Herausgegeben vom
Liturgiewissenschaftlichen Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) bei der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig
Band 29
Jazz und Kirche
Philosophische, theologische und
musikwissenschaftliche Zugänge
Herausgegeben von
Julia Koll und Uwe Steinmetz
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Cover: Zacharias Bähring, Leipzig
Satz: Regina Schelske, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-374-04663-8
www.eva-leipzig.de
Bekanntlich hat die Evangelische Kirche in Deutschland einen weiten Mantel, um unterschiedlichen Strömungen und Profilen eine Heimat bieten zu können – und sie ist gut beraten, diesen Grundsatz auch in musikalischer Hinsicht zu beherzigen. So sollten ganz unterschiedliche Stile gleichberechtigt in evangelischen Gottesdiensten und protestantischen Kirchen erklingen und auch der Jazz dort einen selbstverständlichen Ort finden.
Die EKD hat deshalb die Jazz-Tagung in Loccum mit dem programmatischen Titel „Changing Places: Wie Jazz und Kirche einander inspirieren“ ausdrücklich begrüßt und auch finanziell unterstützt. Der vorliegende Tagungsband spiegelt wichtige Erträge dieser Veranstaltung wider. Denn Jazz ist aus Sicht der EKD eine wichtige Spielart zeitgenössischer Musik, die ihren Ort in der Kirche hat wie andere musikalische und kirchenmusikalische Varianten der Kirchenmusik auch. Julia Koll, die sich bereits mit der norddeutschen Bläserstudie einen Namen gemacht hat, ist es gelungen, wichtige Akteure des Jazz zu einem Dialog einzuladen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Höhepunkt der Tagung war der Jazz-Gottesdienst am Abschlussabend in der Loccumer Klosterkirche. Hier konnte munter experimentiert und die ganze Bandbreite des Jazz angedeutet werden.
Zwei Punkte, die in der am Ende der Tagung stattfindenden Podiumsdiskussion deutlich wurden, finde ich erwähnenswert: Zunächst war dies die große Selbstverständlichkeit, mit der die anwesenden Jazzmusiker und Jazzfreunde sich dafür gewinnen ließen, sich in den Dienst nehmen zu lassen für eine der großen gegenwärtigen Herausforderungen der kirchlichen und gottesdienstlichen Arbeit. Als ich anhand eines Beispiels schilderte, wie sehr Musik dazu beitragen kann, Menschen mit Migrationshintergrund im Gottesdienst das Gefühl von Beheimatung zu vermitteln, brandete spontaner Applaus auf. Ich deute dies so, dass es den Anwesenden ein wichtiges Anliegen ist, Aspekte der Lebenswelt im Gottesdienst zum Klingen zu bringen. Und wenn sich gegenwärtig im Blick auf die zahlreichen Flüchtlinge die Lebenswelt kulturell weitet, braucht es Klänge, die anschlussfähig sind für afrikanische oder auch orientalische Musik. Gerade der Jazz kann hier durch den hohen Stellenwert von gekonnter Improvisation und durch seine ursprüngliche Nähe zum Spiritual und zur Gospelmusik einen gewichtigen Beitrag leisten.
Der zweite erwähnenswerte Aspekt war die auf der Tagung zur Sprache kommende Spiritualität des Jazz, die an die Bereitschaft anknüpft, sich trotz akribischer Vorbereitung auf das improvisierte Spiel einzulassen. Anders als die notengebundene Musik machen sich Improvisationskünstler von Stimmungen des Augenblicks abhängig, was sich theologisch und pneumatologisch deuten lässt als Öffnung für das Wirken des Heiligen Geistes. Dies besagt natürlich nicht, dass alles Improvisierte von sich aus bereits geistlich und damit der notengebundenen Musik in gewisser Weise überlegen wäre. Überlegenheitsphantasien, wie sie in der kirchenmusikalischen Landschaft leider nicht selten anzutreffen sind, sind ja gerade das Gegenteil dessen, was der Heilige Geist bewirken will: Einheit bei großer Vielfalt und Vielfalt im Bewusstsein einer tiefen Einheit. Dennoch gibt es zwischen Improvisation und Geistesgegenwart eine Wechselwirkung: Wer sich – selbstverständlich gut vorbereitet – beim Musizieren im Gottesdienst tragen und leiten lässt vom Augenblick und seinen Stimmungen, darf dies in der begründeten Hoffnung tun, seine Gaben und Fähigkeiten als Werkzeug des Heiligen Geistes einzusetzen.
An dieser Stelle können Jazzmusiker zu Vorbildern in vielen kirchlichen Handlungsfeldern werden. Bei manchen kirchlichen Veranstaltungsformaten kann man ja nur dringend dazu raten, mehr Spontaneität zu wagen und so dem jeweiligen Momentum gerecht zu werden. Auf diese Weise kann gelingen, was der Titel der Tagung programmatisch als Aufgabe vorgibt: dass Jazz und Kirche einander inspirieren.
OKR Dr. Stephan Goldschmidt
Hannover, im Frühjahr 2016
Cover
Titel
Impressum
Geleitwort
Julia Koll/Uwe Steinmetz
Einleitung
Uwe Steinmetz
Immer wieder unerhört
Das liturgische Potential des Jazz
Daniel Martin Feige
Jazz in der kirchenmusikalischen Praxis
Eine philosophische Analyse
Raphael D. Thöne
Jazz als religiöse Musik
am Beispiel Duke Ellingtons und Dave Brubecks
Matthias Krieg
Turning Point
Was der Gottesdienst vom Jazz lernen kann
Julia Koll
Unüberhörbar gegenwärtig
Improvisieren im Gottesdienst
Bibliographie
Verzeichnis der Autoren/innen
Fußnoten
Julia Koll/Uwe Steinmetz
„Changing Places. Wie Jazz und Kirche einander inspirieren“ – unter diesem Titel stand eine Tagung, die vom 4. bis 6. September 2015 an der Evangelischen Akademie Loccum stattfand. In Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Workshops ging es darum, das Spannungsfeld von Jazz, christlicher Religion und Kirche zu erkunden. Über siebzig Musiker, Theologen, Journalisten und sonstige Jazzbegeisterte beteiligten sich an der Diskussion. Der vorliegende Band präsentiert fünf Beiträge, die im Zusammenhang mit dieser Tagung entstanden sind. Die Loccumer Diskussion soll damit für ein breiteres Publikum zugänglich gemacht werden.
Wie hängen Jazz, christliche Religion und Kirche miteinander zusammen? Zur Einführung ins Thema soll an dieser Stelle zunächst ein kurzer historischer Überblick gegeben werden. Hervorgegangen ist der Jazz aus einer Verschmelzung des kulturellen Erbes der Sklaven, die seit dem 16. Jahrhundert überwiegend aus Westafrika nach Nordamerika verschleppt wurden, mit den europäisch beeinflussten musikalischen und religiösen Traditionen dieses Kontinents. Das Ende des Bürgerkrieges 1865 und die graduelle Abschaffung der Sklaverei bis in die Mitte der 1920er Jahre beförderten die Entwicklung jener Musikstile, die wir heute Jazz und Blues nennen. In den afroamerikanischen Kirchen protestantischer Provenienz entstand zunächst der Gospel als eigenes Genre der Kirchenmusik, nachdem die Spirituals schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in konzertanter Form weltweit Berühmtheit erlangt hatten, z. B. mit den Fisk Jubilee Singers oder Paul Robeson.
Dabei arbeiteten viele der frühen Komponisten des Jazz sowohl als Kirchenmusiker als auch in Nachtclubs und Theatern, darunter zwei Pioniere, die zu den wichtigsten Komponisten populärer Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen: Thomas Dorsey, der auch als Vater der modernen Gospelmusik gelten kann, und Duke Ellington. Ob in Gottesdiensten oder in Clubs, die Kirchen brachten die Musiker zusammen: So erinnert sich etwa der Tenorsaxophonist Branford Marsalis daran, dass die Kirchen schon immer kulturelle Orte der Begegnung waren, in denen ständig Gospel und Tanzmusik gespielt wurde.1 Das hatte teilweise ganz banale Gründe: In den Südstaaten standen auf Grund der großen Hitze die Kirchenfenster und -türen immer offen, so dass die Gospelmusik weithin zu hören war. Sie gehörte zur Alltagsakustik und war deshalb – wie der Blues – auch für professionelle Jazzmusiker Teil des selbstverständlichen Repertoires.
Im Zuge der großen sozialen und kulturellen Umbrüche in den USA und Europa nach dem zweiten Weltkrieg entstand seit den 1950er Jahren dann ein Bewusstsein für Jazz als Teil der „klassischen Musik Amerikas“, hierfür setzten sich besonders die Komponisten und Pianisten Billy Taylor und Duke Ellington ein. Immer mehr erreichte der Jazz auch ein begeistertes weißes Publikum, und zwar über die Grenzen der USA hinaus. Dieses neue Selbstbewusstsein drückte sich unmittelbar im Jazz jener Tage aus. Sehr pointiert formulierte es Martin Luther King jr. in seinem Grußwort zur Eröffnung des ersten Jazzfestivals in Berlin, 1964:
„Jazz spricht für und über das Leben. Der Blues erzählt von den Schwierigkeiten des Lebens, und wenn wir genauer hinschauen, dann werden die schwersten Dinge so vertont, dass es eine neue Hoffnung oder ein Gespür von Triumph gibt. Jazz ist eine Musik des Triumphes! Der moderne Jazz hat diese Tradition fortgesetzt, er singt die Lieder einer komplexen urbanen Welt. Wenn das Leben selbst keine Ordnung und Sinn zeigt, dann kreieren die Musiker eine Ordnung und Bedeutungen mit den Tönen dieser Welt, die durch ihre Instrumente strömen.“2
Festzuhalten ist, dass Jazz seit Ende der 1960er Jahre international als „klassische amerikanische Musik“ und zugleich als Gegenwartsmusik angesehen wurde, die das Leben der Menschen in der ganzen Fülle von gesellschaftlichen und religiösen Strömungen spiegelte. Dabei vereinte Jazz – wie das bis heute der Fall ist – Impulse aus E- und U-Musik und strahlte ebenso in die Popmusik wie in die komponierte Avantgarde aus.
Dieses neue Bewusstsein für Jazz als gesellschaftlich und kulturell relevante Musik beförderte auch die Idee, Jazz als Klangfarbe in die Kirchen zu holen. Thomas Dorsey, der als Kirchenmusiker in einer großen Baptistengemeinde in Chicago arbeitete, war der erste, der mit Solo-Sängerinnen statt mit Chören in Kirchen arbeitete. Er engagierte berühmte Blues- und Jazzsängerinnen wie Mahalia Jackson und Della Reese, die in Clubs mit Billie Holiday und Ella Fitzgerald sangen. „George Lewis and his Ragtime Band“ nahm 1954 die erste Schallplatte mit Jazzarrangements von Hymnen auf, „Jazz at the Vespers“. In New York bildete sich unter der Leitung von Pastor John Garcia Gensel einer der ersten kontinuierlichen Arbeitsbereiche für Jazz als Kirchenmusik in der lutherischen Saint Peter´s Church in Manhattan. Noch heute finden dort mehrmals in der Woche Jazzgottesdienste und Andachten mit etablierten New Yorker Jazzmusikern statt.
Als Geburtsstunde des Genres Liturgical Jazz muss das 1959 entstandene Album Ed Summerlins gelten, eines bis dahin weitgehend unbekannten Tenorsaxophonisten. Seine mit 4,5 Sternen im „Downbeat“ ausgezeichnete Aufnahme „Liturgical Jazz“ lehnt sich in agendarischer Form an ein Morgengebet nach dem „Book of Common Prayer“ an. Neben liturgischen Kompositionen enthält es Choralvariationen und musikalisch ausgestaltete Lesungen. Die katholische Jazzpianistin Mary Lou Williams veröffentlichte 1964 mit „Black Christ of the Andes“ ihr erstes Album mit Sacred Jazz, das den Grundstein für Messvertonungen und zahlreiche liturgische Werke bildete, die bis heute für das Genre Liturgical Jazz ästhetisch prägend sind. 1965 folgte Duke Ellingtons erstes „Sacred Concert“, das in der Grace Cathedral (Episcopal Church) in San Francisco Weltpremiere feierte. Trotz heftiger Gegenreaktionen aus kirchlichen Kreisen gilt es heute unbestritten als erste paradigmatische Verbindung von Jazz und Kirchenmusik und diente in den nächsten Jahrzehnten als Vorbild für weitere großformatige Werke, die Jazz als Kirchenmusik in Szene setzten. Früher in diesem Jahr hatte übrigens der Tenorsaxophonist John Coltrane ein Album veröffentlicht, das von seinem eigenen Erweckungserlebnis im Jahr 1959 inspiriert war: „A Love Supreme“ wurde neben Miles Davis’ „Kind of Blue“ zu einem der meistverkauften Jazzalben aller Zeiten und war grundlegend für eine Bewegung im Jazz, die oft als Spiritual Jazz bezeichnet wird. Spiritual Jazz spannt den Bogen über die christliche Religion und Jazz als Kirchenmusik hinaus.3 Liturgical Jazz und Spiritual Jazz entwickelten sich dabei in den USA als je eigene Genres in und außerhalb von Kirchen. Sie warben für Jazz als Kirchenmusik und erschufen – im übertragenen Sinne – „Liturgien im Konzertsaal“.
Zumindest zum Liturgical Jazz lassen sich in Deutschland vereinzelte Pendants ausmachen: So fand bereits 1956 die erste offizielle kirchliche Jazzveranstaltung in der Marktkirche in Halle statt, mit Dixieland-Jazzband, Spiritualchor und Podiumsgesprächen.4 1965 veröffentlichte der L. Schwann-Verlag unter dem Label SCHWANN/AMS die erste „Deutsche Jazzmesse“ in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche im Rheinland. Im gleichen Verlag erschienen in der Folgezeit u. a. eine Jazzmesse von Hermann Gehlen mit dem Orchester Kurt Edelhagen und renommierten deutschen Jazzmusikern, zudem auch Klassikproduktionen mit Neuer Musik und renommierten Interpreten.
Im Großen und Ganzen ist jedoch zu konstatieren, dass sich der Jazz – abgesehen von diesen vereinzelten Initiativen und anders als z. B. Gospelchöre – in den christlichen Kirchen Europas und Deutschlands kaum durchgesetzt hat. Dies scheint sich gegenwärtig zu verändern. Seit dem überaus erfolgreichen Album „Officium“ von 1994, auf dem der Saxophonist Jan Garbarek und das Hilliard Ensemble Improvisationen auf der Grundlage gregorianischer Gesänge präsentieren, sind auch in Deutschland Kirchenräume zu neuen Orten des Jazz geworden. An vielen Orten sind in den letzten Jahren Jazzgottesdienste und Jazzkonzertreihen entstanden, und dies beileibe nicht nur in Großstädten, City- und Kulturkirchen. In Folge dieser Entwicklungen ist am Liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD bei der Universität Leipzig im September 2015 ein dreijähriges Forschungsprojekt über „Liturgical Jazz als Klangfarbe des Lutherischen Gottesdienstes“ begonnen worden, das von Uwe Steinmetz durchgeführt wird.
Mit diesem Engagement für Jazz in Kirchen wird indirekt auch einem oft geäußerten Vorurteil widersprochen: Jazz ist im bundesdeutschen Kontext keine Nischenmusik. Zitiert sei aus dem aktuellen Bericht der Bundeskonferenz Jazz 2014:
„Jazz in Deutschland ist eine überaus innovative Kunstform. Seine Fähigkeit, Akteure über kulturelle Grenzen und Generationen hinweg in einen künstlerischen Dialog treten zu lassen, ist seit seiner Entwicklung im frühen 20. Jahrhundert wegweisend für andere Musikpraktiken. Live-Jazzkonzerte faszinieren ein Publikum unmittelbar und befördern die Anerkennung und Wertschätzung von musikalischen Kunstfertigkeiten insgesamt. Um Jazz zu erleben, sind keine Schwellen von Herkunft, Wissen oder Zugehörigkeit zu überwinden, weshalb seine Bedeutung für die heutige Gesellschaft gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.“5
Diese Würdigung des Genres benennt und unterstreicht neben den Qualitäten der Akteure und der Musik auch selbstbewusst seine gesellschaftliche Relevanz. Letztere lässt sich auch statistisch belegen: Nach Schätzungen der Union Deutscher Jazzmusiker gibt es bis zu 10.000 professionelle Jazzmusiker.6 Dies entspricht zum einen der Zahl der Orchestermusiker, zum anderen der Zahl der freiberuflichen klassischen Musiker und Komponisten. Die Zahl der hauptamtlich angestellten katholischen und evangelischen Kirchenmusiker ist dagegen mit ca. 4000 deutlich kleiner. Was die Hörpräferenzen angeht, so schneidet Jazz nach aktuellen Studien des Deutschen Musikinformationszentrums (MIZ) mit 11,3 % gegenüber klassischer Instrumentalmusik (16 %) oder Oper/Operette (13,0 %) nicht deutlich schlechter ab. Wenn es um das Live-Erleben geht, nähern sich die Genres noch mehr an: So besuchen 9,2 % aller Bundesdeutschen über 14 Jahren regelmäßig Festivals mit klassischer Musik, 8,2 % nehmen an Jazzfestivals teil. Während bei Klassikfestivals jedoch 3,1 % der 14 – 19jährigen einem Anteil von 16,7 % der über 70jährigen gegenüberstehen, sind die Hörer im Jazzbereich dagegen recht gleichmäßig über die Altersgruppen verteilt.
Man könnte also ganz im Gegenteil argumentieren, mit Jazz ließen sich noch ganz andere Publika in die Kirchen locken. Wie weithin bekannt, befindet sich das gottesdienstliche Leben seit geraumer Zeit im Umbruch. Zum sonntäglichen Hauptgottesdienst, der vielerorts an Teilnehmerschwund leidet, hat sich über die Jahre eine Fülle unterschiedlichster Gottesdienstformate und auch -orte gesellt. Zu Recht ist der Gottesdienst zum Experimentierfeld für eine zeitgemäße religiöse Kommunikation geworden. Wie positionieren sich Jazzgottesdienste in diesem Feld? Stellen sie letztlich nichts anderes dar als einen weiteren Versuch zielgruppenorientierter Arbeit?
Auch wäre zu bedenken, ob sich in der Öffnung der Kirchenmusik für Jazzmusiker und -musikerinnen nicht neue Perspektiven für ein im Wandel begriffenes Arbeitsfeld andeuten. Schließlich zeichnet sich seit einigen Jahren ein extremer Nachwuchsmangel im hauptamtlichen Bereich ab. Die damit verbundenen Fragen lauten: Hat sich der Kantorenberuf traditioneller Prägung überlebt? Und welche Entwicklungsmöglichkeiten stecken z. B. im neuen Format des sog. Popkantorats? Bis heute stehen Jazzmusiker, die in Kirchen musizieren wollen, jedenfalls vor der Schwierigkeit, dass ihre eigenen Erfordernisse als selbstständige Künstler nur unzureichend mit der Logik der kirchlichen Anstellungsverhältnisse und sonstigen Rahmenbedingungen zusammenpassen.
So legitim diese konkreten gottesdienst- und kirchenmusikpolitischen Fragen auch erscheinen mögen: Die Reichweite des hier umrissenen Projekts, Jazz und Kirche in einen intensiveren Dialog zu verwickeln, sollte jedoch nicht auf sie begrenzt werden. Vielmehr sind mit Liturgical Jazz im engeren Sinne und mit Jazz und Kirche im weiteren Sinne eine Reihe grundsätzlicher Fragen aufgerufen, die hier nur angedeutet werden können. Was ist religiös am Jazz? Ist es allein ein als religiös qualifiziertes Material – z. B. ein Choral, über den improvisiert wird –, oder lässt sich so etwas wie eine implizite Religiosität auch an der jazztypischen Haltung des Musizierens aufzeigen? Daran lassen sich zum einen musiktheologische Themen anknüpfen. Dabei stellt sich die zentrale Fragestellung jeder Musiktheologie – nämlich, inwiefern in und durch Musik Gotteserkenntnis im weiteren und engeren Sinne befördert wird –, im Jazz schon deshalb auf ganz eigene Weise, weil hier das Verhältnis von Werk und Performance bzw. von Komponist und Interpret eine charakteristische Neubestimmung erfährt. Zum anderen sind mit der Frage nach den religiösen Potentialen des Jazz aber auch weitreichende Aspekte der Gottesdienstgestaltung verbunden: Welchen ästhetischen Mehrwert besitzt Jazz im Gegenüber, aber auch in Ergänzung zu anderen kirchenmusikalischen Stilen und Klangfarben? Und welche liturgischen Atmosphären vermag Jazz zu erzeugen? Und welche Möglichkeiten der Partizipation impliziert Jazz als liturgische Musik?
Nicht alle, aber doch einige der oben erwähnten Fragen werden in den Beiträgen dieses Bandes aufgenommen und bearbeitet.
Uwe Steinmetz betrachtet als Jazzmusiker und Komponist ausgehend von der Jazzgeschichte das liturgische Potential des Jazz in gottesdienstlichen Räumen und Konzertsälen und entwirft einen Ausblick, wie sich gegenwärtige Forschungsfelder der kognitiven Neurobiologie, Musiktheologie und Musiktheorie in der Praxis und Reflexion von „Liturgical Jazz“ verbinden lassen.
Daniel Martin Feige widmet sich der Frage, wie sich Charakteristika des Jazz in musikphilosophischer Hinsicht beschreiben lassen. Dabei benennt er Improvisation und Interaktion als die beiden wesentlichen Bestimmungen des Jazz und präzisiert diese weiter durch den Begriff der retroaktiv-dialogischen Zeitlichkeit. Der ästhetische Sinn einzelner Züge in einer Jazzimprovisation zeige sich erst im Lichte ihres Endes, und die Kriterien ihres Gelingens würden im musikalischen Prozess selbst dialogisch ausgehandelt. Daraus folgt auch ein spezifischer Bezug zur Tradition im Sinne eines Antwortens, Weiter- und Umschreibens vorausgegangenen Spielens.
Aus einer musikwissenschaftlichen Perspektive argumentiert dagegen Raphael M. Thöne. An zwei klassischen Beispielen – nämlich der „Sacred Concerts“ von Duke Ellington und Dave Brubecks „To Hope! A Celebration“ – erörtert er die Frage, was Jazz zu religiöser Musik macht. Dabei votiert er dafür, neben dem musikalischen Material insbesondere dem Komponisten Beachtung zu schenken, der im Jazz oft in Personalunion mit dem Interpreten bzw. Improvisator auftritt. Religiosität sei allerdings nicht auf den produktionsästhetischen Aspekt zu beschränken. So könne es beispielsweise auch auf der Ebene der Rezeption zu einem Zwiegespräch des Hörers mit sich selbst kommen, das dem Gebet ähnelt.
Zwei weitere Beiträge nehmen das Verhältnis von Jazz und christlichem Gottesdienst in den Blick. So fragt Matthias Krieg in seinem kunstvoll komponierten Text, „was der Gottesdienst vom Jazz lernen kann“. Er betont dabei die spezifischen Potentiale des Jazz als gottesdienstliche Musik: Der Jazz stelle mimetisch dar, worauf der Gottesdienst hoffe – mit seinen Grundzügen von Improvisation, Crossover, Sinnlichkeit und Kollegialität. Wie Milieustudien zeigen, gelinge es diesem musikalischen Genre darüber hinaus in besonderer Weise, zeitgenössische religiöse Suchbewegungen zu begleiten. Für christliche Kirchen am Wendepunkt sei Jazz ein Medium für die sogenannte blue religion.
Ausgehend vom Beispiel des Tagungsgottesdienstes geht Julia Koll der Frage nach, welche Möglichkeiten sich in der gottesdienstlichen Praxis für musikalische, aber auch für wortsprachliche Improvisation eröffnen und was sie jeweils bewirken. Im Anschluss an Hans Ulrich Gumbrechts Begriff der Präsenzkultur und Martin Seels Überlegungen zur Inszenierung von Gegenwart vertritt sie dabei die These, dass Jazz-Improvisationen die Produktion von Präsenz fördern. In kritischer Auseinandersetzung z. B. mit dem Konzept der Liturgischen Präsenz plädiert sie dafür, das Verhältnis von Improvisation und Komposition in musikalischer und wortsprachlicher Hinsicht neu zu justieren.
Der vorliegende Band ist ein Gemeinschaftswerk, an dem viele mitgewirkt haben. Allen Autoren danken wir für die umsichtige und sorgfältige Überarbeitung ihrer Vorträge. Herzlich danken wir des Weiteren der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Union Evangelischer Kirchen, die die Publikation mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss allererst ermöglicht haben. Für ihre finanzielle und ideelle Unterstützung des Projekts sind wir darüber hinaus der Evangelischen Akademie Loccum und dem Liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD in Leipzig zu Dank verpflichtet. Wir freuen uns sehr, dass dieser Band in die Reihe „Beiträge zu Liturgie und Spiritualität“ aufgenommen werden konnte. Annette Weidhaas von der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig sei für die freundliche Begleitung des Projekts gedankt.
Unser besonderer Dank gilt schließlich Regina Schelske, die das Manuskript mit großer Sorgfalt und Geduld für die Drucklegung vorbereitet hat sowie Annekathrin Böhner und Ferenc Herzig, die gründlich Korrektur gelesen haben.
Dass Jazz und Kirche einander inspirieren – davon sind wir zutiefst überzeugt. Wir hoffen und wünschen uns, dass der vorliegende Band dazu beiträgt, diese besondere Beziehung an vielen Orten und auf viele Weisen weiter zu erkunden und zu intensivieren.
Uwe Steinmetz
Das liturgische Potential des Jazz
„Lend your ears to me, your hearts to him, that you might fill both“
Augustinus von Hippo
„I wrote the shortest jazz poem ever heard, nothin’ ‘bout huggin’ … kissin’ … just one word – Listen!“
Jon Hendricks,
„God does not speak in the thunder, or the earthquake, or the fire, but from the still, small voice. To hear it, one has to listen closely, and be humble.“
Kurt Elling,
Wie hören wir auf Jazz in Kirchräumen? Hören wir Jazz als Kirchenmusik? Hilft Jazz, „auf etwas Transzendentes hin“ zu hören, gerade eine so stilistisch weitreichende Musik, die in Deutschland eher erdverbunden mal nach Biergarten, Fahrstuhlmusik oder Tanzparkett, dann wieder nach politischem Protest oder Neuer Musik klingen kann? Wie kann Jazz als Liturgische Musik eingesetzt werden?
Es gibt bisher kein Buch über Liturgical Jazz, aber eine bedeutsame Jazzschallplatte trägt diesen Titel.1