stößen durch die stehenden Passagiere schützen. Kurzerhand schob er einige Leute beiseite und stand von seinem Platz am offenen Fenster auf, um mit ihr zu tauschen. „Setz dich hierher.“

„Danke“, sagte Ursula und fächerte sich die kühlere Luft von draußen zu.

Nach endlosen Stunden erreichten sie schließlich München und stiegen in einen etwas weniger überfüllten Regionalzug nach Mindelheim um. Als sie dort ankamen, wartete zu ihrer großen Überraschung Tante Lydia bereits am Bahnsteig auf sie.

„Tante Lydia“, rief Anna und schob sich winkend durch die Menge. Peter folgte seiner Frau, die Hände voller Gepäck.

„Lydia, du bist den ganzen Weg hierhergekommen. Wir hätten doch den Bus nehmen können“, sagte Frau Klausen und begrüßte ihre Schwester.

„Frida. Es ist schön, dich zu sehen. Ich bin so froh, dass ihr alle kommen konntet.“ Lydia umarmte ihre Schwester kurz, ehe sie ihre Nichten ansah. „Anna, Ursula. Wie lange ist es her? Vier Jahre? Oder länger?“

„Ich glaube, es ist fast fünf Jahre her, dass wir uns gesehen haben. Seit dieser Krieg begonnen hat“, antwortete Ursula.

„Tante Lydia, das ist mein Mann Peter“, sagte Anna.

„Peter, willkommen in Bayern. Zu schade, dass ich nicht zu eurer Hochzeit kommen konnte“, sagte Lydia mit einem Lächeln und schüttelte seine Hand.

„Danke, Frau Meier“, antwortete er. Lydia war etwa in seinem Alter, aber da sie die Schwester seiner Schwiegermutter war, hielt er eine förmliche Begrüßung für angebracht.

„Bitte, nenn mich Lydia. Kommt, wir müssen den Bus erwischen.“ Lydia trieb sie an und führte sie aus dem winzigen Bahnhof heraus, wo der Bus bereits auf die ankommenden Passagiere wartete. In Kleindorf angekommen, wartete bereits Lydias ältester Sohn Jörg, der gerade elf Jahre alt geworden war, mit einem Ochsengespann auf sie. Irgendwie schafften sie es, alle Personen unterzubringen und das Gepäck auf den klapprigen Karren zu stapeln, sodass sie kurze Zeit später vor einem sehr sauberen und ordentlichen Bauernhaus anhielten.

Lydia zeigte ihnen ihre Zimmer und bat sie dann, zum Essen in die Küche zu kommen. Anschließend trug Peter mit Jörgs Hilfe die Koffer nach oben. Vor dem Zimmer, das für Peter und Anna gedacht war, hielt der Junge kurz inne. „Dieses hier war früher Lottes, Gott hab sie selig.“

„Ich bin mir sicher, da, wo sie jetzt ist, geht es ihr besser“, sagte Peter mit einem ernsten Ton. Niemand außer der engsten Familie wusste, dass Lotte nicht wirklich tot war, sondern unter dem falschen Namen Alexandra Wagner weiterlebte. Trotz der offensichtlichen Trauer in den Augen des Jungen war es besser, ihn nicht in dieses Geheimnis einzuweihen. Als Jörg gegangen war, schloss Peter die Tür und nahm Anna in die Arme.

„Es stimmt, weißt du“, murmelte sie an seiner Schulter.

„Was stimmt?“

„Wo auch immer Lotte ist, geht es ihr besser als in Ravensbrück.“

„Das ist vorbei. Sie ist jetzt in Sicherheit.“ Er drückte Anna fester an sich. Die Lüge versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er hatte ihre jüngere Schwester nur einmal auf seiner Hochzeit gesehen, aber er hatte Lottes Plan, für die Alliierten zu spionieren, nie gutgeheißen. Besonders nicht, als sie ihnen erzählte, dass sie nach Warschau geschickt wurde. So sehr er seine Heimatstadt liebte; die polnische Hauptstadt war im Moment kein sicherer Ort – nicht, wenn weltverändernde Umstände kurz bevorstanden.

„Du hast recht. Lass uns runtergehen und dich allen vorstellen.“ Anna gab ihm einen Kuss, ehe sie ihr Kleid glatt strich und ihn in die Küche führte, wo Lydia und ihre sechs Kinder auf sie warteten. Lydias Mann war erst vor einigen Wochen auf Heimaturlaub gewesen, auf seinem Weg von irgendwo in Serbien nach Frankreich. Gerüchten zufolge würden die Alliierten versuchen, in Frankreich einzumarschieren, also hatte Hitler zahlreiche Truppen in den Westen verlegt.

„Das Essen ist fertig. Wascht euch die Hände und setzt euch“, sagte Lydia den Kindern und zeigte den Gästen ihre Plätze. Peter bewunderte diese Frau Mitte Dreißig, die nicht nur ihre sechs Kinder unter zwölf Jahren im Griff hatte, sondern sich auch noch um den ganzen Bauernhof kümmerte. Und das alles ohne die Hilfe ihres Ehemanns. Aber eigentlich sollte es ihn nicht wundern, denn seine Anna und die anderen Klausen-Frauen waren alle so tatkräftig.

„Lydia, dieses Essen ist hervorragend“, lobte Frau Klausen ihre Schwester.

„Das ist es auf jeden Fall. Ich glaube, ein so köstliches Mahl habe ich seit Jahren nicht mehr gegessen“, fügte Peter hinzu. Aufgrund der Rationierungen bekamen sie in Berlin nur noch selten frisches Gemüse oder Milch, aber hier auf dem Bauernhof schienen Lebensmittel kein so großes Problem zu sein wie in der Stadt.

„Danke, dass ich hier sein darf“, sagte Peter später, während Anna und Lydias Töchter den Tisch abräumten. Ursula entschuldigte sich, denn sie war erschöpft von der langen Reise, sodass nur er und Frau Klausen mit Lydia im Wohnzimmer saßen.

„Du bist herzlich willkommen. Danke, dass du meine Schwester und Nichten hierher begleitet hast, um mit mir zu feiern. Ich weiß, wie schwierig Reisen dieser Tage sind.“

„Es tat gut, aus der Stadt herauszukommen.“

„Wir hören so viel Schreckliches über die Fliegerangriffe. Ich bin froh, dass wir weit genug von den Großstädten weg sind und kaum mal ein feindliches Flugzeug zu Gesicht bekommen.“ Lydia goss ihm und ihrer Schwester ein Glas selbst gebrannten Schnaps ein.

„Der ist gut“, sagte Peter, nachdem die klare Flüssigkeit seine Kehle herabgeronnen war. „Wann findet die Verleihung statt?“

„Übermorgen, am Muttertag.“ Lydia lachte kurz auf. „Die hiesige Partei macht einen riesigen Wirbel daraus. Es wird ein Fest geben mit Musik und Paraden und der Bürgermeister von Mindelheim, Herr Keller, wird eine Rede halten. Dann überreicht jemand vom Propagandaministerium allen arischen Frauen, die mindestens vier gesunde Kinder geboren haben, das Mutterkreuz.“

„Da Lydia gerade ihr sechstes Kind bekommen hat, bekommt sie das silberne Kreuz verliehen“, erläuterte Frau Klausen.

Lydia wiegte ihre Jüngste auf den Armen in den Schlaf. „Ich könnte ehrlich gesagt auf die Zeremonie verzichten, aber seit den unseligen Geschehnissen mit Lotte bin ich froh über alles, was mir hilft, meinen guten Ruf bei der Verwaltung und Herrn Keller zu wahren. Das Silberkreuz ist sehr prestigeträchtig und gibt mir den Sonderstatus einer würdigen Mutter. Mit dieser Ehrung bin ich kaum noch angreifbar und deshalb werde ich gute Miene zum bösen Spiel machen.“

Peter nickte voller Verständnis für Lydia. Er war erstaunt gewesen, dass die Familie solch ein Trara um die Teilnahme an der Verleihung des Mutterkreuzes machte, aber jetzt verstand er. Der Bürgermeister hatte schon lange ein Auge auf Lydias Hof geworfen und wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn an sich zu reißen. Aber die Trägerin eines silbernen Mutterkreuzes konnte er nicht anrühren. Erst müsste man ihr die Auszeichnung wieder aberkennen.

„Macht es euch etwas aus, wenn ich mich zurückziehe?“, fragte Lydia. „Ich muss die Kinder ins Bett bringen und die Kühe müssen morgen in der Frühe gemolken werden.“ Sie sah plötzlich müde aus.

Frau Klausen winkte ab. „Wir kommen schon zurecht. Anna und ich werden uns um das restliche Geschirr kümmern. Wir wollen dir nicht zur Last fallen.“

„Danke, meine Liebe. Ich bin froh, dass ihr alle da seid. Bis morgen.“ Lydia drückte den Säugling auf ihrem Arm an sich und ging in die Küche, um ihre anderen Kinder ins Bett zu schicken.

Um diese Jahreszeit war es abends lange hell und so kam Anna später ins Wohnzimmer, um Peter zu fragen, ob er spazieren gehen wolle. Er stimmte zu, denn ein romantischer Abendspaziergang mit seiner Frau war etwas, wofür er viel zu selten Gelegenheit hatte.

Anna hakte sich bei ihm ein und führte ihn über den weitläufigen Hof, zeigte ihm die Scheune, den Kuhstall und einige Felder. Ihm wurde das Herz schwer und er wurde immer stiller.

Als sie zum Bauernhaus zurückkehrten, fragte sie ihn: „Was bedeutet dieser Ausdruck auf deinem Gesicht?“

„Es ist nur … der Hof hier erinnert mich an zu Hause.“ Eine Welle des Heimwehs überkam ihn, als er sich an seine glückliche Kindheit auf dem Bauernhof seiner Großeltern in der Nähe von Lodz erinnerte. Aber das war in einem anderen Leben gewesen. Bevor er seine erste Frau Ludmila kennengelernt hatte und mit ihr nach Warschau gezogen war. Bevor er zum polnischen Militär gegangen war. Bevor Hitler in Polen eingefallen war und Peter mit seiner Einheit über Rumänien und den Iran nach Großbritannien geflohen war, um sich dort der britischen Armee anzuschließen.

Und bevor die Nazis Ludmila und seinen Sohn Janusz umgebracht hatten, weil sie Juden waren.

Am Sonntagmorgen fieberten alle auf das große Ereignis hin, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Lydias Kinder freuten sich auf die Abwechslung vom Alltag, denn Festivitäten und fröhliche Feiern waren rar gesät. Die Erwachsenen verabscheuten allerdings den Aufmarsch der Hitlerjugend und die Propagandareden, die man zuerst über sich ergehen lassen musste.

Auf dem Marktplatz in Mindelheim hatten sich bereits Hunderte Menschen versammelt. Lydia schien jeden der Anwesenden zu kennen und sie begrüßten mehr Leute, als Peter sich je merken könnte.

Der Marktplatz war mit festlichen roten und weißen Bändern geschmückt und die Hakenkreuzfahne hing aus praktisch jedem Fenster. Auf einer Seite war ein hölzernes Podium errichtet worden, auf dem momentan eine Gruppe des Jungmädelbundes gymnastische Übungen vorführte.

Sie beendete ihre Vorstellung unter dem donnernden Applaus der Zuschauer, worauf die meisten Mädels mit vor Anstrengung und Stolz geröteten Gesichtern zu ihren Eltern eilten. Dann betrat ein Mann in Paradeuniform das Podium, der laut Lydia Herr Keller war, Bürgermeister, Parteiführer und Polizeichef in Personalunion.

Peter bemerkte, wie Anna trotz des wunderbar sonnigen Tages erschauerte, und legte seinen Arm um ihre Schultern.

„Das ist er“, flüsterte sie.

„Leise.“ Peter legte einen Finger auf ihre Lippen, um sie davon abzuhalten, etwas Falsches zu sagen.

Der Bürgermeister hielt eine lange Rede über die Tugenden der deutschen Mutter und erinnerte alle daran, dass heute ein Tag der Freude und des Feierns war, trotz der Opfer, die manche erbringen mussten. Peter blickte sich um und sah, dass mehr als eine Frau sich heimlich die Augen abtupfte. In den letzten Jahren war der Muttertag wegen der vielen gefallenen Soldaten für so viele von ihnen zu einer traurigen Angelegenheit geworden.

„… der Geburtenkrieg muss weitergehen. Es ist die Pflicht einer jeden reinen, deutschen Mutter, dem Reich und dem Führer Kinder zu gebären. Sie dürfen sich in ihren Bemühungen, Soldaten für unsere großartige Armee zu produzieren, nicht von Unsicherheit oder den widerlichen Angriffen unserer Feinde abbringen lassen …“

Peter blendete die abstoßenden Worte des Bürgermeisters aus. Welche Frau würde sich bestärkt fühlen, Kinder zu bekommen, nur um sie zum Sterben in den Krieg zu schicken? Und das ohne Ehemänner? Soweit er wusste, brauchte man einen Mann, um ein Kind zu empfangen, aber die Anzahl der Männer, die der Feier beiwohnten, war verschwindend gering. Bestimmt arbeiteten die Nazis schon an einer abscheulichen Lösung für dieses Problem.

Anna stieß ihn mit dem Ellbogen an. „Woran denkst du?“

Er machte ein betretenes Gesicht und beobachtete, wie ein Mitarbeiter des Propagandaministeriums aufs Podium stieg und die Namen von Frauen zu verlesen begann, die das Mutterkreuz in Bronze erhalten sollten, für die herausragende Leistung, dem Führer vier rassenreine, erbtüchtige und gesunde Kinder geschenkt zu haben.

Als Nächstes kamen die Abzeichen in Silber für diejenigen Frauen, die sechs Kinder bekommen hatten, und Frau Klausen musste ihre Schwester vorwärts schubsen, als ihr Name aufgerufen wurde. Applaus und Jubel begleiteten die Frauen, die sich dem Podium näherten. Der Beamte verlieh ihnen der Reihe nach die Orden, schüttelte ihre Hände und beendete seine Gratulationen mit den Worten: „Das Kind adelt die Mutter.“

Lydia stieg wieder vom Podium herunter und kehrte mit dem Kreuz um den Hals zu ihrer Familie zurück, während es mit der Ehrung der Frauen weiterging, die das goldene Kreuz für acht Kinder bekamen. Lydias Töchter wollten den glänzenden Orden unbedingt anfassen und sie reichte ihn herum, damit jeder ihn begutachten konnte.

Für die Mädels schien es nicht mehr zu sein als eine schicke, glitzernde Halskette, ohne die düstere Bedeutung der Nazisymbole. Am liebsten hätten sie damit gespielt.

Es war das erste Mal, dass Peter einen solchen Orden aus der Nähe sah: ein Marienkreuz mit dem Hakenkreuz auf der Vorderseite, umgeben von weiß-blauer Emaille. Die Aufschrift rund um das Hakenkreuz lautete Der Deutschen Mutter. Die Medaille hing an einem langen blau-weißen Band, das man um den Hals legen konnte.

„Dürfen wir jetzt spielen?“, fragte die dreijährige Maria.

Da der offizielle Teil der Feierlichkeiten vorbei war, hatte Lydia damit kein Problem. Eine Blaskapelle der Hitlerjugend betrat das Podium und spielte bekannte Volkslieder. Obwohl die Festlichkeiten von den Nazis veranstaltet wurden, genoss Peter die ausgelassene Atmosphäre und folgte bald dem Beispiel anderer Paare und lud seine Anna zum Tanz.

Der Krieg machte das Leben so schwer, dass die fröhliche Stimmung des Tages eine willkommene Abwechslung war.

Kapitel 3

Lotte saß im Funkraum der Oberfeldkommandantur, dem Hauptquartier der deutschen Wehrmacht in Warschau. Sie hatte in der Ausbildung fleißig den Morsecode geübt, aber im wirklichen Leben war das Funken eine ganz andere Sache. Während der ersten Arbeitswoche verließ sie den Funkraum jeden Abend mit hämmernden Kopfschmerzen und blutigen Fingern.

„Die Ausbildung war so viel einfacher“, beschwerte sie sich in einer Pause bei Gerlinde, die an der Arbeitsstation neben ihr saß.

„Ich weiß ... Es waren nur zwanzig Minuten Morsen und dann etwas anderes. Nicht acht Stunden am Stück wie hier. Meine erste Woche war brutal, aber du gewöhnst dich dran. Ich verspreche es.“

Genau wie es Gerlinde vorausgesagt hatte, war die Arbeit schon in der zweiten Woche zu einer zwar herausfordernden, aber überschaubaren Aufgabe geworden. Über das Wochenende hatte sich Hornhaut auf Lottes Fingerspitzen gebildet und ihr Gehirn hatte die geforderten Lang-und-Kurz-Befehle verinnerlicht. Jeden Tag erhielten sie Anrufe von verschiedenen Orten im Generalgouvernement und Russland. Die Funkerinnen übersetzten diese Informationen in Morsecode und übermittelten dann die Funksprüche an die Heeresleitung in Berlin.

Während der ersten Woche hatte Lotte Seite an Seite mit einer Aufsichtsperson gearbeitet, die sicherstellte, dass ihre Übermittlungen korrekt waren. Doch jetzt saß sie ganz allein an ihrem Schreibtisch und versuchte, sich alle Informationen über Richtungen, Heeresstärken und was sonst noch für die Alliierten wichtig sein könnte zu merken. Doch um sie weiterleiten zu können, musste sie erst ihre Kontaktperson treffen.

An diesem Abend suchte Lotte Oberführerin Kaiser in ihrem Büro auf. Da die Wehrmacht ihre weiblichen Mitarbeiter dazu anhielt, sich in ihrer Freizeit kulturellen Aktivitäten zu widmen, hoffte sie, dass Frau Kaiser ihrem Wunsch entsprechen würde. Obwohl sie der Drache genannt wurde, war die Frau ihren Schützlingen gegenüber wohlwollend – solange diese sich an die Regeln hielten.

„Oberführerin, darf ich eine Bitte äußern?“

Die ältere Frau sah von ihrem Schreibtisch auf. „Ja, Helferin Wagner, was gibt es?“