Was ist mit den Amis los?
Über unser zwiespältiges Verhältnis zu den USA
Für Zofia
Neuausgabe
Titel der Originalausgabe: Was ist mit den Amis los? Warum sie an Barack Obama hassen, was wir lieben
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Kathrin Keienburg-Rees
Umschlagmotiv: © korinoxe – Fotolia.com
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-80753-4
ISBN (Buch) 978-3-451-31258-8
Inhalt
Vorwort
Die Idee zu diesem Buch
Amerikaner sind ein anderer Stamm
Crashkurs Alltag in Amerika
Amerikaner kommen vom Mars, Europäer von der Venus
Von der Freiheit, versichert oder nicht versichert zu sein
Wo Krankheit den Ruin bedeuten kann
In Michelle Obamas Krankenhaus
Vertrauenskrise durch die Geheimdienste
Abhören geht gar nicht? Geht doch!
Beklagen statt aufklären
Der NSA-Skandal diskreditiert den Freihandel
Chlorhühnchen und gierige US-Anwälte
Was stimmt, was stimmt nicht?
Berg- und Talfahrt mit Obama
Ein Name, zwei Präsidentschaften
Reformerfolg und Ansehensverfall
Mogeln bei den Treibhausgasen
Obamas Weihnachtsgeschenk
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Färbt der Präsident die Haare?
Doppelte Enttäuschung, verschiedene Ursachen
Wünscht sich Amerika die Republikaner zurück?
Der Staat ist für Amerikaner das Problem, für Deutsche die Lösung
Solidarität mit den Reichen
Weg mit dem Bildungsministerium
Das Erbe der Tea Party
Konsumlust versus schlechtes Gewissen
Der Retter und sein Dämon
Die Regierung als guter Kapitalist
Der Staat als Krisengewinnler
It’s the Economy, Stupid
Der Klempner kennt den Hypothekenzins
Reichtum hilft, reicht aber nicht
Die Trägheit nach der Katastrophe
Vorbild Deutschland
Mehr Kontrolle heißt: mehr Kosten
Die verlorene Dekade für die Mittelschicht
Die Energiewende kommt aus der Provinz
Deutsche predigen Revolution von oben, Amerikaner Evolution von unten
Amerikas Zukunft am Mississippi
Wechselnde Förderpolitik in den USA
Die Gesellschaft: eine permanente Bürgerinitiative
Kinder sind Reichtum
Solidarität praktiziert der Bürger, nicht der Staat
Nachbarschaftskontrolle erwünscht
Der Millionär als Mäzen
Mehr Freiwillige für die Politik
Die freie Rede des Geldes
Vom Nutzen der Ungleichheit
Reiche in Handschellen
Die Todesstrafe stirbt langsam
Der Waffenkult
Sehnsucht nach Heilung und Helden
„Pistolen machen Menschen höflich“
Weiße Polizeigewalt, schwarze Jugend
Der Traum von der „Post-Racial Society“
Die verpasste ökonomische Emanzipation
Die Welt nach 9/11: Wie der Anschlag Amerika verändert hat
Die Bankentürme in Frankfurt
Die Zivilgesellschaft wehrt sich
Expedition nach Guantanamo
Die Militärkommission tagt
Deutsche Irrtümer
Die Männer vom Mars
Lehren aus Vietnam, Irak und Afghanistan
Im Zwiespalt zwischen Bush und Saddam
Die Fabel vom Friedenspräsidenten
Soziale Wohltaten im Rüstungsetat
Mehr europäische Selbstverantwortung
Die gute und die böse Weltmacht
Die Arroganz des „Exceptionalism“
Selbsthypnose als Kraftquelle
Die Vereinten Nationen – keine höhere Instanz
Europa – der Kontinent der sympathischen Träumer
Russland und China – ein besiegter und ein neuer Rivale
Nahost – ewiger Konflikt, ewige Klischees
Snowden und Wikileaks – deutsche Helden, amerikanische Bastards
Totgesagte leben länger
Amerikas Comeback
Ökonomie versus Demografie
Der Atlantik wird breiter
„Die spinnen, die Amis!“, empören sich Deutsche, wenn ein Insider wie Edward Snowden das megalomane Ausmaß der weltweiten Überwachungsversuche amerikanischer Geheimdienste ans Licht bringt, der Kongress aber deren selbstherrlichem Handeln keine engen rechtlichen Fesseln anlegt.
„Die spinnen, die Amis!“, sagen viele in Europa, wenn ein schwarzer Jugendlicher an Schüssen aus der Waffe eines weißen Polizisten stirbt und tagelange Rassenunruhen folgen. Oder wenn ein Amokläufer in den USA wieder einmal unzählige Unschuldige in einer Schule, einem Kino oder einer Einkaufs-Mall erschießt, die Parlamentsmehrheit jedoch eine Verschärfung der Waffengesetze weiter unbeeindruckt von sich weist.
„Die spinnen, die Amis!“, hieß es kopfschüttelnd in der Alten Welt, als Präsident Barack Obama eine Krankenversicherung für alle Einwohner einführte, aber rund die Hälfte der US-Bürger eine staatliche organisierte Solidarversicherung im Gesundheitswesen, wie sie in Kontinentaleuropa üblich ist, ablehnte.
„Die spinnen, die Amis!“, ereifert sich Europa, wenn sich die Hinrichtung eines zum Tode Verurteilten per Giftspritze quälend lange hinzieht, weil die modernen Henker keine geeignete Vene für die Kanüle finden oder der tödliche Cocktail die rasche Wirkung verweigert, und dennoch kein Aufschrei durch die USA geht: Schluss mit der Todesstrafe!
„Die spinnen, die Amis!“, rief die halbe Welt, als die von der Wall Street ausgehende Finanzkrise auch andere Länder mit in den Abgrund zog – und erst recht, als der US-Kongress die Verschärfung der Bankenaufsicht, die alle auf dem Höhepunkt der Krise gefordert hatten, kurz darauf wieder aufweichte.
„Die spinnen, die Amis!“ Da hat jede und jeder seine bzw. ihre Lieblingsbeispiele, je nach persönlichen Vorlieben, vom Umgang mit den Geheimdiensten bis zur Behandlung von Terrorverdächtigen in Guantanamo, von der Größe der Autos und Kühlschränke bis zum Einsatz militärischer Gewalt, vom unbedarften Gebrauch des umstrittenen Fracking bei der Öl- und Gasförderung über die ergebene Hinnahme der Ölpest im Golf von Mexiko und anderer menschengemachter Umweltkatastrophen bis hin zum Spott über die XXL-Formate der Kaffeebecher, Tripleburger und T-Shirts. Denn das ist ja das Interessante und Verblüffende an jedem Gespräch über Amerika: Jeder hat eine Meinung zu den USA, unabhängig davon, wie viel oder wenig sie oder er über das Land und seine Bewohner weiß. Bei Brasilien, China, Indien, Japan, Korea, Russland oder Südafrika würden viele Europäer vor einem raschen Urteil zurückscheuen. Vielleicht weiß man’s ja doch nicht so genau. Nicht so bei Amerika. Da fühlen sich nahezu alle zu einem klaren Urteil berufen – und dieses Urteil fällt, je nach Weltanschauung, geradezu begeistert oder ziemlich skeptisch bis ablehnend aus, in Deutschland zumeist Letzteres.
Dass die Amis spinnen, habe auch ich oft gedacht, bevor ich mit meiner Frau nach Washington zog, um meine neue Aufgabe als Korrespondent der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel zu übernehmen. Mich trieb die Neugier, wie Amerika denn nun wirklich ist. In unseren acht Jahren in den USA habe ich einiges besser verstehen gelernt – aus eigenem Erleben, aus unzähligen Gesprächen mit Amerikanern und aus den Erfahrungen meiner Frau. Sie arbeitete in der medizinischen Forschung in den National Institutes of Health (NIH): unter Amerikanern mit einem amerikanischen Arbeitsvertrag und einer amerikanischen Krankenversicherung. Dabei haben wir Einblicke in den praktischen Alltag amerikanischer Familien sowie in die Köpfe und Herzen gewonnen, die anderen Ausländern ohne solche Zugänge verschlossen bleiben.
Wer in den USA lebt, kann gar nicht anders, als die Welt auch mit amerikanischen Augen zu betrachten. Die tägliche Arbeit, der Austausch mit Nachbarn und Freunden, die Reisen durch das riesige Land erzwingen das geradezu. Der Korrespondent soll ja nicht nur berichten. Er soll auch erklären, warum die Amerikaner vieles ganz anders sehen als die meisten Deutschen und die meisten Europäer.
Wer im Ausland lebt, lernt aus der Ferne auch das eigene Heimatland besser kennen. Er beginnt zu vergleichen: Warum regeln die Deutschen ihre Krankenversicherung und ihre Finanzaufsicht, ihre Energieversorgung und den Klimaschutz, ihr Steuersystem und die Rolle privater Spenden in der Zivilgesellschaft, ihre Waffengesetze und ihr Strafsystem anders? Was sind die Vor- und Nachteile der deutschen und was die Vor- und Nachteile der amerikanischen Variante? Gewisse Grenzen des Verständnisses für die USA bleiben dennoch. Auch heute noch halte ich manches, was Amerikanern selbstverständlich erscheint, für fragwürdig. Oder für Ideologie. Doch das Ausmaß dieser blinden Flecken, die sich der pragmatischen Erklärung entziehen, ist kleiner geworden.
Und auf einmal spinnen nicht mehr nur die Amis. Mitunter erwische ich mich plötzlich bei dem Gedanken: „Die spinnen, die Deutschen!“ Den meisten Korrespondenten geht es nicht anders. Mit der Zeit entdecken wir immer mehr gute Seiten am Alltag und den Lebenseinstellungen der Amerikaner. Und finden im Vergleich manche deutsche Haltungen und Sitten fragwürdig. Worauf gründet sich, zum Beispiel, der deutsche Glaube an die Allzuständigkeit des Staats? Warum geben Bürger ihr Mitgestaltungsrecht so gerne an anonyme Behörden ab? Theater und Museen gibt es auch in den USA zuhauf, und einige sind sogar besser als in Deutschland, obwohl sie nicht von staatlichen Subventionen leben, sondern von den freiwilligen Zuwendungen der Bürger und der Wirtschaft. Die Gastfreundschaft und die Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden nötigen Respekt ab. Den Stolz auf ihr politisches System und die Begeisterung, mit der sich Amerikaner alle vier Jahre in den Präsidentschaftswahlkampf stürzen, würden wir uns für Deutschland wünschen. Amerikaner zeigen weniger Sozialneid und mehr Respekt vor anderen Meinungen. Im Vergleich mit der in Deutschland verbreiteten Bedenkenträgerei, dass dieses oder jenes sowieso nicht funktionieren könne, wirkt die zupackende „Can do“-Mentalität oft höchst erfrischend. Und zudem konstruktiver. Gewiss, sie hat auch ihre Schattenseiten – wenn über dem ansteckenden Optimismus die berechtigte Skepsis (zum Beispiel beim Demokratieexport per Militärintervention) oder die Sicherheitsvorkehrungen (vom Finanzsystem über die Geheimdienste bis zur Ölförderung) zu kurz kommen, mitunter mit dramatischen Folgen.
Auf viele Neuankömmlinge aus Deutschland wirkt Amerika im Alltag lebenswerter und liebenswerter, als sie sich das aus der Ferne vorstellen konnten. Das empfinden die meisten meiner Medienkolleginnen und -kollegen so, ganz unabhängig davon, ob sie für eine linksalternative, liberale oder bürgerliche Zeitung berichten – oder, im Rundfunkbereich, für eine „rot“ oder „schwarz“ dominierte Sendeanstalt. Zu Einwanderern werden nur wenige. Bei aller Faszination an der neuen Welt bleiben die meisten von uns im Herzen und in ihren gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen Deutsche. Und Europäer. Aber unsere neuen Erfahrungen machen uns Wanderer zwischen beiden Welten zu Kulturvermittlern. Wenn es in den Heimatredaktionen oder in den Leserbriefen und Hörer-E-Mails wieder mal heißt, „Die spinnen, die Amis!“, dann fühlen wir uns herausgefordert, die Hintergründe und Motive für amerikanische Haltungen zu erklären, die von der anderen Atlantikseite gesehen irrational anmuten – typisch amerikanisch-verrückt.
So ist auch dieses Buch entstanden: aus den Begegnungen mit Zehntausenden Deutschen bei unzähligen Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Lesereisen im Laufe eines guten Jahrzehnts. In die erste Fassung, die 2012 erschienen war, flossen all die Fragen ein, die sich aus den Erfahrungen mit der ersten Amtszeit Barack Obamas ergaben. Nach den Regierungsjahren George W. Bushs, die die Deutschen fast durchweg in schlechter Erinnerung behalten, war Obama fast wie ein Retter begrüßt worden. Die meisten Deutschen identifizierten sich mit den Zielen, die er im Wahlkampf formuliert hatte, fieberten mit ihm, wünschten ihm Erfolg. Früher oder später gingen viele jedoch auf Distanz, als dieser Erfolg in vielen Bereichen auf sich warten ließ oder Obama sich mit frustrierenden Kompromissen abfinden musste. Die umfassend aktualisierte Neuausgabe 2016 ist stark von den deutsch-amerikanischen Querelen in Obamas zweiter Amtszeit geprägt:
Mit der Präsidentschaftswahl 2016 richten sich die Blicke zudem auf die Frage, was von Obamas Nachfolgerin oder Nachfolger zu erwarten sei. Unabhängig davon, wer nach ihm ins Weiße Haus einzieht, darf man eines schon heute vorhersagen: Die Präsidenten wechseln, die deutschen und europäischen Irritationen über die USA bleiben. Und ebenso die amerikanischen Irritationen über Europa. Denn Amerikaner und Europäer „ticken“ unterschiedlich. Die Neigung, den jeweiligen Präsidenten zur Hauptursache der Dissonanzen zu erklären – in George W. Bushs Fall, weil er angeblich nie ein Ohr für die berechtigten Sichtweisen der Europäer hatte, in Obamas Fall, weil er Hoffnungen weckte, die er dann enttäuschte –, führt in die Irre. Es ist ja nicht die eine Person an der Spitze, die spaltet; in ihr spiegeln sich vielmehr all die unterschiedlichen Sichtweisen der Amerikaner und Europäer auf die aktuelle Weltlage.
In der Hinsicht wird es auch wenig Unterschied machen, ob die vielen Deutschen sympathische Hillary Clinton die Präsidentschaftswahl 2016 gewinnt und die Kommentatoren ihre Inauguration im Januar 2017 zum Beginn eines neuen Zeitalters verklären, weil erstmals eine Frau in das nach wie vor mächtigste Amt der Welt käme. Oder ob Jeb Bush siegt, dessen Name vielen Deutschen wegen der Erfahrungen mit seinem Bruder George W. eher unsympathisch ist. Oder ob ein anderer Wettbewerber triumphiert – womöglich ähnlich überraschend wie Barack Obama, den die meisten Experten zu Beginn des Wahlkampfs 2008 auch nicht zu den Hauptfavoriten gezählt hatten. Spätestens im Lauf der Jahre 2017/18 werden viele Deutsche den neuen Präsidenten – oder: die neue Präsidentin – kritisch sehen. In Hillarys Fall, das sollte uns die emotionale Achterbahnfahrt mit Obama gelehrt haben, wären erst die Erwartungen groß und dann die Enttäuschung über ihre reale Politik umso durchschlagender. In Bushs Fall würde sich eine vorgefasste Abneigung gegen seinen Familiennamen bestätigen. Auch das verrät einiges über die Vorurteilsstrukturen. Denn es gab ja nicht nur einen, sondern zwei Präsidenten Bush. Mit dem Vater George H. W. (Januar 1989 bis Januar 1993) hatten die Deutschen gute Erfahrungen gemacht. Der Weg zur deutschen Einheit wäre ohne seine vertrauensvolle Unterstützung nicht so glatt verlaufen. Er begrenzte auch den Einsatz des US-Militärs, ließ es nach dem siegreichen ersten Irakkrieg zur Befreiung Kuwaits 1991 nicht nach Bagdad marschieren, um Saddam Hussein zu stürzen. Mit Sohn George W. (Januar 2001 bis Januar 2009) verbinden die Deutschen schlechte Erinnerungen. Zu Recht. Ihm fehlte das Augenmaß nach dem Terrorangriff auf die USA am 11. September 2001. Er hat Entgleisungen wie die ausufernde NSA-Überwachung, die Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit den Terrorverdächtigen, die Lügen zur Begründung des Irakkriegs und die verfehlte Besatzungsstrategie zu verantworten. Sollte man es angesichts so unterschiedlicher Erfahrungen mit zwei Präsidenten namens Bush nicht als eine offene Frage betrachten, ob ein Präsident Jeb Bush mehr dem Vater oder mehr dem Bruder nacheifern würde?
Unvoreingenommenheit hieße auch, die Handlungsspielräume, die Präsidenten haben, und deren Grenzen realistisch einzuschätzen. Die sinusartige Kurve der deutschen Amerika-Begeisterung und Amerika-Enttäuschung folgt zwar dem Auf und Ab unserer Wahrnehmung der jeweiligen Präsidenten. In Wahrheit ist die Person an der Spitze aber gar nicht die Hauptursache unserer Irritationen. Uns irritiert, dass in den USA so vieles ganz anders läuft, als wir es von zu Hause gewohnt sind. Die wahre Ursache sind die grundsätzlichen Unterschiede in der politischen Kultur und in den Vorstellungen von der Rolle des Staats, der Privatwirtschaft, der individuellen Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Bürger. Sie leiten sich aus der unterschiedlichen Geschichte Europas und der USA her. Und, mehr noch, aus den verbreiteten Geschichtsbildern, die auch dann Identität stiften, wenn sie die wahren historischen Abläufe ignorieren.
Das galt schon, als 2012 die Urfassung dieses Buchs erschien. Damals schrieb ich im Vorwort:
„Ist dies also ein Buch über Barack Obama? Ja – und nein. Die Beispiele stammen aus seiner Amtszeit. Man könnte sie aber ebenso gut in anderen Präsidentschaften finden, vergangenen wie künftigen. Im Kern geht es darum, was Amerikaner und Europäer unterscheidet. Die Obama-Präsidentschaft hat diese Unterschiede im Denken über die Rolle des Staats und der Bürger, über soziale Gerechtigkeit und Eigenverantwortung, Privatwirtschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt nur in besonderer Weise sichtbar gemacht.“
In den vier Jahren seither haben sich die aktuellen Anlässe und Anwendungsbeispiele geändert, nicht aber der Kern der Konflikte und der transatlantischen Missverständnisse. Die strukturellen Unterschiede und politischen Reflexe, auf denen sie beruhen, bestehen fort. Damals lud das Entsetzen über die Ölpest im Golf von Mexiko den Streit um die Energieversorgung und den richtigen Mix aus klassischen und erneuerbaren Energien emotional auf, heute ist es die deutsche Abneigung gegen das Fracking. Damals beherrschten die Stichworte Irak, Drohnenkrieg und Guantanamo die Debatte darüber, welche Mittel ein Staat zur Terrorabwehr und zur Wahrung außenpolitischer Interessen einsetzen darf. 2015 hießen sie NSA, Islamischer Staat, Waffenlieferungen an die Ukraine. Damals entzündete sich die Empörung über den Waffenkult an Amokläufen in Schulen und Kinos, heute an den tödlichen Begegnungen zwischen schwarzen Jugendlichen und weißen Polizisten, die zudem die anhaltenden Rassenkonflikte spiegeln.
Die Frage nach den Ursachen des Umschwungs im deutschen Bild von Barack Obama interessierte mich auch deshalb, weil es um prägende Jahre meiner Journalisten-Laufbahn ging. Sein Aufstieg und Fall im deutschen Ansehen forderten mich auf besondere Weise heraus. Ein bisschen früher als andere hatte ich mich an Obamas Fersen geheftet und ihn vom Februar 2007 an zu Wahlkampfauftritten begleitet. Damals lautete die herrschende Meinung noch, Hillary Clinton werde George W. Bush beerben und die erste Präsidentin der USA werden. Ich sah das anders und hielt es für gut möglich, dass er die Wahl 2008 gewinnen werde. Aus meinen Beobachtungen entstand 2007 eine Barack-Obama-Biografie. 2009 schrieb ich ein Buch über Michelle Obama. Es erzählt ihren – typisch amerikanischen – Aufstieg vom schwarzen Arbeiterkind zur ersten First Lady, die von Sklaven abstammt; und ihren Lebensweg, der von einem rein afroamerikanischen Wohnviertel ins Weiße Haus führte. Es war zugleich das erste Buch, das schilderte, wie sie in ihrer neuen Rolle auftritt und wie sie ihr Amt ausfüllte. Im Juni 2011 war ich dann der erste deutsche Korrespondent, dem Präsident Obama ein Interview gab – aus Anlass des Besuchs der Kanzlerin Angela Merkel und ihrer Ehrung mit der Freiheitsmedaille, dem höchsten zivilen Orden der USA. Es wurde in schriftlicher Form geführt: Ich reichte die Fragen ein und erhielt die Antworten des Präsidenten per E-Mail zurück. Das ist die gängige Praxis im Umgang mit ausländischen Print-Medien in Obamas Amtszeit. Meine Zeitung Der Tagesspiegel war allerdings die erste, die diese Abläufe offen kommunizierte und nicht so tat, als sei das Interview in einer persönlichen Begegnung mündlich geführt worden. Ein Journalist eines Konkurrenzblattes nahm dies zum Anlass für die Rückfrage, ob diese Aussagen tatsächlich vom Präsidenten stammten. Das Weiße Haus hat das ausdrücklich bestätigt und das Interview in die offizielle Liste der Obama-Interviews aufgenommen.
Die Obamas wirkten auf viele Deutsche anfangs wie ihr Wunschbild von Amerika. Doch diese Sicht wurde bald erschüttert. Sie waren zwar anders als Bush und seine Republikaner, aber sie handelten deshalb noch lange nicht wie Europäer. Auch sie waren und blieben – Amerikaner. Sowohl die Faszination, die das neue Glamourpaar auf die Deutschen ausübte, als auch die Irritationen, die sie auslösten, bekam ich bei Vorträgen und Debatten in Deutschland hautnah zu spüren. Immer wieder mündeten die Fragen – anfangs zu den Erwartungen an Obama, später zum Verlauf seiner Präsidentschaft – in der Bitte, zu erklären, warum Amerikaner in so vielen Bereichen „anders ticken“ als die Deutschen. Warum stößt die allgemeine Krankenversicherung auf so viel Widerstand? Warum gelingt es ihm nicht, Guantanamo zu schließen? Warum beschimpfen ihn so viele Amerikaner als „Sozialisten“? Und warum hassen sie oft gerade das, was wir an ihm lieben?
Viele Diskussionen endeten mit der Aufforderung: Schreiben Sie ein Buch mit solchen Beispielen aus der politischen Praxis!
Zur Enttäuschung über die Amerikaner, die die anfängliche Liebe der Deutschen zu Obama nicht teilten, ist mittlerweile eine wachsende Enttäuschung der Deutschen über Obama hinzugekommen. Daraus ergeben sich weitere Beispiele für unser zwiespältiges Verhältnis zu den USA.
Wie die Erstfassung richtet sich die aktualisierte Neuausgabe dieses Buchs an alle, die Wegweiser und Leitplanken suchen, um Amerika besser zu verstehen. Und ganz besonders an alle, die so wie wir für ein paar Jahre in die USA ziehen. Es soll ihnen helfen, sich auf diesem fremden Stern zurechtzufinden. Die Stämme, die dort leben, und ihre Gesellschaftsordnung – Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat – könnten bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Kopie Europas aussehen. In vielen Dingen fühlen und denken sie jedoch ganz anders als wir.
Der Papierform nach sind Amerikaner und Europäer gar nicht so unterschiedlich. Sie haben eine ähnliche Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die USA, die Bundesrepublik Deutschland und alle weiteren EU-Länder sind Demokratien, Rechtsstaaten mit nahezu identischen Grundrechten und Marktwirtschaften. (In den USA zieht man freilich die Bezeichnung Kapitalismus vor, die in amerikanischen Ohren positiv klingt, jedoch in Deutschland negativ besetzt ist.) Sie haben dieselben kulturellen Wurzeln und geistigen Väter und Mütter: das römische Christentum samt seinem Ableger aus der Reformationszeit, den protestantischen Kirchen, die Aufklärung und den Gedanken der Bürgergesellschaft aus der Französischen Revolution. Doch als meine Frau und ich in diesem Land ankamen, waren wir plötzlich in der sprichwörtlichen „Neuen Welt“. Die Entfernungen, die Siedlungsdichte, die Bevölkerungszusammensetzung, die Infrastruktur, das Klima und die Naturgewalten – so vieles ist anders als in Deutschland und in Europa. Natürlich gibt es hier wie dort Großräume mit enormer Bevölkerungsverdichtung: Chicago, Houston, Los Angeles, New York und Berlin, London, Madrid, Paris. Aber seit wir die Weite in der dünn besiedelten Mitte der USA „er-fahren“ haben, verstehen wir besser, warum viele Amerikaner anders mit Naturraum, Bodenschätzen und Energie umgehen. Allein der US-Staat Montana ist größer als das vereinte Deutschland. Dort leben aber nur 990.000 Menschen, nicht 82 Millionen.
Auf dem Highway kann man lange fahren, ohne einem anderen Auto zu begegnen. Ungenutztes Land ist im Überfluss vorhanden. In den „Lower 48“ – den 48 der 50 Bundesstaten, die flächenmäßig eine Einheit bilden, ohne Alaska und Hawaii – liegen mehr als 5000 Kilometer zwischen der Atlantikküste in Maine und der Pazifikküste in Washington State. Sowie 2800 Kilometer zwischen der Nordgrenze zu Kanada in North Dakota und der Südspitze von Texas. Da sind, wie gesagt, Alaska – das allein vier Mal so groß wie Deutschland ist – und Hawaii noch gar nicht mitgerechnet. Und ebenso wenig die zu den US-Territorien zählenden Inseln in der Karibik und im Pazifik. Alle 28 Staaten der EU zusammen sind der Fläche nach nicht mal halb so groß wie die USA. Aber sie sind annähernd vier Mal so dicht besiedelt. Europäer sind Enge gewohnt und haben es verinnerlicht, dass natürliche Ressourcen begrenzt sind.
Wer durch die USA reist, wird genau den umgekehrten Eindruck gewinnen: Raum und Ressourcen sind noch lange nicht erschöpft. Touristen aus Europa staunen über die vergleichsweise niedrigen Benzinpreise in Amerika. Sie freuen sich darüber, solange sie in den USA tanken. Und werden später zu Hause kopfschüttelnd erzählen, dass die Amerikaner zu große Autos fahren und verschwenderisch mit Energie umgehen. Kein Gespür für die Umwelt! US-Bürger halten es dagegen für eine soziale Frage, dass der Staat den Benzinpreis niedrig hält und nicht durch „Ökosteuern“ künstlich erhöht, um so den Verbrauch zu drosseln. Sie haben im Schnitt längere Anfahrtswege zur Arbeit und längere Transportwege für Waren. Wenn der Benzinpreis binnen weniger Monate um rund ein Drittel steigt – zum Beispiel von 2,06 Dollar pro Gallone (ca. 3,8 Liter) zu Jahresbeginn 2015 auf 2,80 Dollar im Juli 2015 oder vier Jahre zuvor von unter drei Dollar am Jahresende 2010 auf über vier Dollar im Frühsommer 2011 –, bedeutet das für viele Familien, dass sie auf die Fahrt in den Urlaub verzichten und im Alltag an Kinokarten und anderen Vergnügungen sparen müssen, weil das Geld stattdessen fürs Tanken draufgeht.
Amerika unterscheidet sich nicht nur durch seine schiere Größe, sondern ist in Wahrheit eine andere Welt. Wir fühlten uns nach unserer Ankunft wie auf einem fremden Stern. Simple Erledigungen wachsen zu hohen Barrieren: ein Bankkonto eröffnen, ein Mobiltelefon kaufen, ein Auto anmelden. Auch in Deutschland ist das für einen Ausländer gar nicht so einfach – fragen Sie mal einen Betroffenen nach seinem Leidensweg. Uns dagegen erschien das deutsche System sehr logisch und nachvollziehbar. Wir kannten es schließlich nicht anders – bis wir ins Ausland zogen.
Um zum Beispiel ein Bankkonto zu eröffnen, muss man Identität und Wohnsitz nachweisen. Es gibt aber kein Einwohnermeldesystem. Auch diesen Umstand verklären Amerikaner gerne zu einem Grundpfeiler der unbegrenzten Freiheiten. Für uns war es ein Stolperstein. Unsere deutschen Pässe belegten zwar die Personendaten, aber keine US-Anschrift. Wie weist man die nach? „Bringen Sie einfach eine an Sie adressierte Strom- oder Wasserrechnung mit“, sagte Angela in der Citibank-Filiale im nächsten Einkaufszentrum. Rechnungen? Die konnten wir noch gar nicht haben. Wir waren gerade angekommen und würden noch Wochen auf den Umzugscontainer warten. Eine Wohnung hatten wir gefunden und einen Mietvertrag unterschrieben. Nun brauchten wir ein amerikanisches Konto, auf das wir Geld aus Deutschland überweisen wollten, um davon die Kaution und die erste Miete zu bezahlen. Doch unser Mietvertrag beeindruckte Angela wenig. So ein Papier kann theoretisch jeder Beliebige ausfüllen und unterschreiben. Sie brauchte eine Unterlage von einer vertrauenswürdigen Instanz in den USA. Vermieter oder Makler zählen nicht dazu, das lernten wir bei der Gelegenheit. Energieversorger oder der US Post Service dagegen schon. Zu unserem Glück ist Angela eine improvisationsfreudige Latina, deren Familie selbst noch nicht lange in den USA lebt und die öfter mit den Nöten von Neuankömmlingen zu tun hat. „Sie können schon Post an Ihrer künftigen Adresse empfangen?“, fragte sie. „Dann lassen Sie den Makler doch einfach einen Brief an Sie schicken. Wenn ein Poststempel auf dem Umschlag ist und er ankommt und Sie ihn mitbringen, dann reicht mir das.“ So kamen wir zu unserem Bankkonto. Eine Kreditkarte, die übliche Bezahlungsform selbst im Zeitschriftenladen und im Supermarkt, gab es deshalb noch lange nicht. Wenn wir mittellose Stundenten aus Südamerika oder Afrika mit einem Studienplatz an einer amerikanischen Universität gewesen wären – kein Problem. Denen werden Kreditkartenanträge hinterhergeworfen. Es gibt schließlich den direkten Bezug zu einer Institution in den USA. Die Verdienstbescheinigung eines deutschen Medienkonzerns, der Kontoauszug der deutschen Citibank – damals noch ein Tochterunternehmen der US-Citibank – und die Schufa-Auskunft, die uns als zuverlässige Kreditnehmer auswies, interessierten niemanden in den USA. Die Kreditkarte bekamen wir nach drei Monaten, in denen regelmäßig Zahlungen auf unserem Konto eingegangen waren. Der Mobiltelefonanbieter verlangte, dass wir tausend Dollar als Kaution hinterlegen, bis die ersten Rechnungen zuverlässig bezahlt sind. Ein Auto kaufen und anmelden durften wir erst, als wir den US-Führerschein gemacht hatten – wofür wir aber zunächst auf die Zuteilung einer „Social Security“-Nummer warten mussten, was mehrere Wochen in Anspruch nimmt. Diese Nummer ist – neben dem Führerschein – der wichtigste Identitätsnachweis in den USA.
Die ersten sechs Wochen waren ein Abenteuer und ein wertvoller Crashkurs in Sachen kultureller Unterschiede: immer wieder überraschend, oft frustrierend, aber mindestens ebenso oft versöhnlich. Denn die meisten Menschen sind hilfsbereit, jedenfalls solange man höflich bleibt und sich nicht beschwert. Wer seinen Ärger offen zeigt, hat verloren. Dann schalten viele Amerikaner auf stur. Nach ungefähr sechs Wochen bis drei Monaten haben die meisten Neuankömmlinge aus Europa die wichtigsten Hürden genommen. Eines Tages sind sie plötzlich nicht mehr mit dem Sich-Zurechtfinden und Sich-Einrichten beschäftigt. Sie sind angekommen und können auf einen neuen Alltag unter diesen oft wundersamen Eingeborenen umschalten.
Das Wertvollste an diesem Crashkurs: Die ersten Wochen zwingen dazu, sich mit den verschiedenartigsten Milieus in den USA auseinanderzusetzen, auch solchen, mit denen man später nur noch selten zu tun hat: Wir hatten unvermittelt Koreaner im Haus. Sie behoben im Auftrag des Vermieters den Wasserschaden an der Wand, den ein Wolkenbruch und ein schadhaftes Fallrohr in den zwei Monaten Leerstand vor unserem Einzug hinterlassen hatten. Sie sprachen kein Wort Englisch, wurden vom Vorarbeiter, der beide Sprachen beherrscht, morgens gebracht und angewiesen und später wieder abgeholt. Tags drauf kam Sam, ein rastalockiger Schwarzer, um den Internetanschluss zu legen. Er fragte den Neuankömmling aus Europa vertrauensvoll, ob das bei der Wiederwahl George W. Bushs 2004 wohl mit rechten Dingen zugegangen sei? Er kenne nur Leute, die garantiert nicht für Bush gestimmt haben. Sam ist allerdings in Washington D.C. aufgewachsen, wo die Wähler mit überwältigender Mehrheit für die Demokraten stimmen – das war 2004 nicht anders als in den Obama-Jahren 2008 bis 2016 und wird sich auch 2020 nicht ändern. Sam war noch nie in einem der rund 20 US-Staaten gewesen, die in den selben Jahren verlässlich republikanisch wählen.
Dann mussten wir ins Department of Motor Vehicles (DMV), wo man seinen Führerschein macht. In einer Großstadt wie Washington arbeiten dort fast ausschließlich Afroamerikaner – denn es gibt eine gesetzliche Vorgabe namens „Affirmative action“, sie bevorzugt einzustellen. Je nachdem, an wen man gerät, kann man den Eindruck gewinnen, sie pflegten bis heute einen Zorn über die lange Geschichte der Rassendiskriminierung und ließen ihn an jedem Weißen aus, ob Amerikaner oder unbeteiligter Ausländer. Mich überraschte die Sachbearbeiterin nach bestandener Prüfung mit dem Bescheid, ich bekäme den Führerschein zunächst nur für ein Jahr.
Ich glaubte an ein Missverständnis und wies sie auf mein Journalistenvisum für die USA hin, das für mehrere Jahre gültig war. Das eskalierte die Angelegenheit aus ihrer Sicht offenkundig. Ich hatte ihre Autorität in Frage gestellt. Als ich mich aufs Bitten verlegte, sagte sie, das müsse ihr Vorgesetzter entscheiden. Der reagierte zuvorkommend und bewilligte den Führerschein für vier Jahre. Als die Verlängerung anstand, musste ich nicht wieder aufs Amt. Das ging nun online – und sogar gleich für acht Jahre.
In den Folgejahren haben sich die beiden Anfangseindrücke vom Besuch im DMV als Regel bestätigt. Erstens haben Unterschiede in Hautfarbe und Herkunft auch heute in der Praxis noch enorme Bedeutung. Offiziell soll das nicht so sein. Die USA nennen sich gerne einen „Melting Pot“. Und die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten wurde als Beleg für den Übergang in die „post racial era“ interpretiert; eine neue Epoche, in der Hautfarbe und Rasse keine Rolle mehr spielen. Die Rede vom „Schmelztiegel“ stimmt in dem Sinn, dass wohl keine andere Nation in ihrer ethnischen Zusammensetzung so vielfältig ist. Aber das heißt noch lange nicht, dass alle harmonisch zusammenleben. Sie leben weitgehend nebeneinander her. Amerika ist vielerorts bis heute segregiert, nur nicht mehr wie früher durch Gesetze, die die Rassentrennung regelten. Sondern durch unsichtbare Mauern aus Herkunft, Bildung und Einkommen. Wer eine Stadt wie Washington mit offenen Augen durchquert, wird bald eine soziale Gliederung nach Wohnbezirken erkennen. Im Nordwesten wohnen fast ausschließlich Weiße, im Südosten fast ausschließlich Schwarze, der Nordosten ist gemischt, dort leben auch Latinos. Wenn ein Afroamerikaner in den Wohngebieten im Nordwesten herumläuft, verfolgen ihn unzählige Augenpaare hinter den Ziergardinen. Ebenso wird jeder Weiße angestarrt, der in Anacostia im Südosten auftaucht.
Man mag einwenden: Ist das so viel anders als in Berlin? In Grunewald leben schließlich auch kaum Türken. Und in Neukölln gibt es keine Millionärsvillen. Sagen wir so: In den USA fallen die Unterschiede krasser ins Auge.
Zweitens ist es generell keine gute Idee, mit amerikanischen Amtsträgern zu diskutieren oder gar ihre Entscheidungen zu hinterfragen. Schon gar nicht im Umgang mit Polizisten oder Personenschützern. Wenn im Rückspiegel ein rot-blaues Blinklicht auftaucht, fährt man rechts ran. In der Regel hat man nichts verbrochen, da will nur ein Streifen- oder Krankenwagen auf Einsatzfahrt vorbei. Stoppt dagegen die Polizei hinter einem, ist man selbst gemeint – und gut beraten, jetzt bloß nichts falsch zu machen. Bei Fahrzeugkontrollen zeigt sich, wie anders die Sitten in den USA sind. Also ruhig sitzen bleiben, mit beiden Händen auf dem Lenkrad. Allenfalls darf man schon mal das Fenster am Fahrersitz leicht öffnen, um die Kommunikation zu erleichtern. Auf keinen Fall unaufgefordert aussteigen, das kann als Vorbereitung zum tätlichen Angriff missverstanden werden. Und auf gar keinen Fall Richtung Handschuhfach greifen, weil dort die Autopapiere liegen; hinter der Klappe könnte auch eine Waffe verborgen sein. Es ist wirklich so, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt.
Wenn US-Polizisten merken, dass sie einen Deutschen angehalten haben, reagieren sie gerne mit dem Spruch: „You know, this is not the Autobahn.“ Wer dann freundlich lacht, hat gute Chancen, mit einer Ermahnung davonzukommen. Wenn der Uniformierte konkrete Regelverstöße vorwirft, besser nichts abstreiten, sondern zerknirscht um Vergebung bitten. Im besten Fall entwickelt sich ein kurzes Gespräch. Womöglich war der Polizist früher mal als Soldat in Deutschland stationiert. Damit verbinden alle schöne Erinnerungen. Deutschland ist überhaupt gut angesehen (solange man nicht über seine militärischen Beiträge zu NATO-Einsätzen diskutiert). Deutsche Mieter gelten als zuverlässig und halten die Wohnung in Ordnung. Deutsches Bier wird allgemein gelobt. Deutsche Autos sind Prestigeobjekte.
Nur beim Ankommen helfen diese Sympathien ziemlich wenig. Bei der Erledigung von Formalitäten ist die wichtigste Lehre: Die USA sind ein eigener Kontinent. Sie sind sich selbst groß genug. Wie man Dinge anderswo regelt, weiß kaum jemand – und wenn doch, dann ist das nicht relevant. Andere Länder zählen nicht, egal ob es sich um Deutschland handelt, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, oder um Obervolta.
Die USA sind derzeit noch die größte und modernste Volkswirtschaft der Erde und der größte Markt. Und wenn China sie der Größe nach überholt, bleibt immer noch ein enormer technischer Vorsprung. In vielen Bereichen wirkt Amerika freilich alles andere als spitze. Führend ist es in der Militärindustrie und der Spitzenmedizin. Die Qualität der Infrastruktur bleibt hinter der in Europa zurück. Die meisten Leitungen für Telekommunikation und Stromversorgung verlaufen noch oberirdisch. Nur im Stadtzentrum liegen sie unter der Erde. In vielen Wohnvierteln gibt es Überlandleitungen, und die werden alle paar Monate durch Stürme und Unwetter herabgerissen.
Der erste Stromausfall lehrte uns, immer Kerzen und ein Feuerzeug, eine Taschenlampe und ein einfaches, altmodisches Telefon griffbereit zu haben. Moderne, schnurlose Apparate funktionieren nur mit Strom aus der Steckdose. Handys muss man aufladen. Die alten Telefone holen sich die Energie über die Telefonleitung, funktionieren also auch bei Stromausfall. Viele Straßen sind voller Schlaglöcher. Brücken brechen wegen Korrosion tragender Teile zusammen. Häuser sind bei Weitem nicht so solide gebaut wie in Deutschland. Bei Wärmedämmung und Fenstertechnik sind die USA Jahre hinterher. Wie generell bei erneuerbaren Energien. Amerika ist eine Servicegesellschaft und der Kunde ist König? Ja, Shoppen macht Spaß und ist oft billiger als in Deutschland, solange es um Kleidung und gängige Produkte der Unterhaltungselektronik geht. Man darf auch anstandslos Waren zurückbringen und sich den Kaufpreis auszahlen lassen. Niemand wundert sich, niemand fragt nach einem Grund. Schwieriger ist es, ein Geschäft mit guter Fachberatung zu finden. Oder einen verlässlichen Kundendienst. Unter den Telefonnummern, die auf der Garantiekarte oder im Internet genannt sind, erreicht man in der Regel keine reale Person, sondern wird an automatisierte Telefonmenüs verwiesen, die Ratschläge für die gängigsten Pannenursachen haben. Wenn ein Problem nicht in dieses Schema fällt – Pech gehabt. Oder man landet bei einem externen Mitarbeiter der Serviceabteilung in Indien oder auf den Philippinen. Die Löhne sind dort so viel billiger.
Früher dachte ich, der amerikanische Staat sei insgesamt stark, nicht nur im militärischen Bereich. Das glaubte ich erst recht, als nach 9/11 die Terrorabwehr ausgebaut und ein Mammutministerium für Heimatschutz geschaffen wurde. In Wahrheit ist der zivile Verwaltungsteil der US-Bundesregierung schwachbrüstig und völlig unterfinanziert. Entsprechend unzuverlässig sind die fristgerechte Erledigung von Anträgen der Bürger und die staatlichen Dienstleistungen.
Das lernte ich bei der periodisch anstehenden Vereinbarung über meinen Verbleib im deutschen Sozialsystem während meines befristeten USA-Aufenthalts. Dem Antrag müssen die Behörden beider Staaten zustimmen. Er blieb in der amerikanischen Social-Security-Behörde viele Monate liegen, weil die Abteilung für die Übersetzung fremdsprachiger Anträge nicht nachkam. (Jedes Land amtiert in seiner eigenen Amtssprache. In deutschen Behörden, die mit dem Ausland zu tun haben, darf man davon ausgehen, dass Sachbearbeiter genug Englisch beherrschen, um den Inhalt des Schriftwechsels auch ohne Übersetzungshilfe zu verstehen. Aber wer versteht schon Deutsch in amerikanischen Ämtern?)
Den begehrten White House Hard Pass, der den ständigen Zugang zum Weißen Haus ermöglicht, bekam ich nicht nach den versprochenen drei Monaten. Es dauerte 16 Monate. Freilich muss man Zweierlei hinzufügen: Die Bearbeitung meines Antrags fiel, erstens, in die Übergangszeit zu einer neuen Regierung. Da mussten der Geheimdienst und die anderen Filterungssysteme viele neue Mitarbeiter „durchleuchten“. Ein ausländischer Journalist steht nicht ganz oben auf der Prioritätenliste. Zugleich war nicht zu übersehen, dass die Mittel selbst beim Secret Service des Präsidenten begrenzt sind: Meine Fingerabdrücke wurden dort noch ganz altmodisch mit Tinte vom Stempelkissen genommen, nicht digital wie bei der Einreise am Flughafen. Zweitens wird ein solcher „Hard Pass“ sehr zurückhaltend vergeben. In meinen USA-Jahren war ich der einzige deutsche Zeitungskorrespondent in Washington, der einen besaß.
Politiker reden gerne vom Westen. Und von der Wertegemeinschaft, die sie mit dem Begriff verbinden. Je länger ich in den USA lebte und die Unterschiede zwischen meiner deutschen Heimat und meinem aktuellen Gastland beobachtete, desto öfter fragte ich mich: Gibt es diesen Westen überhaupt noch? Verbindet Deutsche und Amerikaner auch heute genug, damit sie auf überzeugende Weise das Wort „wir“ benutzen können? Nach Ausbruch der NSA-Affäre im Sommer 2013 hat sich das noch einmal verstärkt. Beim Blick auf ihre Werteordnungen haben Deutsche und Amerikaner vieles gemeinsam – mehr jedenfalls als zum Beispiel mit Russen oder Chinesen. In welchem Verhältnis stehen das Gemeinsame und das Trennende? Das ist nicht nur eine Frage belegbarer Tatsachen. Es ist in noch höherem Maße eine Frage der Wahrnehmung und der öffentlichen Darstellung – auch in den Medien.
In der öffentlichen Debatte werden die Unterschiede zwischen Amerika und Europa gerne betont und überhöht. Diese Abgrenzung hilft offenbar bei der Definition und Bestätigung der eigenen Identität: Wenn die anderen spinnen, dann fühlt man sich selbst doch gleich viel besser.
Wann und wie das geschieht, hängt in hohem Maß von der politischen Konjunktur ab. Als George W. Bush regierte, war das Bedürfnis der Kontinentaleuropäer, sich gegen die USA abzugrenzen, besonders hoch. Unter Obama wurde es zunächst deutlich geringer. Gegen Ende seiner Präsidentschaft stieg die Neigung, die Unterschiede hervorzuheben, wieder an. „Amerikaner kommen vom Mars, Europäer von der Venus“ – das war eine besonders populäre Redewendung, als Präsident Bush und Kanzler Schröder 2003 über den Irakkrieg stritten. Ein Jahr zuvor hatte Robert Kagan diese schon früher gebrauchte idealtypische Gegenüberstellung in seinem Essay über „Macht und Ohnmacht“ wiederbelebt: Amerikaner gleichen dem Kriegsgott Mars und sind Menschen der Tat; Europäer orientieren sich an der Liebesgöttin Venus und scheuen die Austragung von Konflikten. Als Obama die Wahl gewann, wechselte die europäische Sicht auf Amerika. Er war noch nicht einmal ein Jahr im Amt, da verliehen die Juroren des Nobelpreiskomitees, allesamt Norweger, dem neuen US-Präsidenten den Friedensnobelpreis.
Hatten sie eine Brille getragen, durch die man nur Teile der Wirklichkeit erkennen kann? Es stimmt zwar, Obama hatte einen diplomatischeren Umgang mit der Welt versprochen. Aber die Militärmacht nutzt er ganz ähnlich wie Bush. Er hatte die US-Truppen in Afghanistan gerade um 30.000 Mann verstärkt, als er den Preis am 10. Dezember 2009 in Oslo entgegennahm. Er folgte damit der Strategie, mit der Bush im Irak 2006/7 erfolgreich gewesen war. Die völkerrechtlich fragwürdigen Angriffe mit unbemannten Drohnen, erst auf Rückzugsgebiete der Taliban im pakistanischen Grenzgebiet, später auf Terroristen-Stützpunkte im Jemen und anderen arabischen Staaten, hat Obama noch deutlich erhöht.
Ein weiterer Gradmesser für die Wellenbewegungen im Bedürfnis der Europäer, sich gegen die USA emotional abzugrenzen, ist die Häufigkeit der Berichte über die Todesstrafe. Natürlich lehne auch ich sie ab und habe die haarsträubenden Beispiele von Fehlurteilen und grausamen Hinrichtungspannen vor Augen. Doch woher kommt es, dass wenige Dutzend Exekutionen pro Jahr unter Bush Entrüstungsstürme in Deutschland hervorriefen, aber Tausende vollzogene Todesurteile pro Jahr in China kaum jemanden erregen? Warum erschienen in den Bush-Jahren so häufig große Berichte über Hinrichtungen verurteilter Mörder in deutschen Medien und warum sank das Interesse daran, als Obama gewählt war?