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Das Motto stammt aus The Inner Light
M&T: George Harrison
© Northern Songs Ltd
Mit freundlicher Genehmigung der Sony Music Publishing (Germany) GmbH
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: © Christian Kracht und FinePic®, München
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Für Anneliese, Arnold und Wutzi, in Dankbarkeit für all die Reisen
Without going out of your door
You can know all things on earth
Without looking out of your window
You could know the ways of heaven
The farther one travels
The less one knows
The less one really knows
Arrive without traveling
See all without looking
Do all without doing
Wie beginnt das Reisen? Wer mit Fernseher und Internet aufgewachsen ist, wurde, anders als die meisten Reisenden im 20. Jahrhundert, bereits mit einem überbordenden Repertoire an bewegten Bildern von den letzten Enden der Welt ausgestattet. Wir kennen jeden Winkel der Erde als Foto, als Film oder aus dem World Wide Web, via Google Earth oder GPS, und haben eine Elementartugend verloren: die Fähigkeit, uns auf etwas einzulassen und ein Gefühl der Überraschung zu erfahren. Wer so ins Leben geht, hat vor welchem Aufbruch wohin auch immer zunächst vor allem eins zu tun: Löschen. Vergessen. Den Zähler wieder auf null stellen. Nur so entgeht man der Versuchung, es sich leicht zu machen und in ungesättigtem Strukturhunger nur das aus dem Kopf Vertraute vorzufinden. Wenn wir Key West hören, haben wir sofort Hemingway vor Augen. Bereits Max Frisch konnte nicht umhin, sich selbst von den entferntesten Landschaften stets an seine Heimat, die Schweiz erinnern zu lassen. In seinem immer noch verblüffend zeitgenössischen Roman Homo Faber beschreibt er in der Figur des technisch-rationalen Walter Faber den modernen Menschen schlechthin. Nur das Versagen des Systems, im Buch bezeichnenderweise ein Flugzeugabsturz, vermittelt den Einbruch des Schicksalhaften in ein Leben, das auf Reisen seither einen kaum überbietbaren Grad an Perfektion erreicht hat
Wir besitzen knitterfreie Reisehosen von Prada, ein Overnight Kit gegen den Jetlag, Melatonin zur Anpassung an das absurdeste Durchqueren von Zeitzonen. Wenn wir einchecken, dann in speziell abgetrennten Zonen für BusinessFirst wie auf dem apart in Glas und Stahl glänzenden Terminal 2 des Münchener Flughafens. Von dort aus gleiten wir durch ein hypermodern aseptisches Einkaufszentrum in die Lederfauteuils der Wohnlounges, um den Abflug zu erwarten. Drinks, Snacks, Speisen. Zeitungen, Magazine, Videobildschirme. Getönte Scheiben, Teppiche, Ruheliegen. Arbeitszellen mit Computer, Fax und Internet – alles ist dazu entworfen, von dem Umstand abzulenken, dass wir uns in einem Transitzustand befinden, der in sich das größte Abenteuer birgt: eine Abfahrt mit stets offenem Ausgang, ein Risiko. Wer weiß denn am Boden schon, ob nicht ein Hurrikan die Flugbahn kreuzt, der Pilot gerade ein persönliches Problem mit sich ins Cockpit nimmt, das ihn im entscheidenden Moment einen kleinen Fehler begehen lässt, weil er nicht auf das Signal des Funkfeuers achtet, sondern immer noch die geliebte Stimme der Frau im Ohr hat, wie sie eine unangenehme Wahrheit ausspricht.
Uneingedenk all dessen trotten wir durch den Bordschlauch in die Maschine, richten uns auf dem Liegesessel ein, bekommen ein Getränk serviert und bereiten uns auf einen Langstreckenflug durch die Nacht vor. Wir essen ein auf den Punkt gegartes Gericht, trinken wohltemperierten Wein und schlafen später ein. Dann, irgendwo über dem Subkontinent oder der unendlichen Weite eines Ozeans, wenn die Luft in der Kabine immer dünner wird, erwachen wir kurz irritiert aus einem verstörenden Traum. Wir nehmen die Schlafbrille ab, schauen auf, und in der Eiseskälte draußen schimmert der Sternenhimmel, der Mond steht eigentlich genau neben dem Fenster. In diesem Moment wird einem klar, dass es kaum etwas gibt, das schöner und unnatürlicher zugleich sein könnte, als mit unfassbarer Geschwindigkeit im Jetstream dahinzurauschen. Der Bildschirm aus der Armlehne zeigt die genaue Bahn der Maschine in einer breiten roten Linie, die ein unsichtbarer Filzstift in sensationeller Langsamkeit über die grün, braun und blau leuchtenden Erdteile und Gewässer fortzeichnet. Und plötzlich beginnt etwas Unerwartetes: ein schweres Rütteln, aus dem Nichts. Die Anschnallzeichen gehen an, es gibt eine kryptische Durchsage, und das Flugzeug schlingert durch die klare wolkenlose Atmosphäre. Die schweren Flügel ächzen, wir fallen immer wieder tief. An den Manövern des Piloten ist zu erkennen, dass nichts hilft, keine Änderung der Flughöhe, keine Korrektur der Richtung, alles scheint außer Kontrolle zu geraten. In so einem unerklärlichen Moment kommt die Angst zurück, das Unvorhersehbare bricht herein. Wir werden von der Natur in die Grenzen verwiesen. Ein Schmetterling fliegt durch den Regenwald. Sein Schlag verwandelt Wind in Stürme bald. Die Entropie des Vorgangs macht uns klar, wie ausgeliefert wir eigentlich noch immer sind.
In solchen Augenblicken rufen sich die vielen Stationen eines Reiselebens in die Erinnerung zurück. Die Szenen, die sich unauslöschlich in unser Gedächtnis eingebrannt haben, sind nicht grundlos meistens solche, die einen offenen Ausgang hatten. Ob es die schwerste Etappe per Anhalter nach Paris an einer Autobahnabzweigung irgendwo bei Metz ist, da man in einen alten Mercedes steigt zu einer Rockband in dunklen Sonnenbrillen auf dem Weg zum Underground-Gig und sich die ersten Haschischschwaden aus dem Mund des Lenkers ausbreiten. Vielleicht auch eine Nachtfahrt durch die Wüste Sinai im geliehenen Peugeot 504 kurz vor Ausbruch des schwelenden Golfkriegs, wenn irgendwann ein Reifen platzt im Niemandsland. Oder eine Bootsfahrt durch die Molukkensee zur Besteigung eines Vulkans, dessen Scheitelpunkt vor Sonnenaufgang erreicht werden muss, weil sonst die Sonne in tödlicher Hitze jede Bewegung lähmt und alles verbrennt. Fast scheint es so, dass nur noch ein etwaiges Unglück, das uns zustößt, oder eine solche Extremsituation, die wir erfahren inmitten des technisch hochgerüsteten Flugverkehrs, eine Ahnung davon vermitteln, was Reisen einmal gewesen sein muss: der Aufbruch ins Ungewisse, das Abenteuer einer Passage, deren Ziel nicht von vornherein feststeht und deren Weg alles andere als abgesichert ist.
Wie das aussah und sich anfühlte, erschließt sich nur noch durch Lesen. Die Idee davon speist sich aus Worten, zu denen sich im Kopf Bilder addieren. Der zentrale Satz der Verzweiflung, in dem der ganze Irrsinn des Unterwegsseins wie in einem Brennglas gebündelt ist, gab einer Sammlung von Geschichten des Gentleman-Reisenden Bruce Chatwin den Titel: What am I doing here? Was mache ich hier, gehöre ich hier hin oder her? In der großen Sehnsucht, die abwegigsten Orte und Landschaften zu bereisen, beschleicht die Sensibleren unter uns ein Verdacht, den wir nie ganz loszuwerden vermögen, ein Gefühl von Schuld. Weil es nicht selbstverständlich ist, seine Scholle Land, auf der man aufwächst, zu verlassen. Mit der Anwesenheit im Woanders ist eine Verantwortung, eine Pflicht verbunden, die nur wenige wahrnehmen: Interesse und Erkenntnis.
Das Vermögen, auch in den seltsamsten Gebräuchen und Sitten, die man vorfindet, ein Gleiches im Menschen zu entdecken, die gemeinsame Wurzel. Sie ist in einem Wort aus dem Sanskrit wiedergegeben, das der Reisephilosoph Schopenhauer in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit zitiert: Tat twam asi – das bist du. Der Mensch geht in die Welt, sieht andere Menschen und erkennt: Etwas davon steckt auch in mir, natürlich. Es geht um Respekt vor der Tatsache, dass Reisen ein Privileg ist, das immer noch lediglich einer verschwindend geringen Zahl der Erdbewohner gegeben ist. Bruce Chatwin fuhr nach Australien und widmete den Überlieferungsformen der Mitteilung, mit denen sich die Ureinwohner verständigen, ein ganzes Buch. Die sogenannten »Songlines« so auch der Titel, sind Zeugnis der Tatsache, dass jede Bewegung aus der Heimat hinaus in die Fremde des Protokolls bedarf. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen, sagt ein Sprichwort, und darauf kommt es an. Chatwin entwirft die Figur den Reisenden im 20. Jahrhundert neu, als Fremden, der sich seiner Fremdheit bewusst ist. Ob er in der verkarsteten Landschaft Patagoniens umherfährt oder im Hindukusch Berge erklimmt – immer erweist er sich bereits formal der Aufgabe gewachsen. Man sieht ihn auf den Fotografien nie in abgewetzten Kleiderresten, sondern stets unverwüstlich elegant, als Botschafter einer Reiseuniform, mit der bereits Fürst Almásy im Englischen Patienten seine Expedition nach Ägypten antritt: im weißen oder hellblauen Buttondown-Hemd, beigen Chinos und den unvermeidlichen Desert Boots. Wie Annemarie Schwarzenbach, die in tadellosem weißem Hemd und Pullunder mit ihrem Auto samt Graubündner Kennzeichen durch die kargen Wüstenlandschaften Persiens reiste.
Diese Betonung der Form richtet sich gegen die lange Zeit verbreitete Unsitte, sich den Ureinwohnern optisch angleichen zu wollen, um das Trennende zu verwischen. Dabei trägt man überall seine Geschichte mit hin, das unteilbare Leben, das mit dem Wort Individuum bezeichnet ist. Die Kleidung ist also immer Spiegel der Herkunft und signalisiert, dass sich ihr Träger des Andersseins wohl bewusst ist. Das Travel-Jackett zum Beispiel, das Brioni Ende der Sechzigerjahre auf Anfrage eines amerikanischen Kunden entwarf, gab der Idee des Jetset eine modische Gestalt. Die vielen Taschen für Tickets, Zeitungen und Utensilien verraten das Ideal des Reisenden, alles Wichtige ganz nah am Körper zu tragen, um überall auf der Welt zu Hause zu sein. Die magischen drei Buchstaben TWA auf dem Ticket erzählen noch einmal von der Faszination, die das Fliegen einst hatte. Trans World Airlines, die ganze Welt in der Nussschale der Bezeichnung einer Fluggesellschaft, die bezeichnenderweise aufgrund einer Absturzkatastrophe über dem Atlantik aus dem Register verschwinden musste. Ihr Abfluggebäude auf dem New Yorker JFK-Airport ist bis heute in seiner geschwungen-dynamischen Form das ästhetischste Stück Reisearchitektur, das man sich vorstellen kann.
Solche Bilder sind es, die unserer Generation noch bleiben, da fast alles entdeckt ist: eine neue Form des Reisens, die sich vor allem im Nach-Fahren anderer erschöpft. Und doch müssen wir irgendwann erkennen, dass der große Reiz des Sehens, des Ansammelns von Bildern und Länderpunkten, nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass etwas Wesentliches fehlt. Durch das Internet besitzen wir zwar die Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu stehen, die sich am anderen Ende der Welt befinden. Doch die Nähe ist nur scheinbar. Das verlockende Gefühl, die Welt an einem Bildschirm umsegeln zu können, ersetzt die alten Mythen nicht. Finis Terrae, dieser Endpunkt jeder Landpartie, der früher die magische Grenze zu den großen Gewässern bezeichnete, hinter deren gekrümmtem Horizont die Ferne lockte, hat seine elementare Bedeutung verloren. Die präzise Verortung des Augenblicks geschieht heute mit Mobiltelefonen, wir melden uns von überall und wissen manchmal gar nicht, was wir sagen sollen. Weil wir über dem Reisen die tragischen Geschichten vergessen haben, die ihm oft zugrunde liegen. Eine persönliche Not, die zum Überleben notwendige Fahrten motiviert hat, eine Flucht vor Krieg oder mörderischen Regimes.
Und plötzlich müssen wir erkennen, dass es nichts Spannenderes gibt als eine Autofahrt nach Polen, um die Orte kennenzulernen, die ganz persönlich zu uns gehören, weil unsere leiblichen Vorfahren sie bevölkerten. Die Weltläufigkeit hat uns blind gemacht für das Naheliegendste: Familie. Man sitzt an einem Abend mit Freunden in einer Bar und stellt fest, dass eigentlich alle ihre Herkunft, ein paar Generation zurückgedacht, irgendwo in Schlesien oder Ostpreußen haben. Nichts gleicht der Schwere der Erkenntnis, dass es eine entscheidende Lücke gibt, die zwischen den Seychellen, Tokio, Ägypten und San Francisco klafft, die nicht mit dem Sommerurlaub auf Sylt oder den Skiferien in der Schweiz gefüllt werden kann: die des fatalen Umstands, dass wir das Wesentliche noch gar nicht kennen, die Landschaft der Ahnen. Die Sehnsucht danach resultiert aus der immer gleicher werdenden Welt um uns herum. Wenn Shoppingmalls auf allen Kontinenten austauschbar werden, Radiosender in Südindien oder Norddeutschland die gleichen Hits spielen und H&M mit denselben Kleidern überall präsent ist, geht der Impuls nach innen.
Es geht um den verzweifelten Versuch, Maßstäbe zu finden, die dem menschlichen Leben gerecht werden. Und die kann man nur aus der persönlichen Geschichte entwickeln. Dann ist man irgendwann auch wieder dazu in der Lage, die positiven Seiten des Reisens im 21. Jahrhundert genießen zu können. Wie der junge Künstler Doug Aitken, der eines seiner Werke »New Ocean« betitelte und damit eine Gegenwart meint, die möglicherweise am Beginn einer völlig neuen Art von Existenz steht: das Chaos als neues Modell einer Welt unterwegs, in der Menschen sich als Nomaden ohne Sicherheit bewegen, im Selbst allein für sich. Er ist für die Sammlung seines Materials weit gereist, von Alaska über Argentinien bis nach Tokio, und präsentiert Videoaufnahmen von Natur und Menschen. Abschmelzende Gletscher, zerbrechende Eisflächen treffen auf ein japanisches Pärchen vor einer Großstadtmüllhalde und einen Rapper in der Bronx. Und weil er die Bilder aus dem ewigen Eis kaleidoskopartig gegeneinander stellt, formen sich mitten aus der Natur plötzlich Gesichter, während im Gegenzug Großstadtsilhouetten die archaische Anmutung von Naturphänomenen bekommen. Was mache ich eigentlich hier? Das scheinen sich auch die Menschen in Aitkens Werk zu fragen und sind genau in dieser selbstbewussten Ratlosigkeit stellvertretend für einen neuen Typus des Menschen unterwegs. Aitken sieht seinen neuen Ozean als Bild für das 21. Jahrhundert: ein gewaltiges Elementargebiet, in dem die einzige Gewissheit in der Verwandlung besteht, der Bewegung von Menschen zueinander hin und voneinander weg.
Heute, da durch die vermaledeite Pandemie die nächste Abfahrt, wie es bei Zugverspätungen oft so schön heißt, auf unbestimmte Zeit verschoben ist, suchen wir, wenn uns der Aufbruch endlich wieder möglich sein wird, im Reisen all das, was uns im täglichen Leben fehlt: das Ende der Langeweile, die Wahrnehmung des Neuen und den Schatz der Geschichten, den es uns verschafft. Nicht zuletzt aber auch etwas ganz anderes: Wer den Satellitenfilm unendlich vergrößert, kann sie genau sehen, die unzähligen rastlosen Schicksale unterwegs, die versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen mit Arbeit, Karriere und dem Ringen um Gesundheit. Dabei liegt all dem etwas ganz anderes zugrunde: das Verlangen nach Glück. Das im spannendsten Moment des Films dort entsteht, wo sich inmitten des unglaublichen Durcheinanders zwei Menschen begegnen und das nomadische Prinzip mit einem ganz alten Affekt zu durchkreuzen wagen: indem sie Anteil am Schicksal des anderen nehmen. Denn Reisen ist nicht zuletzt auch die unaufhörliche Suche nach dem einzigen Moment, den man noch mehr ersehnt als die nächste Abfahrt irgendwohin: den der Liebe.
Fernweh beginnt mit Worten. Mit einem Klang, der die Sehnsucht nach Abenteuer bereits in der magischen Abfolge seiner Wohllaute buchstabiert. Krakatoa zum Beispiel, östlich von Java. Ein Vulkan, so mächtig und gewaltig wie sein Name. Oder Sumatra. Eine Insel, in deren üppigem Dschungel man im Nu einen wilden Tiger vor sich wähnt, Nashörner, Orang-Utans und Elefanten. Oder Bali. Diese grün leuchtende Phantasie aus anmutigen Wellen um die Hügel geschwungener Reisplantagen. Was alle diese Orte eint, ist das riesige Land, in dem sie sich befinden: Indonesien. Kein Land im eigentlichen Sinne. Mehr Kollektion von unzähligen Insel-Juwelen, in einer sanften Kurve aufgeschnürt als Perlenkette geographischer Natur, über 17.000 an der Zahl. Mal links, mal rechts des Äquators. Der Traum des Seefahrers: sie alle zu umrunden.
Doch es sind nicht nur leuchtend schöne Bilder, die sich abrufbar im Kopf einstellen, auch fremde Düfte steigen in die Nase. Die legendären Inseln der Gewürze. Der Tabak. Kaffee und die Pflanze, für die den Kolonialmächten im fernen Europa kein Weg zu weit war und mit der der Wettlauf um den viel zitierten Platz an der Sonne erst begann, die Pflanzereien ihren Ursprung nahmen: Muskatnuss. Zu finden lediglich bei den Molukken, auf den Banda-Inseln, südöstlich von Sulawesi. Ein englischer Ethnologe, George Windsor Earl, kam im 18. Jahrhundert auf einen Namen für das Land, aus dem Griechischen, Indos und Nesos: Indonesien. Indische Insel. Das, was nach Indien ostwärts, immer der Sonne entgegen, irgendwann aus dem Meer auftaucht. Man kann das heute noch auf jedem Flug nach Südostasien mitverfolgen, von oben aus. Und dann das Wappen: Garuda Pancasila. Der Adler ist aus Gold und diente in der Mythologie Lord Vishnu als Vehikel. Schon an dem Motto, das das Wappentier in seinen Klauen hält, kann man lernen, wie das Leben im globalen Zeitalter nur funktionieren kann. Nur dass man in Indonesien mit dieser Einsicht dank der Natur des Landes der Zeit schon etwas voraus war. Kein Wunder bei über 300 verschiedenen ethnischen Gruppen und 742 Sprachen und Dialekten: Bhinneka Tunggal Ika ist Altjavanesisch und meint: Einheit in der Vielfalt – viele, aber dennoch eins. Das Motto entstammt einem traditionellen Gedicht aus dem 14. Jahrhundert, das zur Toleranz zwischen Hindus und Buddhisten rät, und zeigt die eminente Bedeutung der Kultur in Indonesien. Ein Wahlspruch, der in Abwandlung seit 2000 sogar die Europäische Union ziert: »In Vielfalt geeint.« Die Symbole, die der Adler dazu als Schutzschild auf seiner Brust trägt, legen nicht nur Zeugnis von den Bodenschätzen des Landes ab, sondern sind programmatisch zu verstehen: Der Stern in der Mitte bedeutet Glaube an Gott, in allen Religionen. Die Kette aus Quadraten und Kreisen (Männer und Frauen) steht für eine grundgerechte Zivilisation. Der Banyan-Baum für die vielfältigen Wurzeln des Landes, die zu einer Pflanze führen. Der wilde Ochse, dieses soziale Nutztier, symbolisiert Demokratie. Reis und Baumwolle schließlich verdeutlichen soziale Gerechtigkeit, den freien Zugang zu elementaren Gütern.
Ein Bild großer Toleranz, wie die zwei einander zugewandten Tabakdreher auf dem Beutel »Javaanse Jongens«, den ich auf meiner ersten Indonesienreise im Handgepäck bei mir trug, als klassischen Wegbegleiter, zum Teilen animierend. Die Grundfreundlichkeit der Bewohner begegnet einem überall, aber ganz besonders an den fernsten Ecken und Winkeln des Landes. Wer mit einer kleinen Twin Otter der nationalen Fluglinie Merpati Nusantara im ersten Morgengrauen über die weite Bandasee fliegt und irgendwann den Vulkan Gunung Api aus dem Dunst auftauchen sieht, kann sofort die Begeisterung nachvollziehen, mit der die ersten Entdecker in dem Inselparadies am Ende der Welt angekommen sein mussten. Noch heute gilt, dass, wer das pulsierende Herz des Landes erfahren will, am besten einen seiner Vulkane besteigt. Da es um die Mittagszeit am Äquator zu heiß ist, muss der Aufstieg noch zu nachtschlafener Zeit begonnen werden. Der Moment, in dem der Dschungel dann mit den ersten Sonnenstrahlen unter einem zurückbleibt, macht deutlich, dass es nichts anderes als die zwischen den Schuhen dahinrieselnde dunkle vulkanische Erde ist, die die Vegetation Indonesiens so reich und fruchtbar macht. Das Reiseziel Banda Neira war aber auch abgesehen von dem Vulkan nicht grundlos gewählt. Die Verheißung der Muskatnuss, Myristica fragrans, war es, die Portugiesen wie Niederländer im 16. Jahrhundert in die Bandasee brachten. Persische Händler verkauften das Gewächs als Jansi Ban, Bandanuss, und sorgten bereits in der frühen Neuzeit für enorme Popularität als Gewürz und Medizin. Nicht nur die Seltenheit machte sie so besonders, auch die bizarre Form der Nuss, die mit etwas Phantasie einem kleinen Gehirn gleicht, prädestinierte sie für eine nahezu magische Anziehungskraft. In Banda Neira sollte also, wie in der Nuss selbst, so etwas wie der Kern Indonesiens zu finden sein, der Schlüssel zu seinem freundlichen Wesen, den wir auf der Hauptinsel auch fanden.
In Form eines Hotels: dem Maulana Inn. Der Besitzer Des Alwi bewirtete uns vom ersten Moment an mit einer selten gewordenen Großzügigkeit und Gastfreundschaft. Bereits am Abend wurden wir nach dem Essen eingeladen, mit der Hotelband zusammen auf Trommeln zu improvisieren, denn Musik wie auch Tanz gehören zu den ältesten kulturellen Traditionen des Landes. Man kann sich gut vorstellen, mit welcher Euphorie Steve Reich in den Sechzigerjahren auf die seriellen Muster der balinesischen Gamelanklänge reagiert haben muss, als er sie, ein Jahrhundert nach Claude Debussy, der die Metallophon- und Gong-Musik aus Java zuerst bei der Weltausstellung 1889 in Paris gehört hatte, kennenlernte. Des Alwi zeigte uns die Fotografien an der Wand, Arm in Arm mit Jacques Cousteau, der wegen des unglaublich klaren Wassers zum Tauchen in den Archipel gekommen war. Als er am nächsten Tag zu einem Inselspaziergang einlud, um den ältesten Muskatnussbaum zu zeigen, der schon seit über 300 Jahren blüht und gedeiht, erzählte er aber auch von den Verwüstungen, die Holländer und Japaner während ihrer Besatzungszeit auf den Banda-Inseln hinterlassen haben. Und das, obwohl überall auch friedliche Spuren vergangener Kultur zu sehen sind. So steht auf der Nachbarinsel Ai, die nur mit einem geschickt die hohen Wellen parierenden länglichen Ruderboot zu erreichen ist, die älteste christliche Kirche Südostasiens. Der Sand auf der Insel ist der feinste, den ich je in meinem Leben gespürt und gesehen habe. Ein Friedhof mit schräg aus der Erde stehenden Grabsteinen wird in den regenfreien Mittagsstunden zum Wäschetrocknen genutzt.
Als wir abends am Hafen das Ablegen des Fährschiffs nach Ambon beobachteten, als einzige Ortsfremde, luden uns Einwohner freundlich ein, ihrem Fest beizuwohnen. Erst als wir saßen und der Essensreigen begann, wurde uns klar, dass hier etwas Größeres gefeiert werden musste als nur ein Geburtstag. Wir speisten Tempe Goreng, frittiertes Sojabohnentofu. Sate Ayam, die berühmten Hähnchenspieße in Erdnusssoße, dann Ayam Kampung, das Dorfhuhn mit Sambal. Und Mahi-Mahi, der neben dem frischen Sashimi zum köstlichsten gehört, das die Küche zu bieten hatte, fast so gut wie bei Made’s Warung in Kuta Beach. Und dann begann die Zeremonie. Das Familienoberhaupt hatte seine gerade verheiratete Tochter neben sich sitzen, sie war sehr hübsch. Die nur geringfügig weniger hübsche saß auf der anderen Seite, und als der Tanz begann, wurde deutlich, dass es sich bei der herzlichen Einladung auch um eine Art Hochzeitsvorbereitung auf dem Lande gehandelt haben musste. Wir lehnten höflich den Tanz ab und gingen zurück ins Hotel. Als Erinnerung an die Reise bleibt nicht nur ein wunderbar abgegriffenes hölzernes Schachspiel, bei dem ein verloren gegangener schwarzer Bauer einfach durch eine zurechtgeschnitzte pockennarbige Muskatnuss ersetzt wurde. Und mit dem wir emphatische Turniere auf dem Balkon unter dem Vulkan gegen die lokalen See- und Bergführer spielten. Die Gewissheit, dass Geschichtenerzählen, wie wir es durch Des Alwi kennenlernten, eine subtile Spätform der oral history sein musste, die in Indonesien eine große Rolle in der Überlieferung der Tradition spielte.
Es bleiben auch die Erzählungen der malayischen Kolonialzeit von Somerset Maugham, Ah King, als Reiselektüre auf dem Nachttisch. Und die Erkenntnis, dass die Freundlichkeit der Indonesier wohl auch dem Umstand geschuldet ist, dass sie selbst nach den unbarmherzigsten Besatzern und dem Regime Suhartos nicht den Glauben an das Gute im Menschen verloren zu haben scheinen. Dabei hat ihnen gewiss auch die Poesie geholfen. Eine ganz neue Generation von jungen Schriftstellern, von denen ich einige einmal beim World Poetry Festival in Kuala Lumpur kennenlernen durfte, legte von der Popularität, die Lyrik in Indonesien genießt, Zeugnis ab. Indonesien kann man überall kennenlernen, in der Neun-Millionen-Metropole Jakarta oder im entlegenen Ost Nusa Tenggara. Aber kein einzelnes Leben reichte jemals aus, alle seine unzähligen Inseln zu bereisen. Das ist, bei allem Fernweh, am Ende vielleicht ein versöhnlicher Trost. Denn es lehrt uns eine der Elementartugenden des Reisens: Bescheidenheit.
Keiner geht einfach so in eine Pension, man nimmt Quartier. Unterschiedlicher könnte keine Ankunft sein. Erwartet wird der Gast auch im Hotel, die Pension aber empfängt. Wer den Begriff heute sofort mit Familienmuff assoziiert, liegt dennoch selten falsch. Wie viele Überreste vergangener Kultur befindet sich die Idee der Pension im Verfall, ihr Wesen in einer Schwundstufe. Eigentlich schade. Noch während der Siebzigerjahre, zu Hochzeiten der Staatsverunsicherung durch die RAF, konnten Familienurlaube in Pensionen wohlklingende Adressen haben wie das Landhaus Bant auf Juist. Tisch an Tisch fanden sich dort hysterische Studienrätinnen, Atomphysiker und Heiratsschwindler wieder, aus denen Tag für Tag immer neue Wahrscheinlichkeitsdiagramme dramatischer Ereignisse erwuchsen. Der Gegenentwurf Pension, der dort stattfand, spielte Intimität gegen Weltläufigkeit, persönliche Teilnahme gegen die Anonymität des Hotelbetriebs aus. Angesichts der dadurch implizierten verbindlichen Verknüpfung unterschiedlichster Schicksale und Lebenslinien nimmt es wunder, dass sich nicht mehr Filme und Bücher die Pension als ihren zentralen Schauplatz wählten. Ein Idealfall dieses Genres ist gewiss die Verfilmung von E. M. Forsters Roman Zimmer mit Aussicht. Die Pensione Bertolini in Florenz wird für die junge Engländerin Lucy Honeychurch zum Initialort ihrer großen Liebe. Man sitzt zu Tisch mit alten Damen, denen charmante Herren selbst gepflückte Strohblumen als Überraschung um die Metallbetten binden, allein weil sie hörten, dass es ihre Lieblingsblumen seien. Konversation wird gepflegt, aus Gemüseresten zu Tisch werden symbolische Fragezeichen drapiert, um die Dame des Herzens zu provozieren. Es mag an der dort vorgefundenen idealen Atmosphäre liegen, dass George Emerson, in den sich Lucy Honeychurch verliebt hat, bei einem gemeinsamen Ausflug in die Wiesen und Berge von Fiesole übermütig Äste ersteigt, »Liebe, Schönheit, Freiheit« ruft und vom Baum fällt.
Die Pension lässt die Menschen näher zusammenrücken, ermöglicht im Film das Angebot von Vater und Sohn Emerson, Lucy und ihrer als Anstandsdame mitreisenden Cousine ihr Zimmer mit Aussicht zum Tausch anzubieten. Im Esszimmer und dem Salon mit Klavier begegnet man sich unausweichlich wieder und ist zur Auseinandersetzung mit den anderen Gästen gezwungen. Man kommt sich näher, lernt sich fast unweigerlich kennen. Dass die zarten Bande, die dort geknüpft wurden, nach unzähligen Komplikationen doch noch zum Happy End, der Hochzeitsreise nach Florenz, führen, kann einen kaum überraschen. Verbringt man doch in der Pension meistens mehr als eine Nacht, ja ganze Urlaube, die genügend Zeit geben, um sich auf Liebesgeschichten einzulassen. Es mag enttäuschen, dass der Reisende im Florenz der Gegenwart die Pensione Bertolini vergeblich suchen wird. Die gefilmten Räumlichkeiten der Innenaufnahmen sind indes realiter nicht in Florenz zu finden, sondern in der Villa Maiano in Fiesole, die heute für Feste jeder Art zu mieten ist. Die Aussicht von dort oben auf Florenz ist nicht minder spektakulär.
Es gibt keine absurdere Wetterlage in der Stadt der Winde als die Flaute. Und doch ist es gerade sie, die bei genauerem Hinsehen ihre wesentlichen Merkmale so klar wie sonst nie zum Vorschein bringt. Obwohl die Turmuhr am Palazzo Communale schon halb elf zeigt, brennt sich erst jetzt die milde Herbstsonne wie ein leuchtender Ball am Himmel durch den zähen Morgennebel über dem leise vor sich hin plätschernden Mittelmeerwasser im Golf von Triest. Und gibt so endlich den Blick frei auf die entgeisterten Gesichter der Zuschauer auf den Bootsstegen des Hafens, wo seit Tagen das erhabene hölzerne Schulschiff der italienischen Marine vor Anker liegt, die Amerigo Vespucci: Noch am Abend zuvor stand sie feierlich von Scheinwerfern illuminiert in der Trikolore der Nationalfarben Grün, Weiß und Rot. Aber jetzt scheint auch sie eher traurig Tausenden von gehissten weißen Segeln zu salutieren. Was voller Bewegung sein sollte, wird zu einem Gemälde von nahezu abstrakter Schönheit, das von Matisse oder Dufy stammen könnte: ein Meer aus weißen Dreiecken vor überblauem Hintergrund.
Zum Verständnis – wir werden gerade zu Zeugen eines entscheidenden Moments: Der Startschuss für die größte Segelregatta der Welt, die Barcolana, im 51. Jahr ihres Bestehens, ist gefallen, und es geht kein Hauch. Da, wo sonst die Bora wütet, jener gefürchtete Fallwind aus dem Nordosten, der von den Dinarischen Alpen über die Höhenzüge des Karsts an die Küste hinabweht und besonders auf seinem letzten Stück durch die Täler wie in aerodynamischen Testkanälen mörderisch an Fahrt aufnimmt – die stärkste je gemessene Böe würde mit ihren über 300 Stundenkilometern selbst einen Hurrikan in den Schatten stellen –, trübt keine Schaumkrone das spiegelnde Flackern der Wasseroberfläche im Sonnenlicht. Wer auf einem Segelschiff sitzt und in der minimalen Dünung dieses helle Schauspiel ansieht und schaukelnd vor sich hin döst, verspürt seine hypnotische Wirkung. Aber es ist nicht Pan, sondern Boreas, der griechische Gott des Nordwindes, der heute keine Gnade kennt. Er bleibt der meistvermisste Gast des Tages. Die ersten Boote treibt die leichte Strömung sanft rückwärts in den Hafen zurück, als wollten sie eine Abkürzung in die Zielgerade des Rennens nehmen. Dabei werden sie unfreiwillig zum Emblem für ein wesentliches Charaktermerkmal der Stadt Triest: die Melancholie. Lange lag die einst bedeutsame Hafenstadt der Doppelmonarchie nach dem Zweiten Weltkrieg durch ihre grenznahe Lage zu Jugoslawien im europäischen Abseits, fast schon eine Enklave im Ostblock. Aber es war ein produktives Abseits, das eine besondere Geisteshaltung zu konservieren schien, die Robert Musil erstmals in seinem Mann ohne Eigenschaften prägte. »Kakanien war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte. Und darin war Kakanien, ohne dass die Welt es schon wusste, der fortgeschrittenste Staat.«
Als ich vor über dreißig Jahren zum ersten Mal in die Stadt kam, erfüllte sie dieses philosophische Programm, jene intelligente Feier einer freien, schicksalsergebenen Erkenntnis des Nichts, sofort. Sie schien herrlich leer, alt und weit wie die Piazza dell’Unità d’Italia, jener unglaublich große, zum Meer hin geöffnete Platz, wahrscheinlich der größte in ganz Europa. Fast alle Gebäude waren von einem nahezu magischen Grauschleier überzogen, der vergangene Zeiten besser zu konservieren schien als die in letzter Zeit allerorten vorherrschende Rückkehr zu den ursprünglichen Pastellfarben der Architektur aus der Zeit ihrer Entstehung. Obwohl von diesen durchaus der Charme eines Wes-Anderson-Films ausgehen kann wie dem Grand Budapest Hotel, das der geniale amerikanische Eklektizist bevorzugt im frisch renovierten Görlitz drehte. Triest war der ideale Rückzugsort für Reisende auf der Suche nach einer verlorenen Zeit, die hier nun wirklich stehen geblieben zu sein schien. Selbst ein Besuch in den Caffès, die bereits James Joyce während seiner produktiven Dekade vor dem Ersten Weltkrieg, die ihm unter anderem die Dubliners und seine Vorarbeiten zum Ulysses beschert hatte, regelmäßig aufsuchte wie das Caffè Stella Polare, zeigte diese noch weitgehend im Originalzustand, heute ist leider fast nur noch der modernistische Schriftzug an der Hauswand übrig; im Inneren scheint man eine Eisdiele als ästhetisches Programm verwirklicht zu haben.
Der beste Indikator für ein Kaffeehaus, das einen Besuch lohnt, ist die verbriefte Präsenz des Universalgelehrten Claudio Magris, der 2019 mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet wurde und seine Post im Antico Caffè San Marco empfängt. Die ursprüngliche Größe des mit einem prächtigen Bronzefries aus mäandernden Kaffeeblättern verzierten Saales wirkt zwar durch eine neuerdings installierte Buchhandlung in der Mitte des Längsflügels etwas eingeschränkt, gewinnt aber dafür umso mehr den Charakter eines verschwörerischen Rückzugsortes als Bollwerk der intellektuellen Elite. Das war dafür schon seit Anfang an so beim Antico Caffè San Marco, das der Begründer Marco (sic!) Lovrinovich bereits mit dem Namen als Bekenntnis gegen Österreich-Ungarn zu Italien verstanden haben wollte. Die Wandmalereien in Öl mit italienischen Motiven mussten zwar während des Ersten Weltkriegs angeblich mit Theaterszenen verhängt werden. Das nahm dem Ort aber nichts von seiner subversiven Natur, da man neben seinem Capo in B, der Triestiner Variante eines Espresso Macchiato im Glas, auch auf Anfrage gefälschte Pässe für die Flucht nach Italien unter dem Tresen zugeschoben bekam. Triest ist nicht nur wegen der Weltmarke Illy, die vor Ort 2002 sogar eine Kaffee-Universität eingerichtet hat, und des lokalen Marktführers Hausbrandt auch eine Kapitale des Koffeins, wo man wie in Wien nicht nur zum Nero, dem Espresso, unaufgefordert ein Glas Wasser dazu gereicht bekommt. Früher saß Magris noch im Tommaseo, dem ältesten Caffè der Stadt, dessen cremefarbene Stuckdecken, Fischgrät-Parkett und Thonet-Stühle am ehesten an eines der klassischen Wiener Kaffeehäuser erinnern. Dort soll er als vehementer Verfechter der Idee eines Mitteleuropa, das sich in Triest dank der kreativen Mischung aus italienischen, slawischen und deutsch-österreichischen Wurzeln entwickeln konnte, auch an seiner stilbildenden Donau-Biographie geschrieben haben. Vor ihm saßen dort zwei andere Großschriftsteller, welche Triest in jüngster Zeit mit bronzenen Statuen in der Stadt geehrt hat, Italo Svevo und Umberto Saba.
Die gebildete Führerin erklärt, dass lediglich das jüngste Denkmal für Gabriele d’Annunzio wegen dessen umstrittenen Rufs immer wieder für Gesprächsstoff sorgt. Die Joyce-Figur mit dem markant nach hinten geschobenen Strohhut auf der Ponte Rosso, der Hauptbrücke über den Canale Grande von Triest, wird hingegen uneingeschränkt geliebt und geherzt. Als ich vorbeikomme, schmiegen sich gerade drei Italienerinnen heiser lachend für ein Gruppenbild gefährlich nah an den Verfasser des Giacomo Joyce, in dem der Sprachlehrer an der Triester Berlitz School seine Liebe zu einer Studentin in profunde Prosagedichte verwandelte: »Meine Worte in ihrem Kopf: kalte blanke Steine, die in einem Sumpf versinken.« Auch dem gebürtigen Triestiner Poeten Umberto Saba kann man in der Innenstadt in der Via Dante beim Gehen zusehen, aber weil er zur Schiebermütze auch noch Pfeife und Spazierstock trägt, wird er immer wieder um die letztgenannten Accessoires bestohlen. Ein Umstand, den der Antiquar Mario Cerne, der die Libreria Umberto Saba gleich um die Ecke führt, bedauerlich findet, aber auch gleich eine Lösung vorschlägt: Der Schriftsteller, dem sein Vater als persönlicher Assistent diente, müsse eben vielleicht doch das Rauchen aufgeben, wie es Zeno Cosini einen ganzen Roman lang vergebens versucht, der Held von Italo Svevos gleichnamigem Roman, den der Geschäftsmann, der bekanntlich Ettore Schmitz hieß, auf Drängen von Joyce, deren Frau Nora bei den Svevos bügelte, veröffentlichte und so seinen späten Ruhm als Schriftsteller einleitete. In der Buchhandlung, einem hochaufgetürmten Labyrinth aus Regalen, steht bis heute die Schreibmaschine von Umberto Saba, der im Gedicht auf seine Heimatstadt Triest deren »spröden Charme« beschwor. Cerne erzählt, dass er Saba, der Triest im Poem mit einem Lausbub verglich, als missmutigen alten Mann erinnere, der selbst allerdings für Kinder nicht viel übrig gehabt habe, sodass er als Junge seinem Vater nur kurze Besuche im Antiquariat abstatten durfte.
Was suchen und finden die Schriftsteller bis heute in Triest: einen idealen Ort zum Schreiben und Leben, der den nötigen Abstand zur Welt hält und doch mitten in ihr existiert, das gleiche Verhältnis also, das ein Kaffeehaus zur umgebenden Stadt hat. Als Maria Theresia in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihre einzige Hafenstadt zum Marktplatz für das Kaiserreich erweitern wollte, ließ sie weiträumig Salinen am Hafen trockenlegen und machte daraus ein neues, geometrisch angelegtes Viertel, das den Kaufleuten Raum für Geschäfte und Wohnhäuser geben sollte. So entstand eine modern anmutende Stadtstruktur, die aufgrund ihres Fundaments aus dem Mauergitter für das »Salz der Erde« nur ein Manko hatte: es gab keine Unterkellerungen. Also eine Stadt ohne »doppelten Boden«, die nichts unter sich zu verbergen hat als eine gewürzige Grundlage. Die man auch in den kulinarischen Raffinessen der Stadt wiederfindet. Sei es der Wolfsbarsch, den die schreibende Köchin Ami Scabar in ihrem Restaurant zur Perfektion gart, oder die besten Spaghetti mit Tomatensoße der Welt, die ich mit dem seit 1997 in Triest wohnenden deutschen Schriftsteller Veit Heinichen mit herrlichem Blick auf die Bucht im Restaurant des Hotels Savoia Excelsior Palace aß.
Aber vielleicht ist es neben der Kulinarik, dem Weinbau, den Oliven und dem Dorf Prosecco ganz in der Nähe auch seine Sympathie für die Verlierer, die Triest zu einem so grundliterarischen Pilgerort macht. Die Barcolana begann dieses Jahr eine neue Tradition, nämlich auch das letzte Boot, das die »Regatta de Blanc« beendet, mit einem Pokal auszuzeichnen. 7 ½ Stunden nach dem Startschuss erreichte die Xeinos, eine 15 Meter lange Yacht, die von Zahnärzten aus Serbien, Montenegro und Italien gesteuert wurde, das Ziel. Es reichte zwar nur für den 1098sten Platz, aber die Trophäe ist größer und prächtiger als der Siegercup. Der Name der Yacht ist sprechend und spätestens seit Homer bekannt: Im Herzen Europas gewinnt, wenn auch auf geschicktem Umweg: der Fremde.
In der dünnen Luft der Reiseflughöhe gibt es kein Zuviel an Information. Das mag daran liegen, dass die Transparenz des Elements, durch das man im Idealfall, also bei schönem Flugwetter, nahezu unmerklich dahinrast, geradezu nach spiegelbildlicher Entsprechung in der Kommunikation aus dem Cockpit verlangt. Die Ansage des Kapitäns ist so gesehen die Königsdisziplin rhetorischer Aviatik, eine Kunstform, die dem Piloten mindestens so viel Geschick abverlangt wie das kundige Umfliegen einer Front aus bedrohlich in den Himmel wuchernden Cumulonimbus-Gewitterwolken. Das geht schon mit der Stimmlage los. Die Tiefe des Brummtons, der nach dem elektronisch-technischen Anklicklaut des Mikrofons sonor die Kabine beschallt, sinkt reziprok zum Winkel des Steigfluges: »Ja, meine Damen und Herren, Sie haben es vielleicht schon bemerkt.« So hebt das dann mit dezidiert norddeutscher Intonation an, für die Lufthansa-Piloten bestimmt ein spezielles Sprachtraining auf der Verkehrsfliegerschule in Bremen absolviert haben müssen. »Wir haben es hier direkt unter uns mit ziemlich dichtem Nebel zu tun.« Da ist er, dieser leicht flapsige Tonfall, hanseatisch präzise und doch mit einem professionellen Augenzwinkern verbunden, was nichts anderes bedeutet als: Der Mann hinter der Stimme hier ist jederzeit Herr der Lage, egal, wie schwer die Clear Air Turbulence ausfällt, die ihm das Cockpit der auf der Strecke vorausfliegenden Maschine gerade durchgefunkt hat. »Das wird jetzt für kurze Zeit ein bisschen ungemütlich, deswegen möchte ich Sie dann doch bitten, zu Ihrem Sitzplatz zurückzukehren und den Gurt festzuziehen.«
Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn es noch für ausformulierte Sätze reicht und nicht gleich als Imperativ die drei folgenschwersten Worte erklingen, nach denen man sich besser auf ALLES gefasst machen kann: »Crew be seated!« Dann vollführen die Flugbegleiter eine hektische Aufführung der »Reise nach Jerusalem«, und der leere Nachbarsitz wird im Nu von einer entschuldigend lächelnden Stewardess eingenommen, die jetzt so zu tun hat, als ob die gigantischen Luftlöcher, die da kommen mögen, keinerlei Grund zur Sorge bedeuten. Aber meistens sind es ja die schönen Dinge, auf die uns der Kapitän oder »sein« erster Offizier hinweisen möchten: der Service an Bord, das herrliche Wetter am Zielort, ein besonders toller Blick auf die Golden Gate Bridge »für die auf der linken Seite« oder die dank Rückenwind atemberaubend kurze Flugzeit über den Atlantik. Wird es aber auch ein ruhiger Flug? Da gibt es in letzter Zeit eine neue Faustregel: Je weniger Worte vorne, desto häufiger Anschnallzeichen hinten. Oder, als anderes Extrem, ein Pilot der TAP, der schon bei der Begrüßung nicht über die Lautmalerei seines goldig genuschelten »Senhores Passageiros« hinauskam, samt Copilot in schallendes Gelächter verfiel und seine Ansage heiser abbrechen musste. Wie beruhigend hingegen, dass im deutschen Cockpit sogar noch Platz für christliche Moral und Mitmenschlichkeit ist, was wir gerade auf einem Flug am Heiligabend von Frankfurt nach Paris erleben durften. Der war dank Jetstream so kurz, dass der Kapitän erstens höflich darum bat, »dass sich jetzt jeder Passagier einmal zur Seite dreht und seinem Nachbarn Frohe Weihnachten wünscht« und zweitens »nur ein Getränk bestellt, damit alle noch was zu trinken bekommen, bevor wir landen«. Cheers!