Die Autorin
© privat
Emily Suvada wurde in Australien geboren, wo sie einen Abschluss in Mathematik gemacht hat. Wenn sie nicht gerade Algorithmen entwickelt oder sich dem Schreiben widmet, findet man sie beim Wandern, Fahrradfahren oder bei chemischen Experimenten in ihrer Küche. Im Moment lebt sie zusammen mit ihrem Ehemann in Portland, Oregon.
Mehr über Emily Suvada: emilysuvada.com
Das Buch
Wenn du das liest, dann habe ich gewonnen.
Ein neues Zeitalters steht bevor
genau wie die Neuprogrammierung der Menschheit.
Du kannst es nicht aufhalten.
Die Welt wird nie wieder dieselbe sein.
Suvada, Emily:
Cat & Cole – Ein grausames Spiel
ISBN 978 3 522 65399 2
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Vanessa Lamatsch
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Konvertierung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel This Cruel Design bei Simon Pulse, New York.
Text copyright © 2018 by Emily Suvada
Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, U.S.A. through.
© der deutschen Erstausgabe 2019 Planet!
in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart
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Viel Spaß beim Lesen!
Für Lora Beth Johnson – du bist mein Liebling.
Es ist Mitternacht, aber das letzte Licht des Sonnenuntergangs wird gerade erst von der Dunkelheit verschlungen, der Tag verlängert durch die nördlichen Breiten, in denen wir uns aufhalten, und die Neigung der Erdachse. Millionen Wandertauben fliegen über mich hinweg. Ihr Federkleid leuchtet schwach, wie ein Schwarm Glühwürmchen. Sie schießen zwischen den Bäumen hindurch, ihre Bewegungen schnell und geschickt, eine Konstellation aus winzigen Lichtern vor dem sich verdunkelnden Himmel. Das Echo ihrer Rufe hallt von den steilen Bergen zurück und erfüllt die Nacht mit einem Hurrikan aus Geräuschen.
Die Tiere dieses Schwarms sind ganz anders als die, an die ich mich aus der Hütte erinnere. Sie bilden eine neue Unterart, mit ihren eigenen Mutationen und Besonderheiten. Ihre Rufe sind schrill, unterlegt von einem komplexen Klicken und Sirren. Die Tiere werden mit jeder Generation klüger.
Es ist fast, als würden sie das Sprechen lernen.
»Lockerer. Augen auf mich«, sagt Leoben, der in einem engen Kreis um mich herumschleicht.
Ich verlagere mein Gewicht auf die Zehenballen und reiße meinen Blick von den Tauben los. Meine Fäuste sind erhoben, mein Haar hängt wirr um meine Schulter. Wir halten uns tief im Wald auf, und das Gras um uns herum ist schlammig und zertrampelt. Ich schmecke Blut im Mund, meine Haut ist dreckig und fast jeder Zentimeter meines Körpers tut weh.
»Bleib wachsam, Sepia.«
Ich zucke leicht zusammen. »Hast du mich gerade Sepia genannt?«
Ein leises Lächeln umspielt Leobens Lippen, und mein Magen verkrampft sich. Er wird sich wieder auf mich stürzen – das erkenne ich an seinen Augen. Er ist unbewaffnet – und ich weiß, dass er mich nie wirklich verletzen würde –, aber er ist trotzdem ein Blackout-Agent. Eine voller Sorgfalt geschaffene Cartaxus-Waffe, seit seinen Kindheitstagen darauf trainiert zu kämpfen. Jede seiner Bewegungen ist präzise und tödlich. Unter der tätowierten Haut seiner Arme bewegen sich sehnige Muskeln. Leoben legt den Kopf schräg, beginnt zu grinsen, dann stößt er sich ab und wirft sich so schnell nach vorne, dass ich ihn nur noch verschwommen sehe.
Mir bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Ich werfe mich zur Seite, um der Faust auszuweichen, die auf meine Rippen zielt, doch seine andere Hand schießt direkt auf meine Kehle zu. Ich reiße ein Knie hoch, ramme ihm einen Ellbogen gegen das Kinn, doch bevor ich zum nächsten Schlag ausholen kann, hat er bereits einen Fuß hinter mein Bein gestellt.
Mehr braucht er nicht. Nur einen einfachen Hebel, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Obwohl ich weiß, dass ich gleich stürzen werde, kann ich nicht anders, als Leobens Eleganz zu bewundern. Seine Finger bleiben um meine Kehle geschlossen, führen mich nach unten, als ich nach hinten kippe und so fest auf den Boden knalle, dass es mir den Atem raubt.
Leoben tritt zurück und reibt sich das Kinn, während ich mich keuchend auf die Seite rolle.
»Gut«, sagt er mit einem Nicken.
Ich stemme mich auf die Knie, immer noch keuchend. »Gut? Ich habe dich kaum berührt.«
Er streckt die Hand aus, um mir auf die Beine zu helfen. »Du wirst besser, aber du musst aggressiver vorgehen. Du musst auch einmal angreifen.«
Leise schwankend stehe ich da und versuche, gegen die silbernen Punkte an den Rändern meines Sichtfeldes anzublinzeln. Wir machen das jetzt schon seit Tagen, und nach jeder Übungsstunde komme ich mir vor, als hätte mich ein Auto gerammt. Aber er hat recht – ich werde besser. Meine Reaktionszeit reduziert sich, meine Sinne werden schärfer und ich spüre neu gebildete, sehnige Muskeln in meinen Schultern und Unterarmen. Ich habe mich noch nie so machtlos gefühlt wie im Kampf gegen Leoben, aber dieses Training ist gerade das Einzige in meinem Leben, das mir noch ein wenig Kontrolle gibt.
»Geht es dir gut?«, fragt Leoben und mustert mich genauer. »Du siehst nicht so aus.«
Ich reibe mir die Augen. »Ja, ja. Alles okay.«
Er schüttelt den Kopf. »Du bist eine wirklich schlechte Lügnerin. Komm. Cole sollte bald vom Beobachtungsposten zurück sein. Wir sollten für heute aufhören, sonst tritt er mich in den Hintern, weil ich dich so zugerichtet habe.«
»Ich habe sein Schutzprotokoll deaktiviert.«
»Ich weiß«, antwortet Leoben. »Aber er wird mich trotzdem in den Hintern treten.«
Leoben schlingt einen Arm um meine Schulter und führt mich zu unserem improvisierten Camp zurück. Unsere zwei Jeeps sind auf einer schlammigen Lichtung geparkt. Wir haben eine Tarnplane zwischen ihnen aufgespannt. Die Bäume um uns herum sind hoch, mit dichtem Blätterdach und Moos an den Stämmen, die von Farnen umwuchert werden. Wir sind seit einer Woche hier, versteckt tief im Wald, ungefähr eine Stunde vom Zarathustra-Labor entfernt. In der ersten Nacht, nachdem ich die Genkits in die Luft gejagt habe, sind wir auf dem Parkplatz geblieben, doch dann ist eine Truppe von Cartaxus-Soldaten gekommen und hat uns in den Wald vertrieben. Keiner von uns wollte in der Nähe des Gefängnisses bleiben, in dem wir unsere Kindheit verbracht haben, aber wir waren zu schwer verletzt, um uns auf den Weg zu machen. Und außerdem wussten wir sowieso nicht, wo wir hinsollten.
Also sind wir hiergeblieben, um uns auszuruhen und zu heilen. Wir essen gefriergetrocknete Rationen und schlafen in unseren Jeeps. Die Soldaten sind immer noch am Labor, und wahrscheinlich ist es nicht clever, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Aber die Schwarze-Kuppel-Chips der Jeeps verbergen unseren Aufenthaltsort. Außerdem ist der Taubenschwarm jeden Tag größer geworden. Ihre Schreie erfüllen die Luft, und ihre glühenden Federn bieten uns mehr als genug Deckung vor mit Kameras ausgestatteten Drohnen.
Leoben öffnet die Heckklappe seines Jeeps und zieht zwei Metallflaschen heraus. »Ich meine es ernst. Du musst dich ausruhen. Du siehst wirklich nicht gut aus, Sepia.«
»Du kannst mich nicht Sepia nennen«, erkläre ich.
Er wirft mir eine der Flaschen zu. »Bei dir gibt es so viele Regeln. Ich darf dich nicht Sepia nennen, ich darf dich nicht Kartoffel nennen. Du bist meine Schwester und du bekommst einen Spitznamen.«
»Cole hat auch keinen Spitznamen.«
Leoben verdreht die Augen. »Weil sein Name Cole ist.«
Ich öffne die Flasche und nehme einen ordentlichen Schluck Wasser, um mir das Blut aus dem Mund zu spülen. Dann spucke ich es aufs Gras. »Und wie kommst du auf Sepia?«
»Kopffüßer können ihre DNA verändern, ein wenig wie du. Ich habe davon gelesen.«
»Wow.« Als ich den Kopf in den Nacken lege, nehme ich noch einen Schluck, um gegen den Schwindel anzukämpfen. »Ich weiß nicht, ob ich mich beleidigt fühlen oder beeindruckt sein soll.«
Er verschränkt stolz die Arme und grinst. »Definitiv beeindruckt.«
Ich schnaube, dann hebe ich die Flasche, um mir Wasser ins Gesicht zu gießen. Leoben und ich haben den Großteil der Woche miteinander verbracht, während Cole sich von seinen Verletzungen erholt hat. Lee hat mir das Haar geflochten, solange die Schusswunde in meiner Schulter verheilte, und ich habe ihn aus seinen Albträumen geweckt. Doch auch nach einer Woche, in der wir als Bruder und Schwester gelebt haben, kann er mich immer noch nicht Cat nennen.
Ehrlich, das macht mir nicht viel aus, auch wenn ich mit dem Spitznamen Sepia nicht allzu glücklich bin. Jeder von uns dreien geht auf seine eigene Weise mit meiner Identität um. Cole ist still, Leoben reißt Witze und ich tue, was ich immer tue – ich errichte sorgfältig Schutzmauern aus Ablenkung und Verleugnung.
So habe ich den Ausbruch durchgestanden – ich habe meine Tage damit verbracht, Cartaxus zu hacken. Habe Novaks Rebellenvereinigung Skies dabei geholfen, medizinischen Code an die Überlebenden an der Oberfläche zu verteilen. Je härter ich gearbeitet und je länger ich mich im Keller der Hütte im Labor eingeschlossen habe, desto weniger hat es wehgetan, wenn ich in der Ferne gehört habe, wie Leute explodierten. Oder wenn ich Fleischdosen schlucken musste, um meine Immunität zu wahren.
Diese Woche gab es jede Menge Möglichkeiten, mich beschäftigt zu halten. Coles Tek brauchte ständige Aufmerksamkeit, während es sich regeneriert hat. Ich habe mit Leoben trainiert und die Papierakten durchgelesen, die Cole und ich aus der Hütte mitgenommen haben – ich habe kaum geschlafen, kaum gegessen, mir mehr oder minder das Denken verboten. Ich stehe wahrscheinlich kurz vor dem Zusammenbruch, aber bis jetzt funktioniert es. Ich habe es geschafft, nicht an das zu denken, was mich am meisten verletzt.
Ich habe kaum an das grünäugige kleine Mädchen mit den Narben auf der Brust gedacht.
Jun Bei.
Sie ist ein Schatten am Rande meines Bewusstseins, ein ungelöstes Puzzle. Die ganze Woche habe ich darauf gewartet, dass mehr meiner Kindheitserinnerungen zurückkehren, aber sie sind immer noch verschwommen und fetzenhaft. Ich weiß nicht, ob das alles ist, woran ich mich je erinnern werde, oder ob ich mich davor fürchte, mehr zu sehen. Es fühlt sich an, als wäre meine Kindheit ein schwarzes Loch, um das ich kreise – ich kann nicht vor ihm davonlaufen, aber wenn ich ihm zu nahe komme, wird es mich verschlingen. Es könnte sein, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringen werde, mich von dem zu erholen, was mir angetan wurde.
Doch im Moment muss ich konzentriert bleiben. Es gibt zu viel zu tun.
Soweit wir es sagen können, gab es seit Sunnyvale keine Angriffe mehr. Keine orangeglühenden Panel, keine weiteren Menschenmassen, die sich durch den toxischen Code, der an den Hydra-Impfstoff angehängt wurde, in geistlose Killer verwandelt haben. Cartaxus hat die Vorfälle vertuscht – sie senden immer noch täglich Übertragungen über das vereinte Satelliten-Netzwerk, das sie mit Skies aufgebaut haben. Jeden Morgen erscheinen Dax und Novak auf den Displays der Jeeps, reden über den Erfolg des Impfstoffes und versprechen, dass wir uns Schritt für Schritt einer neuen, vereinigten Welt annähern. Alle feiern immer noch das Ende der Seuche – es gibt Partys in den Bunkern und in jedem Überlebenden-Lager an der Oberfläche.
All diese Leute wissen nicht, dass sich eine Bedrohung in ihren Panels versteckt und dass der wahre Feind immer noch dort draußen ist.
Dr. Lachlan Agatta. Der weltbeste Gentech-Programmierer und der Mann, den ich einst Vater genannt habe.
Drei Jahre habe ich ihn geliebt; habe verzweifelt darauf gewartet, dass er nach Hause zurückkehrt, nachdem Cartaxus ihn aus unserem Zuhause entführt hat. Ich trage immer noch seine Gesichtszüge und seine DNA in meinen Zellen. Nach dem, was er mir erzählt hat, als ich mich ihm im Labor gestellt habe, sind die Muster seiner Gedanken tatsächlich in mein Hirn eingegraben.
Ich weiß noch nicht wirklich, was das bedeutet oder warum er sich dazu entschlossen hat, aber ich weiß, dass Lachlans Plan nicht damit endete, mich zu verändern. Der im Hintergrund laufende Code, den er an den Impfstoff angehängt hat, ermöglicht ihm Zugang zu jedem Panel auf dem Planeten, und sein Ziel ist viel schlimmer, als Massen von Leuten in Monster zu verwandeln.
Lachlans Experimente an Cole haben die Verbindung zwischen Genen und Instinkten zutage gefördert und es Lachlan ermöglicht, das Gen zu isolieren, das den Grimm auslöst – die instinktive Wut, die in uns allen lauert und in unsere DNA eingeschrieben ist. Der leiseste Hauch des scharfen Geruchs, den Infizierte ausstoßen, kann ausreichen, um ihn auszulösen und damit alle Anwesenden in eine Menge aus geistlosen, blutrünstigen Killern zu verwandeln. Lachlan glaubt, er kann den Impfstoff einsetzen, um die Menschheit zu verbessern. Er will dauerhaft alle Gehirne neu programmieren, indem er den Grimm gewaltsam aus unserer DNA tilgt.
Aber wir werden das nicht zulassen. Ich weiß besser als jeder andere Mensch, was für Gefühle es mit sich bringt, wenn man erfährt, dass einem der eigene Geist eigentlich nicht gehört. Und seitdem ich die Wahrheit herausgefunden habe, versuche ich, mehr herauszufinden … schmiede Pläne und lerne zu kämpfen.
Weil wir Lachlan aufspüren werden, sobald wir bereit sind.
Und dann werden wir ihn umbringen.
Ich schraube den Deckel wieder auf die Flasche und werfe sie auf die Ladefläche des Jeeps. Ein kurzes Stück von unserem Lager entfernt gibt es einen kleinen Fluss. Ich sollte mir den Schlamm abwaschen, bevor ich schlafen gehe. Nicht dass ich saubere Kleidung hätte, die ich anziehen könnte. Wir haben fast keine Seife, kein Essen und kein Heiltek mehr. Wir werden bald aufbrechen müssen, aber wir wissen immer noch nicht, wo Lachlan ist. Der beste Hinweis bisher ist die Komm-Link-Botschaft, die Agnes mir nach der Entschlüsselung des Impfstoffs geschickt hat – in der sie mir erklärt, dass sie Lachlan nach Nevada verfolgt hat. Seitdem habe ich jeden Tag probiert, Agnes zu erreichen, in der Hoffnung, ihre Stimme zu hören oder einfach nur herauszufinden, ob es ihr gut geht. Aber ich bin nicht durchgekommen.
Doch ich weiß, dass wir Lachlan finden werden. Er hat mir erklärt, dass er mich braucht, um seinen Plan zu vollenden. Er kann den Impfstoff verwenden, um Instinkte zu unterdrücken oder auszulösen – wie er es mit der Menge in Sunnyvale getan hat –, aber er kann die Gene immer noch nicht dauerhaft verändern. Ich bin die einzige Person, deren natürliche DNA umcodiert werden kann, ohne daran zu sterben. Und jetzt will er mich benutzen, um auch alle anderen umzucodieren – um ihr Bewusstsein zu verändern, wie er es mit meinem getan hat. Ihn zu verfolgen ist gefährlich, aber solange er noch lebt, werde ich nur ein weiterer Bauer auf seinem Schachbrett sein.
Ich habe keine andere Wahl, als mich ihm zu stellen. Und ich weiß, dass er mir einen Weg liefern wird, ihn zu finden. Er will, dass ich zu ihm komme. Er glaubt, ich würde mich ihm tatsächlich anschließen, obwohl schon der Gedanke lächerlich ist.
Wir müssen einfach nur sicherstellen, dass wir nicht in die nächste Falle tappen, wenn wir ihn jagen.
»Wie geht es deinem Tek heute?«, fragt Leoben, als er sich sein dreckiges Tanktop auszieht. Die braune vernarbte Haut auf seiner Brust glänzt im sanften Licht des Taubenschwarms.
Ich starre auf meinen schmutzigen Arm herab. Der Backup-Knoten in meiner Wirbelsäule hat das Wachstum eines ganz neuen Panels angeregt – ein leuchtender Streifen kobaltblauen Lichts, der sich von meinem Ellbogen bis zu meinem Handgelenk zieht. Ich habe die letzten drei Jahre geglaubt, ich hätte Hypergenese – eine Allergie gegen die Nanobots, auf denen der Großteil allen Gentech-Codes beruht. Ich habe den Ausbruch mit sechs jämmerlichen Apps überlebt, doch jetzt besitze ich Tausende: Reflexverstärker, eingebaute Schmerzmittel, sogar eine Augenbrauen-Verwaltung. Eigentlich sollte ich fähig sein, ohne Bildschirm oder Keyboard zu programmieren, und mein VR-Chip ist stark genug, um mich in umfassende virtuelle Welten zu katapultieren.
Doch ich schaffe es immer noch nicht, irgendwas davon zum Funktionieren zu bringen.
Die automatisierten Apps meines Panels laufen – mein Heiltek, die sensorischen Filter, selbst ein standardmäßiger ästhetischer Anzug –, aber das Panel hört nicht auf mich. In meinem Schädel gibt es ein Netz aus vier Millionen Nanoelektroden, um die elektrischen Impulse aufzufangen, die durch mein Hirn schießen. Also sollte ich fähig sein, einfach an mein Komm-Link zu denken, damit sich die Befehlsoberfläche vor meinen Augen zeigt. Doch mein Panel scheint die Muster meiner Gedanken immer noch nicht gelernt zu haben. Es kann nicht erkennen, ob ich Komm-Link oder Nachtsicht denke. Es hat schneller gelernt, als ich verletzt war. Doch jetzt, wo ich wieder geheilt bin, hat sich die Installationsgeschwindigkeit unendlich verlangsamt. Wenn es so weitergeht, könnte es Wochen dauern, bis ich die permanente Kontrolle über mein Tek habe …
Außer ich finde einen Weg, die Installation wieder zu beschleunigen.
»Es funktioniert immer noch nicht richtig«, sage ich, bevor ich mich erneut über die Ladefläche des Jeeps lehne und unter dem Kleidungshaufen herumgrabe.
»Ich habe darüber nachgedacht, dein Heiltek zu löschen«, meint Leoben. »Wenn wir deinem Panel einen Schock verpassen, beschleunigt es vielleicht wieder.«
»Ich hatte einen ähnlichen Gedanken«, sage ich, als ich eine schwarze Pistole hervorziehe, »aber mein Plan geht die Sache etwas direkter an.«
Leobens Blick senkt sich auf die Waffe, dann werden seine Augen schmal. Sie ist ein Cartaxus-Modell – mit festinstalliertem Schalldämpfer und einem gehackten Zielchip im Griff. Sie ist mit maßgeschneiderter Munition geladen – hohle Harzpatronen, die mit kleinen Kugeln aus Heiltek gefüllt sind, die oberflächliche Wunden verursachen.
Zumindest sollten die Wunden oberflächlich sein, wenn meine Kalkulationen korrekt sind. Bisher habe ich meine Theorie noch nicht getestet.
Leoben starrt mich nur an. »Meinst du das ernst?«
»Es ist absolut sicher.«
Er schnaubt und schüttelt den Kopf. »Für mich klingt das nach berühmten letzten Worten.«
Er nimmt die Pistole, dreht sie in den Händen und sieht leer nach vorne. Sein Tek zeigt ihm gerade die Daten des Targeting-Chips. Schussgeschwindigkeit, Rückschlag, Aufprall-Simulationen, all das wird auf dem virtuellen Interface vor seinen Augen dargestellt. Ich könnte es auch sehen, wenn mein Panel funktionieren würde. Doch als ich versuche, mich auf die Waffe zu konzentrieren, erkenne ich nur statisches Rauschen. Meine Tek benimmt sich schon die ganze Woche so – störanfällig und seltsam, sodass auch meine Sicht behindert ist. Ich muss dafür sorgen, dass mein Panel bald voll funktioniert. Wir haben hier abgewartet, bis Coles Verletzungen heilen, aber jetzt geht es ihm besser und ich bin diejenige, auf die wir warten. Es hat keinen Sinn, Lachlans Spur aufzunehmen, bevor mein Panel nicht richtig funktioniert und ich nicht fähig bin zu programmieren.
Leoben kontrolliert das Magazin der Pistole. »Wie lautet der Plan?«
»Oberschenkel«, sage ich und hebe mein Bein auf die Stoßstange des Jeeps. »Aus geringer Entfernung, weil der Schuss so besser zu setzen ist.« Ich ziehe meine schwarzen Leggins nach oben und deute auf das scharlachrote Zielkreuz, das ich mir auf die Haut gemalt habe. »Ich habe die Stelle bereits markiert – keine Arterien, keine Knochen. Nur Muskelfasern und eine Heilzeit von mindestens fünf Tagen. Das sollte reichen, die Installation meiner Tek wieder in den Notfallmodus zu kicken.«
Leoben schlägt sich mit dem Knauf der Waffe in die Handfläche. »Das erscheint mir ziemlich riskant, selbst für deine Verhältnisse.«
»Hast du eine bessere Idee?«
Er legt nachdenklich den Kopf schief. »Tatsächlich schon. Ich könnte dir in die Hand schießen.«
»Was?« Ich trete zurück und drücke mir instinktiv die Hand an die Brust.
»Das ist sicherer«, meint er. »Wenn die Kugel in deinem Bein zerspringt, könnten die Splitter eine Arterie verletzen. Bei deiner Hand besteht dieses Risiko nicht. Diese Knochen heilen schnell, und dein Tek wird eine solche Blutung schon nach Sekunden stoppen. Komm schon, streck die Hand aus.«
Ich starre auf meine zur Faust geballten Finger und zögere. Die ganze Sache erschien mir sehr viel weniger leichtsinnig, als ich noch vorhatte, mich ins Bein schießen zu lassen. Eine Verletzung an der Hand sollte die Installation meines Panels ebenfalls beschleunigen, aber es klingt beängstigender und definitiv schmerzhafter. Leoben könnte jedoch jeden Moment seine Meinung ändern, und ich will das nicht selbst machen müssen.
»Okay«, sage ich und hebe den linken Arm. Das Licht meines Panels gleitet über die Linien auf meiner Handfläche, als ich die Finger öffne. »Zähl fünf Sekunden herunter …«
Leoben drückt den Abzug.
Der Schuss mit dem Schalldämpfer klingt, als würde Glas zerspringen, und scheucht die Tauben in den Bäumen über uns auf. Sie erheben sich in panischen Spiralen aus Licht, ihre Schreie laut wie ein Hagelsturm. Ich klappe zusammen und presse die Hand an die Brust. Der Schmerz hat mein Hirn noch nicht erreicht, doch ich kann ihn kommen fühlen. Scharlachrote Notfall-Nachrichten scrollen wie wild durch mein Sichtfeld. Blutdruckmessungen, Verletzungsüberwachung, Kalorien-Level. Mein Tek schaltet sich ein, schickt Adrenalin in meine Muskeln, lässt meine Sicht flackern. Ich atme durch die zusammengebissenen Zähne ein, dann sehe ich auf meine Hand, um den Schaden abzuschätzen.
Doch da ist keine Wunde.
Leoben wirft lachend den Kopf in den Nacken. »Du hättest dein Gesicht sehen sollen!«
Ich sehe zitternd auf. »Was zur Hölle, Lee?«
»Auf keinen Fall hätte ich auf dich geschossen, Sepia.«
Ich werfe mich nach vorne, um ihn in den Arm zu boxen, doch in der Ferne erklingt ein Knall, der dafür sorgt, dass mir der Atem stockt.
Leoben reagiert nicht, doch ich stehe wie erstarrt, um auf das Echo des Geräusches zu lauschen. Jemand anderes hätte es vielleicht mit einem Schuss verwechselt, aber ich habe diesen Laut so oft gehört, dass er in mein Gedächtnis eingebrannt ist.
Das Geräusch war ein gutes Stück entfernt und gedämpft, hat sich mit den Rufen der Tauben vermischt, doch es klang sehr nach einer Hydra-Wolke.
»Was ist los?«, fragt Leoben.
»Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Du nicht?«
»Diese Vögel überlasten meine Audio-Filter. Was hast du gehört?«
»Eine Explosion.«
Leobens Lächeln verblasst. Sein Blick verschwimmt, als er die Bäume mustert. Dann ertönt in der Ferne ein weiterer Knall.
»Das habe ich gehört«, haucht er. Ich drehe mich um und renne zwischen die Bäume.
Mein Sichtfeld blinkt, als ich durch den Wald und auf einen schlammigen Hügel laufe. Mein Tek ruft automatisch die Notfall-Filter auf, in dem Versuch, den Pfad vor mir zu erhellen. Leoben folgt mir und holt mich ein, als ich auf einer Serpentine umdrehe. Gemeinsam erreichen wir die Spitze des Hügels und damit unseren Aussichtspunkt. Ich bin diesen Weg schon ein Dutzend Mal auf der Suche nach Cartaxus-Helikoptern hinaufgestiegen, weil ich gefürchtet habe, sie könnten uns finden. Aber ich habe nie Ausschau nach einem Berster gehalten.
Der Impfstoff ist verteilt. Das Virus ist tot.
Niemand sollte mehr explodieren.
Gemeinsam brechen wir durch die Bäume auf dem Hügel und stolpern auf die Klippe. Die letzten Sonnstrahlen verschwinden gerade hinter dem Horizont. Von hier aus kann ich die Raubtierzahn-Silhouette der drei Bergspitzen in der Ferne sehen, die unendlichen Fichtenwälder im Süden. Ich schiebe mir die Haare aus dem Gesicht, auf der Suche nach einer Wolke. Der Taubenschwarm bildet eine wirbelnde, sich windende Masse aus Licht über den Bäumen. Einen Explosionspilz kann ich allerdings nicht entdecken.
Mein Sichtfeld flackert. Ich reibe mir die Augen, gebe meinem Tek den mentalen Befehl, wieder auf Stand-by zu schalten, doch es reagiert nicht. Mein Panel hört nur auf meinen Adrenalinlevel, nicht auf meine Gedanken. Es denkt, ich wäre immer noch in Gefahr.
Und vielleicht stimmt das sogar.
Wenn diese Explosionen Berster waren, dann haben die Opfer den Impfstoff wahrscheinlich erhalten. Ich habe Cartaxus den Code geliefert, um ihn in jedes Panel auf dem Planeten zu zwingen. Es gibt nur wenige Überlebende auf der Oberfläche, die kein Panel im Arm tragen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass zwei davon in der Nähe unseres Camps explodieren, ist ziemlich gering. Wenn diese Explosionen Berster waren, würde das bedeuteten, dass der Impfstoff nicht mehr wirkt.
Aber über diese Möglichkeit will ich nicht einmal nachdenken.
»Ich kann nichts sehen«, sage ich und reibe mir erneut die Augen. »Ich weiß nicht, ob es an meinem Tek liegt oder nicht. Es reagiert immer noch nicht auf meine Befehle.«
Leoben tritt an die Abbruchkante, lässt seinen Blick über den Horizont gleiten. Er sucht nach Wärmesignaturen, unnatürlichen Luftbewegungen. Wenn es eine Wolke gibt, wird sein Tek sie finden. »Nichts«, sagt er. »Aber das war eine Detonation. Klang aber kleiner als ein Berster. Vielleicht eine Bombe.«
»Wieso sollten davon gerade jetzt zwei explodieren?«
Gleichzeitig wenden wir uns einander zu.
»Scheiße«, hauche ich. »Cole.«
Leoben wirbelt so schnell herum, dass seine Bewegungen verschwimmen, dann rennt er wieder zwischen die Bäume und den Weg nach unten. Ich eile hinter ihm her. Mein Herz rast, und erneut leuchten Adrenalin-Warnungen vor meinen Augen auf. Die Geräusche haben mir nicht verraten, woher diese Explosionen kamen – sie können in einem nahe gelegenen Lager stattgefunden haben oder auch im Labor. Cole könnte verletzt sein. Der Gedanke erfüllt mich mit Schmerz, so echt und qualvoll wie eine Wunde.
Ich will mein Komm-Link aufrufen, um Cole zu kontaktieren, doch ich höre nur ein Rauschen. »Kannst du ihn erreichen?«, rufe ich Leoben zu.
»Er ist dunkel!«, ruft er zurück, als er ins Lager rennt. »Du fährst zum Treffpunkt!« Er reißt die Plane von seinem Jeep und knallt die Heckklappe zu. »Ich laufe den Weg entlang, falls er dort ist.«
»Nein«, keuche ich, als ich das letzte Stück des Hügels nach unten schlittere. »Ich werde laufen. Mein Panel spinnt immer noch. Ich kann den Jeep nicht kontrollieren. Fahr du.«
Leoben runzelt die Stirn, dann nickt er und klettert auf den Fahrersitz. »Er ist schon okay, Sepia. Pass auf dich auf.«
»Du auch«, sage ich. Er lenkt den Jeep über die Lichtung und über die schlammige Piste, die zu der Straße zum Labor führt. Dort ist unser ausgemachter Treffpunkt.
Cole hat die Explosionen sicherlich gehört und wird dort auf uns warten. So muss es sein.
Ich renne über die verknüllte Plane in Richtung einer Lücke zwischen den Bäumen, die den Anfang des Weges zu unserem Ausguck markiert. Leoben und Cole haben sich täglich darin abgewechselt, das Labor im Auge zu behalten, für den Fall, dass Lachlan auftaucht. Nach der Lichtung fällt der Weg ab und zieht sich im Zickzack einen felsigen, baumbewachsenen Abhang hinunter. Ich schneide die Kurven, rase durch die Bäume, dann entdecke ich eine Gestalt am Fuß des Hügels.
Eine Person, die auf dem Boden kniet. Dunkles Haar, schwarze Jacke.
»Cole!«, schreie ich und renne auf ihn zu. Ich hätte ein Medikit mitnehmen sollen. »Cole, geht es dir gut?«
Ich stoppe schlitternd, als die Gestalt aufsteht und sich mir zuwendet.
Es ist nicht Cole. Es ist Jun Bei.
Alle Geräusche im Wald verstummen, die Zeit scheint stillzustehen. Jun Bei sieht mich direkt an, und plötzlich kann ich nicht atmen. Sie ist es. Grüne Augen, schwarzes Haar, ihre schmalen Schultern hochgezogen unter der dunklen Männerjacke, die ihr bis auf die Mitte der Oberschenkel fällt. Sie tritt einen Schritt näher heran, und ich stolpere rückwärts, durchbohrt von ihrem stechenden Blick. Er ist so scharf wie die glänzende Schneide einer Rasierklinge. Sie sieht an mir vorbei, runzelt die Stirn, als sie die Bäume mustert …
Und auf einmal ist sie verschwunden.
Die Stelle auf der Lichtung, wo sie gestanden hat, ist leer. Ich drehe mich im Kreis, doch ich kann keinen Hinweis auf sie entdecken. Keine anderen Fußspuren im Gras, keine Fährten im Schlamm. Nichts außer Bäumen, Gras und moosbewachsene Felsen, die in der regennassen Dunkelheit des Waldes verschwimmen.
»Heilige Scheiße«, keuche ich, beuge mich vor und stemme die Hände auf die Knie. Ich fühle mich schlimmer als nach einem harten Aufprall in einer meiner Trainingsstunden mit Leoben. Das muss ein VR-Fehler gewesen sein. Mein Sichttek war die ganze Woche instabil, aber das hier war anders. Das war nicht einfach nur eine Fehlfunktion im Nachtsicht-Code oder eine Störung im Filter. Es war eine dreidimensionale Person, die direkt vor mir stand. Jedes Detail war perfekt. Ihr Haar hing lose um ihre Schultern, ihre Haut fahl, eine leichte Röte auf den Wangen.
Sie sah so real aus.
Ich presse meine Handballen auf die Augen, bis bunte Flecken in meinem Sichtfeld tanzen. Fragmentierte Erinnerungen drängen in meinen Kopf – das Labor, der Wald, die anderen Kinder. Kabel und Skalpelle, Fesseln und kratzige, graue Decken. Ich dränge die Erinnerungen zurück, bohre mir die Fingernägel meiner linken Hand in die Handfläche. Mir ist egal, dass das ein Trick ist, den Lachlan mir beigebracht hat – ich interessiere mich nur für den Schmerz, der den Sturm in mir durchschneidet, mir wieder Selbstkontrolle ermöglicht. Hinter mir erklingen Schritte. Ich wirbele herum und greife nach meiner Waffe, als eine Gestalt sich durch die Äste schiebt.
Schwarze Jacke, ein Rucksack mit einem seitlich befestigten Gewehr. Leuchtende eisblaue Augen fangen meinen Blick auf, und Erleichterung verdrängt das Adrenalin.
»Cole«, keuche ich und laufe zu ihm. Er öffnet die Arme und runzelt verwirrt die Stirn, als ich mich auf ihn werfe, um mich an ihm festzuklammern.
»Hey«, murmelt er, als er unter meinem Gewicht leicht schwankt. »Geht es dir gut?«
Ich nicke nur, schlinge die Arme fester um seinen Hals. Er hat den Tag damit verbracht, im Wald Wache zu halten, daher riecht er nach Erde und Regen. Doch der sanfte Hauch seines ganz eigenen Duftes ist für mich wie ein Leuchtturm im Sturm. Mein Zuhause. Wir haben uns seit Tagen kaum unterhalten, geschweige denn berührt. Ich habe die meisten Nächte in Leobens Jeep geschlafen, um Coles Heilung nicht zu stören. Doch jetzt fühlt es sich an, als wäre das ein Fehler gewesen. Allein ihn im Arm zu halten, beruhigt meine rasenden Gedanken.
Er löst sich von mir, um auf mich herunterzusehen. »Was tust du hier?«
»Wir haben die Explosionen gehört. Wir dachten, du wärst verletzt.«
»Keine Sorge«, sagt er mit weicher Stimme. »Die waren südlich von hier, in der Nähe dieses Überlebenden-Camps. Ich dachte, es wäre Feuerwerk von einer Feier.«
Feuerwerk. Ich stoße ein gepresstes Lachen aus. »Ich kann nicht glauben, dass wir darauf nicht gekommen sind. Wir sind losgestürmt, um dich zu retten.«
»Nun«, sagt er, als er noch weiter zurücktritt, um mich von Kopf bis Fuß zu betrachten, wobei er meine zerkratzten Arme mustert, die Stelle, wo mein Pistolenhalfter an meinem Gürtel hängen sollte. »Du bist jedenfalls gut vorbereitet.«
Ich verdrehe die Augen und boxe ihn in den Arm. Er grinst und fährt sich mit einer Hand durch sein dunkles, verwuscheltes Haar. Es ist lang genug, um ihm in die Augen zu fallen. Durch das Tek, das seine Zellen regeneriert hat, wächst es schneller. Er hat den Großteil der Woche in einer Reihe von Tek-induzierten Komaphasen verbracht, um sich von den Verletzungen zu erholen, die er bei der Explosion im Labor davongetragen hat, und gewinnt gerade erst wieder ein wenig Gewicht zurück. Aber seine Augen sehen aus wie immer. Die Farbe des Himmels an einem strahlenden Sommertag. Wann immer ich Cole in die Augen sehe, spüre ich einen Stich in der Brust.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragt er.
Ich schaue zu der Stelle, wo ich durch den VR-Fehler Jun Bei gesehen habe. Ich will Cole gegenüber ehrlich sein, fühle mich aber immer noch erschüttert. Ich weiß nicht mal, was ich gesehen habe, geschweige denn was ich davon halten soll.
»Alles okay.« Ich zwinge die Antwort über meine Lippen. »Lee macht sich wahrscheinlich Sorgen. Er ist zum Treffpunkt gefahren.«
Cole nickt, dann wird sein Blick trüb. »Ich werde ihn anfunken. Ich habe heute Nacht ein neues Signal im Labor aufgefangen, aber ich weiß nicht, was es war. Lee ist bei so was besser. Ich werde ihm sagen, dass er es checken soll.«
Soweit wir es uns zusammengereimt haben, räumen die Cartaxus-Truppen am Labor die Einrichtung aus, um sie zu studieren. Sie haben die zerstörten Teile des Genkits weggeschickt, das ich in die Luft gesprengt habe, genauso wie die Leiche der Marionette, die ich für Lachlan gehalten habe. Wir haben uns vor ihnen versteckt, doch eigentlich sind sie nicht unser Feind. Wir alle wollen Lachlan aufhalten. Möglicherweise müssen wir sogar zusammenarbeiten, um das zu erreichen. Lee und ich haben eines Abends, als Coles Tek Probleme machte, darüber geredet, uns zu stellen; aber wir wissen nicht, wie sie reagieren werden, wenn sie herausfinden, wer ich bin, oder dass Lachlan mich für seinen Plan braucht. Sie könnten mich einsperren und niemals wieder gehen lassen.
Oder vielleicht bringen sie mich einfach um. Das wäre der logischste Weg, Lachlan aufzuhalten.
»Lee sagt, er schaut nach«, meint Cole.
»Sollen wir auch gehen?«, frage ich. »Wenn es ein neues Signal am Labor gibt …«
»Schon okay«, sagt er, als er blinzelnd seine Session beendet. »Ich glaube, es ist nur die Klimaanlage.«
Ich runzele die Stirn. »Wieso hast du Lee dann gesagt, er soll es checken?«
Cole grinst und schiebt mir die Haare aus dem Gesicht. »Ich finde, wir könnten etwas Zeit für uns gebrauchen.«
Hitze steigt in meine Wangen. »Cole, wir haben so viel zu tun.«
Er beugt sich vor und drückt mir einen Kuss auf den Hals. »Zum Beispiel?«
Lächelnd schiebe ich ihn nach hinten. »Zum Beispiel Lachlans Akten zu lesen oder eine Liste der Ausrüstung anzufertigen, die wir brauchen, um ihn zu verfolgen. Du weißt schon, um die Welt zu retten.«
Sein Blick senkt sich auf meine Lippen. »Die Welt kann warten.«
Ich öffne den Mund, um mit ihm zu diskutieren, doch stattdessen ziehe ich Cole an mich.
Es ist kein perfekter Kuss. Wir sind nur zwei Leute in müden Körpern, die an eine Million anderer Dinge denken sollten als an das hier. Ich habe so viel zu erledigen und spüre eine solche Verwirrung tief in mir … doch das Gefühl von Coles Lippen auf meinen spült all das hinweg. Meine Schultern sinken nach unten, dann stockt mein Atem, als er eine Hand an meine Taille legt. Er neigt meinen Oberkörper leicht nach hinten, vertieft den Kuss. Ich vergrabe die Hand in seinen dunklen Locken, um ihn näher an mich zu ziehen, was ihm ein Knurren entreißt. Er lässt seinen Rucksack auf den Boden fallen und schiebt mich nach hinten, bis meine Schulterblätter die raue Borke eines Baumes berühren.
»Es hat mich vollkommen verrückt gemacht, dir die ganze Zeit über so nahe zu sein«, flüstert er an meinen Lippen, bevor sein Mund zu meinem Hals gleitet. Er packt meine Oberschenkel, hebt mich in einer geschmeidigen Bewegung hoch und drückt mich gegen den Baum. Hitze sammelt sich in mir. Instinktiv schlinge ich die Beine um ihn, als er sich gegen mich drängt. »Ich bringe dich weg, sobald das vorbei ist. Ich will mindestens einen Monat nicht gestört werden.«
»Ach ja?«, frage ich und grinse, als seine Lippen über meine Kehle gleiten. »Wohin willst du mich bringen?«
»An einen Strand«, sagt er ohne zu zögern. Seine Lippen verweilen einen Moment zwischen meinen Schulterblättern. »An einen weit entfernten, warmen Strand. Ich dachte an Australien.«
Ich drehe den Kopf, als sein Mund zur anderen Seite meines Halses wandert. Seine Bartstoppeln kitzeln mich. »Du scheinst intensiv darüber nachgedacht zu haben.«
»Habe ich«, haucht er, als er mein Kinn küsst. »Ich kann es mir genau vorstellen. Ein kleines Haus, nur wir beide. Wir können verschwinden. Eine Menge Leute werden genau das tun, sobald die Bunker geöffnet werden. Es wird uns nicht schwerfallen, in der Menge unterzutauchen.«
Ich schaue ihn an. »Ist es das, was du nach alldem hier tun willst? Verschwinden?«
Er lehnt sich zurück, um mir ins Gesicht zu sehen. »Natürlich. Ich will nicht mehr für Cartaxus arbeiten, jetzt wo ich dich gefunden habe.«
»Ja, ich weiß«, sage ich, dann löse ich meine Beine von seiner Hüfte. Er stellt mich auf den Boden, seine Wangen gerötet. »Aber das bedeutet doch nicht, dass wir uns verstecken müssen.«
Er runzelt die Stirn. »Sie werden uns haben wollen, Cat. Wir sind wertvoll, egal ob es ein Virus zu bekämpfen gibt. Ich werde nicht zulassen, dass sie mich wieder in ein Experiment verwandeln.«
»Nein, natürlich nicht …«, murmele ich, dann verklingt meine Stimme. So hatte ich die Sache noch gar nicht betrachtet. Ich habe bisher über nichts anderes nachgedacht als darüber, Lachlan aufzuhalten. Aber Cole hat recht – sicher wird Cartaxus uns behalten wollen. Meine natürliche DNA ist wandelbar. Mein Körper, meine Zellen, selbst mein Geist können auf eine Weise verändert werden, die einzigartig ist. Gentech-Code ist wie eine Maske – er kann die Art ändern, wie die DNA funktioniert, aber man kann nichts daran ändern, wer man darunter ist. Und das heißt, dass Gentech-Code seine Grenzen hat. Man kann mit einer Maske sein Aussehen nur in einem gewissen Maß anpassen. Die Fähigkeit, die allem zugrundeliegende, natürliche DNA zu verändern, würde die Gentechnik vollkommen revolutionieren.
Und diese Fähigkeit verbirgt sich in meinen Zellen. Natürlich wird Cartaxus mich studieren wollen. Ich werde jeden Augenblick meines Lebens auf der Flucht verbringen, in Angst vor Cartaxus.
Doch so habe ich mir mein Leben nie vorgestellt.
»Es tut mir leid«, meint Cole. »Das hätte ich nicht sagen sollen.«
Ich kratze mir den Nacken. »Nein, es stimmt. Wir werden uns verstecken müssen. Wir werden nie frei sein.«
Er streckt die Hand nach meiner Wange aus. »Wir werden uns ein Leben aufbauen, das verspreche ich. Wo willst du hin, wenn all das hier vorbei ist?«
»Ich … das weiß ich gar nicht. Vielleicht hätte ich gerne ein Labor. Ich will weiter programmieren.«
Obwohl die letzten drei Jahre meines Lebens auf einer Lüge beruhten, entspringen ihnen doch ein paar meiner besten Erinnerungen – wie ich mit Lachlan und Dax in der Hütte zusammengearbeitet habe und wir über Code gesprochen haben. Ich dachte immer, ich würde so etwas nach dem Ausbruch wieder finden.
Doch wenn Cole und ich verschwinden, werde ich mir kaum neue Programmier-Partner suchen können. Vielleicht werde ich dieses Leben nie führen können. Der Gedanke erschüttert mich im tiefsten Inneren, fast schmerzvoll.
»Wir werden dir ein Labor besorgen«, sagt Cole.
Ich nicke, kaue an meinem Daumennagel. Mein Blick gleitet über Coles Schulter zur Lichtung, dann scheint die Luft zu gefrieren.
Eine Metallkonstruktion ragt zwischen den Bäumen heraus. Ich verstehe nicht, wie ich sie bisher übersehen konnte. Sie sieht aus wie ein Strommast. Sechs Meter hoch, geschaffen aus Stahl und Nieten. Irgendetwas an seiner Form kitzelt mein Gedächtnis, dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag.
Ich habe diesen Mast bisher nicht gesehen, weil er nicht da war.
Das ist eine weitere Fehlfunktion meines VR-Chips.
»Was ist los?«, fragt Cole. Sein Blick verschwimmt, folgt meinem, dann versteift er sich, als er Richtung Mast sieht.
»Moment. Du siehst das auch?«, frage ich.
»Das ist ein öffentlicher Feed aus deinem Panel. Was ist das?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, mein Tek hat eine Fehlfunktion. Vor ein paar Minuten hatte ich schon mal so etwas.«
Ich versuche, das Menü meines Panels aufzurufen, doch mein Sichtfeld flackert nur. Der Mast steht immer noch da, und ein elektrisches Surren erfüllt die Luft. Ich weiß, dass er nicht real ist, doch trotzdem kann ich nichts gegen den Stich der Angst tun, der mich durchfährt, als eine bleiche Gestalt neben mir auftaucht.
Ich drehe mich, wappne mich, doch irgendwie weiß ich bereits, was ich sehen werde.
Jun Bei ist zurück. Sie steht in der Mitte der Lichtung. Ein Windstoß bewegt ihr langes schwarzes Haar. Sie trägt dieselbe riesige Jacke über einem weißen Krankenhauskittel, ihre Füße in verkratzten schwarzen Stiefeln. Auf ihrer Wange liegt eine einsame Wimper, und sie hat einen Flaum aus dünnem Haar auf den Beinen. Der Ärmel der Jacke gleitet hoch, als sie sich eine Strähne aus dem Gesicht schiebt, sodass das kobaltblaue Leuchten ihres Panels kurz ihre Züge beleuchtet.
Sie wirkt so lebendig.
Cole steht wie erstarrt neben mir, die Augen weit aufgerissen. Jun Bei zieht sich die Jacke eng um den Körper. Weiße Flocken schweben vor ihrem Gesicht, landen auf ihrem glänzenden Haar. Schnee. Er wirbelt durch die Luft, breitet sich aus, bis er auch über uns fällt. Das Gras der Lichtung verschwindet unter einer dünnen weißen Schicht, und Jun Bei zittert. Sie reibt sich die Nase, verzieht das Gesicht und niest.
Mein Herz verkrampft sich. Sie ist nur ein Kind.
Sie muss vierzehn sein, vielleicht fünfzehn. Verängstigt und allein. Plötzlich wirkt sie unendlich zerbrechlich. Rote Narben ziehen sich über ihren Nacken, und sie hat einen Verband am Handgelenk.
Lachlan hat ihr das angetan. Er hat sie verletzt. Er hat sie aufgeschnitten.
Was für ein Monster kann einem Kind so etwas antun?
»Wieso zeigst du mir das?«, fragt Cole mit gebrochener Stimme. Sein Gesichtsausdruck ist schmerzerfüllt.
»Ich … das tue ich nicht«, sage ich. »Ich weiß nicht, was hier geschieht.«
Jun Bei verschränkt die Arme über der Brust, sinkt tiefer in ihre Jacke. Sie hebt den Kopf, um die Baumlinie hinter uns zu mustern. Ich drehe mich um, um ihrem Blick zu folgen. Etwas bewegt sich im Wald, auf dem Weg. Schatten huschen hinter den Ästen, und der Wind trägt das Geräusch von Schritten heran. Eine Schneeböe fegt durch den Wald, enthüllt eine Truppe von Wachen zwischen den Bäumen, gekleidet in schwarze Cartaxus-Uniformen. Cole ergreift meine Hand, als hinter ihnen eine Gestalt erscheint.
Lachlan.
Das Licht ist dämmrig, doch ich erkenne ihn sofort. Seine Augen, sein Kinn, die Art, wie sein Haar fällt. Dieselben Züge sind in meine Knochen und meine DNA eingegraben. Mein Atem stockt, als er aus dem Wald tritt. Das ist der Mann, der mir mein Leben gestohlen hat – der mich mit Lügen gefüttert, mein Gesicht verändert und meine Identität in Stücke gerissen hat. Wir haben die ganze Woche darüber geredet, ihn umzubringen, daher hätte ich gedacht, dass ich mir bei seinem Anblick eine Waffe wünsche. Ich dachte, mein erstes Gefühl wäre Wut.
Doch so einfach ist es nicht.
Lachlan mustert die Lichtung, die grauen Augen scharf. Als er Jun Bei entdeckt, zuckt seine linke Hand. Das ist ein nervöser Tick, den ich aus unserer Zeit in der Hütte kenne. Er hatte ihn nur, wenn er aufgebracht war. Die Geste jetzt zu sehen, löst etwas in mir aus. Ich werde wütend, aber gleichzeitig empfinde ich auch einen tiefen Schmerz.
Lachlan hat mir nicht nur meine Identität genommen.
Er hat mir den Vater genommen, den ich geliebt habe.
»Es ist okay – das ist nicht real«, sagt Cole. Er zieht mich an sich. Sein Körper ist hart wie Stein, und seine Augen brennen, als Lachlan an uns vorbeigeht.
Cole empfindet im Moment nichts als Zorn – ich fühle, wie das Gefühl in Wellen von ihm aufsteigt und die Luft erfüllt. Ich weiß, dass er Lachlan töten will. Wäre Lachlan wirklich hier, könnte nichts Cole zurückhalten. Das ist die rationale, vernünftige Reaktion. Ich dachte, ich würde ebenfalls so empfinden … doch noch vor einer Woche habe ich diesen Mann Vater genannt. Ich habe ihn drei Jahre lang geliebt, vergöttert, war stolz auf die Ähnlichkeit, die ich mit dem großen Dr. Lachlan Agatta habe. Ich weiß, dass er eine Bedrohung ist, und ich hasse ihn für das, was er mir angetan hat.
Aber ich weiß nicht, ob ich ihn umbringen kann.
»Läufst du wieder weg?«, fragt Lachlan, als er über das Gras stampft. Die Wachen stellen sich in einem Halbkreis hinter ihm auf, die Gewehre in den Händen.
Ich verstehe nicht, wieso Jun Bei nicht flieht, bis plötzlich dünne, rauchähnliche Fäden in der Luft auftauchen. Sie gehen vom Mast aus, verbreiten sich in leuchtend blauen Stößen, knistern vor Elektrizität. Triphase. Wolken aus magnetisch kontrollierten Nanobots, dafür entwickelt, biologische Stoffe zu zerfressen. Das ist dieselbe Waffe, die Novak eingesetzt hat, um uns nach Sunnyvale zu zwingen – doch ich habe noch nie eine Version gesehen, die so aussieht. Die glühenden Seile ergießen sich aus dem Mast, erstrecken sich zwischen den Bäumen hindurch, verbinden weitere Masten, die flackernd in meinem Sichtfeld erscheinen, als ich den Blick über den Wald gleiten lassen. Sie bilden einen durchgehenden, schwankenden Fluss aus Licht.
Das ist ein Zaun. Das ist die Barriere, die sie um das Labor errichtet haben, um unsere Flucht zu verhindern.
Jun Bei steht mit dem Rücken zum Licht, ein paar Schritte vor dem Zaun. Einzelne Haare schweben in einem Heiligenschein um ihren Kopf, aufgeladen von der Elektrizität in der Luft. Die Wachen und Lachlan halten neben uns an, ohne sie aus den Augen zu lassen, und Cole packt mich fester.
»Sagt ihnen, sie sollen den Zaun abschalten«, befiehlt Lachlan einem der Soldaten. Einen Moment geschieht nichts, dann verschwinden die fließenden Seile aus blauen Schwaden. Der Boden darunter bleibt verbrannt und rauchend zurück, wo sich eine schwarze Linie in den Schnee gefressen hat. Jun Bei blickt sich um, doch sie rennt nicht los.
»Komm zurück«, sagt Lachlan. »Du kannst nirgendwo hin.«
»Ich werde mir schon was ausdenken«, murmelt sie.
»Nein, wirst du nicht«, sagt er. »Dort draußen sind Leute, die schreckliche Dinge tun würden, um die Kontrolle über deine Gaben zu gewinnen. Du wirst immer eine Gefangene sein, egal wo du hingehst. Ich weiß, dass du nicht wirklich fliehen willst, sonst wärst du bereits weg. Hier bist du sicher.«
Jun Bei stößt ein leises, bitteres Lachen aus und wendet sich wieder Lachlan zu. Sie hebt die Hände, um den Krankenhauskittel nach unten zu ziehen, um den Blick auf ein Chaos aus roten und purpurfarbenen Narben freizugeben. »Du glaubst, ich wäre hier sicher?«
»Unsere Arbeit ist wichtig, Liebes«, sagt Lachlan. »Ich weiß, dass du das verstehst.«
Sie schüttelt den Kopf. »Du weißt überhaupt nichts über mich.« Ihre Stimme zittert, ihr glänzendes Haar fällt in ihre Stirn. »Du kennst mich nicht. Keiner von euch. Niemand kennt mich.«
»Jun Bei …«, setzt Lachlan an, seine Stimme belegt, doch sie hebt eine Hand.
»Aber in einem Punkt hast du recht«, sagt sie. »Ich will nicht fliehen. Ich bin heute Nacht nach hier draußen gekommen, weil ich wollte, dass du das hier beobachtest.«
Ihr Blick verschwimmt, dann erscheinen die glühenden Seile wieder hinter ihr. Ich starre verwirrt, als sie blinzelnd ihre Session beendet. Es wirkt, als hätte sie den Zaun wieder angeschaltet, doch das ergibt keinen Sinn. Sie versucht doch sicher, hier wegzukommen. Sie muss einen Plan haben, eine Waffe. Irgendetwas, womit sie gegen die Wachen kämpfen kann. Doch stattdessen ballt sie die Hände zu Fäusten und wendet sich den kräuselnden Lichtseilen zu. Cole drückt mich noch fester an sich, und in diesem Moment durchfährt mich die Erkenntnis.
Sie ist nicht hierhergekommen, um zu fliehen. Sie ist gekommen, um zu sterben.
»Haltet sie auf!«, brüllt Lachlan. Die Wachen werfen sich nach vorne, doch Jun Bei rennt bereits.
Sie hat die Augen fest geschlossen, und ihr Haar flattert hinter ihr. Sie ist schnell, aber sie ist auch klein, und die Wachen haben sie innerhalb von Augenblicken erreicht. Behandschuhte Finger packen ihre Arme, reißen sie von den Füßen.