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© Piper Verlag GmbH, München 2021
Covergestaltung: Petra Dorkenwald
Coverabbildung: Carmen Rohrbach
Bildteilfotos: Carmen Rohrbach
Karte: Marlise Kunkel, MünchenLitho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
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Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Deshalb fühle ich mich, seit ich denken kann, als Grenzgängerin, nicht allein zwischen Ländern und Kulturen, auch von der Zivilisation in die Wildnis und wieder zurück. Wir sollten nie aufhören, innere und äußere Grenzen zu überwinden und immer weiter hinauszuschieben, bis zum Horizont und darüber hinaus.
Ein neuer Tag beginnt, mein letzter in den Bergen Kasachstans. Die Sterne sind bereits verblasst, die Sonne verbirgt sich noch hinter einer felsigen Barriere. Im Osten erahne ich einen gelblichen Schimmer, er nimmt an Farbintensität zu, breitet sich aus wie eine wässrige Farbe auf einem Aquarell, bis endlich der ganze Himmel hell erleuchtet ist.
Auf einem flechtenbewachsenen Stein hockend – gegen die Morgenkühle habe ich die Fleecejacke untergelegt – schaue ich zu, wie die Dämmerung die Nacht besiegt. Doch es will mir nicht gelingen, mich diesem Geschehen uneingeschränkt zu widmen. Um in Ruhe nachdenken zu können, habe ich mich aus dem Zelt geschlichen, meine Gedanken schwirren jedoch in alle Richtungen davon, werden von Emotionen bedrängt.
Plötzlich nehme ich den herb-süßen Geruch der Kräuter wahr. Wermut vor allem, auch wilder Thymian, Melisse, Beinwell und andere unscheinbare Pflanzen, an den Erdboden gepresst, weiten ihre Spaltöffnungen und verströmen jetzt, in der mit dem beginnenden Tag wärmeren Luft, ihre ätherischen Essenzen.
Mein Blick schweift hinüber zu den Pferden. Sie weiden die spärliche Vegetation ab. Unentwegt fressend nutzen sie die Ruhezeit, ihre Mägen zu füllen. In ihrer Nähe stehen die beiden Zelte. In einem liegen die zwei Kasachen, in dem anderen mein Bruder, neben dem ich diese Nacht kaum Schlaf gefunden habe. Dieses erste gemeinsame Unterwegssein mit ihm ist so ganz anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt und gewünscht hatte.
Der goldene Sonnenball ist emporgestiegen, rollt jetzt über den Felsengrat und lenkt mich von meinen bohrenden Gedanken ab. Was für ein Licht! Es belebt die zuvor graue Steinwelt, bringt sie zum Leuchten. Wie schön ist doch der beginnende Tag! Immer wieder bin ich von Neuem verzaubert, wenn ich draußen in der Natur den Übergang von der Nacht zum Tag erleben kann, wenn das Erscheinen der Sonne alles ringsum verwandelt und das Leben wieder mit frischer Kraft beginnt. Für einen Moment wird auch in mir alles hell und licht, verflüchtigt sich die düstere Erinnerung.
Die Stille wird von einem metallisch klirrenden Laut durchbrochen, der übergeht in einen rauen, irgendwie gepresst klingenden Gesang, halb flötend, halb pfeifend. Es ist ein kleiner Vogel, etwas größer als ein Rotkehlchen. Vögel dieser Art habe ich öfters während der Reise gesehen. Sie heißen Isabellsteinschmätzer und sind in den vegetationsarmen Steppen und Gebirgen Asiens daheim. Farblich angepasst an ihren Lebensraum sind sie am Rücken sandfarben, an Bauch und Brust cremefarben, insgesamt also eher eintönig gefärbt, deswegen auch der Name. Die Bezeichnung Isabell, so nett sie klingt, meint eigentlich einen schmutzigen Weißton. Gleich zwei adelige Frauen, eine Königin und eine Prinzessin, gelten als Namensgeberinnen. Die Königin Isabella von Kastilien soll 1482 geschworen haben, ihr Unterhemd nicht eher zu wechseln, bis Granada von den Arabern befreit sei, was ganze zehn Jahre gedauert hat. Die Farbe ist überliefert, jedoch nicht, wie das Hemd gerochen hat … Etwas weniger lange musste die spanische Prinzessin Isabella, Tochter von Philipp II., warten, bis sie wieder ein frisches Unterhemd anziehen durfte. Drei Jahre, drei Monate und drei Tage trug sie das schmutzige Kleidungsstück, um ihren Schwur nicht zu brechen. Sie war mit dem österreichischen Erzherzog Albrecht von Habsburg verheiratet, der die Stadt Ostende an der Nordseeküste eroberte und den Aufstand der Niederländer niederschlug, die sich von spanischer Fremdherrschaft befreien wollten. Auch das Hemd der Prinzessin war danach nicht mehr weiß. Durch diese beiden Legenden wurde der Name Isabell zu einer Farbe: Hell gefärbte Pferde, Katzen, Hunde und Vögel bezeichnet man als isabellfarben, wie eben auch die Steinschmätzerart, die mich an diesem Morgen erfreut.
Dem Vogel hat sich ein zweiter Isabellsteinschmätzer hinzugesellt. Flink am Erdboden hüpfend knicksen sie nervös mit ihren auffallend langen Beinen auf und nieder und flattern hektisch mit den Flügeln, dabei scheuchen sie Insekten auf. Als Ornithologin bin ich mir sicher, dass ich die Vogelart richtig als Isabellsteinschmätzer bestimmt habe. Erkennungszeichen, außer ihrer Gefiederfärbung und ihrem Verhalten, sind die auffallend schwarz-weiß gezeichneten Schwanzfedern.
Irgendwo zirpt eine Heuschrecke ihr gleichförmiges Lied. Die wärmenden Strahlen der Sonne haben den Tieren nach der kalten Nacht in dieser rauen Bergwelt wieder Leben eingehaucht. Gern würde ich bleiben, einfach hier sitzen, schauen und beobachten, die Welt um mich wahrnehmen und versuchen, meine Gedanken doch noch zu bündeln und eine Antwort auf meine Frage zu finden: Warum ist diese Reise so anders verlaufen als erwartet?
Doch ich muss meine Suche nach Erklärungen auf später verschieben, denn inzwischen sind meine Begleiter aus ihren Zelten gekrochen. Sie beginnen, diese abzubauen und zu packen. Wir müssen uns beeilen, von hier wegzukommen. Es wird kein Frühstück geben, nicht einmal Tee oder Kaffee. Seit gestern haben wir kein Wasser mehr, und das in einer Höhe von fast 4000 Metern, wo man eigentlich besonders viel trinken sollte, um nicht höhenkrank zu werden. Meine Stimmung wird schlagartig mies, als mir wieder bewusst wird, wie verantwortungslos sich die Kasachen während unserer Reise verhalten haben.
Die beiden Zelte, Schlafsäcke, Matten, Kocher und die spärlichen Reste der Verpflegung werden in den praktischen und geräumigen Satteltaschen verstaut und die vier Pferde damit beladen. Als ich schon auf meinem Pferd sitze, sehe ich, wie Aslan, der ältere Kasache, eine leere Zwei-Liter-Plastikflasche unter einen Wachholderbusch schiebt.
Dort wird sie nun so gut wie unzerstörbar für unbestimmte Zeit die ursprüngliche Bergwelt verunreinigen. Warum macht er das? Er könnte sie doch mitnehmen – leer wiegt sie so gut wie nichts – und sie an einem der nächsten Bäche füllen. Dann hätten unsere beiden Führer eigenes Wasser und müssten sich nicht aus meiner Flasche bedienen, wie gestern Nacht, als ein Liter für drei Männer reichen musste, nachdem sie den ganzen Tag nichts getrunken hatten. Ich war bei den Zelten geblieben, während mein Bruder und unsere beiden Begleiter eine anstrengende Tour hinter sich gebracht hatten. Ich öffne den Mund, will protestieren. Warum ich es dann doch nicht tue? Wie nach jeder Reise bin ich traurig, wenn sie vorbei ist. Dieses Gefühl lähmt und hindert mich, Stellung zu beziehen. Mir fehlt einfach die Kraft aufzubegehren.
Eine ausgesetzte Felsüberquerung lenkt mich vorerst von meinem Ärger ab, eine wirklich anspruchsvolle Strecke. Wieder einmal denke ich: Was für geländegängige Pferde wir haben! An ihren Hufen haben sie Eisen mit Spikes, die geben ihnen auf dem felsigen Untergrund zwar etwas Halt, allerdings ist der Grat kaum einen Meter breit, und er fällt rechts und links steil in die Tiefe. Selbst für einen trittsicheren Menschen wäre diese Klettertour schwindelerregend, wie beschwerlich muss es erst für die Pferde sein, beladen mit Reitern und Gepäck.
In den Wochen, die wir im Alatau unterwegs sind, habe ich gelernt, meinem Reitpferd zu vertrauen, und so sitze ich ruhig und sicher im Sattel und bewundere, wie die Pferde die gefährlichen Schwierigkeiten meistern. Endlich haben wir den Felsgrat überwunden und queren einen schütter bewachsenen Grashang. Wie schade, dass wir bald, in wenigen Stunden schon, im Camp ankommen werden. Dann ist mein Ausflug in Kasachstans Gebirge unwiderruflich vorbei. Dabei hatte ich mich gerade auf diese wilde Bergwelt so sehr gefreut. Wehmut durchflutet mich. Wie hat eigentlich alles begonnen? Warum habe ich mich für diese Reise zusammen mit meinem Bruder Holger entschieden?
Holger ist der Jüngste von uns vier Geschwistern, fast vierzehn Jahre jünger als ich. Bisher hat Holger seine Reisen mit seiner Frau unternommen. Früher, bei Wanderungen in den Bergen, waren auch seine beiden Söhne dabei, die inzwischen erwachsen sind und eigene Pläne haben.
Mein Bruder hat Forstwirtschaft studiert. Seine Passion ist die Jagd. Unser Vater, der ebenfalls ein leidenschaftlicher Jäger war, hat uns beide, seine Älteste und seinen Jüngsten, schon als Kinder mit der Jagd vertraut gemacht. So erlebte ich durch ihn bereits damals die Nähe zur Natur. Dass er Jäger war, habe ich nie infrage gestellt. Bei ihm wie bei meinem Bruder und anderen Jägern, die ich kenne, waren und sind die starke Verbundenheit zur Natur und der respektvolle Umgang mit ihr ausschlaggebend für die Jagdleidenschaft.
Cornelia, die Frau meines Bruders, akzeptiert die große Jagdleidenschaft ihres Mannes, schließlich hat sie ihn doch so kennengelernt. Als wäre es ein symbolisches Zeichen gewesen, so erzählte Cornelia mir, kreuzte direkt bei ihrem ersten Treffen eine Rotte Wildschweine ihren Weg. So erfuhr sie gleich zu Beginn, dass sie jemanden liebt, der als bester Wildschweinschütze gilt und für seine Jagderfolge ausgezeichnet wurde. Ihr gemeinsames Leben wurde von Anfang an durch die Jagd bestimmt. Bei Holgers früheren Jagdreisen hat sie ihn stets begleitet. Da allerdings gab es feste Unterkünfte bei Gastfamilien oder in Pensionen. Mit Pferden durch ein wildes Gebirge zu reiten, mit Zelt von Ort zu Ort zu ziehen, danach stand ihr nicht der Sinn.
So kam ich ins Spiel. Ich wusste, dass Holger sich seit Langem wünschte, einmal im Leben die anspruchsvolle Jagd auf Steinböcke zu bestehen, und witterte die Chance, dieses einmalige Erlebnis mit ihm zu teilen. Bedenken, dass es für mich zu strapaziös sein könnte, hatte ich nicht, ist es doch seit Jahrzehnten mein Beruf, in den unwirtlichsten Gegenden unserer Erde unterwegs zu sein. Allerdings war ich da immer allein, mindestens ein halbes Jahr oder länger. An einer geführten Tour hatte ich noch nie teilgenommen. Ich rechnete jedoch damit, dass die Jagdführer und mein Bruder sich auf die Steinbockjagd konzentrieren und ich Freiraum für mich haben würde, um Tiere zu beobachten und mich mit der Bergwelt vertraut zu machen.
In meinem Schulatlas, den ich als Vierzehnjährige zur Jugendweihe bekam, lese ich: ALMA-ATA. Damals war das die Hauptstadt der Sowjetrepublik Kasachstan. Alma-Ata hatte für mich einen verlockenden Klang. Nicht unbedingt die Stadt wollte ich sehen, sondern die im Atlas dunkelbraun gefärbten Gebiete Zentralasiens, die auf einer Doppelseite abgebildet waren. Atemlos entzifferte ich als Jugendliche die Namen dieser Gebirge: Tian Shan, Pamir, Altai und noch weiter östlich – Himalaja. Hochgebirge, die man als »das Dach der Welt« bezeichnet und die mich unwiderstehlich anzogen, die ich besteigen und erforschen wollte. Damals war ich überzeugt, nichts und niemand würde mich daran hindern können, weil diese Berge mit den verführerischen Namen in den Sowjetrepubliken Kirgisien, Tadschikistan und Kasachstan lagen. Somit gehörten sie zum Ostblock, so wie meine Heimat, die DDR. Nur Länder, die zum kapitalistischen System gehörten, waren mir versperrt – glaubte ich. Wenige Jahre älter musste ich jedoch begreifen, dass ich in der DDR wie in einem großen Gefängnis lebte und nicht einmal zu Forschungsreisen in die Mongolei durfte, obwohl ich mir dafür durch mein Biologiestudium gute Chancen ausgerechnet hatte.
Inzwischen gibt es die Sowjetunion nicht mehr. Kasachstan und auch die benachbarten Länder sind unabhängig, und Alma-Ata heißt jetzt Almaty und ist keine Hauptstadt mehr. Die neue Hauptstadt war zunächst Astana. Eine aus dem Steppensand gestampfte Glitzermetropole, in der sich die Hochhäuser aneinanderdrängen und wo etwa eine Million Menschen leben. Das kasachische Wort »Astana« bedeutet einfach »Hauptstadt«. Als der langjährige Präsident Nursultan Äbischuly Nasarbajew, der fast drei Jahrzehnte herrschte und zuvor kommunistischer Parteichef war, 2019 zurücktrat, schlug sein Nachfolger vor, die Hauptstadt ihm zu Ehren in Nursultan umzubenennen.
Auf meine zahlreichen Unternehmungen habe ich mich stets lange, manchmal jahrelang vorbereitet: habe Informationen gesammelt, Bücher und Berichte gelesen, die Landessprache gelernt (also Mongolisch, Arabisch, Spanisch und Englisch), mich bei Vereinen, Botschaften und bei wem auch immer erkundigt und alles recherchiert, was ich über das jeweilige Gebiet in Erfahrung bringen konnte.
Diesmal ist es anders. Mein Bruder hat zu einem Jagdreiseveranstalter Kontakt aufgenommen und mich als seine Begleiterin angemeldet. Eine für mich ungewohnt bequeme Art der Vorbereitung. Einzig ein Wörterbuch Kasachisch–Deutsch besorge ich mir und eine Karte. Natürlich reicht das knappe halbe Jahr bis zur Abreise nicht aus, um auch nur die Grundbegriffe des Kasachischen zu erlernen, das zur Sprachfamilie der Turksprachen gehört. Um alles andere kümmert sich der Reiseveranstalter: Flugticket, Abholung, Fahrt zum Basiscamp, Führer, Zelte und Verpflegung.
Im Internet informiere ich mich über unser Reiseziel. So erfahre ich, dass Kasachstan ziemlich groß ist, was mir zuvor gar nicht bewusst war. Auf der Länderliste steht es an neunter Stelle. Es reicht vom Kaspischen Meer bis nach China. Im Norden hat es nur eine Grenze, die zu Russland; sie ist 7000 Kilometer lang. Im Osten, Süden und Westen liegen China, Kirgisistan, Usbekistan, Turkmenistan und das Kaspische Meer. An die Mongolei grenzt Kasachstan nicht, wie ich zunächst vermutet hatte. Allerdings trennen Mongolei und Kasachstan nur 38 Kilometer, ein schmaler Landstreifen im Altaigebirge, der zu Russland gehört. Als ich vor einigen Jahren in der Mongolei war und dieses Gebiet im Altai besuchte, glaubte ich, die beiden Länder hätten eine gemeinsame Grenze. Denn ich traf viele Kasachen, die dort auf mongolischem Gebiet siedelten und die mir viel von ihrer ehemaligen Heimat erzählten.
Das gemeinsame Ziel meines Bruders und mir, der Dsungarische Alatau, schmiegt sich zwischen den Altai und den Tian Shan und bildet die Grenze zu China. Der höchste Berg misst 4622 Meter. »Alatau« bedeutet »buntes Gebirge«. Der Name rührt daher, dass die Gesteine im Sonnenlicht farbig schimmern sollen. Davon habe ich jedoch während unserer Reise leider nichts bemerken können. Vielleicht bezieht sich der Name aber auch auf die Blätterpracht der Gebirgswälder im Herbst, wie es in einer Reisebeschreibung heißt.
Den Reiseveranstalter haben Holger und ich Ende Januar auf der Jagdmesse in Dortmund kennengelernt, der größten, die jährlich in Deutschland stattfindet und die mein Bruder schon früher besucht hatte; diesmal fuhr ich mit, um gemeinsam nach einem Veranstalter zu suchen, der sich auf Jagdreisen nach Kasachstan spezialisiert hat.
Sogar von Naturschutzverbänden wie der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen (IUCN), die jährlich die Rote Liste der bedrohten Arten herausbringt, werden Jagdreisen positiv beurteilt, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Eine wichtige Voraussetzung ist beispielsweise, die einheimische Bevölkerung zu beteiligen. Sie sollte sowohl als Jagdführer und -helfer eingebunden sein als auch über die Anzahl und die Art der zu jagenden Tiere bestimmen können. Legale, gut regulierte Bejagungsprogramme sind dann ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil zur Erhaltung der Artenvielfalt. Denn wenn die Bevölkerung am Gewinn der Jagd beteiligt wird, ist sie auch daran interessiert, die Wildtiere zu schützen und ihre Lebensräume zu erhalten – ihr Schutz wird zur eigenen Existenzgrundlage, die Wildtiere erhalten für die Einheimischen einen konkreten Wert. So dient der Jagdtourismus als Naturschutzinstrument und hilft entscheidend, die Wilderei vor Ort zu bekämpfen und zugleich den Lebensraum der Tiere zu erhalten.
Wegen des Besucherandrangs verloren Holger und ich uns aus den Augen. Als wir uns am vereinbarten Treffpunkt wieder entdeckten, hatte mein Bruder inzwischen den Reiseveranstalter gefunden, der sich neben anderen Zielen auch auf Jagdreisen nach Kasachstan spezialisiert hat.
»Nun, hast du gebucht?«, fragte ich. »Wann geht es los?«
Holger druckste herum. Schließlich antwortete er: »Nein, habe ich nicht. Morgen ist auch noch ein Messetag.«
»Nee, Holger, warum bis morgen warten? Entweder du willst einen Steinbock erlegen oder nicht! Seit Jahren hast du diesen Wunsch, entscheide dich jetzt!«
Stumm schaute er irgendwie durch mich hindurch. Vielleicht, so denke ich nach der Reise, als ich mich an diesen Moment erinnere, hatte er damals bereits Bedenken, gemeinsam mit mir zu fahren. Wahrscheinlich bin ich ihm zu bestimmend, zu zielbewusst, zu wenig angepasst. Davon ahnte ich aber nichts, denn ich fühle mich ihm keineswegs überlegen. Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Und meine Schwäche ist vor allem die Ungeduld, die manchmal aber auch eine Stärke sein kann, je nach Situation.
Schließlich gab er sich einen Ruck und meinte, wir könnten uns ja mal erkundigen, was sie so im Angebot hätten. Ich wunderte mich, dass er noch gar nicht danach gefragt hatte, sagte aber lieber nichts.
Wir wurden an einen Tisch gebeten, man führte uns ein Jagdvideo vor, zeigte uns Prospekte und Infomaterial. Es gab für die diesjährige Jagdsaison nur eine einzige Reise nach Kasachstan mit einer Teilnehmerzahl von sechs Personen.
»Da melden wir uns doch gleich an!«, platzte ich heraus.
»Da tun Sie gut daran«, sagte der Geschäftsinhaber. »Fünf Personen haben bereits fest zugesagt.«
»Gern kommen wir morgen wieder. Ich möchte noch mal darüber schlafen«, machte mein Bruder einen Rückzieher.
»Oh nein, Holger! Dieser eine Platz kann noch heute weg sein, vielleicht sogar schon in fünf Minuten. Das bedeutet, du musst ein weiteres Jahr auf deinen Traum warten!«
Schnell biss ich mir auf die Zunge, um nicht auszusprechen, was ich noch dachte. Nämlich dass er bald sechzig Jahre alt sein würde. Mit jedem Jahr mehr wird so eine anstrengende Gebirgsjagd zur Strapaze und ist irgendwann gar nicht mehr zu bewältigen.
Der Agenturinhaber nickte zustimmend: »Ihre Schwester hat recht! Mit dem nächsten Anwärter, der kommt, ist die Liste voll.«
Dann sah er mich an. Sein Gesicht spiegelte eine seltsame Mischung, irgendwie mitleidig und zugleich spöttisch. Er sagte: »Aber Sie sollten sich noch einmal gut überlegen, ob Sie sich das wirklich antun wollen. Für Frauen ist das nichts! Sie müssen wissen, es gibt keine festen Unterkünfte, nur Zelte und keine Duschen!«
Mir verschlug es die Sprache. Wer denkt schon an Duschen bei einer Wildnistour?
Holger antwortete für mich: »Da haben Sie mal keine Sorge, meine Schwester hält viel aus.«
Na ja, nicht unbedingt, dachte ich. Es kommt darauf an, was man aushalten muss und warum. Ich bin gut darin, extreme Situationen zu bewältigen, aber überhaupt nicht geeignet für den Alltag, für das normale Leben. Da werde ich schnell ungeduldig. Und Erfahrungen mit organisierten Reisen und anderen Reisepartnern hatte ich ebenfalls nicht.
Wir füllten die Formulare aus. Mein Bruder war jetzt also der sechste Jäger. Ich als Begleitperson zählte nicht, dennoch musste ich den Reiseveranstalter natürlich für seine organisatorische Leistung bezahlen, zusätzlich zum Flug.
Einige Monate später bekamen wir vom Veranstalter detaillierte Informationen mit der Post zugeschickt. Darin beschrieb man die Jagdreise als »richtiges Abenteuer« in einem Land von »einmaliger Schönheit mit unendlichen Steppen und hohen Gebirgen«. Der Alatau sei die Heimat, so der Text, von Bären, Wölfen, Luchsen, Adlern und Geiern, sogar Schneeleoparden lebten dort. Jagdbare Tiere seien Maralhirsche, Sibirische Rehböcke mit besonders starken Gehörnen, und Argalis, das sind Wildschafe. Der wahre König des Hochgebirges aber sei der Sibirische Steinbock. Seine unglaublichen Kletterkünste seien atemberaubend, man müsse nur einmal gesehen haben, wie der Steinbock selbst an senkrechten Felswänden hochspringe, und erleben, wie sicher sich bereits Kitze bewegten. Mit seinem massigen Körperbau, den kraftvollen Beinen und effektiven Klauen sei er ideal an das Leben im felsigen Gebirge angepasst, so der schwärmerische Text.
Im Infomaterial war weiter zu lesen: »Im Dsungarischen Alatau, unserem Reiseziel, gibt es die höchste Steinbockdichte der Welt. Beste Chancen für die Jäger, zum Schuss zu kommen.«
Ende Juli geht es dann endlich los. Holger und ich reisen aus verschiedenen Richtungen an. Er aus der Lausitz, ich aus Bayern. Als ich morgens am Bahnsteig meines Heimatortes auf den Zug warte, hängt der Himmel regengrau über mir. Nach Wochen mit ungewöhnlich heißen Sommertagen ist es von einem Tag auf den anderen kalt und nass geworden. Plötzlich schallen raue und zugleich helle Rufe durch den trüben Tag. Diese mir wohlbekannten Trompetentöne lassen mich freudig emporblicken. Eine Schar Graugänse in typischer V-Form fliegt von ihren Übernachtungsplätzen zu den angrenzenden Wiesen. Seit ich denken kann, elektrisiert mich das Geschrei der Wildgänse. Ihre Rufe verkünden mir eine ganz bestimmte Botschaft. Jedes Mal wird dabei meine Sehnsucht nach Weite und Freiheit noch größer. Wie passend für mein bevorstehendes Abenteuer, denke ich. Was für ein schöner Abschiedsgruß!
Holger und ich treffen uns in Frankfurt, übernachten dort, um am nächsten Morgen pünktlich am Flughafen zu sein und genügend Zeit zum Einchecken zu haben. Holger muss seine Jagdwaffe und die Munition beim Zoll deklarieren und seinen Waffenkoffer als Sperrgepäck am entsprechenden Schalter getrennt aufgeben. Dort treffen wir auch erstmals die fünf anderen Jäger. Wir machen uns kurz bekannt, dann geht jeder seiner Wege, und erst bei der Ankunft nach siebenstündigem Flug sehen wir uns wieder.
Bei der Landung blicke ich begierig aus dem Flugzeugfenster. Es soll ein unvergessliches Erlebnis sein, so habe ich in einem Buch gelesen, wenn man sich im Flugzeug der Stadt nähert, denn sie liegt unmittelbar vor der gewaltigen Kulisse des Tian Shan mit seinen eisigen Bergriesen. Leider haben wir nicht das Glück, tagsüber zu landen. Doch das hält mich nicht davon ab, gebannt aus dem Fenster zu schauen. Da unten liegt Almaty, denke ich, oder besser: Alma-Ata, die Stadt, von der ich in meiner Jugend sehnsuchtsvoll träumte. »Ata« bedeutet auf Kasachisch »Vater« oder ganz genau: »Großvater väterlicherseits«, und »Alma« ist das Wort für »Apfel«. Die Stadt hieß früher also »Apfel des Großvaters«. Im ersten Moment scheint es ein seltsamer Name für eine Stadt zu sein, die Erklärung ist jedoch einleuchtend: Früher gab es hier Äpfel einer einzigartigen, schmackhaften Sorte, für die Alma-Ata weithin berühmt war. Es muss ein Wunderapfel gewesen sein, jeder einzelne ein Pfund schwer, saftig, aromatisch und von betörendem Geruch.
Die Bäume, an denen diese Äpfel reiften, gibt es heute nicht mehr. Sie wurden allesamt gefällt. Mit ihnen ist diese himmlische Sorte für immer von der Erde verschwunden, denn es lebt niemand mehr, der ihren Zuchtplan kennt. Die Bäume mussten der neuen Zeit weichen: Dort, wo Apfelplantagen den südlichen Stadtrand im Frühling mit einem Blütenmeer schmückten und auch im Sommer für ein angenehmes Klima sorgten, befindet sich heute ein futuristisches Bankenviertel mit Hochhäusern und Luxusvillen. Die Grundstückseigentümer der Apfelplantagen ließen sich vom schnellen Profit verführen, verkauften Grund und Boden. Der Gewinn zerrann allerdings bald, und mit den gefällten Bäumen ging das Zuchtgeheimnis der fabelhaften Apfelsorte verloren.
Während mir beim Anflug auf Almaty diese Apfelgeschichte durch den Kopf geht, über die ich vor Jahren einmal einen Bericht gelesen habe, strenge ich mich weiterhin an, einen Blick auf meine Sehnsuchtsstadt zu erhaschen. Doch ich sehe – nichts! Es ist Nacht. Unten herrscht Dunkelheit. Pechschwarz, nirgendwo eine Beleuchtung. Erst beim Landen sehe ich Licht, doch es sind die Lichter des Flughafens.
Um Mitternacht steigen wir aus dem Flugzeug. Erstaunlich rasch sind die Zollformalitäten erledigt. Der kasachische Partner des deutschen Jagdreiseveranstalters nimmt die Gruppe in Empfang und hat dafür gesorgt, dass unsere Einreise problemlos vonstattengeht. Auch das Fahrzeug, ein robuster Kleinbus, steht bereit, um uns zum Ausgangspunkt, dem Hauptcamp im Alatau, zu befördern. Bevor es aber losgehen kann, sammelt die Russin Swetlana, eine rundliche und resolute Mitinhaberin des kasachischen Unternehmens, die Pässe der Jäger wieder ein, um die Waffennummern eintragen zu lassen – sofern ich es richtig verstanden habe. Unsere Gruppe verharrt untätig neben dem Fahrzeug auf dem nachtdunklen Parkplatz. Gesprochen wird kaum. Niemand außer mir scheint ungeduldig zu sein und sich zu wundern, dass die administrative Maßnahme ganze zwei Stunden in Anspruch nimmt.
»Warum das wohl so lange dauert?«, murmle ich vor mich hin. Niemand sagt ein Wort dazu.
Nach siebenstündigem Flug und fünf Stunden Zeitverschiebung ist es nach meiner inneren Uhr nicht Mitternacht, sondern schon fünf Uhr in der Früh. Ich bin müde, hundemüde, wie man so sagt. Liebend gern würde ich mich zum Schlafen hinlegen. Gleichzeitig bedauere ich, dass ich nichts von der Stadt sehen werde.
Zwei Uhr nachts Ortszeit, da kommt Swetlana lustig mit den Pässen wedelnd zurück und händigt sie den Jägern aus. Wir würden sie erst bei unserer Rückkehr wiedersehen, im Hauptcamp aber ihren Mann treffen, der dort als Campmanager tätig sei, teilt sie uns mit und wünscht auf Deutsch: »Gute Fahrt!«
Im Fahrzeug sitzen wir eng gedrängt und steif auf harten Bänken in Dreierreihen, ohne uns ausstrecken oder uns wenigstens bequem zurücklehnen zu können. Zunächst rollt das Auto auf Asphaltstraßen durch die Dunkelheit. Ich erspähe spärlich beleuchtete kleine Häuser, die wohl zu einem Vorort von Almaty gehören. Nach wenigen Kilometern schon wird die Fahrt holprig, es scheint keine Straße mehr zu sein, sondern eine löchrige Piste. Selten leuchten Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs auf. Immer weiter geht es hinaus in die Nacht. Im Sitzen zu schlafen ist mir unmöglich. Kaum bin ich eingedöst, schrecke ich jedes Mal unangenehm auf, wenn mein Kopf nach vorn absackt. Holger, der neben mir sitzt, erträgt wortlos die Unbequemlichkeit, ebenso wie die anderen fünf Mitfahrer. Harte Männer klagen nicht, denke ich bei mir. Doch ich würde mich wohler fühlen, wenn auch sie ein wenig stöhnen würden. Wenn man sich über seine Empfindungen austauschen kann, sie miteinander teilt, dann fühlt man sich gleich besser, so geht es mir jedenfalls.
Allmählich lichtet sich der Nachthimmel, graues, konturloses Land breitet sich draußen aus. Ortschaften sind weit und breit keine zu sehen. Die Straße besteht tatsächlich aus Löchern und ausgewaschenen Rinnen, wie ich jetzt erkennen kann. Quälend langsam kommt unser Fahrzeug voran. Wie in einer Rüttelmaschine werden wir seit Stunden durchgeschüttelt. Im ersten Morgenlicht halten wir an einer Tankstelle, wo wir Euro in kasachisches Geld wechseln und Lebensmittel und Getränke kaufen können. Die Jäger, auch mein Bruder, decken sich mit Bier und wahrscheinlich auch mit härteren alkoholischen Getränken ein und holen Kekse und Süßigkeiten. Ich kaufe nichts, habe einfach keine Lust dazu, aber mein Bruder bringt mir eine Flasche Limo mit.
Während die Männer im Laden sind, laufe ich hinter das Gebäude und erblicke im Morgendunst eine bläulich schimmernde Bergkulisse. Der Anblick der Berge lässt mein Herz höherschlagen. Seit ich denken kann, faszinieren mich Gebirge. Diese raue, wilde und menschenfeindliche Umwelt zieht mich unwiderstehlich an. In wenigen Stunden werden wir dort sein, ich kann es kaum erwarten.
Eine Elster fliegt über mich hinweg und lässt sich laut keckernd auf einem Ast nieder. Ich freue mich über ihren Anblick. Mir geht es gleich noch besser, ihr so vertrautes Rufen muntert mich auf. Warum sind es gerade Vögel, die mich berühren? Warum haben sie meine bevorzugte Aufmerksamkeit? Warum sind sie es, vor allen anderen Tieren, die mir ans Herz gewachsen sind? Lange habe ich nicht bemerkt, dass Vögel mir ganz besonders nahestehen. Ursprünglich machte ich keinen Unterschied zwischen ihnen und anderen Lebewesen. Während meiner Kindheit waren sie mir alle, ob Tier oder Pflanze, gleichwertig. Ob Buschwindröschen, Salomonssiegel, Bittersüßer Nachtschatten und Wiesenschaumkraut, ob Schnecken, Käfer, Schmetterlinge, Eidechsen und Schlangen, sie alle nahmen mich für sich ein. Ich wollte sie kennenlernen, immer mehr und immer neue Arten entdecken, und vor allem wollte ich ihre Namen wissen. Diese herauszufinden war schwierig und mühsam, denn es gab in meiner Kindheit niemanden, den ich hätte fragen können. Auch mein Vater konnte mir keine Hilfe sein, er hatte neben seiner anspruchsvollen organisatorischen Arbeit als Leiter der Volkshochschule ein Fernstudium zum Diplom-Geschichtslehrer begonnen. Deshalb hatte er damals wenig Zeit für mich. Und obwohl er die Natur liebte, waren ihm die Namen der Tiere und Pflanzen nicht so wichtig. Ihm genügte es zum Beispiel, eine Schwalbe von anderen Arten unterscheiden zu können, ich aber war stolz, den Unterschied zwischen einer Mehl- und einer Rauchschwalbe zu erkennen, sogar dann, wenn ich sie nur am Himmel fliegen sah.
Ebenso wenig gab es Bestimmungsbücher oder Naturdokumentationen, weder im Kino noch im Fernsehen. Einen Flimmerkasten, wie der Fernseher genannt wurde, damals noch schwarz-weiß, hatte meine Familie sowieso erst viel später. So durchstöberte ich die Lexika meines Vaters nach Abbildungen und die Sammelalben meines Großvaters mit Tier- und Pflanzenbildern, die man für Zigarettenkauf bekam. Auch ein Buch über Heilpflanzen gab Auskunft. Jedes Mal, wenn ich wieder einen Namen für eine Pflanze oder ein Tier herausgefunden hatte, wurde ich mit einem Glücksgefühl belohnt. Durch die Schwierigkeiten, die es mich gekostet hatte, war mir dieses Wissen dann besonders wertvoll. Meine Suche nach den Namen der Lebewesen wuchs sich zu einer echten Leidenschaft aus. Ich spürte und begriff: Erst mit dem Namen eines Schmetterlings, einer Blume, eines Baumes entstand eine Verbindung zwischen mir und der Natur. Wusste ich die Namen der Geschöpfe, war ich nicht mehr allein, wurde ich zu einem Teil der Schöpfung und gehörte dazu, dann fühlte ich mich geborgen und mit allem verbunden.
Wenn ich so zurückdenke, dünkt es mich erstaunlich, wie ich als Kind ohne Anleitung, ohne Vorbilder, ohne Hilfe und ohne Bestätigung durch Erwachsene diesen Weg in und zu der Natur von selbst finden konnte. Niemand in meiner Umgebung interessierte sich dafür. Und niemand ahnte, wie leidenschaftlich ich mich der Entdeckerlust hingab. Für mich war es wie das Lernen einer Geheimsprache. Ich vermisste es nicht, dass ich meine Erforschung der Natur mit niemandem teilen konnte. Im Gegenteil: Ich genoss es, etwas zu wissen, was sonst keinem bekannt war.
Mein Vater nahm mich zwar, etwa so ab meinem zehnten Lebensjahr, hin und wieder mit auf die Jagd. Von ihm lernte ich, wie man die Windrichtung bestimmt und sich gegen den Wind an Wild heranpirscht, er zeigte mir, wie ich das Alter eines Rehbocks oder einer Ricke erkennen kann, und weihte mich in vieles mehr ein, was die jagdbaren Wildtiere betrifft. Doch mein Interesse ging schon damals tiefer und weiter, ich wollte über alle Lebewesen mehr wissen, vor allem wollte ich immer neue Arten kennenlernen und erforschen. Für mich waren Schnecken genauso wichtig wie die Beobachtung von Wildschweinen. Ein mir unbekannter Käfer faszinierte mich ebenso wie ein Rehkitz. Versuchte ich jedoch, meinen Vater für diese Krabbeltiere zu interessieren, lächelte er gutmütig und meinte, es sei doch egal, wie sie heißen würden.
Während meiner Kindertage durchstreifte ich unermüdlich die Wälder, Wiesen, Heckenrosen- und Wacholderwildnisse meiner Heimat in Freyburg und die sumpfigen Auen der Unstrut, stets auf der Suche nach neuen Arten, nach Lebewesen, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Ich fühlte mich schon damals als Entdeckungsreisende. Unbedingt wollte ich später, sobald ich erwachsen war, in ferne Länder aufbrechen, um mein Leben, und zwar mein ganzes Leben, uneingeschränkt der Erforschung fremder Lebewesen widmen zu können.
Die Vögel waren für mich in dieser Zeit, wie gesagt, Tiere unter vielen anderen. Doch mehr und mehr wandte ich mich ihnen zu. Allmählich begriff ich, dass Vögel zu einer besonderen Tiergruppe gehören. Denn sie sind mit ganz einmaligen Eigenschaften beschenkt. Als einzige Lebewesen hüllt sie ein Federkleid ein, und diese Federn können eine im Tierreich einzigartige Farbenpracht entfalten. Gewiss, auch Schmetterlinge, Käfer und Korallenfische erfreuen durch ihre Buntheit. Doch nur bei den Vögeln gibt es diese Vielfalt, nur bei ihnen hat jede einzelne Art ihre ganz speziellen Farben. Da ist das Kobaltblau des Prachtfasans, den ich im Himalaja bewunderte, das schimmernde Gefieder des Glanzstars, den ich in Namibia sah, und das aufblitzende Türkis des heimischen Eisvogels, dessen Anblick mir immer einen freudigen Ausruf entlockt. Andere prunken in Rot, wie Gimpel, Bluthänfling und Rotkehlchen. Da ist das goldene Leuchten des Pirols und der Goldammer oder das Clownsgewand der Stieglitze. Und erst die Farbpalette tropischer Vögel, von den Papageien bis zu den Kolibris! Gerade diese Vielfalt der Gefiederzeichnungen bewirkt, dass sich zahlreiche Hobbyornithologen der Vogelbeobachtung und Artbestimmung in ihrer Freizeit widmen,
Doch Vögel haben noch viel mehr zu bieten, etwas unvergleichlich Schönes – ihren Gesang. Und auch da hat wieder jede Art die ihr eigenen Melodien. Ohne den Sänger selbst zu sehen, kann ich ihn an seiner Stimme erkennen, weiß, welcher Vogel sich hoch im Baumgeäst oder im dichten Gebüsch versteckt. Bin ich mit Freunden unterwegs beim Wandern, sind diese überrascht, wenn ich ihnen sage, dort singt ein Buchfink, da drüben jubiliert ein Fitis, und im Unterholz schmettert der Zaunkönig sein Lied – und obwohl er einer der kleinsten Sänger ist, hat er eine unglaubliche Stimmkraft. Das anfängliche Staunen meiner Mitwanderer erlischt bald, denn sie als Ungeübte hören nur ein undefinierbares Gezwitscher. Es verlangt Übung, die Töne zu unterscheiden und den einzelnen Arten zuzuordnen.
Ich habe mir die Gesänge bereits als Kind eingeprägt, habe mich an die mir zuvor unbekannten Sänger angeschlichen, bis ich sie sah und feststellen konnte, wer da singt. So hatte mein Gehör Zeit, sich an die Töne zu gewöhnen und sie untrennbar mit der zugehörigen Vogelart zu verbinden. Allerdings muss auch ich jedes Frühjahr meine Ohren wieder neu eichen, wenn im Frühlingswald der vielstimmige Vogelchor erschallt und die einzelnen Gesänge ineinanderfließen.
Doch damit nicht genug. Die Einzigartigkeit der Vögel erschöpft sich nicht in ihrem arteigenen Federkleid und ihrem Gesang, sie verfügen über eine weitere einmalige Fähigkeit – sie können fliegen! Nun gut, auch Fledermäuse, Flughunde und manche Insekten beherrschen den Luftraum, jedoch sehen wir sie meist nicht, weil die einen nur nachts und in der Dämmerung fliegen und die anderen zu klein oder uns eher lästig sind. Die Flugkünste der Vögel hingegen können wir überall bewundern, ob in unseren Gärten, Städten oder Dörfern, auf Feldern, im Wald, auf Wiesen und im Gebirge. Vögel teilen den Lebensraum mit uns, sie sind allgegenwärtig und unsere ständigen Begleiter. So selbstverständlich sind sie uns, dass wir mitunter vergessen und nicht wahrnehmen, wie einzigartig sie eigentlich sind.
Weiter geht es auf der Holperstraße. Die Sonne steigt über den Horizont. Es wird jetzt richtig hell. Bald halten wir wieder und bekommen Frühstück in einer Imbissstube am Straßenrand. Wir sitzen an einem länglichen Holztisch, und ich blicke ringsum in graue Gesichter. Wahrscheinlich sehe ich genauso zermürbt aus. Eine fröhliche Stimmung will nicht aufkommen, selbst als Kaffee serviert und vor jeden ein Teller mit drei Spiegeleiern gestellt wird – außer vor mich. Aus unerfindlichen Gründen soll ich frühmorgens einen lieblos arrangierten Salat aus ein paar welken Blättern, Zwiebeln und Tomaten verspeisen. Vielleicht weil ich keine Jägerin bin und die einzige Frau in der Gruppe? Jedenfalls weigere ich mich, den Salat anzurühren, und bestehe darauf, ebenfalls Eier zu bekommen. Die Wirtin, erkennbar russischer Abstammung, schaut mich stumm und mürrisch an und tut zunächst so, als würde sie mich nicht verstehen. Als die anderen bereits fertig gegessen haben, bringt sie mir aber schließlich das Gewünschte. Vielleicht täusche ich mich, doch ich habe den Eindruck, als würde sich mein Bruder über mein Benehmen ärgern. Wahrscheinlich möchte er bei den anderen Jägern nicht unangenehm auffallen und hätte sich wohl gewünscht, dass ich klaglos den Salat mampfe. Vielleicht ist er aber auch nur wegen der durchwachten Nacht und aus Müdigkeit wortkarg und abweisend.
Holger Tatsächlich hatten außer meiner Schwester alle ihre Spiegeleier erhalten. Wahrscheinlich hatte man ihre Portion nur vergessen. Meine Schwester glaubte tatsächlich, sie werde absichtlich benachteiligt, und war deshalb sehr ungehalten. Als ich es bemerkte, ging ich sofort zu den Küchenfrauen, die mir zu verstehen gaben, die Spiegeleier seien in der Pfanne und würden in Kürze serviert.
Ich ahnte da schon nichts Gutes. Das lange Warten am Flughafen auf die Dolmetscherin, die Männer, die Autoabgase und das holprige Fahren auf der Piste und dann noch die Spiegeleier waren zu meinem Leidwesen – obwohl ich hoffte, dass es nicht geschähe – der Beginn für ihren »Kriegspfad«.
Von den anderen Jägern kann ich mir kein Bild machen, weiß nicht, wie sie heißen und woher sie kommen. Zwar haben wir uns am Flughafen einander vorgestellt, doch habe ich mir die einzelnen Namen noch nicht eingeprägt. Bisher hat sich, auch bei der Frühstückspause, kein Gespräch entwickelt. Später erfahre ich, dass die anderen und auch mein Bruder vom Reiseveranstalter über die jeweiligen Teilnehmer informiert wurden. Sie wissen also, wer wie heißt, wie alt der Einzelne ist, welchen Beruf jeder ausübt und welche Jagderfahrung sie haben. Informationen, die ich vorab auch gern gehabt hätte, um mir ein erstes Bild von den Mitreisenden zu machen.
Weiter geht es durch eine schier endlose Steppe. Seltsam, wir fahren an drei Friedhöfen vorbei, die dicht an der Straße liegen, aber ohne eine Siedlung in der Nähe. Was ich beim Vorbeifahren erspähen kann, sind mit arabischem Halbmond geschmückte Gräber und einige mausoleum- oder moscheeartige Kuppeln. Wie geheimnisvolle, verzauberte Städte aus vergangenen Zeiten wirken diese Friedhöfe.
Bei Tageslicht erkenne ich deutlich, wie total verrottet die Fahrbahn ist. Da wölben sich zerrissene Reste des Asphalts neben canyonartigen Vertiefungen. Der Fahrer befleißigt sich einer eigenartigen Fahrweise. Die Räder der rechten Fahrzeugseite lässt er auf der festgefahrenen Erde neben der Straße rollen. Da dieser Rand aber zu schmal ist, fährt er mit den Rädern der linken Seite auf der ehemaligen Straße. Die Erschütterungen für uns Passagiere im Inneren sind gewaltig.
Diese karge, eintönige und flache Landschaft im äußersten Osten Kasachstans wird auch Wermutsteppe genannt, weil außer dieser anspruchslosen Pflanze wenig anderes hier gedeiht. Rund ums Jahr wird die Gegend vom Wind gebeutelt, der im Frühjahr und Herbst mit über hundert Stundenkilometern übers Land rast. Fast immer kommt er aus Südosten durch die Dsungarische Pforte, einen schmalen Einschnitt zwischen den Bergen. Zu Zeiten der Seidenstraße war es ein wichtiger Durchlass für Handelskarawanen, aber auch die kriegerischen Horden der Dsungaren fielen früher durch diese Senke ein, die seither nach diesem Stamm benannt ist. Die Kasachen warnten sich durch weithin sichtbare Feuer auf den Bergrücken vor den Überfällen. Seit dem 16. Jahrhundert versuchten die Dsungaren, ihr Reich nach Westen auszudehnen. Sie waren Buddhisten, ehemals Angehörige des Mongolenreiches und Kämpfer unter Dschingis Khan. In der wechselvollen Geschichte Kasachstans wird diese Zeit als »Jahre der großen Not« bezeichnet. Buddhafiguren in Felsen graviert, eingeritzte Zeichen in Sanskrit und buddhistische Gebetstempel geben Zeugnis von der Anwesenheit der dsungarischen Steppennomaden im Osten Kasachstans.
Schließlich wussten sich die kasachischen Stammesältesten, die Khane, nicht mehr anders zu helfen, als im Jahr 1731 einen Beistandspakt mit Russland zu schließen. Es war ein verhängnisvoller Fehler. Die folgenden 150 Jahre gehörte das gesamte kasachische Territorium zum russischen Zarenreich.