Fünf Mädchen, die sich nicht kennen, deren Schicksale aber untrennbar miteinander verbunden sind. Ein Täter, der seine Opfer demütigt und die Polizei vor ein unlösbares Rätsel stellt. Und jeder kann auf Snapchat zuschauen. An einem warmen Sommerabend wird die Leiche eines Mädchens gefunden. Die einzige Spur führt zu Snapchat, denn dort hat der Täter die letzten Minuten des Opfers mit der Welt geteilt. Doch es scheint nicht die letzte Tote gewesen zu sein. Schon bald folgen weitere Videos, und es wird klar: Das war erst der Anfang. Auch Mandy fühlt sich nicht mehr sicher, denn wer weiß schon, wen es als Nächstes trifft?
Mel Wallis de Vries, geboren 1973, ist in den Niederlanden DIE Autorin für Psychothriller im Jugendbuch. Ihre Titel finden sich regelmäßig auf den Bestsellerlisten wieder und werden von Jugendlichen wie Erwachsenen gerne gelesen, wie die verschiedenen Preise beweisen, mit denen die Bücher der Autorin ausgezeichnet wurden.
WER SICH UMDREHT ODER LACHT …
Übersetzung aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Mel Wallis de Vries
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Einbandmotiv: © Cornelia Niere, München
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 978-3-7325-7345-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine liebe Mama,
die immer für mich da ist
Der Tag, an dem ich starb, war so stinknormal, dass es mir fast wie ein Witz vorkam. Weiße Wolken trieben am Himmel, irgendwo draußen hörte ich Menschen reden und lachen. Der Maler auf der anderen Straßenseite hatte das Radio so laut aufgedreht, dass ich glatt die Top 50 hätte mitsingen können, wenn ich gewollt hätte. Und die Schlagzeile der Morgenzeitung galt dem Herbstferien-Hochbetrieb am Flughafen Schiphol.
Der Unterschied zwischen Draußen und Drinnen hätte nicht größer sein können. Meine Welt war auf dieses muffige, stinkende Zimmer geschrumpft. Ein zwanzig Quadratmeter großes Gefängnis, versteckt auf einem Dachboden, irgendwo in einer nichtssagenden, abgelegenen Straße in Amsterdam. Früher hatte ich mir mein Ende ganz anders vorgestellt.
Als ich zwölf war, habe ich oft gespielt, ich würde sterben. Dann lag ich in meinem Bett und starrte durch das Fenster raus in den dunklen Sternenhimmel. Ich hielt den Atem an, bis mir schwindelig wurde, und dann konnte ich fast spüren, wie mein Körper zur Decke schwebte, als wäre ich ein Engel. Das hatte etwas Friedliches, Schönes. Ich dachte an meine eigene Beerdigung und sah, wie sich meine Kinder und Enkel an den Händen hielten und sich gegenseitig trösteten. Ich hörte, wie meine Kollegen voller Wertschätzung über meine Erfolge als Richterin sprachen. Meine Freunde standen dabei und sagten, dass ich immer ein ausgeprägtes Gespür für Gut und Böse gehabt habe. Sie redeten aber auch darüber, wie wunderbar man mit mir habe lachen können und als Stürmerin sei ich wirklich unschlagbar gewesen.
Ich sah meine eigene Zukunft.
Aber jetzt weiß ich, dass das ein Märchen war.
Neben mir höre ich ein leises schabendes Geräusch, als würde jemand mit einem Messer über etwas Metallisches kratzen. Unter großer Anstrengung rolle ich meinen Kopf herum. Zwei Augen starren mich an, und es sieht so aus, als wollten sie meine Gedanken lesen.
Verpiss dich, als hätte ich noch eine Wahl! Ich drehe meinen Kopf weg, damit ich die Augen nicht mehr sehen muss.
Mein Arm wird festgehalten. Finger betasten ihn auf der Suche nach einer Ader. Und dann gleitet die Nadel durch meine Haut. Einen Moment tut es weh, aber ich gebe keinen Mucks von mir, ich habe viel Schlimmeres erlebt.
Ich höre, dass irgendwo hoch über diesem Zimmer ein Flugzeug über uns hinwegfliegt. Die Uhr auf dem Flur zählt laut tickend die Sekunden. Und dann geht es los. Eine warme aufsteigende Glut, die von meinem Arm ausgeht. Ich spüre, wie meine Muskeln erschlaffen und meine Atmung immer flacher wird.
Plötzlich habe ich wahnsinnige Angst. Warum geschieht das? Gott, warum? Ich will nicht sterben, ich habe noch gar nicht lange genug gelebt! Es ist alles so ungerecht, so verfickt ungerecht. Ich will es rufen. Schreien! Aber meine Lippen bewegen sich nicht, und es bleibt totenstill. Nach einer Weile verebbt die Angst. Es hat ja sowieso keinen Sinn mehr …
Ich fange an, Dinge zu sehen. Von früher, als ich sechs war. Ich komme aus der Schule und weine, weil keiner mit mir spielen will. Und weil ich vom Rad gefallen bin. Plötzlich bin ich achtzig und sehe mich nackt und runzlig vorm Spiegel stehen. Darüber muss ich auch weinen, denn das wird nie zu einer echten Erinnerung werden. Alles läuft wild durcheinander. Jetzt sehe ich auch meine Eltern, die mit hängenden Schultern und verquollenen Augen weinen. Warum?, höre ich sie denken.
Es tut mir leid …
Meine Verwirrung wird immer größer. Stimmen in meinem Kopf reden mit mir, und überall sehe ich Farben. Und dann sind die Augen wieder da. Sie warten, suchen nach Zeichen von Bewusstsein.
Aber dieses allerletzte Stück gehört nur mir. Das werde ich mit niemandem teilen. Ich schließe die Augen und atme noch einmal tief ein. Ich bin fast an einer Stelle, an der ich keine Angst mehr haben muss, wo es keinen Schmerz mehr gibt.
Adieu, bis später und vielleicht bis nie.
Das war’s. Jedenfalls für mich.
Denk noch einmal an mich, wenn du willst.
Let’s do this
For infinity
Ich will keine Lasagne, nehme den Teller aber dennoch entgegen. Sie sieht aus wie orange Kotze mit Stückchen drin.
»Lecker, Mama«, sage ich leise.
»Willst du keinen geriebenen Käse darüber?«, fragt sie.
Ich schüttle den Kopf. »Äh, nachher vielleicht.«
»Okay, Liebes.« Sie reicht auch meinem Vater und meiner Schwester einen Teller. Sich selbst nimmt sie kaum etwas. Wir tun alle so, als würden wir es nicht bemerken.
»Sieht köstlich aus«, sagt mein Vater. »Guten Appetit.«
Nina nimmt einen großen Bissen und murmelt: »Wird schon werden.«
Ich schiebe ein paar Lasagnebrocken auf meinem Teller von links nach rechts. Sie hinterlassen eine Art Blutspur aus Tomatensauce. Mir wird schlecht, und ich schlucke ein paarmal. Wie können sie nur alle essen und so tun, als wäre alles in Ordnung?
»Komm schon, Mandy«, höre ich meinen Vater sagen. »Von Luft allein kann man nicht leben.«
»Äh, ja.« Ich stecke mir eine Gabel voll in den Mund und muss fast würgen. »Schmeckt gut.«
Mein Vater nickt zufrieden. »Wusstet ihr, dass es morgen noch wärmer werden soll?«, sagt er, als wäre es das Wichtigste auf der Welt, ausgerechnet jetzt übers Wetter zu plaudern. »Sie erwarten vielleicht sogar eine Hitzewelle, habe ich gerade in den Nachrichten gehört. Und das im September!«
»Boah«, sagt Nina mit vollem Mund. »Schöne Scheiße, dass die Ferien gerade seit ein paar Wochen zu Ende sind.«
»Nina!«, sagt mein Vater warnend.
»Huch, 'tschuldigung«, sagt sie, ohne jedes Schuldbewusstsein. »Aber blöd ist es schon.«
»Hm«, brummt mein Vater.
Wir essen schweigend weiter. Besteck klappert, und meine Mutter räuspert sich hin und wieder. Das zerrt an meinen Nerven. Am liebsten würde ich losbrüllen. Oder meinen Teller auf dem Boden zerschmettern. Aber ich starre nur auf meine Hände, die vor mir auf dem Tisch liegen.
»Das war wirklich ganz köstlich, Mum.« Nina schiebt ihren leeren Teller von sich und steht auf. »Ich gehe zu Chris. Bin so gegen zehn wieder da, okay?«
»Willst du nicht erst noch Nachtisch?«, fragt meine Mutter. »Ich habe frische Erdbeeren.«
»Hebt mir was auf!« Nina geht zur Küchentür.
»Ist zehn Uhr nicht ein wenig spät für einen Sonntagabend? Morgen musst du wieder in die Schule«, sagt mein Vater.
»Die ersten zwei Stunden haben wir frei, Paps.« Schnell tritt sie über die Schwelle. »Bis später.«
Die Küchentür fällt hinter ihr zu, und wir starren alle drei darauf. Geräusche dringen in die Küche. Ich höre, wie sie den Reißverschluss ihrer Lederjacke hochzieht. Das Quietschen der Türklinke, die nach unten gedrückt wird, das schabende Geräusch der Haustür, die über die Fußmatte gezogen wird. Und dann den Seufzer der Erleichterung, als sie hinausgeht. Weg von allem.
Wenigstens sie hat es geschafft.
Die Stille kriecht wieder in die Küche. Ich lausche noch ein paar Sekunden und sage dann: »Ich gehe in mein Zimmer. Hausaufgaben machen.«
»Ist gut, Liebes«, sagt meine Mutter. »Soll ich dir gleich ein Schüsselchen Erdbeeren hochbringen?«
Ich schaue sie an. Ihren mageren Körper und die eingefallenen Wangen. Ihre kupferfarbenen schulterlangen Haare. Ihre grünen Augen. Sie sind mandelförmig, wie meine. Wir sehen uns so unglaublich ähnlich. Ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt, und schlucke. »Okay«, sage ich kaum hörbar.
»Mandy.« Meine Mutter reibt sich den Augenwinkel. »Du weißt, dass ich morgen um …«
»Ja«, sage ich schnell im Rückwärtsgehen.
»Papa schickt dir die Zimmernummer. Dann kannst du nach der Schule …«
»Ja.« Ich mache noch einen Schritt rückwärts, bis ich mit dem Rücken an der Küchentür stehe.
»Liebes, es wird schon alles …«
Ich will den Rest nicht hören und drehe mich weg. »Ja«, murmele ich, während ich in die Diele gehe.
Meine Beine sind schlaff, und die zwei Treppen nach oben kommen mir endlos vor. Keuchend erreiche ich mein Zimmer. Dort ist es warm und dämmrig. Das einzige Licht fällt durch das Fenster in der Dachschräge herein. Ich stelle es auf Kipp und starre hinaus. Der Himmel hat eine seltsame Farbe: leuchtend rosa und violett zugleich, als gäbe der Tag noch eine Zugabe. Unter mir sind die Gärten der anderen Häuser schon von der einfallenden Dämmerung bedeckt.
Könnte es doch nur für immer heute bleiben. Oder wieder gestern werden. Oder noch besser, ein Jahr vorher. Aber Schwarz gewinnt, und draußen wird es immer dunkler.
Ich knipse das Lämpchen auf meinem Tisch an, um es nicht sehen zu müssen.
Die Wärme der letzten Tage hängt noch im Klassenzimmer, als ich es betrete. Meine Mitschüler reden und lachen laut und geben sich größte Mühe, ihr Wochenende kompakt in wenigen Minuten zusammenzufassen und wahrscheinlich noch schöner zu machen, als es sowieso schon war. Keiner achtet auf mich, während ich hinter Puck und Jade zu meinem Platz gehe.
»Hi«, sage ich und setze mich auf meinen Stuhl.
Sie drehen sich gleichzeitig um, als hätten sie es so einstudiert.
»Hi«, grüßt Jade zurück und bläst eine Strähne ihrer langen braunen Haare aus dem Gesicht. »Wie war dein Wochenende?«
»Oh, prima«, sage ich schnell und bücke mich, um mein Mathebuch aus der Tasche zu ziehen. »Was habt ihr gemacht?«, frage ich, um weiteren Fragen zuvorzukommen.
»Meine Oma hatte Geburtstag«, sagt Jade und seufzt. »Wir waren mit der ganzen Familie bowlen.«
»Aber deine Oma ist doch tot?«, fragt Puck.
»Das war die andere, die Mutter von meinem Vater.«
»Oh, okay.« Puck zuckt mit den Schultern, als wäre es ihr ziemlich egal.
»Gwennie!«, ruft Jade.
Durch den Mittelgang kommt Gwen. Ihre blonden Haare hängen offen über die Schultern, und sie trägt ein hellrosa Kleid. Sie ist sehr blass, fast durchscheinend, als hätte die Sonne sie vergessen.
»Hallo.« Gwen setzt sich neben mich und stellt ihre Tasche unsanft auf den Boden. »Worum ging’s gerade?«
»Um Jades tote Oma, die offensichtlich doch noch lebt und gern bowlen geht«, sagt Puck. »Und wie war dein Wochenende?«
»Oh, äh, normal«, antwortet sie, und es sieht fast so aus, als würde sie rot werden. Sie beißt sich auf die Lippe. »Wisst ihr, vor zwei Wochen habe ich jemanden getroffen, und der ist …«
»Hört mal her!« Puck fällt ihr ins Wort und hängt sich so weit über die Stuhllehne, dass sie fast umkippt. »Mir kommt da gerade eine geniale Idee!«
»Das wäre das erste Mal«, murmelt Jade.
Puck tut, als würde sie es nicht hören. »Wir fahren heute Mittag mit dem Zug nach Bloemendaal und setzen uns dort in irgendein schickes Strandlokal. Es werden 28 Grad!«
Niemand sagt etwas.
»Hallo, seid ihr taub?«, fragt Puck.
»Äh, nein, aber ich weiß nicht, ob meine Mutter mich lässt«, sagt Jade zögernd. »Ich habe ihr versprochen, heute Nachmittag mit meinem Geschichtsreferat anzufangen.«
»Hör mal«, sagt Puck entschieden. »Deine Mutter muss doch nicht alles wissen. Du sagst einfach, dass du deine Hausaufgaben bei mir machst.«
»Aber wenn sie dahinterkommt …«
»Das kriegt sie nie raus.« Puck wartet ein paar Sekunden. »Schön, das hätten wir also geklärt, Jade fährt mit. Und du, Gwennie?«
»Warum nicht, bei mir ist eh keiner zu Hause«, sagt sie und zuckt mit den Schultern.
»Check.« Puck beugt sich vor zu meinem Tisch. »Jetzt du noch, Mandy.«
Alle drei schauen mich an.
»Ich kann nicht«, bringe ich mit Mühe heraus.
»Wieso nicht? Sei doch nicht so langweilig.« Puck stößt einen tiefen Seufzer aus. »Und was hast du für eine Ausrede?«
»Ich … Ich muss zu meiner Mutter.«
Ich sehe, dass es Puck dämmert. Erst werden ihre Augen groß, dann fährt ihre Hand zu ihrem Mund. »Oh shit, ist das heute? Tut mir leid, Mandy«, stammelt sie. »Das habe ich ganz vergessen, wie blöd.«
Ich will sagen, dass das nicht schlimm ist, aber ich weiß nicht so genau, wie.
Gwen legt eine Hand auf meinen Arm. »Wann wird sie …«
»Guten Morgen!« Frau Bos betritt den Klassenraum. »Würdet ihr euch bitte zu euren Plätzen begeben und das Reden einstellen? Dann können wir mit dem Unterricht anfangen.«
»He, psst«, zischt Puck. »Habt ihr die Hausaufgaben gemacht?«
»Nein.« Gwen schüttelt den Kopf.
»Ich schon«, flüstert Jade. »Willst du sie noch schnell abschreiben? Es sind nur …«
»Leute!« Frau Bos klatscht in die Hände und mustert den Raum wie ein Habicht. »Was habe ich gerade gesagt? Wollt ihr vielleicht ein paar Extra-Hausaufgaben?«
»Mist, zu spät.« Puck schnauft und fügt leise hinzu: »Was hat die denn für ein Problem? Wohl schlecht drauf, die Zicke.«
Es wird still in der Klasse.
»Sehr gut.« Frau Bos nickt. »Heute fangen wir mit Modul 4 an. Wie kann man bestimmen, ob eine Stichprobe repräsentativ ist oder nicht?«
Sie redet weiter, aber ich höre nichts mehr.
Ich schaue auf die Uhr. Halb neun. In knapp zwei Stunden ist meine Mutter an der Reihe. In Gedanken sehe ich sie auf dem Bett sitzen. Ob sie Angst hat? Ich spüre, wie eine Träne aufsteigt, und kneife die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Alles verschwimmt und wird schemenhaft. Als ich sie ganz schließe, wird es schwarz.
»Mandy!« Frau Bos' Stimme durchbricht die Schwärze.
Erschrocken sehe ich sie an.
Sie hat die Hände in die Seiten gestemmt und schüttelt den Kopf, als könne sie es einfach nicht fassen. »Ist mein Unterricht so öde, dass du einschläfst?«, fragt sie.
»Oh, äh, nein, Entschuldigung«, stammele ich. »Es … Ich … Ich war …«
»Letzte Warnung, verstanden? Sonst kannst du es dir auf dem Sofa des Konrektors bequem machen.«
Ich öffne den Mund zu einer Antwort, ich will es ihr erklären, aber ich merke, dass ich nichts zu sagen habe.
Die Stadt ist eine schwitzende, pulsierende Masse. Männer und Frauen mit nackten Armen streifen mich im Vorbeigehen, Kinder rennen schreiend mit ihrem Eis an mir vorbei. Es ist, als kämen alle voran und nur ich bliebe auf der Stelle, als würden meine Füße am Asphalt kleben.
Ich kann das Gebäude schon sehen. Langsam gehe ich weiter. Ich darf nicht auf die Fugen der Gehsteigplatten treten, denn das bringt Unglück. Ich biege um die Ecke, an der Ampel geradeaus, die Treppe hinauf, bis ich vor den Schiebetüren stehe. Ich will es nicht, aber sie öffnen sich automatisch. Ich hole tief Luft und gehe hinein.
Ohne auf die Infotafel zu schauen, gehe ich zu den Aufzügen. Ich kenne den Weg und drücke auf die Taste zur sechsten Etage. Vor ein paar Wochen war ich auch schon mal hier. Damals dachte ich, alles würde wieder gut werden. Was war ich dumm …
Die Aufzugtüren öffnen sich, und ich gehe nach links. Es riecht nach Reinigungsmitteln. Ich komme am Wartezimmer vorbei. Eine Frau blättert in einer Zeitschrift. Ein paar Stühle weiter sitzt ein Mann, er trägt noch seine Jacke. Ganz links hinten in der Ecke reden zwei Jungen miteinander. Einer der beiden hat keine Haare mehr und hält die Stange eines Infusionsständers fest. Sie lachen über etwas, und ich wende den Blick ab.
Es sind alles neue Gesichter, ich erkenne niemanden. Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Ich gehe am Tresen vorbei, hinter dem zwei Krankenschwestern sitzen. Sie lächeln mir zu, als wäre alles vollkommen in Ordnung. Ich gehe weiter zur Abteilung 6B. Im Kopf zähle ich die Türen, bis ich bei Nummer 12 angelangt bin. Die Tür steht einen Spaltbreit offen, und ein winziger Streifen Tageslicht fällt auf das Linoleum. Ich drücke die Tür etwas weiter auf und spähe hinein. Mein Vater und Nina sitzen am Kopfende des Bettes, mit dem Rücken zu mir. Die Beine meiner Mutter bilden einen reglosen Buckel unter den Decken.
Ich atme tief ein, versuche, nicht in Panik zu geraten.
Es dauert eine Ewigkeit, bis mein Vater merkt, dass ich da bin. »Ah, Mandy«, sagt er leise, während er aufsteht und zu mir kommt. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht, wo du wohl bleibst.«
»Der Lehrer hat die Stunde überzogen«, lüge ich. »Sorry.«
»Schön, dass du da bist, Schatz«, flüstert er.
Paps will meine Hand fassen, aber ich stecke sie schnell in die Jackentasche. Er tut mir ein wenig leid, weil er offensichtlich nicht weiß, was er mit der Hand machen soll, die zwischen uns hängt.
Schließlich verschränkt er einfach die Arme. »Komm, dann gehen wir zu Mama«, sagt er.
Ich folge ihm und setze mich auf den Stuhl neben Nina. Papa nimmt einen anderen.
Mamas Hände liegen auf der Decke. Überall ragen Schläuche heraus. Ihre Haut ist so weiß und durchscheinend, dass ich alle Adern sehe, wie ein violettes Spinnennetz. Ihr Kopf ist leicht von uns weggedreht, und ihre Augen sind geschlossen. Ich höre ihren schweren Atem. Das ist nicht meine Mutter, das ist jemand anderes.
»Konntest du es nicht finden?«, zischt Nina neben mir.
»Der Lehrer hat die Stunde überzogen«, sage ich noch einmal.
»Jaja.« Es klingt, als würde sie mich für eine dreiste Lügnerin halten oder für unbegreiflich dumm.
»Schatz, Mandy ist da«, sagt mein Vater und nimmt die Hand meiner Mutter.
Ihr Kopf rollt über das Kissen, und sie stöhnt etwas Unverständliches.
»Ja, schön, nicht wahr«, sagt mein Vater und streichelt ihre Hand.
Langsam beruhigt sich ihre Atmung wieder.
Papa legt ihre Hand vorsichtig auf die Decke zurück und wendet sich uns zu. »Sie ist noch sehr müde von der Narkose.«
Nina und ich nicken, als würde das alles erklären.
Er seufzt und reibt sich mit kreisenden Bewegungen die Schläfen. »Die Operation hat fast vier Stunden gedauert. Sie haben den Kopf ihrer Bauchspeicheldrüse entfernt.«
Wir nicken wieder und warten. Jetzt müsste eigentlich der Rest der Geschichte kommen. Dass die Ärzte auch den schwierigen Teil neben ihrer Bauchschlagader entfernt haben, dass alle Schnittränder sauber sind, dass sie in ein paar Tagen nach Hause darf und dass alles wieder normal wird. Aber es bleibt still.
Mein Vater versucht zu lächeln, doch ohne Erfolg.
Plötzlich bekomme ich Angst.
»Die Ärzte können noch sehr viel mit einer Chemo machen«, sagt er dann. »Und in Deutschland scheint es eine Immuntherapie mit sehr guten Resultaten zu geben.« Er redet weiter über alle möglichen neuen Methoden, aber ich höre nicht mehr zu.
Ich starre auf das Fenster hinter Mamas Bett. Durch die Gardinen sehe ich, wie sich die Welt draußen bewegt. Ein Fensterputzer riskiert sein Leben auf der obersten Etage eines Wohnhauses. Zwei Vögel schauen kurz vorbei und lassen sich dann in einem großen Baum nieder. Die Blättchen leuchten in der Sonne hellgrün auf, als wäre es Frühling und nicht fast Herbst.
»In Amerika arbeiten sie mit so einer alternativen Therapie. Vielleicht kommt Mama auch dafür in Betracht, die ersten Ergebnisse sind vielversprechend.«
Ob er das wirklich glaubt? In seinem Augenwinkel glitzert etwas. Es könnte die Spiegelung des Lichts sein. Aber auch etwas anderes.
Plötzlich fühle ich mich so beklommen. »Ich muss zur Toilette«, murmele ich und schiebe meinen Stuhl zurück.
»Oh, äh, natürlich.« Er setzt sich aufrecht hin. »Soll Nina dich begleiten?«
Ich glaube nicht, dass Nina zuhört. Sie starrt schon die ganze Zeit auf ihre Nägel, die sie am Abend vorher dunkelviolett lackiert hat.
Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich kenne den Weg, bis gleich.«
Ohne ein weiteres Wort betrete ich den Gang und gehe nach rechts, Richtung Toiletten.
Die Tür fällt hinter mir zu, und ich lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Ich drücke meinen Hinterkopf an die Fliesen, die sich kalt anfühlen. Eine Weile bleibe ich so stehen, und die Kälte kriecht durch meinen Körper, bis mir ganz schlecht wird.
Sie haben also nicht alles entfernen können …
Ich versuche zu verstehen, was Papa gerade erzählt hat, aber davon wird mir noch schlechter. Mit wenigen Schritten bin ich an den Waschbecken. Ich lasse lauwarmes Wasser über meine Handgelenke laufen und atme ein paarmal tief ein. Ganz langsam verebbt die Übelkeit.
Ich schaue mich an. Im Neonlicht über dem Spiegel wirkt mein Gesicht grau und fleckig. Wäre meine Mutter nicht krank, läge ich jetzt mit Puck, Jade und Gwen am Strand. Wir müssten über alles lachen, vor allem über Jungs. Wir würden Eis essen und Fritten holen und an nichts denken. Aber ich stehe jetzt hier. Und bald ist meine Mutter wahrscheinlich nicht mehr da.
Meine Kehle schnürt sich zu, und ich spüre die Übelkeit wieder aufsteigen. Mit einer Hand reiße ich ein Papiertuch aus dem Automaten. Ich zerknülle es und werfe es in den Mülleimer. Es landet auf dem Rand und fällt zu Boden, wo ich es liegen lasse. Es ist leichter, wütend zu sein.
Plötzlich wäre ich so verzweifelt gern bei Puck, Jade und Gwen, dass es fast wehtut. Ich angele mein Handy aus der Hosentasche und öffne unsere Gruppe auf WhatsApp. Sie haben ein paar Selfies aus dem Zug geschickt und ein Foto, auf dem sie alle drei lachend auf einem Handtuch liegen, jede mit einer kleinen Flasche Cider.
hat Puck daruntergeschrieben.
Ich fange an zu lachen, ein seltsames Geräusch im stillen Toilettenraum.
Die letzte Nachricht ist von Jade:
Ich starre eine Weile auf die Worte und überlege kurz, ob ich wahrheitsgemäß antworten soll, aber das fühlt sich zu schwer an.
schreibe ich zurück und stecke mein Telefon wieder in die Hosentasche.
Ich schaue auf meine Uhr und sehe, dass ich schon fast zwanzig Minuten weg bin. Mein Vater wird sich wieder fragen, wo ich bleibe. Mit einem Seufzer öffne ich die Tür. Ich schaue nicht nach rechts, weil ich dann einfach so in die Freiheit rennen könnte. Wäre ich doch nur …
Der Schlag ist so hart, dass mir für einen Moment schwarz vor den Augen wird. Als ich sie wenig später wieder öffne, sieht die Welt plötzlich ganz anders aus. Ich liege auf dem Boden und schaue in das Gesicht eines Jungen mit braunen Locken. Er sieht mich besorgt an. Ich verstehe es nicht sofort.
»Shit, sorry«, sagt er. »Aber du kamst auf einmal aus der Tür.«
Ich will etwas sagen, doch mir ist schwindelig, und es ist leichter, ihn nur anzustarren.
»Du bist gegen mich geprallt«, sagt er.
Oder du gegen mich, denke ich.
Er kauert sich neben mich, wodurch ich mich noch unwohler fühle.
»Soll ich einen Arzt rufen? Vielleicht hast du ja eine Gehirnerschütterung.« Er reibt sich übers Kinn, auf dem Bartstoppeln sichtbar sind. Vermutlich ist er siebzehn, vielleicht achtzehn.
»Äh, nein«, sage ich heiser und schiebe mich auf dem Ellenbogen nach oben, bis ich sitze. »Es geht schon wieder.«
»Komm, lass mich dir helfen.« Der Junge nimmt meine Hand, und ich spüre, wie seine Wärme durch meine Haut dringt. »Eins, zwei.« Bei »drei« zieht er mich hoch.
Ich löse schnell meine Hand aus seiner und reibe über die schmerzende Stelle an meinem Hinterkopf.
»Geht’s denn?«, fragt der Junge. Er ist immer noch freundlich.
»Ja, alles okay«, sage ich.
»Wirklich?« Er macht ein besorgtes Gesicht. »Du siehst aber nicht gerade gut aus.«
Seine blauen Augen halten meinen Blick fest. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, aber das kann gar nicht sein.
»Meine Mutter ist heute an der Bauchspeicheldrüse operiert worden«, sage ich auf einmal. Ich bin überrascht, dass ich ihm das erzähle.
Er nickt. »Mein Vater liegt auch hier, Darmkrebs.« Einen Moment scheint es, als wollte er noch etwas sagen, aber dann zuckt er mit den Schultern. »Glaub mir, man gewöhnt sich dran.«
Das hilft nicht wirklich.
»Ich muss gehen«, sage ich. Meine Worte klingen seltsam laut.
»Ja, ich muss auch los«, sagt er und schaut auf die Uhr. »Wie heißt du eigentlich?«
»Mandy.«
»Axel. Weißt du was, ich gebe dir meine Nummer. Solltest du umkippen, kannst du mich anrufen.«
Ein Lächeln hebt seine Mundwinkel. Es erstaunt mich, dass ich plötzlich auch lächele.
Er nimmt sein Handy aus der Hosentasche und zieht eine Augenbraue hoch, als würde er etwas von mir erwarten. Ein wenig dösig starre ich ihn an.
»Deine Nummer«, sagt er. »Dann rufe ich dich an, damit du meine Nummer auch gleich hast, verstehst du?«
»Oh ja, klar.« Ich höre mir zu, wie ich ihm die Ziffern nenne.
Gleich darauf spüre ich das Vibrieren meines Telefons an meinem Oberschenkel. Es fühlt sich fast so an, als würde er mich dort anfassen, und meine Wangen fangen an zu glühen.
»Das war ich«, sagt er und zwinkert mir zu. »He, hör mal, ich muss mich sputen, sonst komme ich wirklich zu spät.« Einen Moment zögert er, dann fügt er hinzu: »Es kommt immer wieder ein neuer Tag, Mandy.«
Die Hände in den Hosentaschen geht er davon.
Statt »Tschüss« zu sagen oder »Das weiß ich«, starre ich ihm nur nach. Er verschwindet um die Ecke, und der Gang ist auf einmal unangenehm leer. Plötzlich habe ich große Lust, hinter ihm herzulaufen und mit ihm zu gehen.
Nr. 1
Bye, bye, Jessica.
Keiner wird dich
vermissen, BITCH,
und ich schon gar nicht!
Jetzt weißt du selbst auch
einmal, wie sich das anfühlt.
See your iPhone
camera flashing.
Please step back,
it’s my style
you’re dying.
Meine Zunge klebt am Gaumen und scheint den ganzen Mund auszufüllen. Ich ringe um Atem, versuche, nach Luft zu schnappen, aber es gelingt kaum. In meiner Kehle steigt der saure Geschmack von Galle auf. Ich will mich nicht übergeben, will nicht …
Der laute, gellende Pfiff ertönt.
Gott sei Dank. Ich lasse mich auf den Kunstrasen fallen, Arme und Beine weit von mir gestreckt.
»Gut gearbeitet, Mädchen«, höre ich Monique rufen. »Legt ihr die Bälle noch in den Korb zurück? Und wenn jeder ein Hütchen …«
Ich höre nicht mehr zu.
»O mein Gott, ich bin tot«, keuche ich. »Die Frau ist echt gestört. Wer macht denn bloß bei so einer Hitze Intervalltraining?«
Über mir erscheint Lynns Gesicht. »Ich habe noch nie eine Leiche reden hören«, sagt sie und nimmt ein paar Schlucke aus ihrer Wasserflasche. »Das ist ja interessant.«
»Pass nur auf, sonst suche ich dich heute Nacht heim und spuke in deinem Zimmer.« Ich strecke ihr die Zunge heraus.
»Ui, jetzt habe ich aber wirklich Angst«, sagt sie. Und bevor ich mich wehren kann, schüttet sie den Inhalt ihrer Trinkflasche über mir aus. »Hiermit taufe ich dich auf den Namen Jessica, das Hausgespenst.«
»Ey!« Ich setze mich auf. »Geht’s noch?«
»Sorry.« Kreischend vor Lachen rennt Lynn weg.
Ich stehe auf und laufe ihr nach. Alles ist patschnass: meine Haare, meine Sportsachen, meine Schienbeinschoner und die Fußballschuhe.
»Das wird dir noch so leidtun!«, rufe ich. »Du bist wirklich …«
»Jessica und Lynn!« Monique klatscht in die Hände. »Warum muss ich denn immer alles zweimal sagen? Räumt ihr noch einen Ball auf, und nehmt ihr auch ein Hütchen mit?« Sie sieht uns kopfschüttelnd an, als würde sie uns am liebsten sofort aus der Mannschaft werfen.
Ich zucke mit den Schultern und laufe zu einem Hütchen.
»Ich hasse sie«, flüstert Lynn neben mir, während sie einen Ball Richtung Korb tritt.
Ich muss mich schwer anstrengen, damit ich nicht wieder in Lachen ausbreche. »Und ich erst«, murmele ich und schicke ein Lächeln in Moniques Richtung.
Sie erwidert es mit säuerlichem Blick.
Auf dem Feld neben uns beginnt das Training der Jungs von der A4. Sie machen Liegestütze und tragen alle den gleichen schwarzen Trainingsanzug, als spielten sie im Team der Nationalmannschaft.
Mit Daumen und Zeigefinger forme ich ein L auf meiner Stirn. »Loser«, sage ich zu Lynn.
Sie nickt. »Megaloser.«
Lynn und ich tun immer so, als gäbe es sie nicht. Manchmal schauen wir ihnen noch eine Weile beim Training zu, um sie auszulachen.
Sie haben mal ein Foto von Lynn und mir gemacht, als wir beim Training Liegestütze gemacht haben, und das Foto dann mit ein paar superblöden Bemerkungen auf Instagram eingestellt. Ich dachte wirklich, ich müsste sterben, das war megapeinlich. Als Racheaktion haben Lynn und ich sie dann heimlich gefilmt, als sie unter den Duschen standen. Wir konnten echt alles sehen, und den Allergrößten hatte ernsthaft Sven. Auf Platz 2 und 3 landeten Ralf und Joey. Lynn traute sich nicht, das Video auf Instagram zu posten, aber ich hab’s gemacht. Innerhalb weniger Stunden hatten wir fast 800 Likes. Die Jungs waren so stinkwütend, echt lustig!
Aus den Augenwinkeln versuche ich zu erspähen, ob Sven heute Abend auch mittrainiert, aber seine blonden Haare kann ich nirgends entdecken.
»Mr. Big ist nicht da«, flüstere ich Lynn zu.
»Leider, das habe ich auch schon gemerkt.«
»Und Mr. Minimini habe ich auch schon eine Weile nicht mehr gesehen.«
»Ja, der Typ ist nie wieder aufgetaucht, aber im Ernst, wie bedauernswert ist man auch, wenn man mit einer Glatze durch die Gegend läuft?«
»Lynn und Jessica!« Monique stürmt mit großen Schritten auf uns zu. »Es reicht jetzt wirklich mit der Trödelei. Wenn ihr nicht in dreißig Sekunden vom Feld seid, dürft ihr am Samstagmorgen in der Cafeteria Dienst schieben.«
Lynn und ich schauen uns einen Moment an und kriegen einen Lachanfall.
»Mä–«ä»üü«