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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Prolog

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Lynsay Sands bei LYX

Impressum

LYNSAY SANDS

Und ewig lockt der Vampir

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Ralph Sander

Zu diesem Buch

Für Jessica Stewart bedeutet Familie alles – deshalb erklärt sie sich auch gutmütig bereit, ihre anstrengende Cousine in dem idyllischen Inselresort in der Karibik im Auge zu behalten. Es gibt auch deutlich schlechtere Orte, um sicherzustellen, dass die Verwandtschaft sich keinen Ärger einhandelt. Als Jess jedoch dazu genötigt wird, einen Ausflug zu einer Haifischfütterung zu unternehmen, entpuppt dieser sich sehr schnell als gewaltige Katastrophe. Denn abtrünnige Vampire nutzen diese Schifffahrt, um unschuldige Touristen um ihr Blut zu erleichtern. Nur mit einem beherzten Sprung ins offene Meer kann Jess entkommen und treibt nun erschöpft und hilflos (und beinah nackt) im Wasser. Da kommt ihr überraschend Raffaele Notte zu Hilfe, der sie in letzter Minute retten kann. Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt: Die Abtrünnigen sind Jess nach wie vor auf den Fersen. Dass Raffaele ihr nun seinen Schutz anbietet, kommt Jess gar nicht so ungelegen – fühlt sie sich doch unwiderstehlich zu dem charismatischen Fremden hingezogen. Aber sie ahnt nicht, dass Raffaeles Hilfsbereitschaft nicht ganz uneigennützig ist …

Prolog

»Heiß, was?«

Raffaele verzog den Mund, als er den Kommentar seines Cousins Zanipolo hörte, und ließ den Blick über seinen ausgestreckten Körper wandern, um sich zu vergewissern, dass er nach wie vor komplett im Schatten des Sonnenschirms lag. Das war auch der Fall, dennoch schien es gegen die frühmorgendliche Hitze nichts auszurichten. Es war einfach nur verdammt heiß. Und dazu die Luftfeuchtigkeit, die alles umso schlimmer machte. In den mehr als zweitausend Jahren, die er jetzt schon lebte, war er nicht ein einziges Mal an einen Ort gereist, an dem achtundachtzig Prozent Luftfeuchtigkeit herrschten, wie es hier in Punta Cana der Fall war. Das hatte er bislang auch bewusst vermieden, denn Raffaele mochte es gar nicht, ohne wirklichen Grund von Kopf bis Fuß nass geschwitzt zu sein. Wenn anstrengende Arbeit ihn in Schweiß ausbrechen ließ, dann war das eine Sache, aber allein vom Rumstehen komplett durchgeschwitzt zu sein, empfand er als sehr unangenehm.

Seufzend lehnte er sich auf seiner Liege nach hinten und betrachtete missmutig blinzelnd den im grellen Sonnenschein daliegenden Strand. Sie waren in der Nacht hergeflogen und um fünf Uhr gelandet. Nachdem sie ihr Zimmer im Resort bezogen hatten, war Zani nicht davon abzubringen gewesen, noch vor Sonnenaufgang eine Runde im Meer zu schwimmen, um dann den Rest des Tages zu verschlafen.

Raffaele hatte sich bereit erklärt, ihn zu begleiten, nur um kurz darauf das Wasser schon wieder zu verlassen. Da die bereits zu der Zeit herrschende Schwüle ihm arg zu schaffen machte, hatte er es sich auf seiner Liege bequem gemacht, um ein wenig zu dösen. Zanipolo sollte ihn dann wecken, wenn er so weit war und sie in ihr Zimmer zurückkehren konnten. Aber Zani hatte ihn nicht geweckt, und so war Raffaele erst drei Stunden später aufgewacht, als sich der Strand bereits mit Badegästen zu füllen begann und die Sonne längst vom Himmel brannte. Jetzt saß er hier bis Sonnenuntergang fest, wenn er sich nicht den schädlichen Sonnenstrahlen aussetzen wollte, was bedeutet hätte, dass er sich zum Ausgleich mehr als reichlich bei ihrem Vorrat an Blutkonserven hätte bedienen müssen. Genau das wollte er aber vermeiden, denn neues Blut zu bestellen war etwas anderes, als hier am Strand eine Margarita zu bestellen – erst recht in der Dominikanischen Republik. In solchen Ländern war es eine komplizierte Angelegenheit, und es gab keinen Grund, sich ein solches Problem aufzuhalsen, wenn er es umgehen konnte, indem er einfach hier liegen blieb.

Es bedeutete aber auch, dass ihr Cousin Santo ganz allein in ihrem Zimmer war. Der Gedanke ließ Raffaele einen Blick auf die Unterkünfte des Resorts werfen. Santo war der Grund, warum sie diese Reise überhaupt unternommen hatten. Nicht, dass es sein Wunsch gewesen wäre. Sie waren hier, weil Lucian Argeneau als Chef des nordamerikanischen Rats darauf bestanden hatte. Zwar waren sie als Europäer eigentlich nicht seiner Befehlsgewalt unterstellt, aber der Mann hatte so ziemlich auf alles und jeden Einfluss. Und durch Heirat gehörte er jetzt auch noch zur Familie, quasi.

Raffaele runzelte die Stirn, als er darüber nachdachte, wie vielschichtig die Beziehung zwischen Lucian Argeneau und seiner Familie war. Dann aber zuckte er mit den Schultern und beschloss, sich lieber Gedanken über seinen Cousin Santo zu machen, der ihm schon genug Sorgen bereitete. Santo Notte war von Natur aus ein stiller und grimmiger Typ, doch in den letzten vierzehn Monaten seit ihren Erlebnissen in Venezuela hatte er sich noch mehr in sich zurückgezogen und seine Miene einen noch ernsteren Zug angenommen. Der arme Kerl war einer von jenen Jägern, die mit zu den Letzten gehörten, die in die Gewalt des wahnsinnigen Dr. Dressler geraten waren, der sie alle unerbittlich gefoltert hatte. Körperlich hatte er sich genauso davon erholt wie alle anderen geretteten Vollstrecker, doch seelisch …

Raffaele kniff die Lippen zusammen. Sie waren alle außer sich gewesen, als sie erfahren hatten, dass es Dr. Dressler gelungen war, sich der Festnahme zu entziehen und aus Venezuela zu fliehen. Santo jedoch hatte diese Nachricht einen Rückschlag versetzt, denn seine Entschlossenheit, diesen Wissenschaftler aufzuspüren, der ihn unbeschreiblichen Qualen ausgesetzt hatte, grenzte schon an Besessenheit. Er konnte an nichts anderes mehr denken.

Für Raffaele war klar, dass Dressler nicht lebend vor den Rat gestellt würde, um sein Urteil zu erhalten, wenn Santo derjenige sein sollte, der ihn als Erster fand. Er würde dem Mann den Kopf abreißen, was auch völlig in Ordnung ging. Immerhin war der Befehl ausgegeben worden, Dressler zu töten, wenn man ihm über den Weg laufen sollte. Der Mann war für Sterbliche und Unsterbliche gleichermaßen ein Risiko, und die Gefahr war einfach zu groß, dass er ein weiteres Mal entkommen könnte … wenn er überhaupt jemals gefunden wurde.

Bedauerlicherweise wurde jetzt schon seit über einem Jahr nach Dressler gesucht, ohne dass man irgendeinen Hinweis auf seinen Verbleib hatte finden können. Das wiederum machte Santo arg zu schaffen, der sich deswegen wütend und frustriert nur noch mehr in sich selbst zurückgezogen hatte. Dass er dazu auch noch von Albträumen geplagt wurde, machte es für sie alle nicht leichter. Zwar hatte Santo schon immer mit Albträumen zu kämpfen gehabt, doch traten sie inzwischen deutlich häufiger auf und schienen auch heftiger geworden zu sein. Zumindest legten die Schreie, mit denen er sich und alle anderen regelmäßig aus dem Schlaf riss, diesen Verdacht nahe. Weitaus schlimmer war jedoch noch etwas ganz anderes: Santo beharrte darauf, den Jägern bei der Suche nach Dressler zu helfen, aber seit Kurzem ignorierte er Mortimers Befehle und stürmte ohne Rücksicht auf Verluste und ohne jegliche Absprache mit anderen einfach das nächste Abtrünnigennest. Schlimm genug, dass er sich selbst damit in Gefahr brachte, aber weitaus verheerender war, dass er dadurch auch das Leben der Jäger an seiner Seite aufs Spiel setzte.

Ein solches Verhalten konnte einfach nicht hingenommen werden, von daher hatte es Raffaele nicht gewundert, dass Lucian Argeneau und ihr Onkel Julius sich zusammengesetzt und beschlossen hatten, Santo zu einem Therapeuten zu schicken. Sie hatten ihn mehr oder weniger dazu gezwungen, mit Gregory Hewitt zu reden, einem unsterblichen Psychiater, der mit Lucians Nichte Lissianna Argeneau verheiratet war. Es hatte Raffaele auch nicht überrascht, als sich herausstellte, dass der Mann bei Santo keine Fortschritte erzielte. Santo war noch nie der geschwätzige Typ gewesen. Nach drei Sitzungen hatte Greg vorgeschlagen, dass man Santo eine Zwangspause auferlegen solle, vielleicht würde das ja etwas bewirken.

Natürlich hatte Santo keine Pause einlegen wollen, er hatte sich sogar rundweg geweigert und verkündet, die Jagd auf Dressler fortzusetzen – notfalls auch ohne die Unterstützung der Vollstrecker. Erst als Julius und Lucian ihm damit gedroht hatten, sich an den Rat zu wenden und ein Drei-zu-eins zu veranlassen, um all seine schrecklichen Erinnerungen zu löschen, hatte er nachgegeben. Nach seiner widerwilligen Zustimmung waren Raffaele und Zani dazu abgestellt worden, ihn zu begleiten. Sie sollten ihn im Auge behalten und darauf achten, dass er sich auch entspannte. Sollte sich im Verlauf seines Zwangsurlaubs jedoch keine Besserung abzeichnen, wartete auf Santo eine weitere Runde Therapie. Falls die ebenfalls ergebnislos blieb, würde ein Drei-zu-eins unvermeidbar werden.

Dieses Drei-zu-eins war eine Prozedur, bei der sich drei Unsterbliche zusammenschlossen, um gemeinsam die Erinnerungen eines vierten Individuums zu löschen. Raffaele stand dieser Möglichkeit mit gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits war das vielleicht die beste Lösung für seinen Cousin, der sich mit so vielen üblen Erinnerungen herumplagte, war doch Dressler nicht der Erste gewesen, von dem er gefoltert worden war. Andererseits war es ein riskantes Unterfangen mit allen möglichen Nebenwirkungen, unter anderem der Gefahr, dass er als lallender Idiot aus dem Ganzen hervorging. Aus diesem Grund war der Eingriff grundsätzlich verboten und bedurfte der ausdrücklichen Zustimmung des Rats. Aber der Tod war auch keine bessere Alternative, und wenn es gelang und Santo dadurch seinen Frieden ganz ohne nächtliche Albträume fand, dann war es vielleicht für ihn die beste Lösung.

Seufzend wandte Raffaele den Blick von den Gebäuden ab und lehnte sich wieder nach hinten. Seiner Einschätzung nach sollte Santo jetzt in ihrem Zimmer liegen und schlafen – und sich dabei die Lunge aus dem Hals schreien, da er wie üblich von Albträumen heimgesucht wurde. So heiß es hier am Strand auch sein mochte, war es vermutlich wesentlich erholsamer als das, was ihn in ihrem gemeinsamen Zimmer erwartete – sofern er es wagen konnte, am Strand einzuschlafen, während die Sonne hoch am Himmel stand.

»Ein Drink, Señor?«

Raffaele sah zu dem Kellner, der am Fußende der Liege gebückt stand, weil ihm der Sonnenschirm im Weg war.

»Nein … danke«, antwortete er seufzend. Es war erst halb zehn am Morgen und damit viel zu früh für Alkohol. Nicht, dass ihn Alkohol überhaupt interessierte – ganz im Gegensatz zu den Sterblichen. Aber selbst für die musste das doch etwas früh am Tag sein, oder nicht? Er hatte jetzt schon zum dritten Mal an diesem Morgen einen Drink ablehnen müssen, und er konnte davon ausgehen, dass spätestens in einer Viertelstunde entweder der gleiche hartnäckige Kellner erneut bei ihm auftauchen oder einer der anderen Männer in orangefarbenen Shorts und T-Shirt ihm etwas von dem Tablett anbieten würde, mit dem sie ständig durch die Gegend liefen.

»Er nimmt ein Wasser«, mischte sich Zanipolo ein. »Und eine Margarita. Für mich das Gleiche.«

Als Raffaele ihm einen finsteren Blick zuwarf, zuckte Zanipolo nur mit den Schultern. »Bei dieser Hitze darfst du nicht austrocknen.«

»Als ob Alkohol das verhindern könnte«, konterte Raffaele spöttisch.

»Das nicht, aber so werden die anderen glauben, dass du entspannt bist und deinen Spaß hast und Party machen willst, anstatt den mürrischen alten Bastard raushängen zu lassen, der du ja eigentlich bist«, meinte Zanipolo unbeeindruckt.

Raffaele reagierte mit einem mürrischen Brummen und fügte gereizt hinzu: »Was war noch gleich der Grund dafür, dass du mich nicht geweckt hast, als du aus dem Wasser gekommen bist? Dann könnte ich nämlich jetzt in unserem Zimmer sein und in Ruhe schlafen.«

»Weil wir nie unsere Lebensgefährtinnen finden werden, wenn wir den ganzen Tag in unserem Hotelzimmer rumhängen.« Zanipolo beschrieb eine ausholende Geste. »Hier müssen wir sein, wenn wir fündig werden wollen.«

»Genau. Hier am Strand in der Dominikanischen Republik. Und das auch noch im Mai, verdammt noch mal«, gab Raffaele aufgebracht zurück und fügte ungehalten hinzu: »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich dich diese ganze Reise habe vorbereiten lassen! Was war so schlimm an Italien? Oder einem anderen Land, wo nicht eine solche Hitze und Schwüle herrscht?«

»Wir haben ein Leben lang einen Bogen um die Sonne und um Orte wie diesen hier gemacht«, erklärte Zanipolo übertrieben geduldig, was vermutlich daran lag, dass er es Raffaele jetzt zum mittlerweile zehnten Mal seit der Landung erklärte. »Stattdessen suchen wir in Clubs und Nachtbars. Aber Christian hat seine Lebensgefährtin in einem solchen Resort gefunden.« Er machte eine Pause und zog die Augenbrauen hoch, als wäre das ein besonders wichtiges Argument. »Vielleicht haben wir bloß am falschen Ort gesucht. Vielleicht ist einer von diesen sonnigen Orten genau der, an dem wir unsere Lebensgefährtinnen finden werden.«

Raffaele seufzte laut, schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder zurück. Als sie noch im kühlen Kanada gewesen waren, hatte Zanipolos Vorschlag ganz überzeugend geklungen, doch hier bei diesen Temperaturen konnten sie froh sein, keinen Hitzschlag zu bekommen. Da sie sich nicht der Sonne aussetzen wollten, konnten sie weder ins Wasser gehen noch bei einer Partie Volleyball mitmachen. Sie konnten sich nicht an einer einzigen Aktivität beteiligen, bei der sie die Chance gehabt hätten, Frauen kennenzulernen. Sie konnten nur hier im relativen Schutz des Sonnenschirms liegen und auf den Abend warten, ehe sie in der Lage waren, den Strand zu verlassen. Bis dahin würden ihm garantiert alle Knochen wehtun, weil er so viele Stunden auf dieser elenden harten Liege zubringen musste. Und bis dahin würde er auch so erschöpft sein, dass ihn nichts anderes außer seinem Bett interessieren würde.

»Mach ein Nickerchen«, schlug Zanipolo ihm vor.

»Kann ich nicht«, knurrte Raffaele.

»Wieso nicht?«

»Weil die Sonne weiterwandert«, gab er aufgebracht zurück. »Sie könnte weit genug wandern, dass ich nicht länger im Schatten liege und ich einen Sonnenbrand bekomme. Ich muss wach bleiben, um mich davor zu schützen.«

»Ich werde dir Bescheid sagen, wann du mit dem Schatten mitwandern musst«, beteuerte Zanipolo.

»So wie du mir Bescheid gesagt hast, als du aus dem Wasser gekommen bist?«, fauchte Raffaele ihn an.

»Du hast gesagt, ich soll dich aufwecken, wenn ich so weit bin, in unser Zimmer zurückzugehen, nicht wenn ich lange genug im Wasser war«, beharrte Zanipolo und grinste dann. »Und bereit bin ich jetzt auch noch nicht.«

Verärgert verzog Raffaele den Mund und machte die Augen zu. Das kleine Würstchen hatte recht. Er hatte Zanipolo genau das gesagt, was sich nun als folgenschwere Unachtsamkeit entpuppte. Beim nächsten Mal würde er sorgfältiger über seine Wortwahl nachdenken müssen.

»Hast du die Einstiche bei der jungen Frau gesehen, die gerade eben an uns vorbeigegangen ist?«, fragte Zanipolo plötzlich.

Leise seufzend machte Raffaele die Augen wieder auf und sah sich um. Obwohl es eigentlich noch früher Morgen war, befanden sich allein in der näheren Umgebung mindestens fünfzig Frauen. Auch wenn mehr als die Hälfte von ihnen über vierzig war, stellten sie für einen Unsterblichen in seinem Alter alle noch junge Frauen dar. »Welche junge Frau? Was für Einstiche?«

»Die Blonde im gelben Bikini«, sagte Zanipolo und deutete in die entsprechende Richtung.

Raffaele entdeckte die besagte Frau in einer Gruppe Mittzwanziger. Sie standen zwischen den Liegen im Kreis, unterhielten sich und lachten. Raffaele musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie hatte eine scharfe Figur, aber er konnte nichts Ungewöhnliches an ihr feststellen. »Also gut. Was für Einstiche?«

»Am Hals.«

Raffaele ließ den Blick wieder nach oben wandern, dann hielt er inne.

»Und? Was denkst du?«, wollte Zanipolo wissen.

»Dass wir uns dieses Resort mit einem Vampir teilen«, stellte Raffaele mit ernster Miene fest und nahm beiläufig wahr, dass der andere Mann ihn überrascht ansah. Normalerweise benutzte er den Begriff nicht, wenn er von Seinesgleichen sprach. Keiner von ihnen tat das, weil es eine Beleidigung darstellte. Vampire waren tote und seelenlose Kreaturen, die aus ihren Gräbern stiegen, um von Sterblichen zu trinken. Raffaele und seine Art waren dagegen Unsterbliche, die sehr lebendig waren, die immer noch ihre Seele hatten und die sich längst darauf beschränkten, Blutkonserven zu trinken. Aber er war schlecht gelaunt und hielt es von daher für angebracht, einen abtrünnigen Unsterblichen zu beleidigen, der gegen die Gesetze verstieß. Also bezeichnete er ihn als Vampir.

»Die meisten Sterblichen würden uns als Vampire bezeichnen«, meinte Zanipolo amüsiert.

»Ja«, stimmte Raffaele ihm zu und sah mit an, wie die Frau lachte und sich dann von der Gruppe entfernte. »Aber wir sind keine Beißer.«

»Richtig. Außer in einer Notlage«, gab Zanipolo zu bedenken und sah wieder zu der Blonden, die in Richtung der Gebäude weiterging. Grübelnd schürzte er die Lippen. »Vielleicht war ihr Beißer ja gar kein Abtrünniger, sondern einer von den Guten, der sich in einer Notlage befand.«

»Klar. Und wenn wir Glück haben, bekommen wir auch noch Besuch vom Weihnachtsmann«, gab Raffaele zurück und musterte aufmerksam die Gruppe, die die Frau eben verlassen hatte.

»Zyniker«, ermahnte Zanipolo ihn.

»Mit Zynismus hat das nichts zu tun«, versicherte er ihm. »Sieh dir lieber mal die Gruppe an, bei der sie vorhin gestanden hat. Aber nicht ihre Hälse.«

Während Zanipolo seiner Aufforderung nachkam, sah sich Raffaele selbst die Leute noch einmal genauer an. Jeder von ihnen wies die gleichen zwei Einstiche auf, die fast alle im identischen Abstand waren, abgesehen von dem einen oder anderen Millimeter. Einer hatte die Einstiche in der Armbeuge, ein anderer am Handgelenk, der Nächste am Fußgelenk. Bei einem jungen Mann fand sich die Stelle auf der Innenseite des Oberschenkels, ein Stück unterhalb des eng anliegenden Speedo-Schwimmanzugs.

Raffaele betrachtete die anderen Sonnenanbeter, die sich um sie herum am Strand tummelten. »Und die Gruppe da links von uns«, fügte er hinzu.

»Ein Nest«, flüsterte Zanipolo erschrocken, als er sich diese genauer ansah.

»So sieht es aus«, stellte Raffaele mit leiser Stimme fest.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Zanipolo irritiert.

Raffaele löste seinen Blick von der Gruppe und sah in Richtung Meer. »Du hast doch dein Handy dabei. Ruf Lucian oder Mortimer an. Die werden wissen, wer hier in der Dominikanischen Republik die Jäger leitet und ihnen Bescheid geben kann.«

»Sofern es hier überhaupt Jäger gibt«, überlegte Zanipolo besorgt. »Gehört das hier zum Südamerikanischen Rat?«

Raffaele schwieg einen Moment lang. »Wozu auch immer das gehört, Lucian wird schon wissen, was zu tun ist.«

»Ja«, murmelte Zanipolo und griff nach dem Handy, das zwischen den Stühlen auf seinem Handtuch lag. »Ich rufe an.«

1

»Kucke hier, schöne Señorita. Dir gefallen? Sí? Du kaufen? Gaaanz billig.«

Jess zwang sich zu einem Lächeln, während sie den Verkäufer, der auf gleicher Höhe mit ihr blieb, mit einem Kopfschütteln bedachte. Er ging dabei rückwärts und passte sich an ihr Tempo an, wobei er mit einer Hand über die zahlreichen bunten Umhänge strich, die er vor einem Geschäft aufgehängt hatte.

»Aber kucke! Ist wunderschön für dich. Und gaaanz, gaaanz billig«, beharrte er, wobei es ihm gelang, so zu klingen, als hätte ihr Desinteresse ihn zutiefst verletzt.

Jess schüttelte nur wieder den Kopf und ging schneller, um den Mann loszuwerden. Zu ihrer großen Erleichterung gab der auch auf und suchte sich ein neues Opfer, das er nun wieder vor guter Laune sprühend ansprach: »Kucke, schöne Señorita. Gaaanz billig. Dir gefallen? Sí? Du kaufen?«

Jess machte sich nicht die Mühe, einen Blick auf die Frau zu werfen, auf die er jetzt einredete. Sie wusste, jedes weibliche Wesen, das nach Touristin aussah, wurde von ihm als »schöne Señorita« bezeichnet, ganz gleich ob es sich um eine Acht- oder eine Achtzigjährige handelte, ganz gleich, ob sie fünfzig oder fünfhundert Pfund wog. Die Verkäufer hier machten in dem Punkt keinen Unterschied, aber sie waren auch unglaublich hartnäckig. Jess empfand das als ein wenig unangenehm. Es gefiel ihr nicht, dass die Aufmerksamkeit immer wieder auf sie gelenkt wurde, und es widerstrebte ihr, ständig Nein sagen zu müssen. Das würde sie ganz sicher nicht vermissen, wenn sie die Heimreise antrat. Das und die Luftfeuchtigkeit. Lieber Himmel! Immer, wenn sie das Hotel verließ, kam es ihr so vor, als würde sie ein Dampfbad betreten. Allerdings war es in ihrem Hotelzimmer nicht viel besser. Dort war es zwar etwas kühler, aber die Luft war genauso feucht. Damit war auch alles um sie herum feucht – ihre Kleidung, die Bettwäsche, die Handtücher, ihre Haut. Seit dem Moment ihrer Ankunft hatte sie nichts Trockenes in die Finger bekommen, weshalb sie sich sicher war, dass sie vor ihrer Abreise noch anfangen würde zu schimmeln.

»Ich kann unseren Bus nirgends sehen. Vielleicht steht er ein Stück weiter die Straße runter«, sagte Jess zu ihrer Cousine und suchte den freien Abschnitt vor ihr nach dem Bus ab. Die Tore zwischen den Ständen der Händler und der Straße hatten bei ihrer Ankunft weit offen gestanden. Jetzt waren sie so weit angelehnt, dass Fußgänger sie mühelos passieren konnten, für Autos jedoch nicht genug Platz blieb.

Als Allison nicht sofort reagierte, fügte Jess hinzu: »Was meinst du?« Da auch jetzt wieder keine Antwort kam, sah sie über die Schulter und blieb abrupt stehen, weil von ihrer Cousine nichts mehr zu sehen war. Als sie das Boot verlassen hatten, war sie noch hinter ihr gewesen.

»Allison?« Sie drehte sich um und sah eine Gruppe von bestimmt achtzig bis hundert Leuten auf sich zukommen, die alle den Ausflug zu Seaquarium mitgemacht hatten. Sie alle waren zuvor an Bord eines großen Boots gegangen, das man umgebaut hatte, damit es wie ein Piratenschiff aussah. Damit waren sie dann zum Seaquarium gebracht worden, wo sie mit Rochen und Haien »geschwommen« waren.

Da sie unbedingt an Land wollte, hatte Allison Jess vor sich hergetrieben, damit sie vor den anderen Reisenden das Boot verließen. Der größte Teil dieser gut hundert anderen Touristen bewegte sich jetzt wie eine Menschenwelle auf sie zu, manche nur in Badekleidung, andere etwas mehr bedeckt, einige mit Taschen bepackt, fast alle immer noch klatschnass vom Schnorcheln am Korallenriff, das im Anschluss an den Besuch im Seaquarium stattgefunden hatte. Und genau wie eine Welle teilte sich die Menge vor Jess, so als würde sie ihr wie ein Fels im Weg stehen. Alle strebten sie auf das halb geöffnete Tor und auf die dahinter wartenden Wagen zu.

»Allie?«, rief Jess etwas lauter, da sie sie nirgends entdecken konnte und auch nicht wusste, wo genau sie sie auf dem Weg hierher verloren hatte.

»Wenn Sie Ihre blonde Freundin suchen, die ist stehen geblieben, um mit einem dieser gefährlich aussehenden Piraten zu reden«, sagte ihr eine hilfsbereite ältere Lady in schwarzem Badeanzug, wobei sie den Kopf in den Nacken legen musste, um unter dem breitkrempigen Hut hervorzulugen.

»Einer der gefährlich aussehenden Piraten? Sie meinen diese Darsteller?«, gab Jess irritiert zurück.

Bei der Rückkehr an Land waren sie mit dieser »Überraschungs«-Darbietung einer Gruppe aus Männern und Frauen empfangen worden, die als Piraten kostümiert waren. Die hatten einen Schaukampf aufgeführt, getanzt und ein paar Tricks und Stunts vorgeführt, die gar nicht mal so übel gewesen waren. Auf jeden Fall hatte das Ganze besser ausgesehen als die Tanznummer, die die Bootsbesatzung zum Besten gegeben hatte. Als gefährlich würde Jess diese Truppe dennoch nicht bezeichnen wollen, vielleicht als ein bisschen verwegen, aber nicht gefährlich.

»Nein. Keiner von denen. Sondern einer von den Leuten, die sich unter das Publikum gemischt hatten, nachdem die Show zu Ende war«, stellte die alte Frau klar.

»Oh«, machte Jess und sah wieder zu den Verkaufsständen und den Geschäften. Ihr war zu heiß, sie war müde, die Füße taten ihr weh, und sie hatte einfach die Nase voll von Allisons ständigem Jammern, deshalb war sie auch so bereitwillig auf deren Beharren eingegangen, sich noch vor dem Ende der Show auf den Weg zum Bus zu machen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihre Cousine dann auf einmal beschlossen haben sollte, sich mit einem der kostümierten Männer zu unterhalten. Andererseits hatte Allison durchaus ein Faible für »gefährlich aussehende« Männer, wie Jess seufzend feststellen musste. So fand sie muskulöse Männer in engen Lederhosen schlicht unwiderstehlich. Dazu noch ein paar Tattoos und einen kahl rasierten Schädel, und für sie gab es kein Halten mehr.

Jess bedankte sich bei der älteren Dame, dann ging sie zurück zu den Verkaufsständen und warf jedem, der ihr entgegenkam, einen flüchtigen Blick zu. Allison war nirgends zu sehen, und das galt auch für jeglichen gefährlich anmutenden Piraten. Zumindest was ihre unmittelbare Umgebung betraf, aber dann fielen ihr ein paar kleinere Gruppen auf, die in die entgegengesetzte Richtung und damit in Richtung Anlegestelle unterwegs waren. Bei den meisten handelte es sich um Pärchen, von denen einer ein Piratenkostüm trug, während der jeweils dem anderen Geschlecht angehörende Begleiter in Badekleidung unterwegs war. Sie konnte aber auch ein paar Trios erkennen, und nach genauerem Hinsehen fand sie ausreichend Grund, um erleichtert aufzuatmen. Allison gehörte zu einem dieser Dreiergrüppchen, denn ihre blassblonden Haare waren umso auffälliger, weil sie sie am Tag zuvor von einem fahrenden Händler am Strand ihre Haare mit roten und grünblauen Perlen zu mehreren Cornrows hatte flechten lassen.

Allison war auf dem Weg zurück zu dem Boot, von dem sie erst vor ein paar Minuten an Land gegangen waren. Sie hatte sich bei einem gut aussehenden Piraten mit dunklen Haaren und dunklem Teint untergehakt. Als Jess seine Kleidung sah, staunte sie nicht schlecht, denn während die Schauspieltruppe deutlich erkennbar Kostüme getragen hatte, sah die Kleidung dieses Mannes authentisch aus. Aber womöglich hatte das auch nur mit seiner Gangart zu tun, die ein solches Selbstbewusstsein ausstrahlte, dass man meinen konnte, er wäre dem Titelblatt einer GQ-Ausgabe aus dem 18. Jahrhundert entstiegen. Das weite, weiße Hemd, die dunkle Hose, die blutrote Schärpe um die Taille, braune Lederstiefel und dazu ein großer lederner Dreispitz auf dem Kopf – das alles ließ ihn wie den Anführer einer Piratenbande erscheinen. Jess musste zugeben, dass sie nachvollziehen konnte, wieso Allison ein Auge auf ihn geworfen hatte. Er machte wirklich etwas her. Es änderte aber nichts an der Tatsache, dass Allison vor ein paar Minuten noch ausgiebig über die Bootsfahrt hergezogen war, dass sie sich über Sand in ihrer Poritze und darüber beklagt hatte, seekrank geworden zu sein. Sie war erschöpft gewesen und hatte nur noch ins Resort zurückgewollt. Das hier war selbst für jemanden, der so wankelmütig war wie Allison, ein wirklich radikaler Meinungsumschwung.

Einen Moment lang überlegte Jess, ob sie zum Bus zurückkehren und dort auf ihre Cousine warten sollte. Immerhin würde der Bus nicht losfahren, solange nicht alle Passagiere an Bord waren, und wenn Allison zu lange trödelte, würde der Fahrer zweifellos losgehen und sie persönlich einkassieren. Doch das konnte sie nicht machen, denn sie hatte ihrer Cousine Krista – Allisons jüngerer Schwester – versprochen, dafür zu sorgen, Allison vor jeglichem Ärger zu behüten. Und Jess nahm jedes Versprechen ernst, das sie gab.

Vor sich hinmurmelnd setzte sie sich resigniert in Bewegung und bahnte sich ihren Weg zwischen den fröhlichen Touristen hindurch, um den beiden zu folgen. Ihre Resignation verwandelte sich jedoch schon Augenblicke später in Verärgerung. Jess war davon ausgegangen, dass der Mann Allison zu einem der Stände bringen würde, um ihr dann einen Anhänger aufzuschwatzen. Schließlich war es das, worauf die meisten Leute hier aus waren.

Doch der Mann folgte ein paar anderen Paaren, die auf dem Weg zu jenem Boot waren, das sie und Allison eben verlassen hatten. Jene Allison, die angeblich hundemüde und seekrank war. Und die jetzt bereitwillig, ja, sogar erwartungsvoll dorthin zurückkehrte, während sie den Mann an ihrer Seite anschmachtete und wie eine Klette an ihm hing.

»Allison!«, rief Jess energisch und lief etwas schneller über den Sand, der bei jedem Schritt nachgab. Wenigstens blieb Allison daraufhin stehen und drehte sich zu ihr um, auch wenn sie einen absolut verständnislosen Eindruck machte, als hätte sie Jess völlig vergessen und könne sich nicht erklären, warum die ihren Namen mit einem so verärgerten Unterton gerufen hatte.

»Der Bus!«, stieß Jess ungehalten aus und ging weiter auf sie zu. »Nun komm schon!«

Allison stand unschlüssig da, aber dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ganz dem Mann an ihrer Seite, der etwas zu ihr sagte. Schließlich drehte sich Allison wieder zu ihr um und lief ihr entgegen.

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, einfach …« Sie unterbrach sich verdutzt, als Allison ihren Arm packte, um sie hinter sich herzuschleifen – in Richtung des Piraten, der inzwischen weitergegangen war.

»Wir wollen die Haie füttern. Vasco sagt, du kannst auch mitkommen«, sagte Allison und drängte sie, ihr zu folgen.

»Was? Augenblick mal«, sagte Jess und stemmte sich gegen Allison. »Ich dachte, du bist müde und seekrank und dir ist heiß und …«

»Ach, das habe ich nur gesagt, damit Krista ein schlechtes Gewissen hat. Mir geht’s bestens«, versicherte Allison ihr.

»Was?« Jess stemmte sich daraufhin so gegen Allison, dass die sie nicht länger hinter sich her schleifen konnte. Etwas in dieser Art hatte sie von Anfang an vermutet, aber es war schon fast schockierend, ein solch freimütiges Eingeständnis zu hören.

»Du hast mich doch verstanden«, erwiderte Allison unbekümmert. Sie schämte sich nicht im Geringsten für ihr Verhalten. Wieder zog sie stärker an Jess’ Arm. »Auf dieser Reise dreht sich ohnehin schon alles viel zu sehr um sie. Ich wollte ihr einfach ein schlechtes Gewissen verpassen.«

»Natürlich dreht sich alles um sie. Das ist schließlich ihre Hochzeitsreise«, antwortete Jess ungläubig. »Auf dieser Reise geht es nur um sie und Pat.«

»Das ganze letzte Jahr über ging alles ständig nur nach ihr«, knurrte Allison ungehalten. »Seit sie ihre Verlobung bekanntgegeben hat, gibt es nur noch Geschenke und Glückwünsche für Krista, Partys für Krista und, und, und. Und dann die ständige Planerei und das ganze Theater um alles! Und was ist mit mir?«, fragte sie weinerlich. »Ich wollte, dass sie im Frühjahr heiraten, wenn das Wetter hier angenehmer ist. Aber nein, sie mussten ja unbedingt Ende Mai heiraten, wenn die Saison vorbei ist und wenn es hier brütend heiß und doppelt so schwül ist. Und wenn sich hier nicht ein einziger Kerl tummelt, mit dem man sich die Zeit vertreiben kann. Wäre es wirklich so schlimm gewesen, wenn sie im Februar oder März geheiratet hätten?«

»Viele von ihren Freunden studieren noch oder haben gerade ihren Abschluss gemacht. Im Februar und März hatten die noch alle Vorlesungen. Außerdem ist es günstiger für sie, im Mai herzukommen. In der Hauptsaison ist es viel zu teuer«, erklärte Jess. »Außerdem wollten Pat und Krista genau ein Jahr nach dem Tag heiraten, an dem er ihr den Antrag gemacht hatte.«

»Ja, schön. Ich will jedenfalls meinen Spaß haben«, sagte Allison mit mürrischer Miene. »Und jetzt beeil dich, sonst legen die ohne uns ab.«

»Sollen sie doch«, gab Jess zurück. »Der Bus wartet und kann erst losfahren, wenn alle eingestiegen sind. Wir müssen gehen.«

»Nein. Du kannst dich ja in den stickigen Bus setzen und warten, aber ich gehe mit Vasco.«

»Ach, verdammt noch mal, Allison«, knurrte Jess und versuchte sie zurückzuhalten. »Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein, dass ein Bus voller Leute stundenlang warten soll, bis du …«

»Pass auf«, fiel ihr Allison ungeduldig ins Wort und deutete mit der freien Hand auf die Grüppchen, die zum Boot gingen. »Da fahren noch andere mit, die mit dem gleichen Bus hergekommen sind. Auf die muss schließlich auch gewartet werden. Willst du lieber in einem glutheißen Bus sitzen oder mit uns kommen und die Haie füttern?«

Jess sah zu den Zweier- und Dreiergrüppchen, auf die Allison gezeigt hatte. Sie stutzte, als sie tatsächlich einige von ihnen wiedererkannte. Da war sogar das Paar, das auf der Hinfahrt in der Reihe vor ihnen gesessen hatte. Der Bus würde tatsächlich auf sie alle warten müssen. Sie musste daran denken, wie heiß und unangenehm es im Bus selbst dann noch gewesen war, als durch die offenen Fenster Luft ins Innere gedrungen war, auch wenn es sich um warme Luft gehandelt hatte. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie es sein würde, in einem Bus zu warten, der in der Sonne vor sich hin brütete. Ganz so, als würde man in einem Backofen schmoren.

»Also?«, hakte Allison ungeduldig nach.

»Ja, okay«, murmelte Jess und ließ sich von ihrer Cousine in Richtung Anlegestelle zerren, wo das Boot auf sie wartete. Noch während sie einlenkte, nahm sie sich vor, sich niemals dazu überreden zu lassen, mit Allison gemeinsam zu verreisen. Schon gar nicht, wenn sie dafür verantwortlich sein sollte, diese vor jeglichem Ärger zu bewahren. Einer solchen Aufgabe war niemand gewachsen, und unter normalen Umständen hätte sie sich auch nicht dazu bereit erklärt, wenn diese Bitte nicht von Krista gekommen wäre. Als Krista sie gebeten hatte, sich ein Zimmer mit ihrer älteren Schwester zu teilen, hatte sie ihr diese Bitte einfach nicht abschlagen können. Sie wusste, wie schwierig Allison sein konnte, und genau genommen vermutete Jess, dass Krista auch lieber eine andere Trauzeugin ausgewählt hätte. Doch im Hinblick darauf, dass Allison ihr die Hölle heißgemacht hätte, wenn ihr diese Aufgabe nicht zugefallen wäre, hatte sie sich – zweifellos auch auf Drängen ihres Vaters – dem Unvermeidlichen gebeugt und Allison gebeten, ihre Trauzeugin zu sein.

Natürlich hatte Allison es als ihre Pflicht angesehen, dieser Bitte nachzukommen, wenngleich sie sich vom nächsten Moment an pausenlos darüber beklagt hatte, wie viel Mühe und Arbeit damit verbunden waren. Diese Frau hatte einfach das Talent, alle in ihrem Umfeld in den Wahnsinn zu treiben. Niemals schaffte sie es, pünktlich zu sein. So hätten sie durch ihre Trödelei fast ihren Flug verpasst. Jess hatte sie am Arm gepackt und hinter sich her quer durch den Flughafen geschleift, sonst würden sie jetzt noch in Montana hocken, wo sie allenfalls via Facebook an der Hochzeit teilgenommen hätten.

Als wäre das alles noch nicht genug gewesen, war Allison am zweiten Tag der Reise keine Spur schneller gewesen. Sie hatte sich mit dem Frühstück endlos viel Zeit gelassen und darauf bestanden, anschließend schwimmen zu gehen. Dadurch hätten sie die Hochzeit fast schon wieder verpasst, und das, wo Allison die Trauzeugin war! Sie hatte es wirklich verstanden, die Braut am Tag ihrer Heirat zur Verzweiflung zu bringen. Anstatt in ihrer Funktion als Trauzeugin die Braut in jeder Hinsicht zu unterstützen, hatte sie es durch ihr rücksichtsloses Verhalten geschafft, dass Krista schließlich in Tränen ausgebrochen war.

Als wäre das noch nicht genug gewesen, hatte Allison sich auch weiterhin als extrem widerborstig entpuppt. Die gesamte Hochzeitsgesellschaft war für zwei Wochen angereist, und die Jüngeren unter ihnen verbrachten fast die ganze Zeit gemeinsam – ob man nur am Strand in der Sonne lag, eine Disco besuchte oder essen ging. Dabei konnte man sich fest darauf verlassen, dass Allison stets aus der Reihe tanzte. Wenn alle sich einig waren, beim Mexikaner essen zu gehen, wollte sie zum Italiener. Wenn alle für ein Konzert an den Strand gehen wollten, dann wollte Allison in der Stadt in einen Club gehen. Sogar heute hatte sie eigentlich zum Seilrutschen anstatt wie der Rest von ihnen ins Seaquarium gehen wollen, und hatte zum Verdruss aller immer wieder die Vorzüge ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung aufgezählt.

Allison war von ihrem allzu nachsichtigen Vater über die Maßen verwöhnt worden, weil der ein schlechtes Gewissen hatte, dass er sie nach der Scheidung allein großziehen musste. Dadurch war sie so sehr daran gewöhnt, stets ihren Willen durchzusetzen, dass sie jedem anderen das Leben zur Hölle machte, der nicht sofort nach ihrer Pfeife tanzte. Mit dem Erfolg, dass alle anderen sich für gewöhnlich ihren Wünschen fügten, weil niemand es wagte, sich ihren Zorn zuzuziehen. Nur diesmal lief das nicht so, da es bei dieser Reise ausschließlich um Krista und Pat ging, um niemanden sonst. Was zur Folge hatte, dass die ganze Gesellschaft sich nach deren Wünschen richtete – was Allison nur noch mehr auf die Palme brachte, da es ihr absolut gegen den Strich ging, sich nicht gegen ihre jüngere Schwester durchzusetzen. Stattdessen machte sie dann allen anderen das Leben zur Hölle, indem sie sich unablässig beklagte – über das Resort, die Hitze, das Essen und, und, und … Da es nun einmal Jess war, die sich ein Zimmer mit Allison teilte, musste sie sich auch den Großteil der schier endlosen Beschwerden anhören.

»Nie wieder«, schwor sie sich mit finsterer Miene, während sie weiter hinter Allison herging und dabei an einer großen Barkasse vorbeikam, die zu einem täuschend echten Piratenschiff umgerüstet war, bis sie zu einer etwas kleineren Schaluppe gelangten, die ein echtes Piratenschiff hätte sein können. So wie die Kostüme der Besatzung wirkte auch dieses Schiff so authentisch, dass Jess ein Schauer über den Rücken lief, als sie Allison über die angelegte Planke an Bord folgte.

»Ah, du hast deine Freundin überzeugen können, uns Gesellschaft zu leisten.«

Jess hatte interessiert die Masten, die Segel und die Totenkopfflagge betrachtet, als sie an Bord gekommen war, doch jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Piraten, den Allison Vasco genannt hatte und der auf sie zukam. Dieser Mann sah fantastisch aus, musste Jess im gleichen Moment feststellen, als sie sein breites Lächeln und diese wunderschönen grünen Augen sah. Und er war unglaublich groß, wie ihr in dem Moment bewusst wurde, als er sich zwischen sie beide stellte und Allison und ihr je einen Arm auf die Schulter legte.

»Und auch noch so hübsch«, fügte er hinzu und sah Jess mit einem strahlendem Lächeln an, während er sich mit ihnen einen Weg durch das Gewimmel an Deck bahnte. »Heute habe ich wohl das große Los gezogen.«

Jess lächelte ein wenig gequält über seine Worte, weil sie sich so anhörten, als mache er sich Hoffnung auf einen flotten Dreier. Für so etwas war sie definitiv nicht zu haben. Zugegeben, er sah gut aus, aber sie wusste rein gar nichts über ihn. Dafür wusste sie genug über Allison, um sagen zu können, dass sie der letzte Mensch auf Erden war, den sie für einen flotten Dreier in Erwägung ziehen würde. Nicht dass sie überhaupt an so etwas interessiert gewesen wäre, aber darum ging es jetzt auch gar nicht.

»Es sind alle an Bord, Capitán.«

Jess drehte sich um, als sie diese Worte hörte, und wollte ihren Augen nicht trauen, als sie in das Gesicht eines Johnny-Depp-Doppelgängers schaute. Der Mann hatte den gleichen Bart wie Depp als Captain Jack Sparrow, und auch er trug ein beiges Stirntuch, um zu verhindern, dass seine Dreadlocks ihm ins Gesicht fielen. Sogar das Kostüm war so gut wie identisch: dunkelbraune Hose, weißes Top, dunkelbraune Weste. Es fehlte nur noch der Kapitänshut.

»Gut, dann sag den Männern, dass wir ablegen«, erwiderte Vasco in ernstem Tonfall. Das charmante Lächeln kehrte jedoch gleich wieder zurück, als er sich Jess und Allison zuwandte. Wie eine Maske, ging es Jess durch den Kopf. »Es bricht mir das Herz, Mädels, aber die Arbeit ruft. Ihr könnt mir aber gern am Steuer Gesellschaft leisten, wenn ich uns aus dem Hafen bringe.«

»O ja«, antwortete Allison begeistert, die sich wieder bei ihm untergehakt hatte, und begleitete ihn zum Oberdeck am Heck des Schiffs, wo ein großes Steuerrad aus Holz darauf wartete, betätigt zu werden.

Jess folgte den beiden mit ein wenig Abstand und sah sich aufmerksam auf dem Schiff um. Die Besatzung war mit den vielen kleinen Aufgaben beschäftigt, die an Bord so anfielen, sodass die Besucher für den Augenblick sich selbst überlassen waren, sich umsahen oder in Unterhaltungen vertieft waren. Jess erkannte vier junge Leute, die auch zur Hochzeitsgesellschaft gehörten, außerdem einige Leute aus ihrem Hotel, die mit demselben Bus hergebracht worden waren.

Krista und Pat waren nicht unter ihnen, doch das überraschte sie gar nicht. Selbst wenn Krista Interesse an einer Haifütterung gehabt hätte, wäre das Thema in dem Moment erledigt gewesen, als sie sah, dass Allison mitfahren wollte. Jess konnte das nur zu gut verstehen. Allerdings hoffte sie auch, dass die beiden nicht im überhitzten Bus saßen und warteten, sondern dass sie auf die Idee gekommen waren, sich ein Taxi zurück zum Hotel zu nehmen. Mit etwas Glück ließen sie es sich bereits bei einer Massage gut gehen, oder vielleicht waren sie auch schwimmen gegangen.

»Mädel?«

Jess sah zu Vasco, der sie gerufen hatte. Er war stehen geblieben und sah sie abwartend an.

»Kommst du?«, fragte er, als hätte er längst vergessen, dass Allison sich nach wie vor an seinen Arm klammerte und ihn anschmachtete. »Da oben am Steuer weht eine angenehme Brise, wenn wir erst einmal Fahrt aufgenommen haben.«

Es war die Aussicht auf eine Abkühlung, die für Jess den Ausschlag gab, denn diese drückende Hitze und die Luftfeuchtigkeit waren eindeutig nichts für sie. Sie nickte und ging zu Vasco, der sie am Ellbogen fasste, um ihr die kurze Treppe hinauf zum Oberdeck zu helfen. Sie überlegte, ob dieser Teil des Schiffs, so wie sie meinte, wohl Quarterdeck genannt wurde, aber sicher war sie sich dessen nicht. Schließlich war sie ja kein Seemann, der so etwas hätte wissen müssen.

»So, dann stellt ihr zwei Hübschen euch mal genau hier hin und seht einfach nur hübsch aus. So steht ihr nämlich nicht im Weg, während wir Männer arbeiten«, verkündete Vasco fröhlich, während er sie zum Steuerrad führte.

Jess presste die Lippen zusammen, als sie diesen Kommentar hörte. Lieber Himmel, ging es noch sexistischer? Mit Mühe hielt sie sich davon ab, die Augen zu verdrehen. Sie entschied, seine Anweisung zu ignorieren, und stellte sich stattdessen an die Reling und sah hinunter, wo zwei Crewmitglieder damit beschäftigt waren, den Landungssteg an Bord zu ziehen. Als sie Richtung Strand sah, fiel ihr auf, dass der mittlerweile fast menschenleer war. Genau genommen hielten sich praktisch nur noch die Händler dort auf, die ihre Stände zusammenräumten. Offenbar war ihre Fahrt zum Seaquarium die letzte für den heutigen Tag gewesen, was sie reflexartig veranlasste einen Blick auf die Armbanduhr zu werfen. Erst dabei fiel ihr ein, dass sie die Uhr gar nicht angezogen hatte, weil sie nicht wollte, dass sie ihr womöglich im Seaquarium abhandenkam.

Sie sah zum Himmel, um sich am Stand der Sonne zu orientieren. Mit Erstaunen musste sie feststellen, dass die Sonne dem Horizont viel näher war als erwartet. Sie mussten weitaus mehr Zeit im Seaqarium verbracht haben, als es ihr bewusst gewesen war. An den letzten beiden Abenden war die Sonne jeweils gegen Viertel vor sieben untergegangen, also musste es jetzt ungefähr sechs Uhr sein. Das erklärte dann auch ihren knurrenden Magen, was sie wiederum an die Leute aus ihrer Gruppe denken ließ, die nicht an dieser Haifütterung teilnahmen. Die wurden zweifellos mit jeder Minute ungeduldiger, weil sie zurück ins Resort wollten, um dort zu Abend zu essen.

cugino

Santo machte die Augen zu, sackte ein wenig in sich zusammen und nicke zustimmend.

Erleichtert ließ Raffaele seinen Arm los und klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. »Wir beeilen uns mit dem Umziehen.«