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© 2021 Frithjof Gauss

Satz, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7543-8037-6

INHALT

LISSABON 1968

1968 überwog in der amerikanischen Bevölkerung die Stimmung, mit dem Vietnamkrieg in ein Desaster geführt worden zu sein. Die daraus entstandene Protestbewegung loderte bereits in der gesamten westlichen Welt. Überall organisierten sich Studenten und propagierten den zivilen Ungehorsam gegen die als autoritär angesehenen Gesellschaftsformen. Die Hippie-Bewegung war auf ihrem Höhepunkt. Trotz der Chance auf einen politischen Wechsel fiel der Protest in Portugal eher gering aus. Warum sollte man sich auch aufregen? Hatte doch ein einfacher Liegestuhl das Ende des Salazar Regimes eingeleitet. Als sich das alternde Staatsoberhaupt für ein Sonnenbad in Estoril auf einen Liegestuhl setzte, zerbrach dieser und der Diktator stürzte so schwer auf seinen Kopf, dass er aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten musste. Über viele Jahre hatte er sich an der Spitze des Landes behauptet. Nun wurde er unsanft von einem morschen Liegestuhl entmachtet. Gelassenheit war seit jeher eine der großen portugiesischen Tugenden. Selbst den abgesetzten Salazar ließen sie in Ruhe. Mit fiktiven Kabinettssitzungen gaukelte man dem fortan komplett isoliert lebenden Mann sogar vor, er sei immer noch im Amt.

Das Leben war auch ohne die Politik hart und man tat gut daran, sich an den schöneren Dingen zu erfreuen. Der Winter 1968/69 war beispielsweise eine außerordentlich gute Jahreszeit für die Linha de Cascais, den südlich ausgerichteten Küstenabschnitt zwischen Cascais und Lissabon. Trafen große Dünungen auf Portugal, wurden die Wellen an der offenen Westküste immer wieder zu groß und unsurfbar. Die im Sommer wellenlose »Linha« wurde aber von genau solchen Swells zum Leben erweckt. Die Dünung waberte um den Knick in der Küste, verlor dabei an Größe und küsste die Linha und deren Surfer wach. Zudem formte leicht säuselnder Nordwestwind die einrollenden Lines zur Perfektion. In hohem Bogen hob der Spray von der Wellenlippe ab, während sich eine Welle nach der anderen an den Peaks der Linha abrollte.

Eigentlich war die Linha de Cascais ja für ihren quirligen Jetset bekannt. Sie war quasi die Cote d’Azur Portugals. Besonders im eleganten Badeort Estoril besaßen Aristokraten und Reiche aus ganz Europa ihre Villen. Eine gemütliche Ausfahrt über die palmenumsäumte Avenida Marginal, die Küstenstraße, war stets ein malerisches Erlebnis. Edle Prachtbauten zu einer Seite und gemächlicher Schiffsverkehr des Lissabonner Hafens auf der anderen. Je weiter man in Richtung Lissabon fuhr, desto bürgerlicher wurden die Wohngebiete. Hier lebten auch die wenigen Wellenreiter, die es zu dieser Zeit an der Linha gab.

In Oeiras hockte der junge Pepe auf dem Geländer und beobachtete verzückt die Wellen. Die Strandpromenade war nicht so prachtvoll wie die der Nachbargemeinde Estoril. Das störte Pepe aber nicht im Geringsten. Der hatte eh nur Augen für die Wellen. Er war für einen Surfer noch schmächtig gebaut., schoss aber langsam in die Höhe. Durch leichte Kopfschwünge brachte er immer wieder seinen langen Pony in Position. Sein großer Bruder Rui trug- zum Groll seiner Eltern- überschulterlanges von Sonne und Salzwasser gebleichtes Haar.

Das konnte Pepe sich mit seinen 13 Jahren nicht leisten. Noch nicht. Sein Kurzhaarschnitt mit Seitenscheitel bewahrte ihn vor unnötigem Ärger im Elternhaus. Wobei sein langer Pony auch schon am Essenstisch thematisiert wurde. »Nicht, dass du auch noch so endest wie dein großer Bruder!«, mahnte sein Vater streng. »Ich möchte, dass wenigstens einer von euch eine anständige Ausbildung erfährt und nicht bloß Faulenzen und Wellen im Kopf hat. Schau ihn dir doch an, wie er da draußen in der Provinz verkümmert. Keine Arbeit, nichts zum Essen, wo soll das nur hinführen?«

Pepe stocherte in seinem Essen, nickte stumm. Insgeheim träumte er davon, auch bald das Surferleben seines Bruders zu führen. Er war ganz bestimmt kein Faulpelz. Das Meer und seine Wellen zogen ihn jedoch magisch an. Schon immer. Und dieser neuartige Surfsport schien wie für ihn gemacht zu sein. Leider war Surfmaterial seinerzeit in Portugal mehr als rar. Somit war es ihm quasi unmöglich, ohne seinen Bruder und dessen Surfboard aufs Wasser zu kommen.

Wieder rollte ein perfektes Set über das Riff. Die Wellen waren groß und Pepe konnte nicht genug von ihnen bekommen. Sehnsüchtig stellte er sich vor, wie er diese Wellen absurfte: Take Off, Bottom Turn, Geschwindigkeit machen, wieder ein Bottom Turn und dann BAM! unter die Wellenlippe geturnt. Das gleiche Spiel auf der nächsten Welle und wieder und wieder und wieder.

Den sich nähernden Fahrradfahrer mit Surfboard unterm Arm hatte Pepe früh entdeckt. Er war einer der wenigen Söhne reicher Eltern aus Estoril, der sich dem Surfen zugewandt hatten. Normalerweise gingen die eher zum Tennis- oder zum Golfunterricht. Wellenreiten hatte nichts Elitäres an sich.

Wenn der bis hier rausgeradelt kam, mussten die Wellen in São Pedro und Carcavelos schon zu groß sein, mutmaßte Pepe. Aber das war jetzt eh egal, denn er hatte nur Augen für das auf Hochglanz polierte Surfboard. Es war viel spitzer und kürzer als die Bretter, die er bisher gesehen hatte. Einen kurzen Moment schaute er noch dem Radfahrer hinterher. Dann sprang er auf und rannte davon. Völlig außer Atem fand er endlich seine Freunde und berichtete aufgeregt.

»João, der Typ aus Estoril, hat ein neues Surfboard! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«

Da es damals weder Surfshops noch Shaper in Portugal gab, war jedes einzelne Board ein kostbares Gut und wurde behütet wie ein Schatz. Die beste Möglichkeit, an Bretter zu kommen, bestand darin, sie von durchreisenden Ausländern zu kaufen, die im Frühjahr auf dem Rückweg von Marokko nach England in Portugal Station machten. Die hielten sich mit Vorliebe in Ericeira oder Peniche auf.

Auch Pepe träumte davon, sein eigenes Board zu besitzen. Es reichte ihm nicht, darauf zu warten, bis ihn die Älteren hin und wieder mal auf ihren Brettern surfen ließen. Seit sein großer Bruder an der Westküste wohnte, kam er viel zu selten aufs Wasser.

Um den Ausländern mit ihren Surfboards näher zu kommen, nervte er seine Eltern so lange, bis sie sich bereit erklärten, mit ihm am Wochenende nach Ericeira zu fahren. Wegen der jodhaltigen Luft war Ericeira ein beliebtes Ausflugsziel für die Lissabonner Stadtmenschen. Gesunde Luft und gutes Essen, das in Form von Meeresfrüchten aller Art serviert wurde. Amêijoas à Bulhão Pato, Mexilhão, Percebes, Lapas, in Olivenöl geschmorter Oktopus oder gegrillte Seeigel mit Zitronensaft beträufelt. Das Ganze mit frisch gehacktem, wohlriechendem Koreander garniert. Hmmm, die Auswahl war lecker und groß. Der Name Ericeira leitete sich vom Seeigel, dem Ouriço, her. Ouriçeira, Land der Seeigel. Ericeiras Einwohner, die Jagozes, waren einfache Leute, die vom Meer und dem Fischfang lebten.

Durch die regelmäßigen Besuche der Lissabonner entwickelte sich in Ericeira schon früh ein wenig Tourismus. In einfachen Unterkünften, Cafés und Restaurants bewirtete man seine Gäste. Die damals mühselige Anfahrt über kleine, schlecht instand gehaltene Landstraßen zwangen die Besucher, mindestens für ein, zwei Nächte in Ericeira zu bleiben. Mit der Zeit zogen einige Stadtmenschen dauerhaft nach Ericeira und wollten hier natürlich auch Geschäfte machen. Bereits 1956 wurde das erste Hotel, das Hotel Turismo, am Praia do Sul eröffnet.

Gut, dass sich die Surfer an den Stränden etwas weiter nördlich von Ericeira, aufhielten. Denn die Jagozes beobachteten die ersten Surfer mit Skepsis. Waren das doch überwiegend Männer mit ungepflegten langen Haaren, die am Strand schliefen und keiner geregelten Arbeit nachgingen. Zuletzt machten ihnen diese seltsamen Hippies auch noch das Angeln streitig. An einem beliebten Landangelpunkt, beim Schlachthof, flogen zuletzt mehrere Steine von der Klippe. Was die Eindringlinge schließlich in die Flucht trieb. Gut so. Sollten sich doch die Saloios mit denen rumärgern. Saloios waren die überwiegend von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung des Umlandes.

Pepe und seine Eltern freuten sich auf ein Wiedersehen mit Rui. Einerseits. Anderseits waren seine Eltern in der Zwickmühle. Deren konservatives Leben kollidierte brutal mit dem neuen Lebensstil ihres Sohnes. Somit endeten diese seltenen Besuche eigentlich immer im Streit.

Etwas nördlich von Ericeira, bei Ribamar, hatte sich die alternative Surfer-Kommune in einem alten Weiler eingenistet. Gemeinsam machten sie die alten Ruinen wieder bewohnbar. Aus Strandgut zimmerten sie einfache Dachstühle und deckten diese mit den überall umherliegenden alten Dachziegeln. Da einige der Ziegel zerbrochen waren, reichten sie nicht aus, um alle Dächer erneut zu decken. Also stopften sie mit Palmenwedeln und Blechen übrig gebliebene Löcher im Dach. Um die alte Feuerstelle im Wohnhaus wurde die Küche eingerichtet. Sie war der soziale Mittelpunkt der Kommune. Hier kochten sie gemeinsam, backten Brot und verbrachten fröhliche und gesellige Abende.

Draußen pflanzten sie immer mehr Gemüse an, pflegten die alten Obstbäume und hielten sich seit neuestem sogar Hühner und Ziegen. Alles wurde untereinander geteilt und getauscht.

Auch halfen sie den umliegenden Bauern bei ihrer Arbeit auf den Feldern, sammelten Muscheln und gingen fischen. Ihre kleine Gemeinde funktionierte wie ein kleines Dorf. Allerdings ohne Rathaus, Kirche oder Polizeistation. Immer mehr junge Leute kamen hierher, um ihre Freiheit zu genießen. Surfen, feiern und lieben war ihre tägliche Beschäftigung. Sie gaben die perfekte Hippiegemeinde ab. Nur dass diese Hippies eben auch surften.

Die erzkatholischen Einwohner von Ericeira wollten mit den Surfern und Hippies nichts zu tun haben. Die Fischer lehnten den Lebensstil dieser langhaarigen Sonderlinge ab. Gerne hätten die Surfer frischen Fisch bei ihnen getauscht. Zogen aber meistens ohne vollzogenes Geschäft wieder ab. Auch in Ribamar stieß die Kommune nicht immer auf Gegenliebe. Sie gingen keiner geregelten Arbeit nach und in der Kirche sah man sie auch nie. Außer Surfen, Musik und Tanzen hatten sie nicht viel im Sinn. Immerhin wurde weder gebettelt noch waren die sie in irgendeiner Art kriminell. Vermutlich wurden es irgendwann einfach zu viele. Eingangs beobachteten die Einheimischen regelmäßig ihre Surfkünste und fanden sie beeindruckend. Letztendlich war es aber nichts Produktives. Zum Graus der älteren Einheimischen interessierte sich bald schon die Dorfjugend für das neue Treiben am Strand. Nicht auszudenken, würde die eigene Jugend nun auch noch den ganzen Tag am Strand verplempern. Völlig unmöglich! Im Café am Dorfplatz hatten die barfüßigen Sonderlinge seit neuestem sogar Hausverbot.

Die Autofahrt von Lissabon nach Ericeira war anstrengend. Nicht die Entfernung war das Problem, sondern das spärlich ausgebaute Straßennetz. Es war ja schon Luxus, überhaupt ein Auto zu besitzen. Als Buchhalter in einer Bank verdiente Pepes Vater nicht schlecht und der weinrote Peugeot 404 mit rundem, weißem Dach verriet ihrer Nachbarschaft, dass es ihnen gut ging. Pepe saß auf dem Rücksitz der Limousine und erfreute sich an der vorbeiziehenden hügeligen Landschaft. Sein Haar tanzte im Fahrtwind, der durch die offene Dachluke einströmte.

Bei einem kleinen Zwischenstopp schlugen sich alle in die Büsche und leerten ihre Blasen. Mutter öffnete den Kofferraum und bot eine Erfrischung an. Nach einem kräftigen Schluck Wasser lenkte sich Pepes Interesse auf das Brot, Obst und alles, was ihn noch so aus dem Korb anlachte. Mit tatkräftiger Unterstützung ihres Mannes wichen die gierigen Jungenfinger zurück, der Kofferraum wurde verschlossen und die Fahrt ging weiter. Der Picknickkorb sollte nicht leer sein, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten.

Als sie in der Ferne das Meer erblickten, senkte sich die Straße langsam zur Küste. Kurz darauf hatten sie freien Blick auf Ericeira. Dicht gedrängt standen die blau weiß getünchten Häuser auf der Klippe. Der Vater freute sich bald am Ziel zu sein. Sicherlich wäre er am liebsten direkt in den Ort gefahren und hätte sich von den Jagozes mit lecker Mariscos bewirten lassen. Dazu noch einen kräftigen Schluck Wein und das Leben wäre in Ordnung. Leider begaben sie sich erst auf die Suche nach seinem Sohn Rui, der sich irgendwo nördlich von Ericeira am Strand herumtrieb.

»Warum nennt man die Ericeiraner eigentlich Jagozes?«, fragte Pepe.

Konzentriert steuerte sein Vater den Wagen auf die Küstenstraße und antwortete: »Als 1910 in Lissabon die Revolte ausbrach, floh der damalige König Manuel II auf sein Jagdschloss nach Mafra. Zwei Jahre zuvor wurden schon sein Vater und Bruder bei einem Attentat auf dem Praça do Comércio erschossen. Warum ist der 5. Oktober einer unserer Feiertage?«

»Das ist der Tag der Gründung der Republik«, antwortete Pepe brav.

Sein Vater nickte zufrieden: » Am 5.Oktober 1910 wurde vom Balkon des Lissabonner Rathauses die Republik ausgerufen. König Manuel II floh von Ericeira aus per Schiff ins englische Exil. Als er am Praia dos Pescadores seinen letzten Fußabdruck in den portugiesischen Sand setzte, wurde er neugierig von einer Schar Einheimischer beobachtet. Ein Kind rief laut: ,Der König geht. Der König geht!’ Darauf hielt der König kurz inne wandte sich zum Kind und meinte: ,Já gozas?’ Was so viel heißt wie: Machst du schon Witze? Seitdem ist jeder in Ericeira Geborener ein Jagoz.«

Pepe drängte seinen Vater, auf der Klippe von Ribeira d’Ilhas anzuhalten. Offiziell natürlich, um von dort oben Ausschau nach seinem Bruder zu halten, konnte man von hier aus doch den gesamten Strand überblicken. Allerdings wusste Pepe auch den perfekten Ausblick über den Surfspot zu schätzen. Ihr Wagen war noch nicht einmal von der Straße gerollt, da sprang er schon raus, huschte auf die Böschung und blieb verzückt stehen. Der Anblick dieser Brecher war für ihn mehr als beeindruckend. Drei Surfer hatten sich aufs Meer gewagt, um sich mit den Wellen zu messen. Als einer von ihnen eine Welle ritt, konnte Pepe es nicht fassen. Nicht nur, dass die Welle riesig war. Nein, dieser Surfer fuhr auch auf so einem neuartigen, spitzgeformten, kurzen Brett. Das war bestimmt ein ausländischer Surfer. Möglicherweise wollte er sein Board verkaufen?

»Und? Hast du Rui entdeckt?«, tauchte sein schnaufender Vater hinter ihm auf.

Hatte er nicht. Pepe fand nicht einmal Zeit, an seinen Bruder zu denken. Seine Aufmerksamkeit gehörte nur dem Surfboard. So eins wollte er auch haben. Das war sein einziger Gedanke.

Kurz darauf parkten sie unten im Tal, am Rande des Hoppelwegs, der zum Strand führte. Die wenigen Surfer-Busse, die dort am Wegesrand standen, hatten allesamt ausländische Kennzeichen. Vorn an der Uferböschung standen kleine Zelte, vor denen einige Surfer im Schneidersitz um ein Feuer saßen und Fisch grillten. Ein junger Mann mit Zottelhaaren und Vollbart spielte Gitarre. Fröhlich schwangen sie ihre Körper im Takt, sangen und freuten sich miteinander ihres Daseins. Pepes Vater war seine Abneigung deutlich anzusehen. Er war wohl auch der Einzige, der sich nicht für die Surfer auf dem Wasser interessierte.

Da Rui nicht am Strand war, fuhren seine Eltern bald darauf nach Ribamar, um dort nach ihm zu suchen. Pepe blieb lieber am Strand und sog die Atmosphäre in sich auf.

Alle Anwesenden beobachteten die drei wagemutigen Surfer und jedes Mal, wenn einer von ihnen eine Welle anstartete, ging ein Raunen durch die Reihen.

Da entdeckte Pepe zwei Freunde von Rui, die er schon aus Oeiras kannte. Von ihnen erfuhr er, dass gerade ein gewisser Jorge mit zwei Australiern auf dem Wasser war. Gebannt schauten sie zusammen aufs Meer. Die Wellen waren wirklich riesig. Pepe wusste, dass dieser Jorge ursprünglich auch von der Linha kam. Er war einer der Besten von ihnen. Er hatte nun schon länger keine Welle mehr geritten. Die Surfer auf dem Wasser waren vorsichtig und wählten ihre Wellen ganz genau aus. Was bei diesen Bedingungen auch angebracht war. Jorge testete heute erstmals eines dieser neuartigen Pintail Surfboards. Mit denen konnte man in kräftiger See angeblich viel kontrollierter surfen. Stolz berichtete Pepe, so ein Board auch schon an der Linha gesehen zu haben. Als Jorge endlich eine Welle anstartete, ein wahres Biest, johlte die Menge. Jorge war ihr Anführer, ihr Guru. Er war als erster nach Ribamar gezogen und hatte die Surferkommune gegründet. Pepe hatte schon viele Geschichten über ihn gehört. Interessierte man sich für das Surfen, war Jorge einfach die Ikone.

AZOREN 1966

Zur Zeit der Diktatur gab es nur ein paar handverlesene Wassersportverrückte, die der magischen Anziehungskraft der Wellen verfielen. Verrückt! Ja, für den Rest der Bevölkerung hatten diese den ganzen Tag nur verträumt aufs Meer schauenden Burschen augenscheinlich eine Schraube locker. Das Spiel mit den Wellen hielt die Allgemeinheit für selbstmörderisch, gefährlich und außerdem war das Meer doch viel zu kalt. Bodysurfen, Luftmatratzen und später auch selbstgebaute Holzplanken waren der verrückten Wassermänner ursprüngliches Handwerkszeug.

Man konnte nicht einfach ins Sportgeschäft spazieren und sich vom Herrn Papa ein Surfboard kaufen lassen. Erstens wurden keine Surfboards gehandelt. Zweitens hätte der Herr Papa sicherlich auch kein Verständnis dafür gehabt, ein völlig überteuertes Wasserfahrzeug zu kaufen, das noch nicht einmal für Angeltouren taugte. Und drittens war so ein Sportladen eh nur etwas für die »Rich-Kids« aus Estoril, alle anderen kauften dort höchstens mal zu Weihnachten einen Fußball oder ein Paar Stutzen.

Die ersten mit Surfboard surfenden Surfer in Portugal waren vermutlich amerikanische Soldaten. Die wurden ab dem 2. Weltkrieg auf den Azoren stationiert. England handelte 1943 mit dem neutralen Portugal die Nutzung der Base Aérea das Lajes auf der Insel Terceira aus. Bisher war auf Terceira nicht viel los. Doch plötzlich war neben Kühen, die auf grünen Wiesen weideten, und lokalem Fischfang dieser kleine Flughafen das Objekt der Begierde.

Die Engländer schlossen ein Abkommen mit dem USamerikanischen Militär, das die Basis fortan auch nutzen durfte. Motiviert bauten die Amerikaner den Flughafen gründlich aus. Dessen strategische Lage war wirklich von großer Bedeutung. Wegen der geringen Reichweite der damaligen Flugzeuge landeten fortan sämtliche Transatlantik-Flüge auf den Azoren zwischen. Das war für die Alliierten eine enorme logistische Erleichterung. Allein für die »Operation Overlord«, der Landung der Alliierten in der Normandie, landeten mehr als 600 Maschinen auf den Azoren. Offiziell wurde das Lajes Field nach Ende des 2. Weltkrieges an Portugal zurückgegeben. Wegen des Kalten Krieges kehrten die Amerikaner aber schnell wieder zurück und brachten unter anderem auch ihre Surfboards mit. Am Praia da Vitória bestaunten neugierige Einheimische, wie die Amerikaner in ihrer Freizeit über die Wellen tanzten.

Es gab schlichtweg zu wenige Bewohner auf der Insel, um die Bedürfnisse der Amis zu erfüllen. Immer mehr Zeitarbeiter kamen vom Festland und freuten sich über lukrative Aufträge. Einige blieben für immer, andere nicht. Jorge Costa war einer von ihnen. Er hatte nicht so viel Erfahrung wie die anderen Bauarbeiter, war dafür aber außerordentlich fleißig. Seine Arbeitskollegen machten sich schwer über ihn lustig, weil er immer so flink war. »Jorge möchte schnell fertig werden, weil er runter zum Strand muss, die Ausländer beim Surfen beobachten«, witzelten sie.

Seine Kollegen glaubten zunächst nicht, dass Jorge ein guter und begeisterter Schwimmer war.

In seinem Heimatort Carcavelos schwamm er regelmäßig im Meer, was zu dieser Zeit wirklich außergewöhnlich für einen Portugiesen war. In den Sommermonaten gab es zwar schon Rettungsschwimmer am Strand. Allerdings überwachten die ihre Badegäste vor allem dabei, wie sie am Flutsaum angeregt plauschten und dabei ihre Füße im knöcheltiefen Wasser kühlten. Wollte Jorge richtig im Meer schwimmen, bekam er schnell Probleme. Das hielten die Rettungsschwimmer für viel zu gefährlich und ließen ihn nicht. Also schwamm er früh morgens oder am Abend. Frohnatur Jorge war begeistert vom Dasein der Rettungsschwimmer und trat bald selbst in den ISN, den portugiesischen Rettungsschwimmer Verband, ein. Nun konnte er regelmäßig im Schwimmbad trainieren und auch im Meer ließen ihn seine neuen Kollegen fortan schwimmen. Ganz besonders liebte er die gemeinsamen Übungstage am Strand. An der Rettungsleine durch die Brandung schwimmen, dort einen Kollegen retten und sich dann im Doppelpack wieder an Land ziehen lassen.

CARCAVELOS 1967

Natürlich sorgte es am elterlichen Essenstisch für Diskussionen. Trotzdem war Jorge im darauffolgenden Sommer selbst ein Rettungsschwimmer. Das Argument des Nichtstuns hatte er seinem Vater entzogen, und seine Mutter unterstützte ihn. So saß er nun stolz auf seinem Hochsitz am Strand von Carcavelos. Aufmerksam überwachte er das Treiben und zog sich seine gelb leuchtende ISN Cap zurecht. Nur die Diensthabenden durften am Strand ihre Uniform, das gelbe Hemd und die orangefarbene Badehose, tragen.

Für die Mittagszeit war es heute noch außergewöhnlich windstill. Am linken Strandende lag majestätisch das altehrwürdige Forte São Julião da Barra. Seit dem 16. Jahrhundert bewachte es die Hafeneinfahrt von Lissabon. Die Portugal-Flagge auf dem Turm hing schlapp herunter und das Meer lag bleiern vor ihnen.

Mit auf- und ablaufendem Wasser veränderten sich die Strömungsverhältnisse. Entsprechend versetzte Jorge die Flaggen des Badefeldes. Mit Vorliebe erklärte er den Kindern, wie das Meer mit seinen Gezeiten und Strömungen funktionierte. Bald schon – er hatte sich eine Tafel vom ISN besorgt – zeichnete er die sich ständig verschiebenden Sandbänke und Strömungen auf und stellte sie am Strandzugang auf.

Kam mal eine seltene Sommerdünung auf, beobachtete er verliebt die Wellen. Eilig räumte er Flaggen und Rettungsleine zusammen, um nach Feierabend schnellstmöglich ins Wasser zu kommen. An solchen Tagen spielte er bodysurfend

mit den Wellen. Seine Kollegen tauften ihn liebevoll Seehund.

»Na du Seehund, gehst du wieder spielen?«

Genau das passierte auch eines Tages am Praia da Vitória. Jorge musste einfach da raus und den Amis zeigen, wie er die Wellen bodysurfte. Die staunten nicht schlecht über den schwimmenden Maurer und gaben ihm eines ihrer Surfboards zum Probieren. Das wiederum erstaunte den Rest der Bauarbeiter, die mittlerweile komplett versammelt am Strand standen, um ihren Jorge zu beobachten.

Relativ geschickt hatte er das riesige Surfboard ins Line Up manövriert und wartete dort auf die nächste gute Welle. Die amerikanischen Surfer um ihn herum gaben ihm noch Tipps. Leider verstand Jorge sie nicht, da er kaum Englisch sprach. Mit den Wellen kannte er sich aber gut aus. Nach ein paar Fehlversuchen paddelte er sich im perfekten Timing in eine Welle. Seinen Kollegen am Strand blieb die Spucke weg. »Was macht der Junge nur da draußen?« fragten sie sich ehrfürchtig. Und dann brach das große Gelächter aus. Eben noch schoss Jorge auf seiner roten Rakete liegend die Welle hinunter, spitzelte im Wellental ein und wurde von der Wasserwand verschlungen. Kurz darauf wirbelte das knallrote Longboard wild über der Welle durch die Luft. Jorge war nur froh, dass ihn sein Gefährt bei seiner Landung nicht erschlug. Mit Händen und Füßen zeigten ihm die anderen Surfer was er besser machen konnte. Weiter nach hinten trimmen, weiter nach vorne, lenken und so weiter. An diesem Tag war einfach nichts zu machen. Immer wieder endeten seine Versuche im Waschgang. Allerdings hatten ihn die Amis fortan auf dem Zettel. Regte sich das Meer und der Surfspaß ging los, durfte Jorge immer wieder eines ihrer Bretter leihen und sich probieren. Es dauerte nicht lange und der vermutlich erste portugiesische Surfer stand am Praia da Vitória freudestrahlend auf der Planke und glitt über die Atlantik-Wellen.

CARCAVELOS 1968

S elbstverständlich blieben junge Erwachsene bis zu ihrer Hochzeit im Elternhaus. Nicht selten lebten sogar drei Generationen unter einem Dach. Der Familienzusammenhalt war groß, die Häuser und Wohnungen aber nicht. Umso wichtiger war es, sich täglich im Café und auf den Plätzen der Stadt zu treffen. Neuigkeiten machten hier schneller die Runde als im Radio. Das soziale Miteinander wurde großgeschrieben und niemand wollte zu Hause in seinem kleinen Zimmerchen hocken, während sich draußen das Leben abspielte.

Jorge war wieder nach Carcavelos zurückgekehrt. Er hatte auf den Azoren gutes Geld verdient. Aber der Sommer nahte. Und den wollte er natürlich als Nadador-Salvador an seinem Strand verbringen. Auf Terceira war er bereits ein recht passabler Surfer geworden. Von seinem schwer verdienten Geld hatte er den Amerikanern ein Surfboard abgekauft. Mindestens genauso teuer war dann nochmal dessen Transport im Flugzeug nach Lissabon. Die Airline verlangte tatsächlich, dass er sein Sperrgepäck in einer Holzkiste verpackte. Völlig unmöglich für Jorge, jetzt auch noch teures Holz zu besorgen. Sein Vorarbeiter gab ihm ein paar Wolldecken aus der Wohnbaracke. Daraus schnürte Jorge ein schönes Paket. Die überkandidelte Dame vom Check-in konnte ihn anscheinend nicht leiden. Immer noch bestand sie auf eine Holzkiste. Jorge hätte sich am liebsten an ihrer perfekt sitzenden Uniform vergriffen und sie mal so richtig durchgeschüttelt! Bis ihr das dämliche Hütchen vom Dutt rutschen würde. Er ließ sich aber nichts anmerken und versuchte, sie von seinem überdimensionalen Weihnachtspaket zu überzeugen. Der Sperrgepäck- Arbeiter kam angeschlendert, um seine Arbeit zu verrichten. Die herausgeputzte, unfreundliche Check-In Dame wies auch ihn zurecht. Er erkannte Jorges missliche Lage, ließ sich nicht einschüchtern und erklärte, noch ausreichend Platz im Laderaum des Flugzeuges zu haben.

Zusammen mit Jorges Einwilligung, dass er die Haftung für den Transport übernahm, war die Situation geklärt und sein Board wurde schließlich verladen.

Anstatt sich wie sonst im altehrwürdigen ISN Schwimmbad auf die Badesaison vorzubereiten, ging Jorge nun lieber surfen. Die hohl brechenden Wellen von Carcavelos stellten ihn wieder vor das Problem, regelmäßig via Nose Dive im Waschgang zu landen. Die Amerikaner hatten ihm noch den Tipp gegeben, die Wellen schräg anzustarten. An diesem Angle Take Off arbeitete er jetzt wie besessen. Anders ging es wirklich nicht. Sandmonster nannte er die Wellen, die auf besonders flachem Untergrund brachen. Dabei ordentlich Sand mit hochsogen, um dann beige gefärbt und riesig wie die Dune du Pilat laut krachend auf die Sandbank donnerten. Gerade an großen Tagen musste er sich vor diesen Sandmonstern in Acht nehmen.

Eines Morgens, seine Haare waren noch feucht, lief er vom Frühsurf nach Hause und stoppte für einen obligatorischen Galão und ein Folhada in seinem Stammcafé. Die Sonne bekam langsam Kraft und immer mehr Menschen versammelten sich auf der Praça zum Frühstücksplausch. Noch bevor er seine Bestellung geliefert bekam, kam der alte Chico zu ihm rüber und berichtete aufgeregt: »Drüben in Estoril gibt es einen Jungen, der hat genauso ein Bötchen wie du!« Er zeigte auf das rote Longboard, das zu ihren Füßen lag. Jorge traf es wie ein Schlag. Mit offenstehendem Mund, zur Salzsäule erstarrt, lauschte er Chicos Worten. »Mein Cousin hat ihn beobachtet. Gestern Nachmittag in São Pedro, da ging er mit seinem Boot aufs Meer!«

Als Jorges Frühstück serviert wurde, saß er schon nicht mehr am Tisch. Den ganzen Vormittag verbrachte er in São Pedro do Estoril, um diesen vermeintlichen Surfer zu suchen. Da er ihn am Strand nicht antraf, lief er durch die Gassen und fragte die Leute nach dem Surfer. Es dauerte nicht lange und er bekam erste Hinweise. Ein gewisser Tó hätte so ein neuartiges Sportgerät, mit dem er zum Rudern aufs Meer ging. Dann erklärten sie ihm, wo der Junge wohnte. Hinten bei den Bahnschienen. Wild klopfte er an die Tür und rief. Doch die Tür blieb verschlossen. Das Nachbarfenster öffnete sich und eine ältere Dame schaute erbost, wer hier so einen Radau machte. Ja, hier wohnte Tó, bestätigte sie ihm. Nur leider war der nicht zu Hause.

Zur Mittagszeit setzte Jorge sich auf die Klippe von São Pedro und beobachtete die See. Die Wellen liefen hier viel sanfter und geordneter in die Bucht als seine Sandmonster von Carcavelos. Allerdings mussten unter Wasser einige Felsen liegen, was Jorge für zu gefährlich hielt. Sein Magen knurrte. Er beschloss, zurück nach Hause zu gehen. Kurz vor Parede holte ihn ein Kerl auf dem Fahrrad ein.

»Hey! Bist du der Surfer aus Carcavelos?« Sein Hunger war vergessen!

»Seit wann surfst du?«, fragte Jorge erstaunt. Sein Gegenüber hieß António und wurde kurz Tó genannt. Seine leuchtenden, kastanienbraunen Augen lenkten ein wenig von seinen vorstehenden Zähnen ab.

Sie mussten etwa gleichaltrig sein und wie sich herausstellte, war auch Tó als Rettungsschwimmer tätig. Letzten Sommer hatte er unten an der Algarve gearbeitet. Den Winter über nahm er einen Job als Fischer in Peniche an.

»Ich habe vor gut einem Monat zwei Ausländer in Peniche kennengelernt. Ich liebe das Meer und konnte es nicht fassen, als ich die beiden mit ihren Surfbrettern in den Wellen entdeckte.«

Seitdem er die Australier kennengelernt hatte, verbrachte er jede freie Minute mit ihnen am Strand. »In Peniche hast du jeden Tag gute Wellen!«, schwärmte er. »Je nach Wellengröße ist mal der Nordstrand und mal der Südstrand besser. Du kannst da jeden Tag aufs Wasser gehen. Ich schwöre!«

Den Australiern lief das Visum ab, deshalb mussten sie nach Lissabon zu ihrer Botschaft. Und da sie die Strände zwischen Peniche und Lissabon noch nicht kannten, fuhren sie die Küste runter. »Die haben mich in ihrem Camping Bus mitgenommen! Über eine Woche waren wir unterwegs und haben jeden Strand abgeklappert. In Ribamar, bei Mafra, haben wir die perfekte Surfbucht gefunden. Der Wahnsinn! Wir sind ein paar Tage dort stehen geblieben und wollen auf dem Rückweg auch wieder dorthin zurück.«

»Wo sind die Australier jetzt?«, fragte Jorge.

»Na, die sind nach Lissabon zu ihrer Botschaft. Kommen aber wieder zurück. Die haben mir sogar ein Surfboard hiergelassen!« Tós Augen leuchteten und dann fragte er: »Gehen wir raus?«

Die Begutachtung seines Sportgeräts beanspruchte eine weitere halbe Stunde.

»Wo ist dein Surfanzug?«, fragte Jorge.

»Ich habe keinen.«

Jorge schaute verdutzt. Hatten die Amis auf den Azoren doch alle Neoprenanzüge getragen. »Willst du mir ernsthaft sagen, dass du bei diesen Wassertemperaturen ohne Neo surfen gehst?«

»Den Australiern wurde in Marokko ein Surfanzug geklaut. In Peniche haben die ihren Anzug immer abwechselnd getragen. Das war mein Glück, denn wer ohne Neo surfen ging, war nach spätestens 15 bis 20 Minuten wieder am Strand und lief zum Aufwärmen die Düne rauf und runter. Solange konnte ich dann surfen gehen und nach 15 Minuten war wieder der andere dran.« Sie lachten. »Ein kräftiger Schluck Rotwein ist auch gut zum Aufwärmen«, grinste Tó.

Endlich tingelten sie zusammen rüber nach Carcavelos. Hungrig und erschöpft sank Jorge auf seiner Praça auf einen Café-Stuhl. Er musste unbedingt etwas essen, erntete aber böse Blicke, weil er am Morgen einfach verschwunden war. Nach kurzer Erklärung und Vorstellung seines neuen Kollegen durften sie schnell noch einen Prato do Dia, das typisch portugiesische Mittagsgericht, bestellen. Eigentlich war die Mittagszeit schon vorbei. Aber man kannte sich und deshalb durfte Jorge hier auch später bezahlen. Die darauffolgende Surf-Session endete im absoluten Desaster. Zumindest für Tó, der mit den Wellen von Carcavelos überhaupt nicht zurechtkam. Total frustriert saß er am Strand und war fassungslos.

»Bei Niedrigwasser sind die Bedingungen immer schwieriger«, erklärte Jorge.

Der frierende Tó hatte genug. »Morgen surfen wir in São Pedro!«, sagte er bestimmt.

Es war wie im Traum. Die Australier akzeptieren sofort neben Tó auch noch Jorge mitzunehmen. Mühsam quetschten sie Jorges Rucksack, Surfmaterial und Lebensmittel-Kiste in den eh schon total vollgestopften VW Bus. Eine Nacht schliefen sie noch in Guincho, weil die Australier unbedingt noch diesen Strand erkunden wollten. Die Wellen waren dort aber zu kräftig und so war den Australiern schnell klar, in Ribamar mehr Spaß beim Surfen zu bekommen. Vormittagssurf, Essen kochen, Zelt abbauen: Bis alles wieder im Bulli verstaut war, war es bereits Nachmittag und sie verpassten ihren heiß ersehnten Sunset Surf in Ribeira d’Ilhas.

»Cheers Mates!« Ihre Emaille-Becher klapperten dumpf beim Anstoßen, während sich die Runde breit grinsend in die Augen schaute. Tó hatte noch einen Garafão, eine fünf Liter Karaffe Rotwein besorgt. »Der ist hausgemacht. Von meinem Onkel aus dem Alentejo.«

Tom und Jake, so hießen die beiden Australier, waren lustige Zeitgenossen. Sie waren nicht sehr groß, aber kompakt und sehr athletisch gebaut. Das schulterlange Haar und ihre Zottelbärtchen ließen sie aussehen wie zwei drollige Kobolde, die ständig Schabernack im Sinn hatten. Besonders Jake, der dazu auch noch einen Schäferhut aus Filz trug.

Da saßen sie nun zu viert am Lagerfeuer, in der Bucht von Ribeira d’Ilhas. Vor ihnen grollte das Meer. Über ihnen funkelten die Sterne und die ersten Glühwürmchen des Jahres tanzten um sie herum. Leider hatten sie es nicht mehr geschafft, im Hellen anzukommen. Aber auch im Mondschein konnten sie schemenhaft die Wellen einrollen sehen. Die Australier verwiesen auf das donnernde Geräusch, und warnten, dass die See kräftig sein musste. Schier endlos schienen die Wellen zu laufen. Jorge hatte so etwas noch nie gesehen und konnte kaum den kommenden Morgen erwarten.

Tó schenkte eine weitere Runde Rotwein ein. »Morgen früh müssen wir dir unbedingt noch eine Fangleine an dein Surfboard machen«, meinte Tom zu Jorge. »Verlierst du hier dein Board, landet es ziemlich sicher in den Felsen!« Tó übersetzte nochmal für Jorge. Der immerhin verstand, dass es um eine Fangleine ging.

Jorge wurde als Erster wach. Genau genommen hatte er vor lauter Aufregung gefühlt die ganze Nacht nicht geschlafen. Er kroch aus dem Zelt und lief schnurstracks zum Meer. Vom Offshore glattgebügelt, lag es ruhig vor ihm. Weiter nördlich rollten ein paar schöne Rechte ein. Die morgendliche Kälte zog seinen Rücken hinauf und er spürte Harndrang. Dann passierte, was er gestern schon in der Dunkelheit schemenhaft gesehen und mehr als deutlich gehört hatte: Draußen auf dem Meer stellte sich ein