INHALT

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Eine Einführung
  8. Eine Studie in Smaragdgrün
  9. Der Feentanz
  10. Oktober hat den Vorsitz
  11. Die verborgene Kammer
  12. Verbotene Bräute gesichtsloser Sklaven im geheimen Haus der Nacht grausiger Gelüste
  13. Kies auf der Straße der Erinnerung
  14. Zur Sperrstunde
  15. Zum Wilden Mann werden
  16. Bitterer Kaffeesatz
  17. Andere Leute
  18. Andenken und Schätze
  19. Gustav hat den Frack an
  20. Die wahren Umstände im Fall des Verschwindens von Miss Finch
  21. Strange Little Girls
  22. Harlekin Valentin
  23. Von Löckchen und Schlössern
  24. Susans Problem
  25. Gebrauchsanweisung
  26. Wie ich mich dabei fühle?
  27. Mein Leben
  28. Fünfzehn gemalte Karten aus einem Vampir-Tarot
  29. Fressen und gefressen werden
  30. Virusproduzentenkrupp
  31. Am Ende
  32. Goliath
  33. Tagebuchseiten aus einem Schuhkarton, gefunden in einem Greyhound-Bus, irgendwo zwischen Tulsa, Oklahoma, und Louisville, Kentucky
  34. Wie man sich auf Partys mit Mädchen unterhält
  35. Der Tag, an dem die Untertassen kamen
  36. Sonnenvogel
  37. Aladin erfinden
  38. Der Herr des Tals
  39. Quellennachweis

Über dieses Buch

Die Magie von Geschichten zieht sich wie ein roter Faden durch Neil Gaimans Werk. So auch durch diese Kollektion von Erzählungen und Gedichten, in der ein mysteriöser Zirkus sein Publikum in Angst und Schrecken versetzt, Sherlock Holmes in einem seltsam verzerrten viktorianischen England einen royalen Mord aufklären muss oder eine Gruppe von Feinschmeckern nach der letzten ungekosteten Gaumenfreude forscht. Neil Gaimans erzählerisches Genie und sein beängstigend unterhaltsamer Sinn für schwarzen Humor machen diese Sammlung zu einer Geschenkbox voller Zauber.

Über den Autor

Neil Gaiman hat über 20 Bücher geschrieben und ist mit jedem namhaften Preis ausgezeichnet worden, der in der englischen und amerikanischen Literatur- und Comicszene existiert. Geboren und aufgewachsen ist er in England. Inzwischen lebt er in Cambridge, Massachusetts, und träumt von einer unendlichen Bibliothek.

NEIL GAIMAN

ZERBRECHLICHE

DINGE

GESCHICHTEN UND WUNDER

Übersetzung aus dem Englischen von
Ruggero Leò, Hannes Riffel, Sara Riffel,
Dietmar Schmidt und Karsten Singelmann

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Ray Bradbury, Harlan Ellison und Robert Sheckley,
Meister ihres Fachs

EINE EINFÜHRUNG

Ins Deutsche übertragen von Ruggero Leò

»Ich glaube … ich würde mich lieber an ein Leben erinnern, das ich mit zerbrechlichen Dingen vergeudet habe, statt damit, moralische Verpflichtungen zu meiden.« Diese Worte kamen mir in einem Traum, und nach dem Aufwachen schrieb ich sie auf, ohne zu wissen, was sie bedeuteten oder auf wen sie zutrafen.

Vor etwa acht Jahren wollte ich die in diesem Buch vereinten Erzählungen und Fantasien eigentlich als Kurzgeschichtensammlung herausgeben. Sie sollte den Titel Diese Leute sollten doch wissen, wer wir sind, und merken, dass wir hier sind! tragen, nach der Sprechblase eines Little-Nemo-Comicstrips aus einer Sonntagszeitung (es gibt eine wunderschöne nachkolorierte Fassung der Seite in Art Spiegelmans Buch Im Schatten keiner Türme). Jede Geschichte sollte ihren eigenen zwielichtigen, unzuverlässigen Erzähler haben, der uns seinen Lebensweg schildert, uns mitteilt, wer er ist und dass er in vergangenen Tagen ebenfalls hier war. Ein Dutzend Menschen, ein Dutzend Geschichten. Das war die Idee. Dann kam mir das Leben dazwischen und machte sie zunichte, denn ich schrieb die Kurzgeschichten, die in dieser Ausgabe vereint sind und von denen jede ihre passende Erzählform erhielt. Manche beleuchten Lebensgeschichten aus der Ich-Perspektive, andere hingegen tun das nicht. Eine Geschichte weigerte sich, Gestalt anzunehmen, bis ich beschloss, die Monate des Jahres zum Erzähler zu küren, andere wiederum nahmen kleine, effiziente Eingriffe an der Identität des Erzählers vor, sodass ich sie schließlich in der dritten Person verfassen musste.

Am Ende vereinte ich das Material für die vorliegende Ausgabe und rätselte darüber, wie ich das Werk nennen sollte, nun, da der ursprüngliche Titel nicht mehr passend erschien. Zu diesem Zeitpunkt kam die CD As Smart As We Are von One Ring Zero heraus, auf der die Band die Zeilen singt, die ich aus meinem Traum mitgebracht hatte, und ich fragte mich, was ich wohl mit »zerbrechlichen Dingen« gemeint hatte.

Und dann kam es mir wie ein toller Titel für ein Buch mit Kurzgeschichten vor. Immerhin gibt es so viele zerbrechliche Dinge. Menschen zerbrechen nur allzu leicht, und das gilt auch für Träume und Herzen.

EINE STUDIE IN SMARAGDGRÜN

Diese Erzählung schrieb ich für die Anthologie Schatten über Baker Street, die mein Freund Michael Reaves mit John Pelan herausgab. Michaels Anweisung lautete: »Ich will eine Geschichte, in der Sherlock Holmes in die Welt von H. P. Lovecraft eintaucht.« Ich willigte zwar ein, ein Abenteuer beizusteuern, hegte jedoch den Verdacht, dass das Setting wenig verheißungsvoll war: Immerhin ist die Welt von Sherlock Holmes höchst rational und ergötzt sich am Lösen von Rätseln, wohingegen Lovecrafts literarische Schöpfung das gänzlich Irrationale in den Vordergrund rückt, eine Welt, in der Geheimnisse zwingend nötig sind, damit die Menschheit nicht den Verstand verliert. Wenn ich eine Geschichte schreiben wollte, die diese beiden Elemente vereint, musste ich einen spannenden Ansatz finden, der sowohl Lovecraft als auch Sir Arthur Conan Doyle gerecht würde.

Als Junge begeisterten mich die Wold-Newton-Geschichten von Philip José Farmer, in denen er Dutzende verschiedene Romanfiguren in eine stimmige Welt setzt. Mit großem Vergnügen beobachtete ich, wie meine Freunde Kim Newman und Alan Moore ihre eigenen Welten in der Tradition von Wold Newton schufen, der eine in den Anno-Dracula-Romanen, der andere mit seiner Liga der außergewöhnlichen Gentlemen. Es sah aus, als würde es Spaß machen. Ich fragte mich, ob ich mich an so etwas versuchen sollte.

Als ich die ersten Zeilen schrieb, hatte ich die Zutaten der Geschichte im Hinterkopf bereits auf eine Weise kombiniert, die mir besser gefiel als zunächst erhofft. (Ein Buch zu schreiben lässt sich in vielerlei Hinsicht mit Backen vergleichen. Manchmal geht der Kuchen nicht auf, ganz gleich was du tust, und ab und zu ist er viel köstlicher als in deinen kühnsten Träumen.)

Eine Studie in Smaragdgrün gewann im August 2004 den Hugo Award in der Kategorie »Beste Kurzgeschichte«, worauf ich bis heute sehr stolz bin. Zudem spielte die Geschichte eine tragende Rolle dabei, dass ich mich im Jahr darauf auf geheimnisvolle Weise in der Literaturgesellschaft der Baker Street Irregulars wiederfand.

DER FEENTANZ

Kein bemerkenswertes Gedicht, wirklich nicht, aber es macht großen Spaß, es laut vorzulesen.

OKTOBER HAT DEN VORSITZ

Geschrieben für Peter Straub, Mitherausgeber der bemerkenswerten Conjunctions-Ausgabe. Das Ganze nahm einige Jahre zuvor seinen Anfang, auf einer Convention in Madison, Wisconsin, auf der Harlan Ellison mich bat, mit ihm eine Kurzgeschichte zu schreiben. Wir saßen hinter einer Seilabsperrung, Harlan an seiner Schreibmaschine, ich an meinem Laptop. Ehe wir uns ans Werk machten, musste Harlan ein Vorwort vollenden, und während er dies tat, verfasste ich die ersten Zeilen für Oktober hat den Vorsitz und zeigte sie ihm. »Nö. Liest sich wie eine Neil-Gaiman-Story«, sagte er. (Also legte ich sie beiseite und schrieb eine neue Geschichte, an der Harlan und ich seither immer wieder arbeiten. Jedes Mal, wenn wir uns treffen und daran feilen, wird sie bizarrerweise kürzer.) So hatte ich also einen unvollendeten Text auf der Festplatte. Einige Jahre später lud mich Peter ein, für Conjunctions zu schreiben. Ich wollte eine Geschichte über einen toten und einen lebenden Jungen erzählen, als eine Art Trockenübung für ein Kinderbuch, das mir vorschwebte (es heißt Das Graveyard-Buch, und ich arbeite gerade daran). Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, wie die Geschichte funktionierte, und als sie fertig war, widmete ich sie Ray Bradbury, der sie viel besser hinbekommen hätte als ich.

2003 gewann sie den Locus Award in der Kategorie »Beste Kurzgeschichte«.

DIE VERBORGENE KAMMER

Nahm ihren Anfang mit der Anfrage zweier Herausgeberinnen – den beiden Nancys Kilpatrick und Holder –, die etwas im »Gothic«-Stil für ihre Anthologie Outsiders haben wollten. Die Geschichte von Blaubart in all seinen Varianten ist für mich das, was »Gothic« am nächsten kommt, daher schrieb ich ein Blaubart-Gedicht, das in dem fast leeren Haus spielte, in dem ich gerade wohnte. Grausfährlich ist das, was Humpty Dumpty ein »Kofferwort« nannte, denn es umfasst die Bedeutungsebenen von grausig bis gefährlich.

VERBOTENE BRÄUTE GESICHTSLOSER SKLAVEN IM GEHEIMEN HAUS DER NACHT GRAUSIGER GELÜSTE

Ich begann diese Geschichte mit Bleistift zu schreiben, in einer windigen Winternacht im Warteraum zwischen den Gleisen fünf und sechs am Bahnhof East Croydon, kurz vor meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Als sie fertig war, tippte ich sie ab und zeigte sie einigen Redakteuren, die ich kannte. Einer davon schnaubte und meinte, das sei nicht sein Ding, und er glaube auch nicht, dass es überhaupt jemandes Ding wäre. Ein anderer las sie, sah mich mitleidig an und sagte, sie würde wohl niemals gedruckt werden, und zwar weil sie drolliger Unfug sei. Ich legte sie beiseite und war froh, dass mir die öffentliche Blamage erspart blieb und nicht noch mehr Leute sie lesen und scheußlich finden würden.

Die Geschichte blieb ungelesen, wanderte im Laufe von zwanzig Jahren vom Ordner in einen Karton, in eine Lagerkiste, vom Büro zum Keller und schließlich auf den Dachboden, und immer, wenn ich an sie dachte, war ich erleichtert, dass sie nie gedruckt worden war. Eines Tages bat man mich um einen Beitrag für eine Anthologie namens Gothic!, und mir fiel das Manuskript auf dem Dachboden ein. Ich ging hoch und suchte es. Vielleicht enthielt es ja etwas, was ich retten könnte.

Ich las die Verbotenen Bräute und musste lächeln. Ich kam zu dem Schluss, dass die Geschichte wirklich ziemlich lustig war – und auch klug. Eine hübsche kleine Erzählung. Bei den meisten holprigen Stellen handelte es sich um typische Anfängerfehler, die sich allesamt leicht beheben ließen. Ich packte den Computer aus und schrieb eine zweite Fassung der Geschichte, zwanzig Jahre nach der ersten, kürzte den Titel auf seine gegenwärtige Form und schickte sie an den Herausgeber. Ein Rezensent hielt sie für drolligen Unfug, doch das war anscheinend eine Einzelmeinung, denn Verbotene Bräute erschien in einigen Anthologien, die die besten Geschichten des Jahres enthielten, und wurde 2005 bei den Locus Awards zur besten Kurzgeschichte gewählt.

Ich weiß nicht genau, was wir daraus lernen können. Vielleicht zeigst du manchmal deine Geschichten einfach den falschen Leuten, und vielleicht sind Geschmäcker einfach verschieden. Von Zeit zu Zeit frage ich mich, was sonst noch in den Kisten auf dem Speicher schlummert.

GUSTAV HAT DEN FRACK AN /
KIES AUF DER STRASSE DER ERINNERUNG

Zu der einen Geschichte hat mich eine Statue von Lisa Snellings-Clark inspiriert: Sie stellt einen Mann dar, der einen Kontrabass hält, genau wie ich als Kind; die andere verfasste ich für eine Anthologie mit wahren Geistergeschichten. Die meisten Autoren schrieben erfreulichere Geschichten als ich, obwohl meine den unerfreulichen Vorteil hat, absolut wahr zu sein. Beide Geschichten wurden erstmals 2002 von NESFA Press veröffentlicht, in Adventurers in the Dream Trade, einem Sammelsurium von Vorworten, Kurztexten und dergleichen.

ZUR SPERRSTUNDE

Michael Chabon gab ein Buch mit Genretexten heraus, um zu zeigen, wie viel Freude Geschichten bereiten können, und um Geld für »826 Valencia« zu sammeln, eine Organisation, die Kinder fürs Schreiben begeistern will. (Das Buch erschien unter dem Titel Mc Sweeney’s Mammoth Treasury of Thrilling Tales.) Er fragte mich, ob ich eine Geschichte beisteuern würde, und ich erkundigte mich, ob ihm noch ein spezielles Genre fehle. Es gab eins; er wollte eine Geistergeschichte in der Tradition von M. R. James.

Also machte ich mich daran, eine richtige Geistergeschichte zu schreiben, doch das Ergebnis zeugt viel mehr von meiner Liebe für die Strange Stories von Robert Aickman als für die von James (außerdem stellte sich heraus, dass es auch eine Club-Geschichte ist, sodass er zwei Genres zum Preis von einem bekam). Zur Sperrstunde erschien in einigen Anthologien, die die besten Geschichten des Jahres sammelten, und erhielt den Locus Award für die beste Kurzgeschichte 2004.

Alle Schauplätze der Erzählung sind echt, allerdings habe ich manche Namen geändert. So hieß etwa der Diogenes-Club eigentlich Troy-Club und lag in der Hanway Street. Manche Figuren und Ereignisse beruhen ebenfalls auf Tatsachen und sind wahrer, als man vermuten würde. Während ich diese Zeilen hier verfasse, frage ich mich, ob das kleine Theater, das auf Besucher wartete, noch existiert oder ob es abgerissen wurde und inzwischen Häuser auf dem Grundstück stehen. Ich gebe zu, ich verspüre kein Verlangen, mich persönlich davon zu überzeugen.

ZUM WILDEN MANN WERDEN

Ein Wilder Mann ist eine Figur des Volksglaubens. Das Gedicht schrieb ich für die Anthologie The Green Man von Terri Windling und Ellen Datlow.

BITTERER KAFFEESATZ

2002 verfasste ich vier Kurzgeschichten, und diese war vermutlich die beste von ihnen, auch wenn sie keinen Preis gewann. Ich schrieb sie für die Anthologie mit dem Titel Mojo: Conjure Stories, die meine Freundin Nalo Hopkinson herausgab.

ANDERE LEUTE

Ich weiß nicht mehr, wo ich war oder zu welchem Zeitpunkt mir die Idee für diese kleine Möbius-Geschichte kam. Ich entsinne mich, wie ich den ersten Entwurf skizzierte und die erste Zeile formulierte, woraufhin ich mich fragte, ob die Idee wirklich von mir stammte. Sie erinnerte mich vage an eine Geschichte, die ich als Junge gelesen hatte, vielleicht von Fredric Brown oder Henry Kuttner? Es kam mir vor, als habe jemand anders die Idee gehabt, sie war zu elegant, zu ausgefallen und vollständig, und das weckte mein Misstrauen.

Etwa ein Jahr später langweilte ich mich im Flugzeug und stieß auf meine Notizen zu der Geschichte, und da ich meine Zeitschrift ausgelesen hatte, schrieb ich sie einfach nieder; sie war fertig, ehe der Flieger landete. Dann rief ich eine Handvoll fachkundiger Freunde an, las sie ihnen vor und fragte, ob sie ihnen bekannt vorkäme, ob einer von ihnen sie schon einmal gelesen habe. Sie verneinten die Frage. Normalerweise schreibe ich Kurzgeschichten auf Anfrage, und nun hatte ich zum ersten Mal im Leben eine, auf die niemand wartete. Ich schickte sie Gordon Van Gelder, der für das Magazine of Fantasy and Science Fiction arbeitete. Er stimmte der Veröffentlichung zu und gab ihr einen anderen Titel, womit ich kein Problem hatte. (Ich hatte sie Afterlife genannt.)

Ich arbeite oft im Flugzeug. Als ich mit American Gods begann, schrieb ich auf dem Flug nach New York eine Geschichte und war mir sicher, sie in den Roman einbauen zu können, doch letztlich passte sie nicht so recht hinein. Am Ende, als der Roman ohne die Geschichte fertiggestellt war, verwendete ich sie für eine Weihnachtskarte, verschickte und vergaß sie. Hill House Press, die extrem schöne limitierte Ausgaben meiner Werke herausgeben, nutzte den Text einige Jahre später für eine eigene Weihnachtskarte, die an ihre Abonnenten ging.

Sie hatte nie einen Titel. Nennen wir sie

DER KARTOGRAF

Am besten erklärt man eine Geschichte, indem man sie erzählt. Verstehst du? Die beste Methode, eine Geschichte zu erklären – ob sich selbst oder der Welt –, besteht darin, sie zu erzählen. Das ist Balanceakt und Traum zugleich. Je genauer die Karte, desto besser gibt sie das Gelände wieder. Die akkuratesten Karten sind das Gelände selbst und als solche makellos genau und völlig nutzlos.

Die Geschichte ist die Karte, die wiederum das Gelände ist.

Das musst du dir merken.

Vor fast zweitausend Jahren gab es in China einen Kaiser, der von der Vorstellung besessen war, sein Reich zu kartografieren. Er ließ ein Miniaturmodell von China bauen auf einer Insel, die auf seinen Befehl hin in einem See im kaiserlichen Territorium aufgeschüttet worden war, was nicht nur sehr viel Geld, sondern auch so manches Leben gekostet hatte (denn das Wasser war tief und kalt). Auf dieser Insel hatte jeder Berg die Größe eines Maulwurfshügels, und jeder Fluss glich einem winzigen Rinnsal. Es kostete den Kaiser eine halbe Stunde, um seine Insel einmal zu umrunden.

Jeden Morgen, im fahlen Licht vor Sonnenaufgang, wateten und schwammen hundert Männer zur Insel und reparierten sorgsam alle Schäden, die das Modell durch Wetter, Wildvögel oder den See genommen hatte; zudem entfernten oder passten sie Abschnitte an, die im echten China durch Überschwemmungen, Erdbeben oder Erdrutsche verwüstet worden waren, um die Miniatur stets so aktuell wie möglich zu halten.

Der Kaiser war damit zufrieden, doch nach fast einem Jahr gefiel ihm seine Insel immer weniger, und so schmiedete er vor dem Einschlafen Pläne für eine neue Karte, die sein Herrschaftsgebiet im Maßstab eins zu hundert darstellen sollte. Jede Hütte, jedes Haus und jede Halle, jeder Baum, Hügel und jedes wilde Tier sollte genau ein Hundertstel so groß wie im echten Leben nachgestellt werden.

Das war ein großer Plan, der die kaiserliche Reichskasse fast alle Steuereinnahmen kosten würde. Man brauchte dazu mehr Arbeiter, als man sich vorzustellen vermochte, Leute zum Kartografieren, Leute zum Vermessen, Gutachter, Volkszähler und Maler; man suchte Modellbauer, Töpfer, Bauarbeiter und Handwerker. Sechshundert professionelle Träumer wären vonnöten, um die Natur der Dinge zu offenbaren, die sich unter den Baumwurzeln, in den tiefsten Berghöhlen und in den Fluten des Meeres verbargen, denn wenn die Karte irgendeinen Nutzen haben sollte, musste sie das sichtbare Kaiserreich ebenso abbilden wie das unsichtbare.

So war der Plan des Kaisers.

Sein Minister zur Rechten bemängelte dies, als sie eines Nachts durch den Palastgarten flanierten, unter einem großen, goldenen Mond.

»Ihr müsst wissen, Kaiserliche Hoheit«, sagte der Minister zur Rechten, »Euer Vorhaben ist …« Ihn verließ der Mut, und er stockte. Ein bleicher Karpfen durchbrach die Wasseroberfläche, wodurch die Reflexion des goldenen Mondes in hundert tanzende Fragmente zersprang, ein jedes von ihnen ein eigener winziger Mond, die alle zu einem goldenen Kreis reflektierten Lichts auf dem Wasser verschmolzen, das die Farbe des Nachthimmels aufwies, ein so leuchtendes Lila, dass man es nie mit Schwarz hätte verwechseln können.

»Unmöglich?«, fragte der Kaiser sanft. Wenn Kaiser und Könige besonders sanft reden, sind sie am gefährlichsten.

»Nichts, was der Kaiser sich wünscht, könnte man je als unmöglich erachten«, sagte der Minister zur Rechten. »Gleichwohl wird es ein kostspieliges Unterfangen. Mit dem Bau dieser Karte leert Ihr die kaiserliche Schatzkammer. Städte und Bauernhöfe müssten weichen, um das nötige Land dafür bereitzustellen. Auf diese Weise hinterlasst Ihr Euren Erben ein Land, das sich aufgrund des Geldmangels nicht mehr regieren ließe. Ich verstieße gegen meine Pflicht als Euer Berater, würde ich Euch nicht davor warnen.«

»Vielleicht habt Ihr recht«, erwiderte der Kaiser. »Vielleicht. Aber falls ich auf Euch höre und meine Weltkarte verwerfe, mein Vorhaben aufgebe, würde das mein Dasein und meinen Geist quälen, es würde mir den Geschmack des Essens und des Weines im Munde vergällen.«

Dann stockte er. Weit entfernt in den Gärten hörten sie eine Nachtigall singen.

»Aber dieses Kartenland ist erst der Anfang«, bekannte der Kaiser. »Denn noch während wir es errichten, wird mich wieder die Sehnsucht packen und dazu antreiben, mein wahres Meisterwerk zu planen.«

»Und wie sieht das aus?«, fragte der Kanzler zur Rechten in mildem Ton.

»Eine Karte der Kaiserlichen Reiche«, antwortete der Kaiser, »die jedes Haus in Originalgröße wiedergibt und jeden Berg durch einen Berg darstellt, auf der jeder Baum so hoch ist wie ein Baum, ein Fluss so lang wie ein Fluss und ein Mensch so groß wie ein Mensch.«

Der Kanzler zur Rechten verneigte sich tief im Mondlicht, und auf dem Rückweg zum kaiserlichen Palast hielt er respektvoll einige Schritte Abstand zum Herrscher und war tief in Gedanken versunken.

Laut den Geschichtsbüchern starb der Kaiser im Schlaf, und das stimmt auch so weit – gleichwohl könnte man anmerken, dass sein Tod nicht ganz von selbst eintrat; und sein ältester Sohn, der den Kaiserthron erbte, interessierte sich kaum für Karten oder Kartografie.

Die Insel im See wurde zu einer Zuflucht für allerlei Arten von Wild- und Wasservögeln, und kein Mensch verscheuchte sie je. Sie pickten die Erdberge ab, um sich daraus Nester zu bauen, und der See trug den Strand der Insel ab, bis sie mit der Zeit verschwunden und vergessen war und nur noch der See übrig blieb.

Die Karte war fort, ebenso der Kartograf, doch das Land lebte weiter.

ANDENKEN UND SCHÄTZE

Diese Geschichte erblickte mit dem Untertitel »Eine Liebesgeschichte« das Licht der Welt, als Comic, zumindest teilweise. Ich schrieb sie für Oscar Zárates Noir-Sammlung It’s Dark in London, illustriert von Warren Pleece. Warren hat fantastische Arbeit geleistet, aber ich war nicht zufrieden mit der Geschichte und fragte mich, wie der Mann, der sich selbst Smith nannte, zu dem geworden war, was er war. Al Sarrantonio bat mich um einen Beitrag für seine 999-Anthologie, und ich fand es interessant, Mr Smith, Mr Alice und ihre Geschichte noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Die beiden tauchen auch in einer anderen Geschichte dieser Sammlung auf.

Ich glaube, es gibt noch mehr Geschichten über den unangenehmen Mr Smith zu erzählen, vor allem die, in der er und Mr Alice am Scheideweg stehen.

DIE WAHREN UMSTÄNDE IM FALL DES VERSCHWINDENS VON MISS FINCH

Diese Geschichte kam zustande, weil mich jemand bat, eine Geschichte zu dem Gemälde von Frank Frazetta zu schreiben, auf dem eine wilde Frau von zwei Tigern flankiert ist. Mir fiel keine ein, also erzählte ich stattdessen, was Miss Finch widerfuhr.

STRANGE LITTLE GIRLS

… ist eigentlich eine Zeile aus zwölf sehr kurzen Geschichten für Tori Amos’ CD Strange Little Girls. Inspiriert von Cindy Sherman und den Liedern des Albums, schuf Tori eine Persönlichkeit für jeden Song, und ich schrieb eine entsprechende Geschichte dazu. Sie wurden nie zusammengefasst, nur im Tour-Buch veröffentlicht, und einige Zeilen der Geschichten sind überall im CD-Booklet verstreut.

HARLEKIN VALENTIN

Lisa Snellings-Clark ist eine Plastikerin und Künstlerin, deren Arbeit ich schon seit Jahren schätze. Das Buch mit dem Titel Strange Attraction basiert auf einem Riesenrad, das Lisa geschaffen hat. Viele tolle Autoren schrieben Geschichten über die Insassen in den Wagen, und man bat mich, eine zu ersinnen, die um den Ticketverkäufer kreiste, einen grinsenden Harlekin.

Also schrieb ich sie.

Im Großen und Ganzen schreiben sich Geschichten nicht von selbst, doch bei dieser weiß ich nur noch, wie ich auf den ersten Satz kam. Danach war der Schreibprozess eher so, als hätte mir jemand diktiert, wie Harlekin fröhlich durch den Valentinstag tanzt und tollt.

Harlekin ist eine Trickster-Figur der Commedia dell’arte, ein unsichtbarer Schelm mit Maske, magischem Stab und kariertem Kostüm. Er liebt Kolumbine und verfolgt sie in jeder Aufführung, wobei er auf klassische Figuren wie den Doktor und den Clown stößt und jede Person manipuliert, der er begegnet.

VON LÖCKCHEN UND SCHLÖSSERN

Goldlöckchen und die drei Bären ist eine Geschichte des Poeten Robert Southey. Eigentlich ist das nicht ganz zutreffend – in seiner Version trifft eine alte Frau auf die drei Bären. Form und Handlung der Erzählung war dieselbe, aber den Leuten war klar, dass sie um ein kleines Mädchen kreisen sollte statt um eine alte Frau, und bei ihren Nacherzählungen tauschten sie die Figuren aus.

Natürlich sind Märchen übertragbar. Man fängt sie sich ein oder wird von ihnen infiziert. Wir teilen sie mit jenen, die vor uns auf dieser Welt wandelten. (Wenn ich meinen Kindern Geschichten erzähle, die mir schon meine Eltern und Großeltern erzählt haben, gibt mir das das Gefühl, Teil von etwas Besonderem und Seltsamem zu sein, zum kontinuierlichen Strom des Lebens selbst zu gehören.) Meine Tochter Maddy war zwei, als ich das Gedicht für sie schrieb. Jetzt ist sie elf, und wir erfreuen uns noch immer gemeinsam an Geschichten, aus Fernsehsendungen oder Filmen. Wir lesen die gleichen Bücher und tauschen uns darüber aus, aber ich lese sie ihr nicht mehr vor, und selbst das war ein armseliger Ersatz dafür, Geschichten für sie selbst zu erfinden.

Ich glaube, wir schulden es einander, uns Geschichten zu erzählen. Und das kommt einem Credo, zu dem ich mich jetzt und in Zukunft bekenne, wohl am nächsten.

SUSANS PROBLEM

Der vom Hotel verständigte Arzt teilte mir mit, warum mein Hals so wehtat, warum ich mich übergeben musste und unter Schmerzen und Verwirrung litt: Ich hatte die Grippe. Er erstellte eine Liste mit Schmerzmitteln und Muskelrelaxanzien, die mir seiner Meinung nach Linderung verschaffen würden. Ich wählte ein Schmerzmittel aus und wankte in mein Hotelzimmer zurück, wo ich gleich einschlief, unfähig zu denken oder den Kopf zu heben. Am dritten Tag rief mich mein Hausarzt an, den meine Assistentin Lorraine alarmiert hatte. »Ich erstelle ungern Diagnosen am Telefon, aber Sie haben Meningitis«, sagte er, und er hatte recht.

Es dauerte noch einige Monate, bis ich genug bei Sinnen war, um wieder zu schreiben, und diese Geschichte war mein erster Versuch, etwas Fiktives zu Papier zu bringen. Es kam mir vor, als müsste ich das Laufen neu erlernen. Ich verfasste den Text für Al Sarrantonios’ Flights, eine Anthologie mit Fantasygeschichten.

Als Junge las ich die Narnia-Bücher Hunderte Male, und später, als Erwachsener, las ich sie meinen Kindern zweimal vor. In den Romanen steckt so viel, was ich mag, aber jedes Mal erschien mir die Art, wie Susan aus der Handlung gestrichen wurde, höchst problematisch und irritierend. Ich nehme an, ich wollte eine Geschichte schreiben, die ebenso problematisch und nicht minder irritierend war, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel, um auf die bemerkenswerte Macht von Kinderliteratur aufmerksam zu machen.

GEBRAUCHSANWEISUNG

Meine letzte Anthologie Die Messerkönigin enthält zwar einige Gedichte, sollte aber ursprünglich nur aus Prosatexten bestehen. Letztlich entschied ich mich, doch Gedichte einzufügen, vor allem weil ich dieses hier so mag. Falls du zu den Leuten gehörst, die keine Gedichte mögen, tröstet dich vielleicht die Tatsache, dass sie – wie diese Einführung – kostenlos sind. Du müsstest für das Buch dasselbe ausgeben, ob sie nun enthalten sind oder nicht, und niemand zahlt mir einen Zuschlag für sie. Manchmal ist es nett, ein Buch zur Hand zu nehmen, etwas Kurzes zu lesen und es wieder wegzulegen, genau wie es mitunter interessant ist, ein wenig über den Hintergrund der Geschichte zu erfahren, ohne sie dafür kennen zu müssen. (Und auch wenn ich quälend glückliche Wochen damit zubrachte, die Reihenfolge der Texte für diese Ausgabe festzulegen, wie ich sie am besten anordnen und sortieren sollte, kannst – und solltest – du sie in jeder beliebigen Abfolge lesen, die dir gefällt.)

Dieses Gedicht ist im wörtlichen Sinne eine Gebrauchsanweisung für Märchen, für den Fall, dass du dich in einem wiederfindest.

WIE ICH MICH DABEI FÜHLE?

Man bat mich, eine Geschichte für eine Anthologie zu schreiben, die um Gargoyles kreiste, und als die Deadline nahte, stellte ich fest, dass mir keine Idee kommen wollte.

Gargoyles, so dachte ich, setzte man auf Kirchen und Kathedralen, zu deren Schutz. Ich fragte mich, ob ein Gargoyle auch etwas anderes bewachen könnte. Zum Beispiel ein Herz …

Ich habe diese Geschichte nun erstmals seit acht Jahren gelesen, und die Sexszene hat mich ein wenig überrascht, aber das liegt vermutlich daran, dass ich mit dem Text generell unzufrieden bin.

MEIN LEBEN

Diesen seltsamen kurzen Monolog schrieb ich für eine Fotografie, auf der ein Strumpfäffchen zu sehen ist. Sie befindet sich in einem Buch mit zweihundert Fotos von Sockenaffen, gemacht von Fotograf Arne Svenson, und trägt den wenig überraschenden Titel Sock Monkeys. Das Strumpfäffchen auf dem Bild, das man mir gab, sah aus, als hätte es eher ein hartes Leben gehabt, aber ein interessantes.

Eine langjährige Freundin von mir hatte gerade angefangen, für die satirische Weekly World News zu schreiben, und es bereitete mir viel Freude, mir Geschichten für sie auszudenken. Ich fragte mich, ob es irgendwo dort draußen jemanden gab, der eine Art von Weekly-World-News-Leben führte. In Sock Monkeys erschien meine Erzählung als Prosatext, aber mir gefällt sie besser mit Zeilenumbrüchen. Ich bezweifle nicht, dass sie, genug Alkohol und einen wohlwollenden Zuhörer vorausgesetzt, endlos weitergehen könnte. (Gelegentlich fragen Leute über meine Website an, ob sie den Text oder andere Werke von mir für Castings verwenden dürfen. Ich habe nichts dagegen.)

FÜNFZEHN GEMALTE KARTEN AUS EINEM VAMPIR-TAROT

Noch sieben Geschichten müssen für die großen Arkana verfasst werden, und ich habe dem Künstler Rick Berry versprochen, dass ich sie eines Tages schreibe, und dann kann er sie malen.

FRESSEN UND GEFRESSEN WERDEN

Diese Geschichte stammt aus einem Albtraum, den ich hatte, als ich in den Zwanzigern war.

Ich liebe Träume. Ich weiß genug über sie, um zu wissen, dass Traumlogik nicht mit narrativer Logik gleichzusetzen ist und dass man einen Traum nur selten in eine Geschichte umwandeln kann: Erwacht man aus Träumen, verwandelt sich Gold in Laub und Seide in Spinnweben.

Trotzdem kann man manche Dinge von dort mitbringen: die Atmosphäre, Momente, Leute, ein Thema. Aus meinem Albtraum hingegen brachte ich zum ersten und einzigen Mal eine ganze Geschichte mit.

Ich schrieb sie zunächst als Comic, illustriert von dem vielseitig talentierten Mark Buckingham, und später versuchte ich, sie mir als Entwurf für einen pornografischen Horrorfilm vorzustellen, den ich nie drehen würde (eine Erzählung mit dem Titel »Gefressen: Szenen eines Films«). Vor einigen Jahren fragte mich dann der Herausgeber Steve Jones, ob ich eine zu Unrecht vergessene Geschichte aus meinem Fundus zum Leben erwecken wolle, für seine Anthologie Keep Out the Night. Mir fiel diese Geschichte ein, und ich krempelte die Ärmel hoch und begann zu tippen.

Schopf-Tintlinge sind in der Tat köstliche Pilze, aber sie zerfließen nach dem Pflücken allmählich zu einer unangenehmen, schwarzen, tintigen Substanz, daher sieht man sie nie im Gemüseregal.

VIRUSPRODUZENTENKRUPP

Man bat mich, einen Eintrag für ein Buch über erfundene Krankheiten zu verfassen (The Thackery T. Lambshead Pocket Guide to Eccentric and Discredited Diseases, herausgegeben von Jeff VanderMeer und Mark Roberts). Mir gefiel die Idee, eine Krankheit zu erfinden, die dazu führt, dass man Krankheiten erfindet. Ich schrieb sie mithilfe eines Computerprogramms aus grauer Vorzeit namens Babble und eines verstaubten Lederbands mit Ratschlägen für den Hausarzt.

AM ENDE

Mein Versuch, das allerletzte Buch der Bibel zu schreiben.

Und was die Namensgebung von Tieren anbelangt, kann ich nur sagen, wie sehr es mich freute zu entdecken, dass das Wort »Yeti« wörtlich übersetzt offenbar »das Ding da drüben« bedeutet.

»Rasch, kühner Himalaja-Führer, was ist das für ein Ding da drüben?«

»Yeti.«

»Verstehe.«

GOLIATH

»Sie wollen eine Geschichte von dir«, sagte mein Agent vor einigen Jahren. »Sie erscheint auf der Website eines Films, der bald herauskommt. Er heißt Matrix. Sie schicken dir ein Skript.« Ich las interessiert das Drehbuch und schrieb diese Geschichte, die etwa eine Woche ehe der Film anlief auf der Website erschien und dort bis heute steht.

TAGEBUCHSEITEN AUS EINEM SCHUHKARTON, GEFUNDEN IN EINEM GREYHOUND-BUS, IRGENDWO ZWISCHEN TULSA, OKLAHOMA, UND LOUISVILLE, KENTUCKY

Der Text entstand vor einigen Jahren für das Scarlet’s-Walk-Tourbuch meiner Freundin Tori Amos, und es freute mich sehr, als man ihn für eine Anthologie mit den besten Geschichten des Jahres aufgriff. Er ist vage von der Musik auf Scarlet’s Walk inspiriert. Ich wollte etwas über Identität und Reisen und Amerika schreiben, wie ein winziges Begleitbuch zu American Gods, in dem alles, einschließlich jeder Art von Auflösung, knapp außer Reichweite bleibt.

WIE MAN AUF PARTYS MÄDCHEN ANSPRICHT

Der Prozess, eine Geschichte zu schreiben, fasziniert mich ebenso wie das Ergebnis. Diese zum Beispiel kam als zweimalig gescheiterter Versuch zur Welt, den Urlaubsbericht eines Touristen zu verfassen, der die Erde besucht. Sie entstand für die in Kürze erscheinende Anthologie mit dem Titel The Starry Rift des australischen Kritikers und Herausgebers Jonathan Strahan. (Diese Story ist nicht darin enthalten; sie erscheint erstmals im vorliegenden Buch. Für Jonathans Sammlung steuere ich eine andere Geschichte bei, hoffe ich.) Die Erzählung, die ich ursprünglich im Sinn hatte, funktionierte nicht; ich hatte nur ein paar Fragmente, die zu nichts führten. Verzweifelt erklärte ich Jonathan in diversen E-Mails, dass er keine Geschichte bekommen würde, jedenfalls nicht von mir, und er antwortete, er hätte gerade die exzellente Story einer Autorin hereinbekommen, die ich bewundere, und sie hätte den Text in vierundzwanzig Stunden geschrieben.

Verärgert nahm ich einen Stift und ein leeres Notizbuch zur Hand und ging zum Pavillon am Ende des Gartens, wo ich im Laufe des Nachmittags diese Geschichte schrieb. Einige Wochen später las ich sie erstmals laut auf einer Benefizveranstaltung vor, im legendären CBGB. Das war die beste Gelegenheit, um eine Geschichte über Punk und 1977 vorzulesen, und das machte mich sehr froh.

DER TAG, AN DEM DIE UNTERTASSEN KAMEN

In einem New Yorker Hotelzimmer verfasst, in der Woche, in der ich das Hörbuch meines Romans Sternwanderer einlas. Ich wartete gerade auf den Wagen, der mich zur Herausgeberin Rain Graves bringen würde, die mich um ein paar Gedichte für ihre Website www.spiderwords.com gebeten hatte. Es freute mich, dass das Gedicht auch funktionierte, wenn man es einem Publikum vorlas.

SONNENVOGEL

Meine älteste Tochter Holly wusste genau, was ich ihr zum achtzehnten Geburtstag schenken sollte. »Ich möchte etwas, das mir niemand sonst je geben kann, Dad. Ich will, dass du mir eine Kurzgeschichte schreibst.« Und weil sie mich so gut kennt, fügte sie hinzu: »Ich weiß, du gibst immer zu spät ab, und ich will dich nicht stressen oder so. Wenn ich sie also bis zu meinem neunzehnten Geburtstag habe, bekommst du keinen Ärger.«

Es gab mal einen Schriftsteller aus Tulsa, Oklahoma (verstorben 2002), der für kurze Zeit die besten Kurzgeschichten der Welt schrieb (Ende der 1960er bis Anfang der 1970er). Sein Name war R. A. Lafferty, und seine Erzählungen passten in keine Schublade, waren schräg und unnachahmlich. Man wusste schon nach dem ersten Satz, dass man eine Lafferty-Geschichte las. Als ich jung war, schrieb ich ihm, und er schrieb mir zurück.

»Sonnenvogel« war mein Versuch, eine Lafferty-Geschichte zu schreiben, und ich habe dabei eine Menge gelernt, vor allem, dass das viel schwerer ist, als man meint. Holly bekam sie erst an ihrem neunzehneinhalbten Geburtstag, als ich gerade mitten im Schreibprozess von Anansi Boys steckte und das Gefühl hatte, verrückt zu werden, wenn ich nicht einen – irgendeinen – Text vollenden würde. Mit ihrer Erlaubnis erschien sie in einem Buch mit extrem langem Titel, der oft verkürzt wird auf Noisy Outlaws, Unfriendly Blobs, and Some Other Things That Aren’t As Scary. Sämtliche Einnahmen gingen an das Literaturprogramm 826 NYC.

Auch wenn du das vorliegende Werk schon besitzt, möchtest du vielleicht eine Ausgabe des Buchs mit dem extrem langen Titel haben, denn es enthält Clement Freuds Geschichte Grimpel.

ALADIN ERFINDEN

Eine Sache verblüfft mich (und ich verwende hier »verblüffen« im Sinne von »zutiefst irritieren«). Manche akademischen Werke über Volks- und andere Märchen – die ich früher gelegentlich las – behaupten, dass niemand diese Märchen verfasst habe. Sie gehen sogar so weit, die Suche nach einem Autor bei Volksmärchen als abwegig zu bezeichnen. Diese Art von Büchern oder Artikeln vermitteln den Eindruck, man sei zufällig auf all diese Geschichten gestoßen oder habe sie in veränderter Form weitergetragen, und jedes Mal denke ich: Stimmt, aber sie alle stammen von irgendwo, aus jemandes Kopf. Denn Geschichten fangen im Kopf an, sie sind weder Artefakte noch Naturphänomene.

Eines der Lehrbücher behauptete sogar, jedes Märchen, in dem eine Figur einschläft, sei auf einen Traum zurückzuführen, den jemand nach dem Erwachen erzählt habe, jemand mit primitivem Denken, der Träume nicht von der Wirklichkeit unterscheiden konnte, und so seien unsere Märchen entstanden – eine Theorie, die von vorn bis hinten löchrig wirkt, denn Geschichten, die überleben und weitererzählt werden, besitzen eine narrative Logik, keine Traumlogik.

Geschichten stammen von Leuten, die sie erfinden. Wenn sie funktionieren, werden sie weitererzählt. Allein darin liegt die Magie.

Die Erzählerin Scheherazade ist erfunden, ebenso ihre Schwester und der mörderische König, den die beiden jede Nacht besänftigen müssen. Tausendundeine Nacht ist ein fiktives Konstrukt. Es besteht aus Geschichten verschiedener Herkunft, und die Erzählung um Aladin zählt zu den jüngeren Texten, die die Franzosen dem Werk erst vor wenigen Jahrhunderten hinzugefügt haben. Was dem widerspricht, was ich eben über den Ursprung jeder Geschichte behauptete. Und doch. Und trotzdem.

DER HERR DES TALS

Eine Geschichte, die allein auf meiner Liebe für die abgelegenen Gegenden Schottlands fußt, wo die Knochen der Erde emporragen, der Himmel blassweiß und die Natur so erstaunlich schön und entlegen ist, wie sie es nur sein kann. Ein guter Ort, um sich wieder mit Shadow zu befassen, zwei Jahre nach den Ereignissen in meinem Roman American Gods.

Robert Silverberg bat mich um eine Novelle für seine zweite Legends-Sammlung. Es war ihm gleich, ob ich sie um Niemalsland oder American Gods kreisen lassen würde. Als ich es mit einer Niemalsland-Novelle versuchte, bereitete sie mir handwerkliche Schwierigkeiten (sie heißt »Wie der Marquis seinen Mantel zurückbekam«, und eines Tages vollende ich sie). Ich begann mit »Der Herr des Tals« in einer Wohnung in Notting Hill, wo ich Regie für einen Kurzfilm namens A Short Film About John Bolton führte, und schloss die Geschichte an einem langen, harten Wintertag ab, in der Hütte am See, in der ich auch jetzt diese Einführung tippe. Meine Freundin Iselin Evensen aus Norwegen erzählte mir als Erste Geschichten über die Hulda und korrigierte mein Norwegisch. Wie Baywolf aus Die Messerkönigin ist die Geschichte von Beowulf inspiriert, und während des Schreibens war ich mir sicher, dass das Drehbuch zu Beowulf, das ich für und mit Roger Avary verfasst hatte, niemals umgesetzt werden würde. Natürlich irrte ich mich, und mir gefällt, wie sehr sich Angelina Jolies Interpretation von Grendels Mutter in Robert Zemeckis Film von der Figur unterscheidet, die hier auftaucht.

Ich möchte den Herausgebern der vielen Werke danken, in denen die hier vereinten Geschichten und Gedichte erstmals erschienen sind, und ganz besonders Jennifer Brehl und Jane Morpeth von meinen Verlagen in den USA und Großbritannien für ihre Hilfe und Unterstützung und vor allem ihre Geduld. Überdies danke ich meiner Literaturagentin, der ehrfurchtgebietenden Merrilee Heifetz und ihrer Gang auf der ganzen Welt.

Während ich diese Zeilen verfasse, fällt mir auf: Das Besondere an den meisten Dingen, die wir für zerbrechlich halten, ist, wie zäh sie eigentlich sind. Als Kinder kannten wir Tricks, mit denen wir Eier erscheinen ließen, als wären sie tragender Marmor, und es heißt, der Schlag eines Schmetterlingsflügels am rechten Ort kann jenseits des Ozeans einen Hurrikan auslösen. Herzen können brechen, zugleich aber sind Herzen die stärksten Muskeln, die ein Leben lang ohne nennenswerte Aussetzer schlagen können, siebzigmal pro Minute. Selbst Träume, die zartesten und ungreifbarsten aller Dinge, sind mitunter bemerkenswert schwer totzukriegen.

Geschichten sind, so wie Menschen und Schmetterlinge, Singvogeleier, Herzen und Träume, ebenfalls zerbrechliche Dinge; sie bestehen aus nichts Belastbarem, lediglich aus sechsundzwanzig verschiedenen Buchstaben und einer Handvoll Satzzeichen. Oder sie sind Worte in der Luft, gebildet aus Lauten und Ideen – abstrakt, unsichtbar und nach dem Aussprechen wieder verschwunden –, und was könnte zerbrechlicher sein als das? Doch manche Erzählungen, kurze, schlichte, in denen Leute ein Abenteuer erleben oder Wunder bewirken, Geschichten über Mirakel und Monster, haben die Menschen überlebt, die sie erzählten, und manche davon haben sogar die Länder überdauert, in denen sie erfunden wurden.

Obwohl ich nicht glaube, dass auch nur eine Geschichte des vorliegenden Buchs das schafft, ist es schön, sie in diesem Band zu vereinen, ihnen eine Heimat zu geben, wo sie gelesen werden und in Erinnerung bleiben können. Ich hoffe, sie gefallen euch.

Neil Gaiman

Am ersten Frühlingstag 2006