Über das Buch
Istanbul, 1599: Eine Orgel, die von selbst spielt. Dieses Wunderwerk soll der Orgelbauer Thomas Dallam dem osmanischen Sultan als Geschenk überreichen. Doch die Reise an den Bosporus dient noch einem ganz anderen Zweck: Im Auftrag von Königin Elizabeth I. begibt sich Dallam auf die Suche nach dem Griechischen Feuer – jener legendären Waffe der Byzantiner, die selbst Wasser zum Brennen bringt. Als der Sultan davon Wind bekommt, beginnt in den uralten Gassen, Kanälen und Zisternen Konstantinopels die Jagd auf ein Feuer von unvorstellbarer Macht …
Über den Autor
Dirk Husemann, Jahrgang 1965, gräbt als Wissenschaftsjournalist und Archäologe Geschichten aus. Er studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ethnologie in Münster und schreibt Reportagen und Sachbücher über die rosaroten Steine von Stonehenge, Fische in der Sahara und den Sternenhimmel unter den Pyramiden Mexikos. Seine Romane werden in mehrere Sprachen übersetzt. Die Seidendiebe erreichte Platz 2 bei der Wahl zum Wissensbuch des Jahres und stand auf der Shortlist des HOMER-Preises.
DIRK HUSEMANN
DAS SCHWARZE FEUER
VON BYZANZ
HISTORISCHER ROMAN
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Illustrationen: © 2019 by Markus Weber, Guter Punkt München
Die Shakespeare-Zitate in Kapitel 16 stammen aus folgender Ausgabe:
William Shakespeare, Dramatische Werke,
übersetzt von A.W. Schlegel und J.J. Eschenburg, Wien 1810.
Titelillustration: © Color Symphony/Shutterstock;
© Vasilius/Shutterstock; © akg-images/Fototeca Gilardi
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7234-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
In Erinnerung an
Hans-Jürgen Korn
22. Juni 1940 – 1. November 2018
Bei den kursiv gesetzten Namen handelt es sich um historische Persönlichkeiten.
Thomas Dallam, Orgelbauer
LONDON, GREENWICH PALACE
Elizabeth I., Königin von England
William Cecil, 1. Baron Burghley, englischer Staatsmann
Robert Radcliffe, Herzog von Sussex
Garcilaso de la Ruy, spanischer Gesandter
CITY OF LONDON
Roscoe Flint, Fährmann
Rowland Bucket, Rätselmeister
AN BORD DER HECTOR
Hoodshutter Wells, Kapitän
Winston, Segelflicker
John Flint, Fährmannssohn
Henry Lello, Sir, englischer Diplomat
Geoffrey Montagu, Lord, Diplomat
William Aldridge, Lord
Emily Aldridge, seine Frau
Mabel, ihre Zofe
Cuthbert Bull, Kaufmann
Dudley North, Kaufmann
IN ISTANBUL
Mehmed III., Sultan des Osmanischen Reiches
Ioannis, griechischer Schmied
Kassandra, seine Tochter
Eremyia, Wasserverkäufer
Melek Ahmed, Kerkermeister
Greenwich Palace und City of London
An Bord der Hector
In Istanbul
Auftakt
Ein kalter Wind fegte durch die Kathedrale von Westminster. Der alte Kantor rieb sich die von der Gicht verkrümmten Hände. Warum Kirchen mit den Portalen nach Osten gebaut werden mussten, hatte er noch nie verstanden. Von dort fiel zwar die Morgensonne in den Kirchenraum, aber mit ihr kam der Ostwind, und der brachte den Frost. Bisweilen kam aus dieser Himmelsrichtung auch das Unglück.
Kantor Hanscombe beugte sich über die Brüstung der Empore. Tief unter ihm summte die Kathedrale. Die Bänke waren mit Menschen gefüllt. Noch hatte die Messe nicht begonnen, noch redeten die Besucher miteinander, tauschten Neuigkeiten aus. Manche kamen nur aus diesem einen Grund, andere, um die Königin zu sehen. Denn an diesem kalten Morgen im März 1588 wollte Elizabeth persönlich an der Eucharistie teilnehmen. Der Krieg mit Spanien stand unmittelbar bevor, und die Königin konnte jede denkbare Unterstützung gebrauchen. Vor allem die Hilfe Gottes.
Schwere Schritte donnerten auf der Stiege zur Orgel. Farnham, der Küster, kam herauf, aber nur so weit, dass sein von Wein und Gottesfurcht gerötetes Gesicht über dem Treppenschacht erschien.
»Du wirst heute ohne Kalkanten arbeiten müssen. Ich brauche die Männer unten im Kirchenschiff. Verstanden?«
Hanscombe seufzte. Die Kalkanten waren junge Kirchendiener. Sie traten die Blasebälge hinter der Orgel mit Kraft und Ausdauer, damit das Instrument Luft bekam. Er, Hanscombe, hingegen würde dem Instrument mit seinen alten Beinen gerade genug Atem verschaffen, damit es überhaupt Töne von sich gab – ein flaues Flüstern, wo doch ein robustes Röhren zu hören sein sollte. Aber Hanscombe hatte keine Wahl. In dieser Kirche traf der Küster die Entscheidungen.
Farnham warf einen missmutigen Blick auf die leere Orgelbank. »Wo bleibt der Knabe?« In seiner Stimme lag mehr Eis als im Ostwind.
»Gib ihm noch etwas Zeit«, erwiderte Hanscombe. »Die Königin ist doch auch noch nicht da.«
»Zeit!« Der Küster spie das Wort von seinen feuchten Lippen. »Wenn Elizabeth’ knochiger Hintern die Kirchenbank berührt, kracht hier eine Kadenz von der Orgel, gegen die ein Furz des seligen Königs Heinrich wie das Winseln eines Welpen klingt.« Er schnappte nach Luft. »Oder ich sehe mich nach einem neuen Kantor um.« Farnhams Kopf verschwand.
Hanscombe nickte, stumm wie die Orgel. Allmählich bereute er seinen Wagemut. Er hatte einem Knaben ermöglicht, die Orgel für die Königin von England zu spielen. Der junge Thomas Dallam hatte Talent. Die Königin, selbst kinderlos, war vernarrt in Kinder. Und jeder wusste: Wer ein Lächeln auf das traurige Gesicht Elizabeth’ zaubern konnte, den liebte ganz London – und für Hanscombe war London die ganze Welt.
Aber dieses Lächeln würde Elizabeth’ dünne Lippen niemals zieren, wenn Thomas Dallam nicht bald an der Orgel erschien.
Thomas, dachte der alte Kantor, wo steckst du?
*
Südlich der Stadt schaute ein Knabe zum unerreichbaren nördlichen Ufer der Themse hinüber, dorthin, wo Westminster lag. Längst sollte er dort sein. Aber das Glück war auf dieser Seite des Flusses so viel wert wie zwei schäbige Münzen. In Thomas Dallams Hand lag jedoch nur eine einzige.
»Zwei Farthings«, wiederholte John Flint. Der Sohn des Fährmanns schaute Thomas herausfordernd an. Jedenfalls versuchte er es. Flint schielte. Auch sonst war sein Äußeres wenig dazu angetan, die Mädchen von Lambeth Marsh auf ihn aufmerksam zu machen. Sein Haar war kupferrot und struppig. Seine Ohren wuchsen in entgegengesetzte Himmelsrichtungen. Zwischen seinen Lippen ragten zwei Schneidezähne hervor, und wenn er grinste – so wie in diesem Augenblick –, bekamen diese Gesellschaft von einer Parade bleicher Gesellen, die an ausgemusterte Orgelpfeifen erinnerten. Wenn das Marschland südlich von London das Gesäß der Stadt war, so war John Flint die Warze darauf.
»So viel Geld habe ich nicht«, sagte Thomas. »Bei deinem Vater kostet die Überfahrt nur einen Farthing.«
»Mein Vater ist krank. Ich muss Medizin für ihn kaufen.« Das Grinsen in Flints Gesicht ließ Thomas ahnen, was für eine Medizin das war – und was für eine Krankheit. Gewiss hatte Flints Vater zu viel von dem billigen Bier getrunken, das die Wirte von Lambeth Marsh mit Themsewasser brauten.
Thomas hatte weder das Geld noch die Zeit, sich um die Trunkenheit von Flints Vater zu kümmern.
»Die Königin erwartet mich«, sagte er. Im selben Moment wünschte er sich, den Mund gehalten zu haben.
»Gewiss!« Flint vollführte eine Bewegung mit seinem Oberkörper, die einer Verbeugung recht nahe kam. »Was für eine Ehre, dass der feine Herr mit meiner Fähre vorliebnehmen will. Wartet, ich lege den Samtteppich für Euch aus.« Er zog sich das löchrige Schaffell von den mageren Schultern und breitete es auf dem Anleger aus. Dahinter schaukelte die Fähre im Fluss, und in einiger Entfernung ragten die Türme von Westminster aus dem Morgendunst empor. Glockenschläge erklangen von weit her.
»Hörst du nicht?«, fragte Thomas. »Sie läuten zur Messe. Ich muss rechtzeitig dort sein, um die Orgel zu spielen.« Er holte tief Luft und sagte so langsam wie möglich: »Für die Königin.«
Flint sperrte seine Zähne in seinen Mund ein und runzelte die Stirn. »Das glaubst du dir wohl selbst«, sagte er. »Du bist noch verrückter, als alle sagen.«
Wenn in Lambeth Marsh jemand als verrückt galt, so waren das Roscoe Flint, der Fährmann, und John Flint, sein Sohn. Die Kinder im Dorf um die Hügel Lambeth Heights machten sich einen Spaß daraus, »Flintauge« zu spielen. Dabei galt es, möglichst lange mit absichtlich gekreuzten Pupillen einem anderen ins Gesicht zu starren. Es hieß, wenn man diesen Spaß übertrieb, würden die Augen nie wieder geradeaus schauen können. Deshalb gewannen nur die Mutigsten diesen Wettbewerb. Thomas hatte bislang immer die hinteren Plätze belegt. Er war auch nie unter jenen Schreihälsen, die Flint schauerliche Geschichten andichteten. Darin grub der Fährmannssohn des Nachts Leichen auf dem Friedhof aus, weil er auf der Suche nach Augen war, die er gegen seine schief stehenden eintauschen konnte. So aberwitzig derlei Gerüchte waren, sorgten sie doch dafür, dass Flint von Gleichaltrigen gemieden wurde – und ihnen seinerseits aus dem Weg ging. Nur an der Fähre konnte es vorkommen, dass sich die Wege der Kinder von Lambeth Marsh mit denen des Fährmannssohns kreuzten.
Und das schien der Rotschopf Thomas nun spüren lassen zu wollen.
»Hör zu«, sagte Thomas und versuchte, sich größer zu machen. »Ich habe nichts gegen dich. Ich habe auch nie über dich Witze gerissen oder dich ausgelacht.«
»Warum solltest du über mich Witze reißen?«, fragte Flint. Sein Gesicht war so düster wie der Himmel über der Themse.
Thomas konnte die Füße nicht länger stillhalten. Er begann, vor dem Anleger auf und ab zu gehen. »Hör endlich auf damit, Flint«, sagte er und hob beschwörend die Hände in die Höhe. »Ich muss nach Westminster. Dort soll ich vor der Königin spielen. Master Hanscombe hat dafür gesorgt.«
»Hanscombe? Nie gehört«, erwiderte Flint.
»Der alte Kantor von Westminster Abbey«, erklärte Thomas mit gepresster Stimme. »Was willst du denn noch alles von deinen Passagieren wissen?«
»Deine Lieblingsfarbe«, sagte Flint.
Thomas starrte ihn entgeistert an. »Meine was?«
»Ich will’s wissen. Sag es, und ich fahre los.«
Dieser Flint war tatsächlich noch blöder, als alle immer behaupteten. »Gelb«, sagte Thomas.
Flint knetete sein linkes Ohr. »Gelb, ja?« Er spitzte die Lippen. »Gelb geht in Ordnung. Du kannst mitfahren.«
Jetzt war Thomas misstrauisch geworden. »Und der zweite Farthing?«, fragte er, gewiss, dass Flint ihn nur zum Narren halten wollte.
»Ich sehe das so«, sagte Flint. »Wenn du wirklich für die Königin auf der Orgel spielen wirst, zahlst du nur den halben Preis. Damit komme ich dir entgegen, nicht wahr? Weil du mir ebenfalls entgegenkommen wirst. Denn du nimmst mich mit in die Messe. Die Königin! Ich hab sie noch nie gesehen. Und sie mich auch nicht. Das wird ihr wohl einen ganzen Farthing wert sein.«
Die Fähre schob sich mit der Geschwindigkeit einer Seerose über die Themse. Thomas sah keine andere Möglichkeit, als Flint beim Rudern zu helfen. Aber er war den Umgang mit den Riemen nicht gewohnt, und es fiel ihm schwer, mit einem anderen Jungen im selben Rhythmus zu rudern. Wenn es darum ging, den Takt zu halten, war er an der Orgel stets auf sich allein gestellt.
Trotzdem hielt der Kahn nun so schnell auf das nördliche Ufer zu, dass er schon nach kurzer Zeit mit einem Ruck gegen den Anleger stieß. Thomas kletterte von der Ruderbank und lief los.
»Warte! Du musst mich mitnehmen!«, rief der Fährmannssohn ihm hinterher.
»Dann beeil dich!«, wollte Thomas rufen.
Da sah er das Unglück. Flint humpelte auf ihn zu. Etwas war mit seinen Beinen nicht in Ordnung. Das rechte Bein schien verdreht. Die bloßen Zehen zeigten auf die Innenseite des linken Fußes. Wenn Flint lief, schien sein linker Fuß geradeaus gehen zu wollen, während sein rechter einen Bogen beschrieb. Mit einem Mal wusste Thomas, warum Flint niemals unter den anderen Kindern von Lambeth Marsh zu finden war, warum er immer nur auf seiner Fähre über den Fluss schipperte, von Norden nach Süden, von Süden nach Norden. Seine Kompassrose hatte nur zwei Blütenblätter, weil er auf dem Fluss besser vorankam als zu Land.
Wenn er auf John Flint wartete, würde Thomas die Kathedrale wohl erst am nächsten Tag erreichen. Am liebsten wäre er sofort losgelaufen. Ratlos rieb er sich die Wangen.
»Damit kannst du nicht …«, begann er. »Du bist …« Er zeigte auf die missgestaltete Gliedmaße. Dann sah er den Schmerz in Flints Augen. »Ich meine, du bist doch der Fährmann. Du musst bei der Fähre bleiben, falls jemand übergesetzt werden will.« Die Lüge schmeckte fade wie ein Winterapfel. Thomas verzog das Gesicht und probierte ein Lächeln.
»Du hast gesagt, ich kann die Königin sehen.« In Flints Stimme lag ein Klang, den Thomas an der Orgel eingesetzt hätte, um einen dramatischen Effekt zu erzielen.
Er hatte keine Zeit für Diskussionen. Er hatte keine Zeit, einen Krüppel hinter sich herzuzerren. Er hätte längst in Westminster sein müssen. Die Königin von England erwartete ihn. Die Feenkönigin. Elizabeth. Thomas liebte sie, seit er sie zum ersten Mal in ihrer Kutsche gesehen hatte. Was wog dagegen das Unglück eines missgestalteten Burschen von der Themse? Weniger als das Licht einer Kerze.
»Komm!«, sagte Thomas und streckte eine Hand aus. Flint packte zu und ließ sich die Uferböschung hinaufziehen. Gemeinsam hielten die Jungen auf die Stadt zu.
Die Kathedrale von Westminster war ein Schiff in einem Meer aus Schneckenhäusern. Über das riesige Bauwerk zogen graue Wolken. Ein feiner Nieselregen färbte die Mauern schwarz. Thomas zog seinen Hut tief ins Gesicht. Flint trug nicht einmal eine Mütze. Schlapp hing ihm das rote Haar in die Stirn, und Tropfen rannen über sein Gesicht.
Flint gab sich Mühe, möglichst schnell voranzukommen. Aber schon von Weitem sah Thomas, wie sich die Portale der Kirche zu schließen begannen. Das bedeutete, die Königin war bereits eingetroffen.
Er bemerkte erst, dass er noch immer Flints Hand hielt, als der andere Junge sie ihm entzog. Thomas mochte nicht glauben, was er sah: Der Rothaarige wandte sich nach links. Hatte das etwas mit seinem Fuß zu tun?
Thomas überlegte kurz, ob er Flint einfach hinter sich herschleifen sollte. Doch dann verspürte er Erleichterung, dass sein langsamer Begleiter von selbst verschwand, und lief weiter. Als er sich noch einmal nach ihm umsah, war der Junge zwischen zwei Häusern verschwunden. Wird es wohl mit der Angst bekommen haben, dachte Thomas.
Ihm selbst erging es nicht besser. Vor ihm lag die endlose Straße, die zur Kathedrale führte. Angesichts der Entfernung schienen auch Thomas’ eigene Füße nichts weiter zu sein als die Gehhilfen eines beinlosen Bettlers. Aber Bettler gaben niemals auf, oder? Thomas atmete tief ein und rannte, so schnell er konnte, auf Westminster zu. Seine Schuhe klatschten in die Pfützen. Vergebens war die Mühe gewesen, das Leder glänzend zu polieren. Er hörte den eigenen Atem rasseln. Sein Brustkorb schmerzte, und trotz der Kälte lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter. Nass von innen und von außen arbeitete er sich auf das gewaltige Bauwerk zu.
Thomas hörte den Hufschlag erst, als das Pferd schon seine Schulter streifte. Auf dem Rücken eines mageren Kleppers hockte John Flint. Diesmal war der Fährmannssohn an der Reihe, Thomas eine Hand entgegenzustrecken.
»Willst du etwa zu Fuß zur Königin?«, fragte Flint, und ein breites Grinsen entblößte seine riesigen Zähne. »Du wirst dir die Schuhe schmutzig machen.«
Thomas griff nach der Hand.
*
Als sich die Tore schlossen, hielt es Hanscombe nicht länger auf der Orgelempore aus. Er hastete die gewundene Holztreppe hinunter. Sein Rock verfing sich an einem Pfosten des Treppengeländers und ging entzwei, als der alte Kantor mit Schwung weiterlief. Gleichgültig! Ein Riss mehr oder weniger in seinem Leben konnte seine Lage kaum verschlimmern. Er hatte der Königin einen Knaben an der Orgel versprochen. Elizabeth war gekommen, aber Thomas war nicht da. Ihm musste etwas zugestoßen sein. Der Junge war stets korrekt und pünktlich. In Thomas’ Innerem lief ein Mechanismus ab. War der erst einmal aufgezogen, lief er beharrlich und vorhersehbar ab. Keine Aussetzer. Keine Überraschungen. Doch jetzt schien irgendetwas in das Getriebe geraten zu sein.
Hanscombe stahl sich durch das Seitenschiff. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Gerade stand die Gemeinde auf, denn Elizabeth schritt zwischen den Bänken hindurch, um ihren Platz in der ersten Reihe einzunehmen. Zwischen den schwarzen Schultern und Halskrausen des Londoner Adels erhaschte Hanscombe einen Blick auf etwas Rotes – Elizabeth’ Haar. So nah war er der Königin noch nie gewesen. Wie gern wäre er noch näher an sie herangetreten, nur um die Luft zu schmecken, die sie ausgeatmet hatte. Manche sagten, ein Blick aus ihren grünen Augen könne einen Mann die Erlösung im Himmelreich vergessen lassen. Hanscombe zwang sich, weiter in Richtung Portal zu laufen. Wenn Thomas noch kommen sollte, musste er ihm den Zugang ermöglichen. Sollte der Junge aber nicht erscheinen, wäre es wohl das Beste, sich durch das Portal in den grauen Londoner Regen davonzustehlen. So oder so: Der Eingang der Kirche hielt mehr für Hanscombe bereit als ein Blick aus den Augen Elizabeth’.
Die Tür war bereits geschlossen. Zwei Pennys überzeugten die Kirchendiener, sie noch einmal zu öffnen. Aber nur einen Spaltbreit, wurde der Kantor ermahnt, und nur für einen Augenblick. Hanscombe half selbst mit, die schweren Flügel aufzuziehen. Kaum war das Portal in Bewegung gekommen, steckte er seinen Kopf durch die Lücke. Das Erste, was er bemerkte, war der kalte Regen auf seinem fast kahlen Schädel. Das Zweite war das Pferd, das auf ihn zu galoppierte.
Im nächsten Augenblick stand Thomas Dallam vor ihm – oder das, was vorgab, Thomas Dallam zu sein. Das Gesicht des Jungen und seine Hände waren schmutzig, er trug keinen Hut, seine Haare waren so nass, dass Hanscombe eine Fontäne entgegenspritzte, als er Dallam eine Maulschelle gab.
»Wo bist du gewesen? Ich sollte dich mit den Ohren an der Orgelempore aufhängen lassen!«, schnauzte der Kantor.
Thomas senkte den Blick. »Bin ich noch zur rechten Zeit gekommen?«, fragte er mit leiser Stimme.
Natürlich! Jetzt entging der Knabe seiner Schelte, weil keine Zeit dafür war. Aber nach der Messe, das nahm sich Hanscombe vor, würde das Jüngste Gericht über Thomas Dallam hereinbrechen.
»Eile!«, zischte der Kantor. Er sah, wie die Menschentraube, deren Mittelpunkt die Königin bildete, die vordere Bank erreichte, und schob Thomas hastig vor sich her. Missmutig bemerkte Hanscombe, dass sich kleine Pfützen unter Thomas’ Schuhen bildeten. Die Schritte des Jungen quietschten auf den kostbaren Fliesen aus Luxemburger Platten.
Das Geräusch hatte Geschwister. Hanscombe schaute über die Schulter und sah, wie ein zweiter Junge hinter ihnen herlief. Er hinkte und versuchte, Schritt zu halten. Dabei biss er sich auf die Unterlippe und ließ zwei mächtige Vorderzähne sehen. Ein Monstrum aus den Eingeweiden der Stadt verfolgte sie.
»Verschwinde!«, zischte Hanscombe und schob Thomas weiter vor sich her.
»Einen Farthing!«, rief der lahme Verfolger. »Er schuldet mir einen Farthing.« Die Stimme hallte durch das Seitenschiff. Die Köpfe einiger Kirchenbesucher wandten sich zu ihnen um. »Und ich darf die Königin sehen«, quengelte der Rotschopf weiter.
Hanscombe achtete nicht auf ihn. Die Kirchendiener würden den Störenfried entfernen. Ein Straßenjunge, der versuchte, die Messe für die Königin zu stören – das würde kein gutes Ende für diesen Lumpen nehmen.
Doch jetzt blieb Thomas so abrupt stehen, dass Hanscombe hinter ihm stolperte.
»Er hat recht«, sagte der junge Orgelspieler. »Er hat mich über den Fluss gesetzt, aber ich hatte nicht genug Geld. Gebt ihm doch bitte, was ich schuldig bin, Master. Ich zahle es Euch zurück.«
Hanscombe spürte, wie das Lamm von gestern Abend in seinem Gedärm wieder zum Leben erwachte. Nur zu gern hätte er Dallam hochgehoben, ihn über die Schulter geworfen und zur Orgel getragen. Aber dafür war Thomas zu schwer und Hanscombe selbst – wie er sich eingestehen musste – zu alt.
»Später«, knurrte der Kantor. Dann kam ihm ein Einfall. Er wandte sich zu dem rothaarigen Anhängsel um und sagte: »Komm mit auf die Empore. Von dort kannst du die Königin besonders gut sehen.« Der Lammbraten beruhigte sich wieder. Du bringst doch immer noch eins und eins zusammen, Hanscombe, dachte er. Mit Schlägen trieb er Thomas und seinen hässlichen Freund vor sich her. Zu dritt hasteten sie die Holzstufen zur Orgelempore hinauf.
*
Thomas ließ sich auf die Bank vor dem Spieltisch fallen. Das Manual erstreckte sich vor ihm wie das Meer der Musik. Noch herrschte Windstille. Doch in wenigen Augenblicken würden seine Finger einen Sturm entfachen. Er kannte die Orgel von Westminster wie ein ungeborenes Kind den Mutterleib. An diesem Koloss hatte Master Hanscombe ihn ausgebildet. Allerdings war niemals zuvor die Königin zugegen gewesen, wenn er spielte.
Thomas warf einen Blick in die Tiefe. Aus einem Pulk aus Schultern in schwarzem Taft blühten weiße Halskrausen. Dazwischen leuchtete eine einzige rote Blume: die Haarpracht Königin Elizabeth’. Gerade stand sie vor dem Altar, kniete davor nieder. Thomas spürte eine leise Erregung. Er kam sich vor wie ein Dieb, der Blicke stiehlt. Dort unten stand sie. Er konnte sie tatsächlich sehen. Wenn er lange genug wartete, mochte sie den Kopf heben, um nachzuschauen, warum die Musik nicht einsetzte. Dann würde er in ihre Augen blicken und sie in die seinen.
Thomas schüttelte den Gedanken ab. Das war unmöglich. Hanscombe würde ihn von der Empore stoßen, wenn er nicht bald spielte. Er schwitzte noch immer trotz der Kälte. Als er die Hände auf die Tasten legte, genoss er die wohltuende Kühle. Sie half ihm, sich zu besinnen.
Er wollte die Messe mit einer Motette von Byrd eröffnen. Ein d-Moll-Akkord zu Beginn war besonders dramatisch. Thomas hörte in dem Ton stets die Schmerzensschreie Christi bei der Passion. Und er war sicher, dass er diesen Eindruck seinen Zuhörern würde vermitteln können.
Das Hecheln Hanscombes ließ ihn herumfahren. Der alte Kantor baute sich links neben dem Spieltisch auf. Er war es, der die Register ziehen würde, wenn Thomas ihm mit einem Nicken Zeichen gab. Aber noch konnte er nicht beginnen. Noch hatte die Orgel keine Luft.
»Sind die Kalkanten mit den Blasebälgen so weit?«, fragte Thomas.
»Ja, bereit!« Was war das für ein Lächeln auf Hanscombes Gesicht? Eben noch war der Kantor außer sich gewesen vor Zorn.
Gerade wollte sich Thomas nach Flint umschauen, da hörte er das Kommando Hanscombes. »Jetzt!«, zischte der alte Kantor. Thomas drückte mit aller Kraft die sechs Tasten nieder, mit denen er einen zweistimmigen d-Moll-Dreiklang hervorrufen wollte.
Der Drache erwachte. Er schüttelte seine Mähne aus Eisenblech, er stampfte mit den Füßen und wetzte seine Krallen. Das Untier riss das Maul auf, um die Kathedrale mit seinem Gebrüll zu erfüllen. Doch alles, was herauskam, war ein Gähnen. Das d-Moll trudelte durch die Weite des Kirchenschiffs, bis es auf halbem Weg durch die Kathedrale jämmerlich verendete. Statt eines Drachen hatte Thomas Dallam eine Ente zum Leben erweckt.
Er starrte auf seine Finger, die noch immer die Tasten niedergedrückt hielten. Die Orgel war verstummt.
Stille lastete auf der Kirche. Auch die Gemeinde, und mit ihr die Königin, tief unter der Empore gab keinen Laut von sich.
Die Mechanik der Orgel musste einen Fehler haben. Gewiss lag es an der Kombination der Tasten. Thomas versuchte einen anderen Akkord. D-Dur war zwar etwas fröhlicher, aber vielleicht funktionierte es ja.
Die Orgel schwieg. Nur die Pfeifenklappen schepperten vor sich hin.
Dem Drachen war der Atem vergangen. Das Untier war eingeschlafen, kaum dass es erwacht war. Thomas wusste, was geschehen war, noch bevor Master Hanscombe etwas sagte.
»Dieser verfluchte Straßenköter!«, schimpfte Hanscombe, leise zwar, doch Thomas war sicher, dass die Worte bis in die hintere Kirchenbank zu hören waren.
Da hielt es Thomas nicht mehr am Spieltisch aus. Er schob die Bank zurück – das Rumpeln war laut genug, um der misslungenen Vorstellung einen passenden Schlusston zu setzen – und lief um die Orgel herum. Ein kleiner Durchgang führte in die Kammer mit den Blasebälgen.
Der Raum lag im Halblicht. Die sechs Bälge lagen in einer Reihe auf dem Boden, ihre ledernen Bäuche waren flach und leer. Aus ihnen ragten die Pedale heraus, schenkeldicke Balken mit Aussparungen für die Füße. Dort hinein musste der Kalkant seinen Fuß setzen, um den Balken mit der Kraft seines ganzen Körpers herunterzudrücken. Erst dann füllte sich der Blasebalg mit Luft, die er nach und nach an die Orgel abgab.
John Flint klammerte sich an eine der ledernen Schlaufen, die als Haltegriffe dienten. Mit herausgestreckter Zunge versuchte er, seinen missgestalteten Fuß auf das Pedal zu setzen. Aber sobald ihm das gelungen war und er den Balg aufpumpen wollte, rutschte er ab. Dann baumelte er kurz in den Halteschlaufen, und das Spiel begann von vorn.
»Ich wäre doch besser auf dem Fluss geblieben«, ächzte Flint, als er Thomas in der Tür stehen sah. Schließlich ließ er die Schlaufen los. »Den Farthing für die Überfahrt, den kannst du behalten«, sagte er. Damit schob er sich an Thomas vorbei auf die Empore hinaus und verschwand.
Thomas sah ihm nach. Das schrille Lachen einer Frau, das die Kathedrale erfüllte, sollte er nie wieder vergessen.
Kapitel 1
London trug sein Sommerkleid. Die Sonne kitzelte der Themse den Bauch, und wer genau hinhörte, der konnte den Fluss lachen hören. Die Brauereien verkauften Bier wie Brot. Die Pest war aus der Stadt vertrieben. Die Theater hatten wieder geöffnet. Der Tag saß den Landschaftsmalern Modell. Trotzdem war dieser 18. August 1599 ein schwerer Tag. Denn Königin Elizabeth war wieder einmal missgestimmt.
Mit ihrem Kleid aus weißem und goldenem Taft segelte die betagte Monarchin durch die Korridore von Greenwich Palace. In ihrem Kielwasser folgten ihre dümmlichen Zofen und ein Dutzend eingebildeter Höflinge. Dabei entstanden ein Rauschen und Rascheln und dieser widerliche Ton, wenn die Beulen der Melonenhosen gegeneinanderrieben.
Am liebsten wäre Elizabeth heute im Bett geblieben. Diesen Wunsch hegte sie seit Monaten. Nur zu Beginn ihrer Regentschaft, als die Macht noch wie eine süße Traube auf ihrer Zunge gelegen hatte, war sie jeden Morgen voller Schwung erwacht. Doch Trauben werden zu Rosinen, und ein Thron ist auch nur ein Stuhl. Seit sie vor elf Jahren die spanische Armada bezwungen hatte, waren Elizabeth alle folgenden Aufgaben nichtig erschienen. Sie unterzeichnete Dekrete mit schneller Hand und verteilte Posten im Vorübergehen, sie verurteilte Verräter und begnadigte sie anschließend wieder, sie ließ sich die Goldstücke ihrer Staatskasse vorzählen. All das waren wichtige Aufgaben einer Monarchin. Aber eine Herausforderung wie damals, als das Schicksal des Reichs auf Messers Schneide stand, die fehlte ihr fast noch mehr als ein Erbe.
Doch wen kümmerte schon die Langeweile einer Königin? Niemand am Hof wusste etwas von ihren Gedanken. Deshalb glaubten auch alle, Elizabeth leide an der Hitze und am Kummer der Kinderlosen. Heute Morgen versuchten sie wieder, ihre Herrscherin aufzuheitern. Was es diesmal sein sollte, hatte Elizabeth längst vergessen. Endlos erschien die Reihe der kostbaren Geschenke, der halsbrecherischen Salti italienischer Artisten, der Stammestänze von Wilden aus der Neuen Welt, der exotischen Tiere und schönen Knaben. Dabei war alles, was Elizabeth wollte, im Bett zu bleiben und wenigstens für einen Tag England seinem Schicksal zu überlassen. Aber sie war eine Läuferin, und eine Verschnaufpause würde ihr Herz und ihre Beine für immer zum Stillstand bringen.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Ihr Gefolge keuchte.
»Ihr kennt ihn. Es ist Thomas Dallam«, sagte William Cecil. Der Lordschatzmeister erlaubte sich, nur einen Schritt hinter ihr zu gehen und in ihr Ohr zu flüstern.
Wer sollte das sein? Elizabeth legte den Kopf schief, um Cecil zum Weiterreden zu bringen. Dabei presste sie verärgert die Lippen zusammen. Jeder normale Mensch hätte sich danach erkundigen können, wer Thomas Dallam sei. Das wäre so einfach gewesen. Aber von einer Königin erwartete man, dass sie alles wusste und jeden kannte. Ein Schmierentheater! Elizabeth hoffte, dass Regeln wie diese für ihre Nachkommen abgeschafft würden – wenn sie doch nur Nachkommen hätte!
Cecil verstand die Aufforderung und sprach weiter. »Dallam hat vor etwa zehn Jahren die Orgel für Eure Majestät in Westminster Abbey gespielt. Jedenfalls hat er es versucht. Vielleicht erinnert Ihr Euch an den Vorfall.«
Und ob sie sich daran erinnerte! Sie hatte den Gottesdienst in Westminster Abbey besucht, hatte Gott nah sein wollen in der Stunde der Bedrängnis. Und irgendein einfältiger Kantor, sein Name und Gesicht waren längst aus ihrem königlichen Gedächtnis verschwunden, hatte einen Knaben an die Orgel gesetzt. Dessen Talent reichte jedoch gerade dazu, einen einzigen Ton aus dem Instrument hervorzuquälen und ihn dann jämmerlich verenden zu lassen.
Wie still es geworden war in der Kirche! Alle hatten sie dasselbe gedacht: ein schlechtes Omen für den bevorstehenden Kampf gegen Spanien. Die Stille hatte gedroht, über dem Haupt Elizabeth’ zusammenzuschlagen. Sie aber hatte gelacht, schrill und spitz – und als Einzige. Vermutlich hatten alle geglaubt, die Königin sei dem Wahnsinn verfallen. Vielleicht stimmte das sogar. Aber der versinkende Ton, der noch lange zwischen den Jochen und Gewölben der Kathedrale nachhallte, war für Elizabeth nichts anderes gewesen als das Geräusch der untergehenden spanischen Armada. In dem kläglichen Jaulen der Orgel hatte sie die Prophezeiung ihres Sieges gegen Spanien erkannt. Sie hatte gesehen, wie die stolzen Galeonen König Philipps zersplitterten, wie der Schlund der See sich öffnete und spanische Seeleute, spanische Admiräle und spanische Kanonen verschlang. Drei Monate später war diese Vision Wirklichkeit geworden.
»Ja«, sagte sie. »Ich erinnere mich.« Sie kam an einem Kerzenleuchter vorbei und strich mit dem Finger durch das heiße Wachs. Spanien, dachte sie, während sie den Talg zu einer Kugel rollte, du bist heiß und schmerzhaft. Aber meine Hand wird dich formen und zerquetschen.
»Der Organist von damals, er hat darum ersucht, Euch noch einmal vorspielen zu dürfen.« Cecils knarrende Feldherrenstimme riss Elizabeth aus ihren Gedanken.
»Und Ihr, Herzog, habt es ihm ermöglicht.« Sie schnippte die Talgkugel fort, die gegen eine Wand flog und daran haften blieb. »Ich habe keine Zeit für Musiker, die ihr Handwerk nicht verstehen.«
»Gewiss, Mylady«, sagte Cecil. »Aber Thomas Dallam ist kein Musiker mehr. Er ist jetzt Erfinder und Konstrukteur, und er möchte Euch einen Automaten vorstellen.«
Elizabeth sah zur Decke des Korridors, wo sich Spinnweben im Lufthauch blähten. »Hoffentlich ist es ein Automat, in den man oben Spanier hineingibt, damit unten Engländer herauskommen«, sagte sie. Die Höflinge lachten pflichtbewusst.
»Ein Automat, der von selbst Musik hervorbringt«, fuhr Cecil fort, so ernst wie zuvor. Die Höflinge lachten erneut.
Kurz überlegte Elizabeth, ob sie die Vorführung ablehnen sollte. Aber sie wusste, dass der gute alte Cecil sich stets bemühte, Zuckerstückchen aus dem Haferbrei des Londoner Lebens zu fischen, um seine Königin fröhlich zu stimmen. Außerdem hatte ihr dieser Dallam seinerzeit eine Vision verschafft.
»Also gut!«, sagte sie, während sie sich mit unverminderter Geschwindigkeit auf eine geschlossene grüne Tür zubewegte. »Wir wollen uns das Spektakel ansehen.«
In diesem Moment rissen zwei Diener die Flügel der Pforte auf, und die Königin schritt hindurch. Nachdem die letzte der Zofen in der Kapelle verschwunden war, schloss sich die Tür mit einem Klicken. Der Korridor in Greenwich Palace blieb wie ausgestorben zurück, als habe ihn niemals ein Mensch betreten. Die Kugel aus Talg fiel lautlos von der Wand.
*
Sonne und Mond hatten aufgehört, sich um die Erde zu drehen. Auch die anderen Planeten standen still. Mit der Spitze seines Zeigefingers tippte Thomas Dallam gegen Venus, gegen Mars. Die winzigen Gestirne aus Messing wackelten auf ihren Drahtspiralen, wollten aber nicht in Gang kommen.
Thomas erstarrte. Das Modell des Universums war die krönende Dekoration seiner von selbst spielenden Orgel. Vier Jahre lang hatte er an dem Instrument gebaut. Sein gesamtes Vermögen steckte in Pfeifen aus Zinn, in Tasten aus Elfenbein, in Uhrwerken aus Eisen und in dem kleinen Weltall aus Messing. Damit war er nicht nur Herr über die Dämonen der Musik, er zwang sogar den Sternen seinen Willen auf.
Nie wieder sollten die Gestirne über sein Leben bestimmen. An jenem Morgen in Westminster Abbey hatte das Schicksal die Orgel zum Schweigen gebracht. Zwar hatte der Küster flugs einen Chor herbeiholen können. Doch für Thomas und Kantor Hanscombe änderte das nichts. Sie waren der Kathedrale verwiesen worden. Und der Küster hatte ihnen hinterhergerufen, sie sollten im siebten Kreis der Hölle schmoren, bevor sie noch einmal einen Fuß in seine Kirche setzten. Kurz darauf trieb Hanscombe tot in der Themse. Wie sich herausstellte, hatte der alte Kantor seinen Schmerz und seine Verzweiflung in Gewürzwein zu ertränken versucht. Dabei musste der Unglückselige dem Fluss zu nahe gekommen sein.
Thomas selbst hatte sich nie wieder einer Orgel genähert. Alle Bemühungen seiner Mutter, den Knaben der Musik zurückzugeben, scheiterten. Er empfand nicht länger Liebe und Leidenschaft für die Kunst der Töne. Vielmehr erfüllte ihn Furcht, sobald er ein Kind ein Lied anstimmen hörte, jemand bei einem Fest eine Geige hervorholte oder der Chor bei der Messe das Lob Gottes sang. Jedes Mal hatte Thomas Angst, dass das Kind die nächste Strophe nicht auswendig kannte, dass an der Geige eine Saite riss, dass der Sopran im Chor den Ton nicht traf. Um das Unglück nicht miterleben zu müssen, hielt sich Thomas bei solchen Gelegenheiten mit beiden Händen die Ohren zu. Die Musik war ein wildes Tier, und er schwor sich, alles daranzusetzen, es zu kontrollieren.
Thomas’ Vater hörte das gern. Der alte Dallam hatte ohnehin noch nie etwas davon gehalten, den Spross zu einem Künstler ausbilden zu lassen. Deshalb war er auch erleichtert, als Thomas darum bat, bei seinem Onkel, einem Uhrmacher, in die Lehre gehen zu dürfen.
Und während Thomas in die Geheimnisse von Federwerken und Aufzugskronen eingeweiht wurde, während er lernte, Zeiger zu gießen und Ziffernblätter zu malen, war ihm ein Einfall gekommen: Wenn sich mit den Apparaten in der Werkstatt seines Onkels zu einer festgelegten Zeit ein Glöckchen schlagen ließ, dann waren doch gewiss auch zwei Glöckchen möglich, vielleicht sogar ein ganzes Musikstück. Die Berechenbarkeit der Mechanik würde die Wildkatze Musik in ein Schoßtier verwandeln.
Mit Feuereifer erlernte Thomas die Gesetze der Physik. So sehr beschäftigte ihn sein Rachefeldzug gegen die Musik, dass er sich taub stellte, wenn das Leben an seine Tür klopfte. Freunde, Frauen, Feste – sie störten Thomas beim Bau seiner Maschine. Nach einigen Jahren hörte das Klopfen auf. Thomas wurde einsam, ohne es zu bemerken. Da er kein Geld für Vergnügungen ausgab, wuchs ihm ein kleines Vermögen. Jeden Penny steckte er in die mechanische Orgel. Jetzt endlich stand sie vor ihm, und die Königin von England würde erkennen, dass Musik – und sogar die Planeten – ebenso beherrschbar waren wie die Spanier. Sie würde ihm verzeihen. Und vielleicht, dafür betete Thomas seit Langem, würde sie ihm erlauben, regelmäßig in ihrer Nähe zu sein.
Aber jetzt drehte sich das Zierwerk nicht! Sollte sich sein Missgeschick von damals wiederholen? Er schwor sich, dem Schicksal die Stirn zu bieten, und wenn es ihn den Verstand kosten würde.
Thomas’ Gedanken liefen zickzack. Der Fehler konnte nur in der Unrast liegen, deren Gewichte er unlängst noch einmal nachgestellt hatte. Diese aber rumorten tief im Bauch der Orgel, geschützt von einem Wald aus Spindeln, Scheiben und Schwingern. Fünf Tage hatte er gebraucht, um das Instrument im Palast von Greenwich aufzubauen. Ebenso lange würde es dauern, die Mechanik wieder freizulegen. Zwischen Glück und Untergang lag das Universum der Apparaturen – ein tückischer Ort, an dem Zeit hörbar war. Tickend verflogen die kostbaren Augenblicke, die bis zur Ankunft der Königin verblieben.
Ein Luftzug streifte Thomas’ Nacken. Er fuhr herum. Die Kapelle war riesig. Bis in den letzten Winkel hatte Thomas sie mit Kerzen ausleuchten lassen. Genau siebenhundertneunzig Talglichter waren es, nach dem Geburtstag der Königin am siebten September. Acht Diener hatten die Kerzen entzünden müssen, damit die erste nicht schon hinuntergebrannt war, bevor die Letzte leuchtete. Die Flammen spiegelten sich in den Beschlägen der Orgel. Wenn erst der Wind in die Orgelkanäle geblasen und durch die Pfeifen freigelassen würde, dann würden die Talglichter tanzen und schwingen wie das Volk der Feen. Und was passte besser zu Elizabeth, die von ihren Bewunderern »Gloriana, die Feenkönigin« genannt wurde?
Jetzt flackerten die Flammen in dem plötzlichen Lufthauch. Gern hätte Thomas kontrolliert, ob alle Lichter noch brannten. Doch vom fernen Ende der Kapelle sah er die Königin und ihren Hofstaat auf sich zukommen. Er riss die Augen auf. Sonne und Mond und alle Gestirne des Firmaments waren vergessen. Hier kam sie, die Herrin Englands und seines Schicksals. Sie sah genauso aus wie damals in Westminster Abbey, mit ihren roten aufgedrehten Haaren, dem kunstvollen Kragen aus Goldfäden und Damast und dem weiß geschminkten Gesicht. Doch konnte die Maske nicht verbergen, dass die Königin älter geworden war. Ein bitterer Zug hatte sich in ihren Mundwinkeln eingenistet. Um ihre Augen lagen Schatten.
Als ihr Blick ihn traf, kniete Thomas nieder und betrachtete den mit roten Kacheln ausgelegten Boden. Schritte, Stimmen und das Rascheln von Kleidern waren zu hören. Ein Mann sagte: »Das ist er. Und dort steht der Automat.«
»Sagt ihm, er möge beginnen.« Das musste die Stimme der Königin sein. Sie hatte einen rauchigen Klang. Die meisten Frauen Londons sprachen so. Es lag an den Herdfeuern, die einen Teil ihres Qualms in die Gemächer abgaben. Frauen wollten es stets wärmer haben als Männer. Dafür bezahlten sie mit ihren Stimmen. Offenbar hatte auch Elizabeth diesen Tribut zu entrichten, Königin oder nicht.
Jemand berührte seine Schulter. Thomas erhob sich, warf noch einen raschen Blick auf die Versammlung, die sich jetzt in den Bänken der Kapelle niedergelassen hatte, und ging dann rückwärts auf die Orgel zu. Niemand durfte der Königin den Rücken zukehren.
Dann musste er eben auf Sonne und Mond verzichten. Das Wunder des von selbst spielenden Instruments würde genügen, um Elizabeth in Entzücken zu versetzen.
Er griff nach dem Hebel, der alles in Bewegung setzen würde. Der Knauf am Ende der Holzstange war aus Elfenbein und lag kühl und glatt in seiner Hand. Thomas beruhigte seinen Atem. Dann zog er den Stab aus dem Gehäuse.
Zunächst war nur ein Knacken zu hören, gefolgt von einem Knattern. Was nun kam, war das Glucksen von Wasser. Es war der Auftakt zu dem folgenden Konzert. Denn durch die Adern des Instruments lief Flüssigkeit. In einem verschlungenen Auf und Ab sorgte sie dafür, dass die Blasebälge in dem Kasten eine Stunde lang in Bewegung blieben, ohne dass der Orgel die Luft ausging. Kalkanten, die leidigen Treter der Blasebälge – wer brauchte die noch?
Während es im Gehäuse der Orgel schwappte und rumorte, wandte sich Thomas seinem Publikum zu. »Majestät!«, begann er. Zunächst verkümmerte der Ton in seiner Kehle wie damals das d-Moll in Westminster Abbey. Er räusperte sich. »Majestät!«, hob er noch einmal an, diesmal laut und deutlich. »England und Eure Herrschaft sind ewig. Und die Musik ist es auch. Doch sie ist der Tölpelhaftigkeit der Menschen ausgesetzt.« Eine Woche hatte er für diese Ansprache geprobt. Jetzt sprudelten die Worte aus ihm hervor wie das Wasser, das durch die Orgel gepumpt wurde. Elizabeth sah ihn an. In ihren grünen Augen glänzte der Schein der siebenhundertneunzig Kerzen. Die Königin lächelte.
Beinahe hätte die unverhoffte Freundlichkeit auf dem bleichen Gesicht Thomas ins Stottern gebracht. »Wir Menschen sind es, die dafür sorgen, dass sich Musik nicht zu ihrer vollen Schönheit entfalten kann. Wir zwängen sie ein. Sie ist der Beschränktheit unserer Geschicklichkeit unterworfen. Deshalb«, er vollführte eine elegante Drehung in Richtung des Automaten, seine Rockschöße schwangen, »habe ich diese Orgel entwickelt. Sie spielt von selbst.«
Das Publikum raunte.
»Das ist weder Zauberei, wie mancher vielleicht befürchten mag, noch ist es Betrug. Was hinter meiner Erfindung steckt, sind einfache Naturgesetze. Zum Beispiel die Kraft des Wassers, das von oben nach unten fließt. Gern erkläre ich alles nach der Vorstellung. Doch zunächst«, er atmete tief ein, »die Musik.«
Bei seinen letzten Worten hatte das Gluckern im Innern der Orgel aufgehört. Alles war im Rhythmus. Thomas tastete über das polierte Eichenholz des Orgelkastens, fand den eisernen Knopf und drückte darauf.
Das Konzert begann.
Mit einem Dreiklang in d-Moll hob die Orgel zu spielen an. Es war jener Akkord, der vor zehn Jahren in Westminster hätte erklingen sollen, jener Ton, der die Karriere eines Wunderknaben an den Tasten hatte begründen sollen und der dann schneller verklungen war als der flüchtige Kuss eines Kindes. Diesmal nicht. D-Moll donnerte aus den Pfeifen und ließ den Boden vibrieren. Thomas schloss die Augen und erwartete das auflösende G-Dur. Es kam pünktlich. Die Maschine war zuverlässig. Der Mensch war es nicht.
Die Lautstärke nahm zu. Er nickte zum Takt der Musik. Hier die Kadenz, dort die Überleitung. Längst hatte er Sonne und Mond vergessen. Die Musik erfüllte den Raum, so wie es damals in der Kathedrale hätte sein sollen. Aber diesmal gab es keinen lahmen Flint, der alles zunichtemachte. Diesmal war nichts dem Zufall überlassen.