Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Liebe Leser*innen
  4. Widmung
  5. Zitat
  6. Playlist
  7. Kapitel 1
  8. Kapitel 2
  9. Kapitel 3
  10. Kapitel 4
  11. Kapitel 5
  12. Kapitel 6
  13. Kapitel 7
  14. Kapitel 8
  15. Kapitel 9
  16. Kapitel 10
  17. Kapitel 11
  18. Kapitel 12
  19. Kapitel 13
  20. Kapitel 14
  21. Kapitel 15
  22. Kapitel 16
  23. Kapitel 17
  24. Kapitel 18
  25. Kapitel 19
  26. Kapitel 20
  27. Kapitel 21
  28. Kapitel 22
  29. Kapitel 23
  30. Kapitel 24
  31. Kapitel 25
  32. Kapitel 26
  33. Kapitel 27
  34. Kapitel 28
  35. Danksagung
  36. Nachwort
  37. Die Autorin
  38. Die Romane von Bianca Iosivoni bei LYX
  39. Impressum

BIANCA IOSIVONI

Falling Fast

ROMAN

Zu diesem Buch

Hailee DeLuca hatte nie vor, nach Fairwood zu kommen. Ihr Plan für diesen Sommer war, endlich all das zu tun, was sie sich bisher nie getraut hat, und dabei jede Menge neue Erfahrungen zu sammeln. Doch als sie zufällig das Straßenschild sieht, kann sie nicht anders, als ihren Roadtrip zu unterbrechen und in die kleine Stadt mitten im Nirgendwo zu fahren. Ihr Freund Jesper lebte dort bis zu seinem Tod vor wenigen Monaten – und Hailee, die ihn in einem Online-Forum für Autoren, aber nie persönlich kennengelernt hat, möchte sich endlich von ihm verabschieden. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass sich mit ihrer Ankunft in Fairwood alles für sie verändert. Denn nicht nur lässt ihr Auto sie im Stich und sie muss sich einen Job suchen, um die Reparaturkosten bezahlen zu können. Sie lernt auch Chase Whittaker kennen, der attraktiv ist und charmant und von der ersten Sekunde an Gefühle in ihr weckt, die sie längst verloren geglaubt hat. Hailee weiß, dass sie ein Problem hat: Der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, und es war nie Teil ihres Plans, länger als unbedingt nötig in Fairwood zu bleiben. Doch je mehr Zeit sie mit Chase verbringt, desto stärker wird ihr Wunsch, nicht gehen zu müssen. Auch wenn das bedeutet, dass Chase ihrem dunkelsten Geheimnis Stück für Stück näher kommt.

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

ACHTUNG: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Bianca und euer LYX-Verlag

Für alle Hailees da draußen.
Seid mutig!

You’ve always had the power my dear,
You just had to learn it for yourself.

– The Wizard of Oz

Playlist

Tyler Glenn – Midnight

Charlotte Lawrence – You’re the One That I Want

Sara Bareilles – Brave

Lady Gaga & Bradley Cooper – Shallow

Walking On Cars – Flying High Falling Low

Rita Ora – Your Song

Little Mix – Shout Out to My Ex

Taylor Swift – Gorgeous

Danger Silent – Crawling

BANNERS – Ghosts

Lord Huron feat. Phoebe Bridgers – The Night We Met

5 Seconds of Summer – Lost in Reality

Alexandra Burke – Hallelujah

Mumford & Sons – Below My Feet

Skylar Grey & X Ambassadors – Cannonball

Gavin DeGraw – I Don’t Want to Be

Kodaline – Follow Your Fire

X Ambassadors – Kerosene Dreams

Birdy – Wings

Little Mix – Your Love

WILD – Here We Go

Kaleb Jones – So Good

Leona Lewis – Run

Sleeping At Last – Already Gone

HAILEE

Freitag, 06. September 2019

10:21 Uhr

Ich rolle meine restlichen Kleider zusammen und stopfe sie neben die Wasserflasche in meine Tasche. Dann gehe ich ins Bad, hole Zahnbürste und Zahncreme und packe sie ebenfalls ein.

Das war’s.

Nichts in diesem kleinen Zimmer deutet noch darauf hin, dass ich je hier gewesen bin. Das Bett ist gemacht, die Vorhänge sind aufgezogen. Warmes Sonnenlicht strömt herein, fällt auf den wackeligen Holztisch vor dem Fenster und lässt Staubkörner in der Luft tanzen. Es verspricht, ein weiterer schöner Septembertag zu werden. Aber ich werde nicht länger hier sein, um ihn zu erleben. Ich bin schon viel zu lange in dieser Stadt geblieben. Viel zu lange bei den Menschen, die zunächst nur Fremde für mich waren, dann aber zu Freunden geworden sind. Und zu mehr. So viel mehr.

Ich hebe die Tasche vom Boden auf und nehme den Autoschlüssel vom Nachttisch. Ein letzter Blick in das Zimmer, das mir mehr Erinnerungen beschert hat, als ich je für möglich gehalten hätte, dann ziehe ich die Tür ganz langsam hinter mir zu.

Ich habe nie vorgehabt zu bleiben. Freunde zu finden. Mich zu verlieben.

Ich schließe die Augen und atme tief durch, denn ich weiß, dass ich das Richtige tue, auch wenn es sich im Moment nicht so anfühlt. Aber ich habe Katie versprochen, dass wir uns nach diesem Sommer wiedersehen. Und ich halte meine Versprechen.

Ein viel zu großer Teil von mir will nicht weg, will diese Kleinstadt mit all ihren Bewohnern, die mir in der kurzen Zeit viel zu sehr ans Herz gewachsen sind, nicht verlassen, aber es ist an der Zeit, zu gehen.

Also schließe ich die Tür mit einem leisen Klicken.

Und gehe.

Kapitel 1

HAILEE

21 Tage vorher

Freitag, 16. August 2019

20:09 Uhr

Ich hatte nie vor hierherzukommen. Ich hatte nie vor, an diesem lauen Augustabend vor einem Grab zu stehen und auf die Buchstaben zu starren, bis sie vor meinen Augen verschwimmen. Mir war nicht mal klar, dass ich in der Nähe bin, doch als ich das Schild gesehen habe, das nach Fairwood, Virginia, führt, konnte ich nicht einfach daran vorbeifahren. Nicht heute.

Also bin ich jetzt hier und stehe in meinem bunt gestreiften, knöchellangen Rock, der schulterfreien Bluse und dem weiten Sonnenhut auf einem Friedhof. Grashalme kitzeln mich dort, wo meine Füße nicht von den Bändern der Römersandalen bedeckt sind. Der Wind, der durch die umstehenden Bäume streift, klingt wie ein leises Seufzen, das meine Atemzüge begleitet. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages wärmen mir den Rücken, während sich der Himmel orangerot verfärbt, aber ich habe nur Augen für das viel zu neue Grab vor mir.

Jemand hat frische Blumen hingestellt. Ihre Köpfe wiegen sich ganz leicht im Wind. Daneben steht eine Kerze, die offenbar erst vor Kurzem angezündet wurde, da sie noch nicht besonders weit heruntergebrannt ist.

Langsam gehe ich in die Hocke. Der Stein ist so warm, als hätte er die Wärme des ganzen Sommers in sich gespeichert. Behutsam fahre ich die Buchstaben und Zahlen mit den Fingern nach.

Jesper Harrington. Liebender Sohn und guter Freund.

16. 08. 1998 – 27. 02. 2019

Noch während ich die Worte lese und sie auf mich wirken lasse, kann ich Jespers Lachen in meinen Gedanken hören. Seine witzigen Sprüche. Seine ausschweifenden Erklärungen. Wir haben uns nie persönlich kennengelernt, immer nur getextet und Sprachnachrichten ausgetauscht. Trotzdem war er einer der besten Freunde, die ich je hatte.

Bei der Erinnerung daran, wie wir zum ersten Mal gegenseitig den Anfang unserer Manuskripte gelesen haben, muss ich lächeln. Ich hatte so viel Angst, ihn zu kritisieren, denn auch wenn er unglaubliche Geschichten erzählen konnte, war sein Schreibstil einfach furchtbar. Und obwohl – oder gerade weil – ich so zögerlich mit meiner Kritik war, hat er meinen Text umso heftiger zerrissen. Hinterher hat er mir zum Trost ein Foto von Bunny, seinem Plüschkaninchen, geschickt, das seit seinem ersten Geburtstag sein treuer Begleiter war und das er nie hergeben würde.

Ob Bunny jetzt mit ihm da unten liegt? Tief unter der Erde. Allein und verlassen.

Gott, ich darf nicht so denken. Dieses Grab ist nichts weiter als ein Stück Erde mit einem Stein darauf. Jesper ist nicht hier. Er ist jetzt an einem besseren Ort. Einem Ort, an dem wir uns eines Tages wiedersehen werden. Daran glaube ich ganz fest.

Ein letztes Mal streiche ich über seinen eingravierten Namen und nehme die Wärme in mich auf.

»Happy Birthday, Jesper.«

Als ich aufstehe, weht mir eine plötzliche Windböe beinahe den Hut vom Kopf. Im letzten Moment halte ich ihn fest und streiche mir die langen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Wahrscheinlich ist das nur Zufall, aber ich beschließe trotzdem, es als Zeichen zu sehen. Als Zeichen dafür, dass es richtig war hierherzukommen, auch wenn Fairwood nicht auf meiner Liste stand. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich nie einen wirklichen Plan für diese Reise, als ich vor über zwei Monaten in den alten roten Honda Civic gestiegen und einfach losgefahren bin.

Genauso wenig wie ich einen Plan habe, was ich jetzt tun soll. Ein leises Magenknurren beantwortet mir die unausgesprochene Frage. Ich sollte mir besser irgendwo etwas zu essen besorgen, bevor es dunkel wird. Ich habe schon unzählige Nächte im Auto verbracht und kein Problem damit, es auch hier zu tun. Aber hungrig schlafen zu gehen ist eine Tortur. Auch das habe ich in den letzten Wochen leider schon ein paarmal erlebt und absolut kein Verlangen danach, diese Erfahrung zu wiederholen.

Ein letztes Mal sehe ich zu Jespers Grab zurück. Beim Gedanken daran, ihn nie wieder zu hören, nie wieder mit ihm zu texten und nie mehr mit ihm zu reden, wird der Kloß in meinem Hals noch größer. Trotzdem lächle ich noch einmal in seine Richtung. Dann drehe ich mich um und folge dem Weg zurück zum schmiedeeisernen Tor, durch das ich vor einer halben Stunde den Friedhof von Fairwood betreten habe.

Mein roter Honda ist nicht der einzige Wagen vor dem Friedhofseingang. Ich habe keine anderen Menschen auf dem Friedhof gesehen, aber da stehen ein alter Pick-up, ein schwarzer Jeep, zwei Motorräder und ein silbergrauer Dodge neben meinem Auto auf dem Parkplatz. Interessante Mischung.

Mit dem Schlüssel in der Hand steuere ich meinen Wagen an, öffne ihn und lasse mich auf den Fahrersitz fallen. Der Geruch von Chips, Limonade und Deo empfängt mich, und ich rümpfe die Nase bei der Mischung. Es ist noch warm genug, also kurble ich das Fenster hinunter und starte den Motor.

Ich habe kein Ziel, während ich durch die Stadt fahre, aber daran habe ich mich in den letzten Monaten gewöhnt. Irgendwie gelange ich auf die Main Street, die von kleinen Läden und hübschen Cafés in bunten Häusern gesäumt ist. Es wirkt irgendwie heimelig, wie aus einem Film oder einer Serie. Eine Kleinstadt zum Wohlfühlen. Als ein paar Meter vor mir an der Ecke ein Diner auftaucht, atme ich erleichtert auf. Essen! Na endlich. Ich habe schon seit Tagen nichts Warmes mehr zu mir genommen.

Doch leider sind alle Stellplätze hinter dem Diner belegt. Ich fahre die nächsten beiden Querstraßen ab, doch da ist kein einziges freies Fleckchen, auf dem ich den Wagen parken kann. Die Sonne ist bereits untergegangen, und auch wenn der Himmel noch immer blassrosa gefärbt ist und Straßenlaternen die Umgebung erhellen, ist die Dunkelheit nicht aufzuhalten. Ich verziehe die Lippen. Ich bin nicht gern allein im Dunkeln unterwegs, also sollte ich mich besser beeilen.

Zwei Blocks weiter finde ich endlich einen Parkplatz, schalte den Motor aus, schnappe mir meinen Geldbeutel und springe aus dem Wagen. Die Luft ist noch immer warm, fast schon schwül, und über mir beginnen die ersten Sterne am Nachthimmel zu funkeln. Mit nervös klopfendem Herzen mache ich mich auf den Weg zu diesem Diner und beschließe, mich zusätzlich mit einem Milchshake zu belohnen, wenn ich dort ankomme.

Meine Schritte hallen auf dem Gehweg in der leeren Seitenstraße wider. Es ist fast schon gespenstisch still. Ich nehme die nächste Abzweigung, dann bin ich wieder auf der Main Street. Erleichterung breitet sich in mir aus. Hier sind andere Leute. Menschen, die an diesem Freitagabend unterwegs sind oder gerade von der Arbeit nach Hause kommen. Hier bin ich nicht allein. Doch als ich mich dem Diner nähere, werden meine Schritte langsamer. Niemand sitzt darin. Nur die Außenbeleuchtung ist an. Und an der Eingangstür klebt ein handgeschriebener Zettel: Heute wegen Krankheit geschlossen.

Das kann doch nicht wahr sein. Echt jetzt?

Seufzend lege ich mir die Hand auf den knurrenden Magen und blicke mich um. Das niedliche Café ganz in der Nähe hat bereits geschlossen. Das Restaurant daneben sieht viel zu teuer aus mit seinen weißen Tischdecken und den edel gekleideten Kellnern, die ich durch die Scheibe sehen kann. Einen Imbiss kann ich nicht entdecken, von einem Supermarkt ganz zu schweigen. Hier gibt es nicht mal einen Kiosk mit Schokoriegeln, wobei ich davon noch genug im Auto habe. Mein Magen grummelt protestierend. Gott, ich brauche etwas Richtiges zu essen. Keinen weiteren Snack aus Chips und Dips.

Mein Blick fällt auf ein beleuchtetes Schild. Barney’s Bar.

Ehe ich darüber nachdenken und es mir ausreden kann, setze ich mich in Bewegung. Mit etwas Glück gibt es da drinnen etwas zu essen.

CHASE

»Auf Jesper!«

Ich hebe meine Flasche und stoße mit den Leuten an, von denen ich geglaubt hatte, sie nach dem Highschoolabschluss nie wiederzusehen. Zumindest die meisten nicht absichtlich, weil wir seither nichts mehr miteinander zu tun hatten, ganz egal, wie oft ich in der Stadt bin. Aber jeder von uns hatte eine Verbindung zu Jesper. Schon ironisch, dass uns ausgerechnet sein Geburtstag an diesem schwülwarmen Augustabend zusammengebracht hat. Ironisch deshalb, weil er nicht mehr an der Feier teilnehmen kann.

»Hey, Chase!«, ruft Alexis, besser bekannt als Lexi, und deutet mit dem Glas in der Hand von der anderen Seite des Tisches auf mich. Ihre goldbraunen Locken hüpfen bei jeder Bewegung auf und ab. Obwohl sie meine Cousine ist, sehen wir uns kein bisschen ähnlich. Sie kommt mit ihrer dunklen Haut und der rauen Stimme ganz nach ihrer Mutter, während ich die Gene unserer Väter geerbt habe. Zumindest was das Äußere angeht: hellbraunes Haar, grünbraune Augen und die Grübchen, die angeblich den unwiderstehlichen Charme der Whittaker-Männer ausmachen. Habe ich mir zumindest sagen lassen. Wenn Lexi lächelt, hat sie keine Grübchen, sondern wirkt eher so, als würde sie einen gleich in der Luft zerreißen wollen. »Warum erzählst du den Losern hier nicht, wie du und Jesper euch kennengelernt habt?«

Ich schnaube leise.

»Die alte Story?«, ruft Clayton und wedelt nachlässig mit der Hand. Zu Schulzeiten war er der typische Nerd mit Brille und Bestnoten in Naturwissenschaften, was man ihm heute mit seiner Lederjacke und dem Motorrad nicht mehr anmerkt. »Die kennt doch jeder.«

Störrisch runzelt Lexi die Stirn. »Ich will sie trotzdem hören. Sie ist toll!«

Ich schneide eine Grimasse. »Das sagst du nur, weil du es genießt, andere leiden zu sehen. Selbst wenn das schon über zehn Jahre her ist.«

Sie legt sich die Hand auf die Brust und tut geschockt. Mit den großen Bambi-Augen und dem mädchenhaften Kleid, das sie heute Abend trägt, könnte man ihr die Unschuldsnummer beinahe abkaufen. Aber ich kenne meine Cousine besser. Lexi weiß sehr genau, was und wen sie will – und sie ist selbstbewusst genug, das auch einzufordern. Zudem würde sie jedes Quiz gewinnen, bei dem es um Fahrzeuge geht. Sie versteht definitiv mehr von Motorrädern als Clayton. Vermutlich sogar mehr als jeder einzelne Kerl in dieser Bar. Nach der Highschool hat sie eine Ausbildung als Mechanikerin in Tyler’s Garage begonnen und gilt mittlerweile als eine der besten der Stadt. Wenn es einen Menschen gibt, dem ich meinen geliebten silbergrauen Dodge Avenger anvertraue, dann ihr. Auch wenn sie eine viel zu große Klappe hat. Wobei das wohl eine Eigenschaft ist, die eindeutig in der Familie liegt.

»Ich hole mir noch einen Drink.« Mit dem Daumen deute ich auf die vollgepackte Bar irgendwo hinter mir. »Sonst noch jemand was?«

Kopfschütteln. Die anderen am Tisch sind bereits ganz in der Geschichte aus unserer Kindheit versunken, die Clayton nun zum Besten gibt. Ich kenne sie schon, also verpasse ich nichts, wenn ich jetzt aufstehe und die Runde für ein paar Minuten verlasse. Zum Glück ist niemandem aufgefallen, dass meine Bierflasche noch halb voll ist. Obwohl ich mich freue, die Leute wiederzusehen und in Erinnerungen zu schwelgen, brauche ich schon jetzt eine Pause davon. Seit ich vor zwei Jahren zum Studieren nach Boston gezogen bin, war ich zwar unregelmäßig an den Wochenenden und in den Semesterferien hier, um meine Familie zu besuchen oder in der Firma auszuhelfen, trotzdem ist dieses Zusammentreffen nach dem gemeinsamen Friedhofsbesuch ungewohnt. Nicht nur für mich, sondern für uns alle. Und da ich schon den ganzen Sommer in Fairwood verbracht habe, macht sich so langsam eine gewisse Erschöpfung bemerkbar.

Mühsam kämpfe ich mich an den Leuten vorbei. Es ist noch relativ früh an diesem Freitagabend, trotzdem ist Barney’s Bar völlig überfüllt. Gefühlt ist die halbe Stadt da. An den Tischen sitzen dieselben alten Kerle und spielen Poker, die schon zu meiner Schulzeit da saßen, wenn ich mich heimlich reingeschlichen habe. Am anderen Ende des Raums findet ein Junggesellinnenabschied statt. Die glückliche Braut ist Sue Bowden. Jahrgangsbeste im Abschlussjahr unter mir und neben Lexi und viel zu vielen anderen Leuten eine weitere Person, die es nicht aus Fairwood rausgeschafft hat.

»Chase Whittaker!« Eine bekannte Stimme dröhnt über die Musik hinweg, und eine feste Hand klopft mir auf die Schulter. »Dich hab ich hier ja schon lange nicht mehr gesehen. Richte deinem alten Herrn Grüße von mir aus, ja?«

Ich nicke nur, bleibe aber nicht stehen, um mich mit dem Typen zu unterhalten. Mr Galloway ist über sechzig, aber noch fit genug, um für meinen Dad auf der Baustelle zu stehen und die Arbeiter herumzuscheuchen. Er ist ein netter Kerl, aber wenn man nicht schnell genug ist, sitzt man plötzlich mit einem Bier bei ihm und es ist fünf Uhr morgens, weil er einen über Gott und die Welt zugetextet hat. Manchmal ist das ganz angenehm, heute ist es das Letzte, was ich brauche.

Da es am Tresen noch immer brechend voll ist, mache ich einen Abstecher nach draußen. Als ich es endlich an den ganzen Leuten vorbeigeschafft habe und die Tür aufstoße, atme ich tief durch – und verziehe gleich darauf das Gesicht. Es ist noch immer so warm, dass es sich anfühlt, als wäre ich von einer Sauna in die nächste gestolpert. Bisher war es ein verflucht trockener Sommer, und ich glaube, jeder hier würde sich über ein paar Regentage freuen.

Links halb neben, halb hinter der Bar erstreckt sich ein viel zu kleiner Parkplatz voller Autos. Darum stehen all unsere Fahrzeuge auch noch vor dem Friedhof. Wir haben uns dort getroffen, um Jespers Grab zu besuchen und sind dann die paar Seitenstraßen hergelaufen. Da wir auf Jesper anstoßen wollten, wird heute ohnehin keiner von uns noch fahren.

Die Sonne ist bereits untergegangen, und über mir leuchten mehr Sterne am Himmel, als ich es von Boston gewohnt bin. In der Stadt und vor allem von meinem Wohnheimfenster auf dem dauerbeleuchteten Campus sieht man deutlich weniger davon als hier draußen im Shenandoah Valley in Virginia. Selbst um diese Uhrzeit kann ich noch die Appalachen und die Blue Ridge Mountains in der Ferne erkennen, die das Tal von zwei Seiten umschließen. Früher kam mir dieser Ort wie der Mittelpunkt der Welt vor, später wie ein geheimes Paradies, fernab von der Außenwelt. Und jetzt? Jetzt weiß ich nicht mehr, was es für mich bedeutet. Ich bin nicht mehr der Junge, der hier aufgewachsen ist. Der durch die Straßen gerannt ist, mit seinem Fahrrad jeden Winkel erkundet hat, todesmutig in den Fluss gesprungen und jeden Sommer in den nahe gelegenen Seen geschwommen ist. Nichts ist noch wie früher. Das kann es gar nicht sein. Nicht wenn einige der Menschen fehlen, die das alles für mich ausgemacht haben.

Seufzend schüttle ich den Kopf. Heute ist echt kein Tag, um mies drauf zu sein. Ich weiß genau, dass Jesper mir den Arsch aufreißen würde, wenn er wüsste, dass ich seinetwegen allein hier draußen herumstehe und Trübsal blase. Ausgerechnet an seinem Geburtstag. Aber Jesper ist nicht da, um mir den Arsch aufzureißen, also kann es mir im Grunde egal sein. Mein bester Freund ist nicht mehr da. Und ganz egal, wie viele Geschichten wir erzählen oder wie oft wir auf ihn anstoßen, nichts davon wird ihn je wieder zurückbringen. Für manche Menschen gibt es keine zweite Chance, kein Später und kein Morgen. Nur das Hier und Jetzt.

Als ich schließlich wieder reingehe, kommt mir die Musik lauter, die Stimmen dröhnender und die Wärme noch stickiger vor. Trotzdem schiebe ich mich an den Leuten vorbei, in der Hoffnung, nicht noch mal von Mr Galloway angesprochen zu werden.

Ich steuere den Tresen an und gebe Darlene ein Zeichen, dass ich ein neues Bier möchte. Eines aus den hiesigen Brauereien und damit dasselbe wie immer. Aber das ist nur passend. In Fairwood scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, so wie es die Kirchturmuhr manchmal tut. Sogar Darlene hinter der Theke sieht noch genauso aus wie vor fünf Jahren, als sie Josh und mich aus der Bar geschmissen hat, nachdem wir uns heimlich reingeschlichen haben. Minderjährig natürlich. Damals war ich derjenige, der meinen großen Bruder ständig in Schwierigkeiten gebracht hat. Wie schnell sich die Zeiten doch ändern können …

Während ich auf meine Bestellung warte, lasse ich den Blick durch den Raum wandern. Die Gäste sind dieselben, die ich schon mein ganzes Leben kenne. Da hinten sitzt Dr. Bryan, der Tierarzt, der bereits meinen ersten Hamster behandelt hat und vor drei Jahren Jespers Schäferhund einschläfern musste. Ihm gegenüber sitzt die neue Hausärztin – wobei neu bedeutet, dass sie vor weniger als zehn Jahren hierhergezogen ist. Diesen Titel wird sie tragen, bis sich ein anderer neuer Hausarzt mit seiner Praxis in der Stadt niederlässt. In Fairwood geht alles seinen gewohnten Gang. Sogar die Touristen, die den Skyline Drive durch das Shenandoah-Tal entlangfahren und einen Zwischenstopp hier einlegen, sind mittlerweile zu einem bekannten Bild geworden. Trotzdem bleibt mein Blick jetzt an etwas hängen, das nicht ganz in dieses allzu bekannte Bild passt. Oder vielmehr an jemandem.

Stück für Stück schiebt sie sich an den anderen Gästen vorbei und sieht sich um. Als sich unsere Blicke treffen, breitet sich schlagartig Hitze in mir aus. Mein erster Gedanke: Ihre Augen passen nicht zu ihrem Äußeren, zu diesem Paradiesvogelartigen mit den bunten Federohrringen. Sie sind dunkel und voller Geheimnisse. Ich kann nicht anders, als ihren Blick festzuhalten. Auch sie hält mitten in der Bewegung inne. Ihre Lippen teilen sich, aber sie lächelt nicht, sondern wirkt genauso überrascht wie ich.

Dabei gibt es absolut keinen logischen Grund für meine heftige Reaktion. Sie ist nicht mein Typ. Ich mag die netten Mädchen, die eher unscheinbar, dafür aber unkompliziert und im Idealfall auch humorvoll sind. Diese Unbekannte scheint nicht in diese Schublade zu passen. Sie ist wie eine frische Brise in diesem viel zu vollen Raum, wie etwas Neues, etwas Unbekanntes in einem Meer von Vertrautem. Mit der schulterfreien Bluse und dem weiten Rock in Regenbogenfarben sieht sie weder aus wie der typische Tourist noch wie eine Einheimische. Sie ist definitiv nicht von hier. Ich kenne schließlich so ziemlich jeden in dieser Stadt.

Nach ein paar Sekunden senkt sie den Blick, aber ich kann einfach nicht wegsehen. Noch etwas, das absolut keinen Sinn ergibt. Wir haben uns heute extra alle hier versammelt, um Jespers Geburtstag zu feiern, auch wenn er nicht mehr da ist. Da ist eine mysteriöse Fremde das Letzte, woran ich denken sollte. Schon gar nicht, wenn sie geradezu nach Problemen schreit, so wie sie sich suchend umsieht und dabei ignoriert, dass sie nicht nur meine, sondern auch die Aufmerksamkeit einiger anderer Männer auf sich zieht.

In diesem Moment schaut sie wieder in meine Richtung – und dieser verdammte Blick geht mir durch und durch. Meine Haut beginnt zu kribbeln. Mein Puls rast. Wer zum Teufel ist dieses Mädchen?

»Dein Bier«, ertönt Darlenes Stimme plötzlich neben mir.

Ich zucke zusammen. Verdammt, ich habe völlig vergessen, dass ich eins bestellt hatte. Fahrig krame ich ein paar Scheine aus der Hosentasche und lege sie auf den Tresen, doch als ich mich wieder nach der Unbekannten umsehe, erhasche ich nur noch einen kurzen Blick auf sie und wie sie mit irgendeinem Kerl spricht, der mir entfernt bekannt vorkommt. Gleich darauf ist sie in der Menge verschwunden. So schnell, wie sich zuvor die Hitze in meinem Inneren ausgebreitet hat, macht sich nun Enttäuschung bemerkbar. Mein Blick gleitet über die Tische, die Umstehenden und sogar zur Tanzfläche, aber wer auch immer die Fremde ist, ich kann sie nirgendwo entdecken. Verdammt.

Ein letztes Mal schaue ich mich nach der jungen Frau um, aber sie bleibt verschwunden, also muss ich wohl oder übel zu den anderen an den Tisch zurückkehren. Es ist nicht so, als würde ich die bunt gemischte Truppe nicht mögen. Diese Leute erinnern mich nur an eine Zeit, an die ich nicht allzu oft zurückdenke. Aber vor allem führen mir all die Erzählungen über Jesper nur zu deutlich vor Augen, dass ich am Ende nicht für ihn da war. Sein sogenannter bester Freund seit Kindheitstagen. Als ich die Stadt vor zwei Jahren verlassen habe, um in Boston aufs College zu gehen, habe ich mir geschworen, dass Jesper und ich in Kontakt bleiben. Dass ich in den Ferien nach Hause kommen und wir ganz viel unternehmen würden. Dass er mich auf dem Campus besuchen könnte, wenn es ihm besser geht. Aber es ging ihm nie besser, und unsere Telefonate, die Textnachrichten und Mails wurden immer kürzer, immer sporadischer. Bis ich mich schließlich gar nicht mehr bei ihm meldete.

Und jetzt ist er tot.

Gott, ich brauche heute Abend etwas Stärkeres als ein Bier. Ich drehe mich wieder zu Darlene um, doch die ist anderweitig beschäftigt.

Auf einmal ist da eine Bewegung links von mir. An sich nichts Ungewöhnliches. Die Bar ist vollgepackt mit Leuten, und niemand gibt seinen Hocker freiwillig auf, also müssen sich alle anderen, die Durst haben, dazwischenquetschen. Doch dann steigt mir ein Duft in die Nase, der definitiv nicht hierhergehört. Zwischen all den Gerüchen nach Menschen, Schweiß, süßen Parfüms, Nachos und diversen Getränken, ist da plötzlich etwas Warmes. Etwas Blumiges.

»Hey, da bist du ja!«

Die Stimme ist so hell und weich – und mir völlig unbekannt. Ich drehe den Kopf und starre in das Gesicht einer Fremden. Der Fremden. Dunkle Augen in einer undefinierbaren Farbe leuchten unter dunklen Brauen. Vielleicht irre ich mich, aber ich meine, eine leichte Panik darin erkennen zu können, obwohl sie mich anlächelt. Sie hat eine hohe Stirn, ein kleines Muttermal an der Wange und Lippen, die so voll sind, dass sie jeden Mann auf Erden auf falsche Gedanken bringen müssen. Und einige Frauen mit Sicherheit auch. Die Farbe ihres Haares liegt irgendwo zwischen Blond und Braun mit hellen Strähnen, und es fällt ihr über die nackten Schultern. Aber am auffälligsten sind diese langen Ohrringe mit den bunten Federn, die bei jeder Bewegung mitschwingen.

Sie mustert mich, als wäre ich die Antwort auf all ihre Gebete – und ich habe noch immer keinen Schimmer, wer sie eigentlich ist. Ich weiß nur, dass mich dieser Blick jetzt, so ganz aus der Nähe, noch mehr fesselt als schon zuvor. Himmel …

»Da bin ich …«, antworte ich auf ihre ungewöhnliche Begrüßung. Ein fragender Unterton schwingt in meinen Worten mit.

Ihre Fassade bröckelt keine Sekunde lang. Aber sie zuckt zusammen, als der Kerl von vorhin hinter ihr laut wird, und sagt leise: »Bitte spiel mit.«

Ihre Stimme ist so leise, dass ich nicht weiß, ob ich die Worte wirklich höre oder nur von ihren Lippen ablese. Aber ihre Finger krallen sich so fest in meinen Unterarm, dass ich ziemlich sicher bin, dass ihre kurzen, weiß lackierten Nägel halbmondförmige Spuren hinterlassen werden. Obwohl sie weiterhin lächelt, bin ich jetzt sicher, Panik in ihren Augen aufflackern zu sehen. Eine Panik, die nur noch verstärkt wird, als sich ihr ungewollter Verehrer einen Weg durch die Menge kämpft und die Bar ansteuert.

Mehr muss ich nicht wissen.

Ohne das geringste Zögern lehne ich mich ein Stück zu ihr hinunter und setze mein charmantestes Lächeln auf. »Schön, dass du es geschafft hast.«

Ihre Schultern entspannen sich ein kleines bisschen, aber sie wirkt noch immer nicht völlig beruhigt. Ich werfe einen schnellen Blick zurück, doch die vielen Leute versperren mir die Sicht. Auf einmal übertönen laute Stimmen alles andere. Gleichzeitig bohren sich ihre Fingernägel fester in mein Fleisch.

»Das ist mein Lieblingssong!«, ruft sie unvermittelt. »Lass uns tanzen!«

Ehe ich michs versehe – oder auch nur reagieren kann –, zieht sie mich mit sich. Wir entfernen uns vom Eingangsbereich, tauchen in der Menge unter und erst am anderen Ende wieder auf der Tanzfläche auf. Viel zu nahe an dem Junggesellinnenabschied, wenn ich das schrille Kreischen richtig deute. Mein Bier habe ich an der Bar stehen lassen, also lege ich jetzt beide Arme um die Unbekannte, die wie ein Wirbelwind in diese Bar geströmt ist. Und plötzlich auch in mein Leben.

Sie ist nicht besonders groß und reicht mir gerade mal bis zum Kinn. Die perfekte Größe, wenn ich sie küssen wollte. Oder um einfach nur mit ihr zu tanzen. Selbst aus der Nähe kann ich ihre Augenfarbe nicht genau ausmachen und verfluche in Gedanken die beschissene Beleuchtung hier drinnen. Aus irgendeinem Grund ist es mir wichtig, das herauszufinden. Dabei weiß ich noch nicht mal ihren Namen, ganz zu schweigen davon, wer sie überhaupt ist und wo sie auf einmal herkommt. Oder warum sie mir praktisch in die Arme gesprungen ist. Nicht, dass ich mich deswegen beschweren würde.

Während wir uns zum aktuellen Song bewegen, wandert ihr Blick zurück, als würde sie erwarten, dass der aufdringliche Kerl gleich am Rande der Tanzfläche auftaucht. Unbewusst ziehe ich sie ein Stück näher an mich und drehe uns so, dass ich mich zwischen ihr und der Bar befinde. Bei der Bewegung reißt sie den Blick davon los und sieht mich wieder direkt an. Ich beuge mich zu ihrem Ohr hinunter, damit sie mich über die Musik hinweg verstehen kann.

»Kennst du den Typen?«

Sie atmet scharf ein. Dabei streift ihre Brust unweigerlich meinen Oberkörper und hinterlässt ein heißes Prickeln auf meiner Haut.

»Ich …«, beginnt sie, wird jedoch von den lauten Stimmen und dem plötzlichen Handgemenge direkt an der Bar unterbrochen. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Darlene ihrer Security anzeigt, sich sofort darum zu kümmern.

Das scheint die Unbekannte jedoch nicht zu beruhigen. Vielleicht hat sie es aber auch nicht bemerkt. Ihre Pupillen weiten sich, und ohne darüber nachzudenken, löse ich mich von ihr, halte ihre Hand aber weiterhin fest. Kurz sehe ich mich um. Dunkle Holzbalken grenzen die Tanzfläche von winzigen Nischen und kleinen Räumen mit Sofas und Billardtischen ab. Zielsicher führe ich sie in diese Richtung. Wir schlängeln uns an Tanzenden vorbei, weichen der zukünftigen Braut aus, die mittlerweile einen pinken Schleier auf dem Kopf trägt und gerade lautstark nach Body Shots verlangt, und machen einen Bogen um einen Kellner, der mit einem voll beladenen Tablett zu kämpfen hat. In einer ruhigen Ecke am Rande der Tanzfläche lehnt sich meine Begleitung gegen die Wand, und ich stelle mich schützend vor sie. Mit einer Hand stütze ich mich über ihrem Kopf auf. Prüfend sehe ich zurück, aber der Ärger scheint dort geblieben zu sein, wo er war. Also richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die junge Frau vor mir. Sie muss in meinem Alter sein. Zweiundzwanzig, vielleicht auch etwas jünger. Auf keinen Fall älter. Sie hat die Augen geschlossen und atmet tief durch.

»Alles klar?«, frage ich eine Spur leiser, da die Musik hier hinten nicht so laut ist. Die Holzbalken schirmen uns von der Seite ab, und ich schirme sie mit meinem Körper vor den Blicken aller ab.

Sie öffnet die Augen und nickt. Schluckt leicht. Und dann: »Ich … ich bin eigentlich nur hergekommen, um etwas zu essen, aber dann war da dieser schmierige Typ, der mich angesprochen und einfach nicht lockergelassen hat. Er wollte kein Nein akzeptieren.«

Statt sofort zu antworten, schaue ich mich ein weiteres Mal um, kann im Moment aber keine Bedrohung ausmachen. Wer auch immer der Kerl war, Darlene und ihre Leute haben sich offenbar mittlerweile darum gekümmert. Und ihn hoffentlich vor die Tür gesetzt.

»Ich glaube, er ist weg«, wispert sie, nachdem sie meinem Blick gefolgt ist, und lehnt sich wieder gegen die Wand in ihrem Rücken.

»Sieht ganz danach aus«, bestätige ich und betrachte sie eingehend. Was verschlägt sie überhaupt nach Fairwood? Ihre Kleidung, ihr Verhalten, ihr Akzent und ihre ganze Art geben mir keinen Aufschluss darüber, wo sie herkommen könnte. Nord- oder Südstaaten? Ost- oder Westküste? Groß- oder Kleinstadt? Ich habe nicht die geringste Ahnung. »Nur aus Neugierde: Was lässt dich glauben, dass ich nicht auch so ein Typ bin wie der da vorne?«, hake ich nach, um sie zu testen. Nur ein kleines bisschen.

»Ich weiß es nicht.« Sie sieht mich offen an und befeuchtet sich die Lippen. Mein Blick folgt dieser winzigen Bewegung, und die Temperatur in der Bar steigt um ein paar Grade. »Bist du es?«

Scheiße, nein. Aber jetzt wird mir überdeutlich bewusst, dass ich recht hatte. Mit diesem Mund kann sie einen wirklich auf völlig andere Ideen bringen …

Keiner von uns sagt ein Wort. Mein Puls rast noch immer, und mir fällt auf, dass ich viel zu dicht vor ihr stehe. Doch statt mich von ihr wegzubewegen, lehne ich mich unwillkürlich noch ein paar Zentimeter näher zu ihr.

Ihre Wangen röten sich. Huh. Damit habe ich nicht gerechnet. Bis eben hat sie einen selbstbewussten Eindruck auf mich gemacht – schließlich kostet es eine Menge Mut, einen Fremden in einer solchen Situation anzusprechen. Und sie konnte ja überhaupt nicht wissen, ob ich nicht genauso ein schmieriger Kerl bin wie der, der sie nicht in Ruhe gelassen hat. Jetzt wirkt sie auf einmal unentschlossen, beißt sich auf die vollen Lippen und sieht zur Seite. Die Hände hat sie neben sich gegen die Wand gepresst. Sie schiebt mich nicht weg, zieht mich aber auch nicht an sich.

Verdammt. Hier stehe ich vor einer Frau, von der ich nicht mal den Namen weiß, und kann an nichts anderes denken, außer daran, sie zu küssen. Shit, wem mache ich hier etwas vor – das war mein erster Gedanke, seit ich sie aus nächster Nähe gesehen habe. Und als sie mich wieder anschaut, bin ich mir ziemlich sicher, den gleichen Tumult in ihren Augen lesen zu können, der gerade auch in mir tobt.

Ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick. Definitiv nicht. Aber Anziehung auf den ersten Blick? Oh ja.

Ich öffne den Mund, um sie endlich nach ihrem Namen zu fragen – aber sie kommt mir zuvor.

»Ich muss los«, ruft sie plötzlich und windet sich aus meinen Armen. »Danke für die Hilfe!«

Genauso schnell, wie sie hier aufgetaucht ist, verschwindet sie wieder in der Menge, und ich bleibe allein in der Nische am Rande der Tanzfläche zurück. Blinzelnd. Verwirrt. Und angetan. Eindeutig angetan.