Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. PROLOG
  4. TAG EINS
  5. MEHR VON TAG EINS. TAG EINS, TEIL ZWEI? TAG EINS, DIE FORTSETZUNG? VERDAMMT, SICH TITEL FÜR DIESE KAPITEL AUSZUDENKEN IST SCHWER.
  6. IMMER NOCH TAG EINS. ICH MUSS WIRKLICH AN DIESEN KAPITELÜBERSCHRIFTEN ARBEITEN. ICH MUSS MR MANNY FRAGEN, OB ZIFFERN ODER ÜBERSCHRIFTEN BESSER SIND, UND OB MAN ZU VIELE TAGE EINS HABEN KANN.
  7. KAPITEL VIER
  8. TAG DREI. ODER WARTE, IST ES ERST TAG ZWEI? ICH HABE DIE ZEIT AUS DEN AUGEN VERLOREN, UND MR MANNY WIRD MICH ANBRÜLLEN, WENN ICH DAS BEI IHM EINREICHE. KAPITEL SIND ECHT SCHWER.
  9. ICH BIN DEFINITIV NICHT WONDER WOMAN (NOTIZ: MR MANNY FRAGEN, OB ES IN ORDNUNG IST, KOMMENTARE ALS KAPITELÜBERSCHRIFTEN ZU NEHMEN).
  10. KAPITEL SIEBEN
  11. WHO’LL STOP THE RAIN. NEIN, DAS IST EIN SONGTITEL. DARF ICH SONGTITEL ALS KAPITELÜBERSCHRIFTEN BENUTZEN? MR MANNY FRAGEN, WIE ER DAZU STEHT.
  12. ICH WERDE MIT DEM SCHWERT VERLETZT. OH, HABE ICH DAMIT ZU VIEL ERZÄHLT? MIST!
  13. NOTIZ AN MICH SELBST: ZEIG MR MANNY DIESES KAPITEL BLOSS NICHT. UND DENK DIR ENDLICH TREFFENDE KAPITELÜBERSCHRIFTEN AUS.
  14. KAPITEL ELF
  15. HIER EIN RECHTEFREIES GEDICHTZITAT EINFÜGEN, DAS DEM LESER MITTEILT, WIE AUFGEBRACHT ICH BIN. ES SEI DENN, MR MANNY SAGT, DAS WÜRDE VORGREIFEN.
  16. HIER ETWAS KLUGES EINFÜGEN. ZUMINDEST ETWAS, DAS KLÜGER IST ALS ICH.
  17. KAPITEL VIERZEHN
  18. KNALLHARTES UND ANDERER UNFUG. MR MANNY FRAGEN, OB KNALLHARTES ÜBERHAUPT ALS WORT GEHT.
  19. KAPITEL SECHZEHN
  20. DRACHENJÄGER 101 (TITEL ÄNDERN, WENN MR MANNY IHN ZU VORGREIFEND, VERWIRREND ODER BEIDES FINDET.)
  21. GLITZER NERVT, NICHT IM WAHRSTEN SINNE DES WORTES, WEIL GLITZER, DAS KLEINE MÄDCHEN, NETT WAR … ACH, ZUM TEUFEL, DAS IST SCHON WIEDER VORGEGRIFFEN. NOTIZ AN MICH SELBST: DIESE KAPITEL-ÜBERSCHRIFT ÄNDERN, BEVOR MR MANNY ZUSTÄNDE KRIEGT.
  22. KAPITEL NEUNZEHN
  23. HIER EINE ART GESAMT-ÜBERSCHRIFT, DIE ALLES UMFASST. EPILOG? KLINGT IRGENDWIE LANGWEILIG. NACH WAS BESSEREM SUCHEN.
  24. Die Autorin
  25. Die Romane von Katie MacAlister bei LYX
  26. Impressum

KATIE MACALISTER

Dragon Hunter Diaries

Drachen bevorzugt

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Theda Krohm-Linke

Zu diesem Buch

Vier Jahre, acht Monate und siebenundzwanzig Tage ist es her, dass Veronica James zuletzt mit ihrer Halbschwester Helen geredet hat. Doch nach einem überraschenden Anruf besagter Schwester findet Veronica sich in einem waschechten Albtraum wieder: Sie entdeckt die schwer verwundete Helen, noch dazu in absolut unhygienischer Umgebung – als bakteriophobe Mathelehrerin steht Ronnie deshalb kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Dass Helen sie dann auch noch beißt, kurz darauf stirbt und Ronnie mit einem sonderbaren Auftrag zurück-lässt, müsste das Fass zum Überlaufen bringen. Müsste … doch Ronnie ist so schockiert und überrascht, dass sie ihre Phobien beinahe vergisst. Denn: Laut Helen ist sie jetzt eine Drachenjägerin, und sie soll eine Frau vor den Häschern des bösen Dämonenlords Anzo retten. Ronnie eröffnet sich eine völlig neue Welt, und sie schafft es, sich vollständig auf die Rettung der Unschuldigen zu fokussieren. Allerdings mehr schlecht als recht. Da bekommt sie überraschend Hilfe von ihrem neuen Nachbarn (und Halbdämon) Ian Iskandar. Ian ist eine verflucht heiße Ablenkung, die ziemlich gut küssen kann. Aber Ronnie muss schnell lernen: sich auf Dämonen einzulassen, kann brandgefährlich werden …

PROLOG

»Ah, da bist du ja, Ian. Ich habe mich schon gefragt, ob ich mit diesem Dämon alleine fertigwerden muss, aber jetzt bist du ja da.«

Ian Iskandar musterte den Mann, der auf einem hohen Metallhocker hinter einem Haufen teurer medizinischer Geräte saß. »Müssen wir uns schon wieder darüber streiten?«

»Das brauchten wir nicht, wenn du endlich Vernunft annehmen und nicht ständig leugnen würdest, wer du bist.«

Ian schüttelte den Kopf. »Ich bin nur gekommen, weil du gesagt hast, dass du meine Hilfe brauchst. Ich dachte, es ging um deine Forschungen. Wenn du jemanden zur Dämonenabwehr brauchst, musst du deine Tochter um Hilfe bitten.«

»Du warst jahrhundertelang der beste Drachenjäger Nordamerikas.«

»Ich war jahrhundertelang der einzige Drachenjäger Nordamerikas«, entgegnete Ian. Erneut schüttelte er den Kopf. »Nein, ich diskutiere nicht mit dir darüber. Ich habe eine Entscheidung getroffen, und ich stehe dazu. Wenn du mich nicht wegen deiner Forschungen brauchst …«

»Doch, doch.« Adam begab sich zu einem Tisch und ergriff ein Notizbuch mit einem abgenutzten Ledereinband. »Ich habe dich wegen meiner Recherchen angerufen. Mein Esprit ist weg. Ich bin mir ganz sicher, dass ein Dämon ihn gestohlen hat.«

Ian blickte zur Wand. Dort hing ein Schwert in einer Lederscheide an einem Haken. Er ignorierte es, dass sein eigener Dämon sich rührte. Er erwachte immer in den ungeeignetsten Momenten zum Leben. »Wie soll denn ein Dämon den Esprit aus dem Schwert stehlen?«

Adam Larson blickte ihn bekümmert an. »Nun ja … sie wollte wohl mal ein bisschen Freizeit haben, und da ich ja wusste, dass ich hier arbeiten musste, habe ich ihr gesagt, sie könne in den Zoo gehen. Aber mittlerweile müsste sie längst wieder zurück sein. Sie ist bestimmt von einem Dämon erwischt worden.«

»Nein«, sagte Ian nur und wandte sich zur Tür, um das Zimmer zu verlassen. Er würde in sein trübes, farbloses Leben zurückkehren, mit einer Seele so kalt wie eine arktische Nacht.

»Es ist wichtig, Ian«, rief Adam ihm nach. »Ich bin ganz dicht dran. Ganz dicht. Aber ich brauche meinen Esprit dazu. Ohne ihn bin ich zu schutzlos. Bitte. Ich brauche dich.«

Ian rang mit sich. Schmerz durchzuckte ihn, aber er verdrängte die Erinnerungen und traf eine rasche Entscheidung. Dieses Eine würde er noch tun. Er würde den Esprit finden und dann ins graue Elend seines Lebens zurückkehren. Einen kleinen Esprit zu finden konnte ja niemandem schaden. »Da du der Lieblingscousin meiner Mutter bist, werde ich deinen Esprit suchen. Weißt du mit Sicherheit, dass ein Dämon ihn hat?«

»Nein. Allerdings schleicht hier einer herum. Er heißt Dorito. Nein, das stimmt nicht. Schwarma? Na, wie auch immer, ich will auf jeden Fall meinen Esprit zurück. Und jetzt beeil dich bitte. Helen wird …«

Die Härchen auf Ians Nacken stellten sich auf, noch ehe die Luft hinter ihm aufgewirbelt wurde. Er drehte sich zu der eintretenden Person um, aber ein blendendes Licht schleuderte ihn so heftig gegen die Wand, dass er nur noch rote und gelbe Punkte sah.

Das wilde Klopfen seines Herzen übertönte alle anderen Geräusche, und nur langsam nahm er seine Umgebung wieder wahr. Tief in ihm loderte das Drachenfeuer. Er sprang auf, um anzugreifen, hielt aber sofort inne, als er ein kleines Mädchen von etwa acht Jahren sah. Sie hatte eine Haut wie poliertes Ebenholz und blickte ihn aus großen Augen flehend an.

Ihr Blick drang Ian bis ins Mark. Er machte einen Schritt vorwärts, blieb jedoch stehen, als eine Frau hereinkam, die ein langes schwarzes Schwert in der Hand hielt.

»Dein Esprit sagt, du hast es bald geschafft, Drachenjäger stärker zu machen«, sagte die Frau zu Adam. Ihre Stimme war rau wie Sandpapier auf Stein. Sie war ein Dämon, daran gab es für Ian keinen Zweifel. »Das kann ich nicht zulassen. Je weniger es von euch gibt, desto glücklicher werde ich sein, und da Anzo Sklaven wünscht, werde ich das Problem mit euch lösen, indem ich euch ihr übergebe.«

Zu Ians Entsetzen streckte der Dämon die Hand aus und riss die Materie des Raumes auseinander, so dass ein klaffender, dunkler Spalt in der Luft hing.

»Na, komm«, sagte der Dämon und wies auf die Schwärze. »Es ist einfacher für dich, wenn du mich nicht zwingst, dich dorthin zu begleiten. Ich habe einiges vor mit diesem kleinen Esprit.«

»Nein«, protestierte Adam und wich zurück. Er umklammerte sein Notizbuch. »Ich muss arbeiten. Es ist wichtig. Ich brauche nur noch ein wenig mehr Zeit.«

»Deine Zeit ist um«, sagte der Dämon mit einer widerlichen Süße, die wie Säure über Ians Haut zu gleiten schien. »Du willst doch sicher nicht, dass ich zu härteren Mitteln greife.«

Das kleine Mädchen, Adams Esprit in menschlicher Gestalt, blickte Ian aus seinen großen braunen Augen an, die so sanft waren wie ein stiller Teich im Schatten. Ian fühlte sich unwiderstehlich von ihnen angezogen. Sie sprachen Bände, ohne dass ein einziges Wort fiel.

Als der Dämon in ihm darum rang, die Oberhand zu gewinnen, biss Ian die Zähne zusammen. Er fürchtete sich vor der Vertrautheit der Szene. Es war, als würde ein Albtraum wahr – seine Drachenseite und seine Dämonenseite kämpften um die Herrschaft, und ihm blieb nur das hilflose Wissen, dass er nicht sein konnte, was er sein musste.

»Ich möchte es dir nicht zweimal sagen!«, knurrte der Dämon und hob das Schwert.

Adam warf Ian einen entsetzten Blick zu. »Ich … ich … kann nicht …«

Der Schweiß trat Ian auf die Stirn. Langsam und schmerzhaft rang er um die Herrschaft über seine innere Dunkelheit. Seine Haut prickelte, als der Dämon seine Hand ausstreckte und auf Adam zutrat. In seinem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken und vermischten sich mit den Erinnerungen, die er tief in sich begraben hatte.

Einen Moment lang schloss Ian gequält die Augen. Mit einem weiteren Versagen würde er nicht leben können. »Ich gehe.«

Die Worte hingen mit einer Endgültigkeit in der Luft, die in seinen Knochen nachzuhallen schien.

Der Dämon warf ihm einen fragenden Blick zu. »Du? Wer bist du denn?«

Er sah sie offen an. »Ich bin Drachenjäger. Wenn dein Herr ein Opfer will, dann gehe ich an Adams Stelle.«

»Ian, nein! Ohne deinen élan vital wärst du Wachs in den Händen eines Dämonenlords«, protestierte Adam und sah ihn erschreckt an. Aber für Ian gab es keinen anderen Weg. Er würde nicht noch einmal versagen.

Das kleine Mädchen lächelte. In ihren Augen tanzten kleine goldene Funken. Dann war sie weg. Ganz kurz sprang ein Licht auf den Griff von Adams Schwert, flackerte auf und erlosch. »Was? Nein!« Der Dämon blickte sich suchend nach dem Mädchen um.

»Nimm es!« Adam rannte an Ian vorbei, ergriff das Schwert und warf es ihm zu. »Ich vermache dir meinen élan vital. Nimm ihn, um dich damit zu schützen. Ian … ich werde nicht nachlassen, bis …«

»Grrr!« Der Dämon sprang auf ihn zu, aber Ian war zu schnell. Er schwang das Schwert, doch der Dämon wich seinem Angriff aus. Aber das geriet ihm zum Nachteil, was Ian ausnutzte, indem er sie an ihrem freien Arm packte und in den Riss der Zeit schleuderte.

Er blickte sich um, und seine Seele sang ein Klagelied. »Beende deine Arbeit«, sagte er zu dem verblüfften Adam. »Ich halte dir den Dämon solange wie möglich vom Leib.«

Bevor Adam antworten konnte, schwang sich Ian durch den Spalt.

Er schlug hart auf dem Boden auf und landete flach auf dem Gesicht. Einzig sein Kinn konnte den Aufprall abmildern. Sein Schwert lag unter ihm.

»… unerwarteter Besuch. Was tust du hier?«

»Äh … ich … öh … ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Meister. Einen Drachenjäger.«

»Oh, den hatte ich noch nie. Und dann auch noch einen solch attraktiven. Wundervoll.«

Trotz Schmerz und Desorientierung merkte Ian, dass der Dämon ihn anstarrte. Ihm war schwindlig, und er musste sich auf das Schwert stützen, um aufzustehen.

Eine elegante Frau mit sinnlicher Stimme und lasziven Bewegungen schlenderte auf ihn zu und musterte ihn aus hellblauen Augen. »Sehr appetitlich.« Sie blieb vor ihm stehen und fuhr mit einem Finger seine Kinnlinie entlang. Ian kämpfte gegen das Verlangen an, zurückzuweichen. Ein tückischer Schmerz hielt ihn fest in seinen Klauen.

»Und du blickst mich so entsetzt an. Wie entzückend! Mein Liebling, wir werden eine großartige Zeit verbringen.« Die Frau … nein, keine Frau, der Dämonenlord … lächelte ihn an.

Der Anblick erfüllte Ian mit Schrecken.

Was hatte er getan? Was zum Teufel hatte er getan?

TAG EINS

»Kaum zu glauben, dass du den ganzen Sommer über frei hast. Lehrer haben aber auch ein Glück. Ihr arbeitet das ganze Jahr über nicht so viel wie wir.«

So begann es. Oder zumindest begann hiermit laut Schreibkurs, den ich besuchte, die Handlung. Und laut Manny Vanderbris, dem außergewöhnlichen Creative-Writing-Lehrer, ist die Handlung das Wichtigste beim Schreiben.

Ich begann also mein Buch mit einer Handlung – damit nämlich, dass ich meinen Laptop auf einen kleinen Schreibtisch stellte. Meine Nachbarin Teresita beobachtete müßig, wie ich einen Stapel Papier, fünf frisch gespitzte Bleistifte und einen roten Füller ordentlich und symmetrisch auf dem Pult anordnete. »Du wärst überrascht, wie hart wir im Sommer arbeiten. Wir müssen Kurse geben, an der Sommerschule unterrichten, haben Nebenjobs als Nachhilfelehrer, kümmern uns um Konferenzen, Webinare und die Planung. Bevor die Schule wieder anfängt, muss alles erledigt sein. Lässt du das bitte?«

»Entschuldigung. Du warst in der letzten Zeit so normal, dass ich gar nicht mehr an deine Zwangsstörung gedacht habe.«

Ich nahm ihr die fünf Bleistifte ab und steckte sie wieder in das Gefäß zurück, das auf zwei Uhr auf dem Pult ausgerichtet war, in perfekter Entfernung vom Computer, damit die Stifte nicht darauf fallen konnten und trotzdem leicht mit meiner rechten Hand zu erreichen waren. Ich kämpfte gegen die Angst an, die plötzlich in mir aufstieg, und erinnerte das kleine, panische Tier in meinem Kopf daran, dass alles an seinem Platz war, genau da, wo es sein musste, und dass es nicht sinnvoll wäre, die Stifte erneut umzuräumen. »Wenn ich dich nicht schon seit meinem vierten Lebensjahr kennen würde, würde ich dir das ›normal‹ übelnehmen. Leute mit Zwangsstörung sind vollkommen normal. Wie jeder andere auch haben wir mit Problemen zu kämpfen. Unsere stehen uns nur manchmal im Weg.«

Teresita trat an den Kamin. Ich biss mir auf die Lippe, um sie nicht schon wieder darum zu bitten, nichts umzuräumen, und sagte dem Angsttierchen, es sei absolut okay, wenn jemand meine Sachen anfasste. Es war sogar zu ertragen, wenn sie umgestellt wurden.

»Veronica James, hast du mich gerade mit deiner Lehrerstimme belehrt? Ja, nicht wahr? Das mit dem ›normal‹ tut mir leid … Du weißt doch, dass ich dich für vollkommen gesund halte, auch wenn du völlig verrückte Eltern hast. Und deine Therapie hat dir so gut geholfen. Ich bin stolz auf dich, Mädchen! Wenn ich an das Jahr denke, als du deine Wohnung nicht verlassen konntest, weil du ständig aufräumen und dich vergewissern musstest, dass alles an seinem Platz war, dann bist du jetzt eine völlig neue Person. Wovon soll dein Buch denn handeln?«

»Ich weiß noch nicht.« Ich blickte zum Schreibtisch und gestattete mir ein leises Glücksgefühl, weil sich alles am richtigen Platz befand. »Ich bin noch nicht so besonders weit. Mr Manny empfiehlt, vor dem Schreiben am besten zu meditieren, weil dann der innere Geschichtenerzähler ohne Angst vor Versagen sprechen kann. Ich habe eine Yoga-CD, mit der ich das ausprobieren werde.«

»Yoga, um zu schreiben?« Sie nahm nacheinander die sieben kleinen Porzellanpferde in die Hand, die mit weißer, wehender Mähne und winzigen Hufen über mein Kaminsims galoppierten. »Das klingt wie ausgemachter Blödsinn. Oh Mist, ist es schon so spät?« Sie ließ eines der Pferdchen fallen und eilte zur Tür. »Ich habe Dan gesagt, ich sei nur fünf Minuten weg, und jetzt ist daraus fast eine halbe Stunde geworden. Er wird denken, ich sei mit dem heißen Typen abgehauen, der gestern unter uns eingezogen ist. Viel Glück mit deinem Buch. Bis später!«

»Tschüss!«, rief ich ihr nach und zuckte nur ein bisschen zusammen, als sie die Tür hinter sich zuknallte. »Warum können die Leute Türen nicht ordentlich zumachen, und warum müssen sie die persönlichen Dinge anderer Leute ständig anfassen …«

Ich konnte es nicht ertragen. Ich trat an das Kaminsims und ordnete die Pferde wieder so an, wie es sein musste. Tadelnd schüttelte ich den Kopf, als ich sah, dass an dem Huf des Pferdes, das Teresita fallengelassen hatte, ein kleines Stück abgeplatzt war. Das Tier in meinem Kopf schrie auf, jetzt sei es nicht mehr vollkommen, aber ich konnte es auch nicht wegwerfen. Dann wären es nur noch sechs Pferde, und sechs war nicht richtig …

»Du liebe Güte, Veronica«, mahnte ich mich. »Dabei hat dich Teresita nur gelobt. Atme tief durch, Mädchen. Es ist alles in Ordnung. Das spielt doch gar keine Rolle. Die kleinen Pferde stehen alle da, wo sie hingehören, und auch das angeschlagene Pferd ist noch ganz gut.«

Mein Handy klingelte, gerade als ich das Angsttier wieder in seine Höhle zurückdrängte und noch immer an den angeschlagenen Huf dachte. Ich blickte auf das Display, aber die Nummer kannte ich nicht. »Ich könnte es ja kleben … Hallo?«

»Was willst du kleben?« Die weibliche Stimme am Telefon klang leicht atemlos und vertraut. »Ich würde ja auf die Einzelteile deines Lebens tippen, aber du bist die klügste Frau, die ich kenne, und mittlerweile hast du sicher all deine Macken durchschaut.«

Es gab nur eine Person, die meinen Zustand als Macke bezeichnete. »Helen?«, fragte ich verblüfft.

»Ronnie!«

Seit Jahren hatte ich nicht mehr mit meiner Halbschwester gesprochen. »Ich habe seit vier Jahren, acht Monaten und siebenundzwanzig Tagen nichts von dir gehört. Wo um alles in der Welt bist du gewesen? Hast du mit Mom gesprochen? Als ich das letzte Mal mit ihr geredet habe – sie hat mich leider angerufen, damit ich eine Kaution für sie bezahle, weil man sie wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet hatte –, sagte sie, du seist im Südpazifik und betätigtest dich am Bau einer Schule für Waisenkinder. Bist du wieder zurück?«

»Ja, und das war keine Schule für Waisenkinder. Na ja, nicht direkt Waisenkinder jedenfalls, nur so eine Art. Was machst du gerade?«

»Ich unterrichte Mathe an der Highschool, aber das weißt du doch. Zumindest solltest du es wissen.« Vorsichtig stellte ich das angeschlagene Pferd hin und beschloss, mich später um den Schaden zu kümmern. »Ich habe dir vor ein paar Jahren schon auf einer Weihnachtskarte geschrieben, dass ich, als ich meine Probleme im Griff hatte, eine Stelle an der örtlichen Highschool bekommen habe. Was heißt denn ›nicht direkt Waisenkinder‹?«

»Es sind Leute, die sich verstecken. Hör mal, Ronnie, ich habe es ein bisschen eilig. Können wir uns treffen? Jetzt?«

»Jetzt gleich?« Ich blickte mich in meiner sonnigen Wohnung um. Alles außer den zwei Goldfischen, die träge in einem großen Becken am Schreibtisch herumschwammen, schimmerte im rot-goldenen Licht des Sonnenuntergangs. Ein Luftreiniger summte beruhigend, und ich wusste, dass er allen Staub und alle Allergene aus der Luft filterte. Ich liebte meine Wohnung. Alles war an seinem Platz; alles war hell, sauber und frisch. Niemand schrie, es gab keine betrunkenen Gewaltausbrüche, keine Vernachlässigung aus Apathie und Gleichgültigkeit. Sie war mein sicherer Hafen, und seit ich mein Angsttier im Kopf besiegt hatte, war sie ein Ort des Friedens. »Ich glaube, das geht nicht. Ich muss noch unter dem Bett staubsaugen, und ich möchte die Rillen der Heizung reinigen. Außerdem muss ich Yoga machen, um mein Buch schreiben zu können.«

»Versuchst du etwa immer noch, einen Roman zu schreiben?« Ihre Stimme klang amüsiert. »Immer noch der gleiche, den du schreiben wolltest, als du mit dem College fertig warst?«

Bei dem immer noch stieg kurz Wut in mir auf. »Ich habe mir den Sommer zum Schreiben freigenommen, und so etwas platzt nicht einfach aus dem Kopf. Man muss sich darauf vorbereiten. Du musst dir einen Bereich zum Schreiben einrichten. Du musst dich mental in eine Stimmung zum Schreiben versetzen und deine innere Muse mittels Yoga und Meditation befreien. Das alles kostet Zeit und Mühe. Was willst du denn überhaupt? Stimmt etwas nicht? O Gott, ist Mom etwa früher aus dem Gefängnis gekommen? Ich dachte, sie muss bis zum nächsten Jahr drinbleiben.«

»Ich hatte gar keine Ahnung, dass sie wieder eingesperrt wurde, deshalb weiß ich leider nicht, wo sie ist. Hör zu, Ronnie, es ist zu kompliziert, dir am Telefon zu erklären, was ich brauche. Kannst du das Staubsaugen und Romanschreiben verschieben und dich mit mir …« Ihre Stimme klang auf einmal gedämpft und unverständlich, und ich hörte, wie jemand etwas sagte. »Kannst du dich mit mir am Fashion Armadillo treffen?«

»Wo?«

»Das ist ein Klamottenladen ganz hinten im Einkaufszentrum am Sunset. Kennst du es?«

»Ich dachte, das Einkaufszentrum hätte zugemacht. Ist jemand bei dir? Ein Mann? Du weißt, dass ich mich von Austin getrennt habe, oder? Wenn du vorhast, irgendwas mit Paaren zu unternehmen, ich bin solo im Moment.«

»Gut, er war sowieso ein Psychopath.«

»Das war er nicht! Er hatte höchstens etwas rigide Ansichten und wollte immer, dass alle seine Regeln befolgten.«

»Das ist noch milde ausgedrückt. Nein, nein, du brauchst dich gar nicht aufzuregen, das hier hat gar nichts mit dir, deinem früheren manischen Freund oder einem Pärchentreffen zu tun. Komm einfach ins Einkaufszentrum, dann erkläre ich dir alles. So schnell wie möglich, ja?«

Ich blickte auf die Uhr, die genau in der Mitte zwischen zwei Fenstern hing, und sagte leicht aufgebracht: »Ich habe zu tun, Helen.«

»Ich weiß, aber es ist wichtig. Lebensverändernd wichtig. Bitte komm. Ich … ich muss dich wiedersehen. Ich muss dir etwas erzählen, was du schon lange wissen solltest.«

»Wenn ich Mr Manny wäre, würde ich dir jetzt sagen, dass du Andeutungen machst, und das geht gar nicht.« Ich stieß einen Seufzer aus. »Na gut, ich komme zum Fashion Armadillo, obwohl ich ja gerne wissen möchte, was du da draußen machst …«

»Super! Bis gleich.«

Sie legte auf, bevor ich noch etwas sagen konnte. Ein paar Minuten lang starrte ich auf mein Telefon, warf einen bedauernden Blick auf meinen perfekten Schreibtisch und entschuldigte mich im Geiste bei meiner inneren Muse, die darauf wartete, dass ich Yoga machte, damit sie den Roman beginnen konnte, den ich schon seit zwölf Jahren hatte schreiben wollen.

Genau sechsundzwanzig Minuten später parkte ich meinen VW Käfer vor den mittlerweile dunklen Schaufenstern des letzten Ladens in einer heruntergekommenen Ladenzeile am Stadtrand. Auf dem Parkplatz stand kein einziges Auto, und eine Straßenlaterne, die den Weg der Einkaufenden beleuchten sollte, flackerte und summte laut. Ich blieb noch eine Weile im Auto sitzen und starrte auf das verblasste, grausliche Gemälde eines Gürteltiers mit Blumenhut und psychedelischem Kleid, das über die schmutzige Schaufensterscheibe tanzte, und fragte mich, was zum Teufel Helen vorhatte.

Rechts von mir gähnte der Parkplatz leer und dunkel, da nur fünf Laternen überhaupt funktionierten. Aber trotz ihres Lichts wirkte der Ort so verfallen und verlassen, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Ich vergewisserte mich, dass mein Auto verriegelt war, und wählte die Nummer, von der aus Helen mich angerufen hatte. Es klingelte mehrmals, bis der Anrufbeantworter ansprang und eine mechanische Stimme mich informierte, dass sie nicht erreichbar sei.

»Helen?« Ich ließ die Scheibe herunter und lehnte mich hinaus. Meine Stimme klang gedämpft in der Stille der Nacht. Sunset war zwar eine der Hauptstraßen in meiner kleinen Stadt in Oregon, aber der Verkehrslärm drang nur wie von ferne auf den Parkplatz. »Helen, verdammt noch mal, wo bist du? Ich denke nicht daran, durch ein leeres Einkaufszentrum zu laufen, in dem sich wahrscheinlich Drogenabhängige und andere zwielichtige Gestalten in einem der leeren Läden eingenistet haben.«

Ein metallisches Geräusch kam von einem der Gebäude, so als ob jemand dahinter eine Dose geöffnet hätte.

Ich wünschte mir, dem Treffen nie zugestimmt zu haben, wünschte mir, wieder sicher und geborgen in meiner kleinen Wohnung zu sein und jetzt gerade den herabschauenden Hund zu machen, um meine Muse auf Trab zu bringen.

Aber eine Schwester war eine Schwester, auch wenn sie einen anderen Vater hatte und mit sechzehn unter reichlich mysteriösen Umständen von zu Hause weggegangen war.

»Familiäre Schuldgefühle hin oder her«, murmelte ich vor mich hin und kramte aus meiner Tasche eine Dose Pfefferspray und eine Flasche Hand-Desinfektionsmittel, »darüber werden wir noch reden.« Ich warf einen letzten Blick auf den Parkplatz, um mich zu vergewissern, dass keine Drogenabhängigen aus den leeren Ladenlokalen herausströmten, um mich umzubringen und mein Auto zu stehlen, dann stieg ich aus. Ich schloss das Auto ab, schaltete die Alarmanlage ein, und mit dem Pfefferspray in der einen und dem Hand-Desinfektionsmittel in der anderen Hand ging ich um das Gebäude herum nach hinten.

Zuerst dachte ich, es sei keiner da. Müllcontainer, ein paar Kisten und Holzfässer sowie zwei Stapel Paletten an der hinteren Wand warfen große schwarze Schatten.

»Helen?«, rief ich, wobei meine Stimme viel zittriger klang, als mir lieb war.

Einer der Schatten neben dem ersten Müllcontainer bewegte sich. »Da bist du ja. Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich kommst.«

Als ich ihre Stimme hörte, überflutete mich Erleichterung. Ich stolperte auf Helen zu, die im schwachen Licht des Parkplatzes kaum sichtbar auf dem Boden saß, an den Müllcontainer gelehnt, die Beine von sich gestreckt. »Um Gottes willen, was tust du da?«

»Ich warte auf dich. Nimm dir eine Palette und setz dich hin.«

»Machst du Witze?« Ich blickte mich um und rümpfte angewidert die Nase. »Wer weiß, wozu man diese Paletten benutzt hat. Wahrscheinlich ist alles voller Keime. Ich möchte mir kein unbekanntes Superbakterium einfangen, das gegen jedes Antibiotikum resistent ist.«

Sie hielt mir ein undefinierbares schwarzes Objekt hin und sagte amüsiert: »Ja, okay, aber würdest du dich bitte trotzdem hinsetzen? Ich kriege Nackenstarre, wenn ich so zu dir hochgucke. Du kannst dich auf meinen Mantel setzen. Ich schwöre, dass ich nur normale Bakterien habe, die Antibiotika lieben.«

Einen Moment lang zögerte ich, weil das Tier in meinem Kopf schrie, dass ich lieber Desinfektionsspray hätte mitbringen sollen, aber dann sagte ich mir, dass ich mich nicht so anstellen sollte. Helen war meine Schwester, und sie war nicht unsauber, also nahm ich ihr Angebot an. Ich breitete den Mantel aus und setzte mich im Schneidersitz neben sie. Das Bedürfnis, wieder zu fahren, ignorierte ich. »Möchtest du mir erzählen, warum wir hier sind und nicht an einem normalen Ort wie Starbucks zum Beispiel, wo wir die Kellnerin bitten könnten, einen Tisch für uns abzuwischen, damit wir uns hinsetzen können, ohne uns Krankheiten einzufangen?«

»Ja, das werde ich.« Sie drehte sich so zu mir, dass sie mich ansehen konnte. Ihr Gesicht war blass im schwachen Lichtschein. Wir hatten zwar beide die honigbraunen Haare unserer Mutter geerbt, aber sonst sah sie mir überhaupt nicht ähnlich. Während mein Gesicht eher rund war, war ihres zart und schmal, mit Wangenknochen, die sie nicht zu betonen brauchte. Sie hatte dunkle Augen, während meine von einem unbestimmten Grau waren. Sie hatte den geschmeidigen, eleganten Körper einer Balletttänzerin. Ich hingegen war eher geformt wie eine Kartoffel, mit kurzen, stämmigen Beinen, einem langen Oberkörper und Armen, die nicht zu meinem Körper passten. Missmutig stellte ich fest, dass meine Proportionen sich völlig falsch anfühlten, während bei ihr alles in perfekter Harmonie war.

»Erinnerst du dich noch daran, dass Dad auf einmal weg war?«

Ich nickte. Mein Stiefvater war ein netter Mann gewesen. Er war zwar sehr viel unterwegs, aber wenn er zu Hause war, war unsere gestörte Mutter ruhig und nüchtern, und wir genossen die Zeit, die er mit uns verbrachte. Es war wie eine kleine Oase der Normalität in meinem sonst völlig verrückten Leben. »Ich war siebzehn, und nachdem er endgültig weg war, ging es mit Mom bergab. Du musst etwa dreizehn gewesen sein.«

»Ja, das stimmt. Das war der Sommer, in dem ich zu den McManahans geschickt wurde.«

»Als Pflegekind.« Ich verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich zu Oma und Opa gegangen bin und sie nicht dazu gebracht habe, dich auch aufzunehmen, aber du weißt ja, wie klein ihr Haus war, und außerdem wohnte ja auch noch Tante Ruth mit den Kindern da.«

»Süße, ich habe dich nicht hergebeten, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Wir hatten beide eine schreckliche Kindheit. Und ein für alle Mal: Ich liebte die McManahans und wollte bei ihnen bleiben, aber du weißt ja, wie Mom war, als sie aus dem Entzug kam – jetzt würde alles besser werden, sie habe ihre Sucht überstanden, und so weiter. Aber das gehört alles nicht hierher. Ich wollte mit dir darüber reden, dass ich mit sechzehn von zu Hause weggegangen bin. Hat Mom dir jemals erzählt, warum?«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Nein. Sie hat nur gesagt, du seiest abgehauen, weil du zu deinem Dad wolltest. Ich war ja schon auf dem College und war froh, weil ich dachte, bei ihm ginge es dir viel besser. Bist du denn nicht zu ihm gegangen?«

»Nein. Na ja, irgendwie schon.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist alles ein bisschen kompliziert, aber ich muss mich beeilen. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Nicht?« Ich blickte mich um. »Werden uns die mordlustigen, Autos klauenden Drogenabhängigen holen?«

Ihr leises Lachen endete abrupt in einem Schluckauf. »Nein, dafür ist es schon zu spät. Ronnie, hattest du jemals das Gefühl, als ob … als ob mit Dad etwas anders wäre?«

»Ja«, sagte ich langsam. Ich wählte meine Worte sorgfältig, weil ich nichts sagen wollte, was ich bedauern müsste. Schließlich war er ihr Vater, und obwohl ich seit mehr als sechzehn Jahren nichts von ihm gehört hatte, lebte er wahrscheinlich noch. »Er war immer irgendwie … distanziert … mir gegenüber. Zuerst glaubte ich, das läge daran, dass ich seine Stieftochter bin, aber mit Mom ging er genauso um.«

»Es hatte nichts mit dir oder Mom zu tun. Er musste sich so benehmen, um uns zu beschützen. Uns alle. So wie ich jetzt dich beschützen muss.«

»Wovor musste er uns beschützen? O Gott, ist er sowas wie ein Drogenboss mit einem geheimen Leben?«

Erneut lachte sie leise. »Nein. Du bist ja richtig besessen von Drogenabhängigen. Ach, ich kann dir das jetzt nicht vorsichtig beibringen, ich werde es einfach so sagen müssen. Bist du bereit?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Was willst du mir einfach so sagen? Ist es etwas Schlimmes? Wird es mir missfallen? Du liebe Güte, bist du etwa im falschen Körper und möchtest jetzt auf einmal ein Mann sein? Also, dabei werde ich dich total unterstützen …«

»Dad war ein Drache!«, unterbrach sie mich mit lauter Stimme.

Ich starrte sie an. »Was?«

»Ein Drache.«

Ich blinzelte ein paar Mal. »Jetzt mal langsam. Du meinst eines dieser großen, schuppigen mythischen Geschöpfe mit Flügeln, die Feuer atmen und am liebsten Jungfrauen vernaschen?«

»Ja, aber sie haben keine Flügel. Sie haben eine menschliche Gestalt und sehen so aus wie du und ich. Dad hat allerdings gesagt, wenn er richtig wütend ist, kann er auch Feuer atmen.«

»Du machst doch sicher Witze!« Mein Verstand versuchte, mit dieser Vorstellung klarzukommen, es gelang ihm aber nicht.

»Ich wünschte, es wäre so.«

»Aber Drachen sind … Helen, es gibt keine Drachen.«

»Doch. Es gibt Drachen. Vergiss einfach, was du von der Mythologie weißt, und stell sie dir vor wie eine andere Art von Menschen.«

»Selbst wenn ich mir das vorstellen könnte, klingt es nicht gut. Auch auf die Gefahr hin, dass du mich jetzt wieder zurechtweist: Wenn sie Menschen wären, dann würden sie bestimmt Drogen mit Frostschutzmittel verkaufen und kleine Kinder abhängig machen.«

Helen schüttelte den Kopf. Sie wirkte irgendwie erschöpft. »Du lässt dich von der Literatur beeinflussen. Nicht alle Drachen sind böse, auch wenn sie manchmal einen schlimmen Einfluss auf die Welt der Sterblichen haben.«

»Die Welt der Sterblichen? Willst du damit sagen, dass unser Vater kein Sterblicher war?« Ich hatte das Gefühl, von einer starken Strömung aufs offene Meer hinausgezogen und von den Fluten verschlungen zu werden. Das Angstmonster versuchte, in Panik zu geraten, aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass es keine Macht mehr über mich hatte. »Du lieber Himmel, Helen! Willst du damit sagen, dass Dad kein echter Mensch war?«

»Doch, er ist ein Mensch. Aber er ist auch ein Drache. Eigentlich ein Halbblut-Drache, ein Drachenjäger.« Sie beugte sich einen Moment lang vor. »Und weil ich von ihm abstamme, bin ich das auch.«

Ich starrte sie an. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich starrte sie nur an.

»Als ich sechzehn war, bekam ich meine Macht. Dad hatte mir einen Brief hinterlassen, in dem er mir schrieb, was gerade mit mir passierte und wo ich ihn finden konnte. Ich ging zu ihm, und er sagte mir, ich müsse mein ganzes Leben lang Sterbliche vor dem Bösen in der Welt beschützen.«

»Bösen wie Drogenbossen?«

Ihr Lachen klang grausig. »Ja, wenn du so willst. Hauptsächlich Dämonen, aber auch noch viele andere bösartige Kräfte, die wir nur nicht sehen können. Dad sagte, Drachenjäger müssen die Welt der Sterblichen vor Bedrohungen schützen, von denen sie nichts wissen. Und wenn ihnen das nicht gelingt, werden sie … nun ja, gerufen.«

»Das klingt wie aus einem Fantasy-Film«, sagte ich. Ich hätte gerne angenommen, dass Helen halluzinierte, aber sie klang vollkommen klar. »Möchte ich wissen, wohin sie gerufen werden?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Ist dein Dad gerufen worden? Ist er deshalb verschwunden?«

»Ja, anfangs schon, aber er ist nicht lange so geblieben.« Sie wandte den Kopf kurz zur Seite. »Jemand hat seinen Platz eingenommen. Er hat mir nicht gesagt, wer, und ich konnte ihn nicht mehr fragen, bevor … Anderthalb Wochen lang ging es ihm gut, und dann … Er ist jetzt tot.«

»Oh Helen, das tut mir so leid.« Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. Ich weiß nicht, an welchem Punkt genau mein Gehirn anfing, das eben Gehörte zu verarbeiten, aber es hatte bereits damit begonnen, und ich fühlte ihren Schmerz mit.

Sie hustete und beugte sich erneut vor. »Ich muss mich beeilen. Ich brauche deine Hilfe.«

»Ja, klar«, sagte ich und überlegte, ob ich die Geschichte wohl aufschreiben und in meinem Buch verwenden könnte, aber wahrscheinlich war sie für einen Roman viel zu weit hergeholt. Mr Manny hatte uns davor gewarnt, zu unwahrscheinliche Verknüpfungen zu verwenden. »Ich will tun, was ich kann.«

»Gut, es tut mir leid.«

»Was tut dir – auuuu!«

Sie hatte meinen Arm gepackt und mir kräftig ins Handgelenk gebissen.

Ich versuchte, den Arm wegzuziehen, aber sie zog mich zu sich und drückte meinen Arm gegen ihren Bauch. Er war warm, nass und schrecklich, und Angst überflutete mich. Strampelnd versuchte ich mich von Helen zu befreien, um von den Keimen, die mich infizieren würden, wegzukommen.

Ich musste mich waschen, jetzt gleich. Mich am ganzen Körper waschen. Ich bezweifelte, dass es genug Wasser gab, so groß war mein Verlangen, mich zu säubern.

Kreischend schlug ich um mich und versuchte, meinen Arm wegzuziehen. Verzweifelt konzentrierte ich mich auf das Bedürfnis, mich zu waschen, aber sie hielt mich mit eisernem Griff fest. Ich könnte schwören, dass in ihren Augen ein rotes Licht loderte, als sie sich dicht über mich beugte und mich ansah.

Und in diesem Moment geschah etwas Seltsames – der Blick in ihren Augen erschreckte das Tier in meinem Kopf so sehr, dass es in seinen Käfig zurückwich und keine Befehle mehr in mein Gehirn schickte. Auf einmal war ich nur noch von völlig normaler Panik und Entsetzen erfüllt.

Helens Atem glitt durch meine Haare. »Jetzt fließt mein Blut durch deine Venen. Du kannst da anfangen, wo ich gezwungenermaßen aufhören musste. Schwöre mir, dass du für das Richtige kämpfst, Ronnie. Schwöre, dass du sein wirst, was ich nicht sein kann.«