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Von ca. 900 bis 400 v. Chr. waren die Etrusker das innovativste, mächtigste, wohlhabendste und schöpferischste Volk in Italien. Sie lebten, in eindrucksvollen Städten, auf den Hügeln und Ebenen Mittelitaliens; ihr Reich erstreckte sich im Süden bis nach Kampanien und im Norden bis in die Po-Ebene (Abb. 1). Sie trieben Handel über das Mittelmeer. Ihre Kultur war voller Kunst, Musik, Technik, Sport, Wein und Religion; sie lebten gut, und das wussten sie. Heutige Besucher der Region werden noch immer von den mit Malereien versehenen Gräbern in Tarquinia in den Bann gezogen, von den stillen Tumuli von Cerveteri (dem antiken Caere), den Städten, die, wie Volterra, auf steil abfallenden Plateaus und Hügelkuppen thronen. Museen sind voller Kunstwerke von außerordentlicher Meisterschaft und Schönheit, und etruskische Augen blicken uns, Zeit und Tod stolz trotzend, von Hunderten von Sarkophagen an.
Abb. 1: Karte von Italien mit villanovazeitlichen, etruskischen und griechischen Siedlungen.
Dennoch liest man, wohin man auch blickt, in Reiseführern oder Urlaubsbroschüren, von den »rätselhaften«, den »geheimnisvollen« Etruskern, dem verborgenen Etrurien, dem unterirdischen Etrurien − als sei die Kultur gleichsam vor uns versteckt. Es ist ein Verkaufstrick, der sich als äußerst nützlich und profitabel erwiesen hat, aber auch als irreführend.
Diese Einführung in die Welt der Etrusker geht von der Prämisse aus, dass die Etrusker nicht rätselhafter sind als die meisten anderen Völker des archaischen Italien. Das Etikett des Geheimnisvollen, Rätselhaften, das ihnen anhaftet, hat zudem verhindert, dass die Etrusker angemessen in die Erzählungen klassischer Geschichtsschreibung Eingang fanden, und das ist bedauerlich, bilden sie doch einen faszinierenden Gegenpol zu den anderen, häufiger diskutierten Mittelmeerkulturen, darunter Rom und Athen. Tatsächlich gibt es so viel Material, dass es eines umfangreicheren Werkes als dieses Bändchens bedürfte, um ihm gerecht zu werden. In der vorliegenden Darstellung sind die Etrusker Teil der mediterranen Welt, der mannigfaltigen und mannigfachen Verbindungen und Vermischungen von Völkern, Objekten und Ideen über zwei Jahrtausende hinweg, die das vielfältige Gesamtbild des Altertums von der Bronzezeit bis zum Niedergang des Römischen Reiches im Westen ausmachen.
Wir beginnen mit den beiden Fragen, die modernen Gelehrten Kopfzerbrechen bereiten und zu der Behauptung beitragen, die Sache mit den Etruskern sei besonders schwierig: Woher kamen sie, und warum ist ihre Sprache so seltsam? Die erste dieser Fragen ist weder ungewöhnlich noch auf die Etrusker beschränkt; die Griechen diskutierten ausgiebig, aber ohne solide historische Basis, über ihre eigenen Ursprünge, und Bewunderer der makedonischen Kultur werden die endlose Kontroverse über die Frage, ob sie nun griechisch sei oder nicht, kennen. Die Sache mit der Sprache ist da schon ungewöhnlicher, doch wird sie häufig falsch dargestellt; wir sind sehr wohl in der Lage, das Etruskische zu lesen, doch ist das meiste, was erhalten geblieben ist, nicht sonderlich informativ.
Nach der Behandlung dieser beiden grundsätzlichen Probleme gehen wir im Rest des Buches chronologisch vor − von der späteren Bronzezeit bis zur spätrömischen Zeit − und schildern abschließend, was sich bei der Erforschung der Etrusker abspielte und wie dies zu deren vermeintlicher »Rätselhaftigkeit« beitrug.
Ein Hauptanliegen dieses Buches ist es klarzumachen, dass es durchaus möglich ist, eine Geschichte der Etrusker zu schreiben; wir haben ausreichend Informationen über gesellschaftliche Organisation, über Aspekte politischen Verhaltens, über ökonomisches Verhalten im städtischen und ländlichen Umfeld, über Kulturgeschichte usw. Diese Geschichte muss jedoch im breiteren italischen und mediterranen Kontext gesehen werden, und ein roter Faden, der sich durch das ganze Buch zieht, besteht darin, aufzuzeigen, wie die Etrusker die Verbindungen handhabten, die sie zu dieser Welt um sie herum hatten. Ein weiteres schwieriges Problem stellt die Frage dar, was wir eigentlich meinen, wenn wir von den Etruskern sprechen. Die meisten der Menschen, um die es hier geht, gehören einer relativ privilegierten Schicht an. Der archäologische Befund gibt kaum Erhellendes über die Armen Etruriens preis, und die Allerärmsten waren vielleicht gar keine Etrusker, sondern vielmehr Sklaven. Es kann sich hier also nur um eine partielle Geschichte handeln, dennoch ist es wichtig, den Etruskern so viel an Stimme wie möglich wiederzugeben und mehr zu sehen als lediglich die Museumsartefakte.
Das antike Etrurien war ein Gebiet Italiens, das sich vom Tiber nordwärts bis zum Po erstreckte und im Osten vom Apennin begrenzt wurde. Die Küstenregion ist zumeist eben, das Binnenland wird jedoch sowohl in Ost-West- als auch in Nord-Süd-Richtung von stark zerfurchten Hügelketten durchzogen. Es ist eine Landschaft, die von Wasser, Kalkstein und lange zurückliegender vulkanischer Aktivität geprägt wurde, zerklüftet, aber passierbar; in manchen Regionen ist der Boden fruchtbar, in anderen reich an Erzvorkommen (Abb. 2). Heute entspricht das Gebiet den Verwaltungseinheiten Nord-Latium und Toskana, die sich in etwa mit dem Lebensraum der jeweils gewisse Besonderheiten aufweisenden kulturellen Gruppen des südlichen und des nördlichen Etrurien decken. Damals wie heute und während ihrer gesamten Geschichte war die Region von unabhängigen Städten geprägt, die ganze Landstriche beherrschten, von den berühmten auf Plateaus und Hügelkuppen gelegenen Siedlungen, die ihr Hinterland kontrollierten und noch immer Reste der ausgedehnten etruskischen Mauern aufweisen, die sie einst umgaben.
Abb. 2: Die Karte zeigt die große Konzentration von Erzvorkommen auf etruskischem Gebiet, insbesondere um Populonia.
Zu sozialer Entwicklung und Differenzierung kam es in Etrurien in der Spät-Bronzezeit (um 1300 bis 900 v. Chr.). Am Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit (950 bis 750 v. Chr.) veränderten sich die Siedlungsmuster radikal, und es ist unübersehbar, dass Etrurien eine Revolution erlebte. Größere Ortschaften entstanden, Territorium geriet unter verschiedene Formen von Kontrolle. Im 8. Jahrhundert, zeitlich zusammenfallend mit der legendären Gründung Roms, eröffnete die Ankunft der Phönizier und insbesondere der Griechen aus dem Osten neue Möglichkeiten und Ideen, brachte eine neue Bildsprache für die Kunst, für religiöse Äußerungen, für die Architektur und sogar ein Alphabet. Die Etrusker griffen früh und eifrig Fremdes auf, und die Zeit von 650 bis 500 v. Chr. war eine Phase enormer Kreativität und enormen Wandels. Konflikte innerhalb und außerhalb Etruriens verlangsamten indes das Tempo des Wandels, führten in einigen Gebieten zu sozialer Revolution und zur Verkleinerung etruskischen Territoriums. Um 400 v. Chr. machte sich der Einfluss der Römer allmählich bemerkbar; um 250 v. Chr. war die Eroberung durch die Römer weitestgehend abgeschlossen, die frühesten römischen Kolonien auf etruskischem Territorium wurden gegründet; um die Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts gab es keine etruskische Autonomie mehr, und die Sprache wurde immer seltener gesprochen, als die von Rom veranlasste Neuverteilung des Landes die ökonomische Leistungsfähigkeit der älteren Städte zunehmend untergrub. Um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. wurde kaum mehr Etruskisch gesprochen oder verstanden, und die Landschaft hatte sich vollkommen verändert, nachdem sich eine auf Großgrundbesitz und Sklavenarbeit basierende Landwirtschaft durchgesetzt hatte. Auch wenn es etwas ungewöhnlich ist, habe ich mich dazu entschlossen, dem Etrurien nach der römischen Eroberung gleiches Gewicht einzuräumen, und zwar deshalb, weil gerade der Umstand, dass die meisten Schilderungen diesen Zeitraum ausblenden, uns dazu verleitet, die Etrusker mit ihrer Sprache zu identifizieren, und der Vorstellung Vorschub leistet, sie seien mit ihr verschwunden, womit sie ein gewisses Geheimnis umgibt, das es zu lösen gilt, nämlich die Frage, was mit ihnen geschehen ist. Doch die Übergangsphase sowie die Art und Weise, wie die Region den Realitäten der römischen Herrschaft Rechnung trug, sind genauso Teil der Geschichte der Etrusker und leisteten ihren Beitrag zur Schaffung der etruskischen Welt, die der Besucher heute sieht. Es gab umfassende Prozesse ökonomischen und sozialen Wandels im späten Altertum, und erst im frühen Mittelalter sollten sich allmählich die neue Architektur der aufstrebenden Kirche und neuen Formen von Herrschaft ausbreiten; mit der Renaissance war die Toskana erneut zu einer der mächtigsten und eigentümlichsten Regionen der Welt geworden.
Man wusste schon immer, dass die Etrusker anders waren. »Sie waren ein Volk mit Sitten und Bräuchen, wie kein anderes sie hatte«, sagte der griechische Schriftsteller Dionysios von Halikarnassos im späten 1. Jahrhundert v. Chr., der sich die Mühe gemacht hatte, sie zu studieren. Für einige waren sie eine Warnung davor, was passiert, wenn die Tugend verloren geht; sie hielten sie für wohlhabend und zügellos, Festgelagen und Vergnügungen zugetan. Andere richteten den Blick auf ihre Aktivitäten als Piraten oder ihre Grausamkeit. Ihre Frömmigkeit und ihr religiöses Wissen waren berühmt, wurden bewundert, gefürchtet und lächerlich gemacht. Es war ein etruskischer Wahrsager, der Julius Caesar vor den Iden des März warnte. Sie waren Erfinder; mehreren Quellen zufolge sollen sie die Kriegstrompete erfunden haben, den Triumph (den die Römer bekanntlich übernommen haben), den Faustkampf, die Gladiatorenkämpfe, die Tracht und Insignien der Magistrate. Kaiser Augustus‹ gebildeter Freund Maecenas war stolz darauf, einem Geschlecht etruskischer Könige zu entstammen.
Doch wie fast alle Völker der antiken Welt hinterließen die Etrusker keine eigene literarische Überlieferung und Geschichtsschreibung. Das etruskische Schweigen, verschärft durch das Verschwinden ihrer eigenen Sprache bereits im Altertum, scheint angesichts des Reichtums ihrer materiellen Kultur und ihrer offenkundigen Macht über gute fünf Jahrhunderte hinweg nur noch beredter. Dank der sorgfältigen Arbeit von Archäologen und Gelehrten wurde jedoch ein sehr großer Schritt hin zur Wiederbelebung des Wissens über die Etrusker getan. Der heutige Besucher einer etruskischen Stätte oder der etruskischen Sammlung eines Museums hat nicht den geringsten Grund, verwirrt zu sein oder ahnungslos zu bleiben. Auch wenn es viel gibt, was wir nie wissen werden, gibt es doch viel, was wir heute schon sagen können, und was besonders spannend ist, noch viel mehr zu entdecken.
In Bezug auf die Herkunft der Etrusker gibt es zwei unterschiedliche Diskussionsansätze, die sich allerdings überschneiden und schwer auseinanderzuhalten sind. Beim einen geht es darum, was die antiken Quellen dachten und warum sie so dachten; beim anderen darum, wie sich der Wandel im archäologischen Befund am besten erklären lässt, insbesondere im Kontext der späten Bronze- und frühen Eisenzeit. Die etruskische Fallstudie verdient es, stärker in Diskussionen über antike Ethnizität eingebunden zu werden.
Antike Schriftsteller glaubten, dass es etwas darüber zu sagen galt, woher Völker kamen, und hatten eine klare Vorstellung von ethnischer Identität. Die Griechen hielten sich für anders als andere. Ja, sie behaupteten, jeder Nichtgrieche sei ein barbaros oder Barbar, weil seine Sprache seltsam klinge, doch auch andere Formen unzivilisierten Verhaltens wurden als Gründe angeführt. Die Vorstellung, Ethnizität sei gewissermaßen ein essentielles oder primordiales Merkmal, ist jedoch, zumindest bisweilen, anfechtbar, und ihre Umsetzung fast immer anrüchig. Ethnizität wurde konstruiert; sie entwickelte sich teilweise als eine rhetorische Strategie der Selbstidentifikation.
Die Diskussion über die Herkunft der Etrusker wurde durch die Aussagen antiker literarischer Quellen angestoßen. Herodot, ein griechischer Schriftsteller aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert, schildert eine Hungersnot, unter der die Lyder lange Jahre zu leiden hatten. Die Lage wurde so schlimm, dass etwas unternommen werden musste:
Als die Not aber nicht nachließ, sondern noch drückender wurde, habe ihr König [Atys, Sohn des Manes] alle Lyder in zwei Gruppen aufgeteilt und die eine durch Los zum Bleiben, die andere zur Auswanderung aus dem Land bestimmt; dem Teil, dem das Los zu bleiben zugefallen war, habe der König sich selbst zugesellt, dem Teil, der auswandern sollte, habe er seinen Sohn Tyrsenos mitgegeben. Die einen von ihnen, denen das Los auszuwandern zugefallen war, seien nach Smyrna gekommen, hätten Schiffe gebaut, alles darauf verladen, was für sie während einer Seereise von Nutzen war, und seien losgesegelt, um Lebensunterhalt und Land zu suchen. Nachdem sie an vielen Völkern vorbeigefahren waren, seien sie ins Land der Umbrer gekommen, hätten dort Städte gegründet und wohnten dort bis in unsere Zeit. Statt Lyder hätten sie sich nun nach dem Sohn des Königs genannt, der sie dorthin geführt hatte. Nach ihm also hätten sie sich den Namen Tyrsener gegeben. (Herodot 1,94,5–7)
Nach Herodots eigener Berechnung muss dies vor dem Trojanischen Krieg stattgefunden haben, der herkömmlicherweise ins 12. vorchristliche Jahrhundert datiert wird. Seiner Sicht folgen alle weiteren Quellen, die sich zu der Frage äußern, außer einer: Dionysios von Halikarnassos, der im späten 1. Jahrhundert v. Chr. schrieb. Dionysios macht zwei wesentliche Punkte geltend: Zum einen waren seiner Meinung nach die Etrusker nicht identisch mit den sogenannten Pelasgern (im Gegensatz zu der Ansicht, die Herodot an anderer Stelle offenkundig äußert), zum anderen gäbe es allen Grund für die Annahme, die Etrusker seien von jeher in Italien ansässig gewesen, und keinerlei Grund zu der Annahme, sie seien Lyder; ihre Sprache, Götter und Institutionen hätten nichts miteinander gemein.
Wir haben also drei Theorien: Die Etrusker kamen aus Lydien; die Etrusker waren identisch mit den Pelasgern; die Etrusker waren schon immer in Italien heimisch.
Die lydische Theorie erfuhr Herodot von den Lydern selbst. Wie zuverlässig die Informationen waren, über die sie diesbezüglich möglicherweise verfügten, ist unklar. Die Geschichte erinnert an verschiedene griechische Berichte von Kolonisation nach Katastrophen oder göttlichen Warnungen. Die Theorie ist eine reine Erfindung und mag als solche lokalen Zwecken gedient haben, die wir heute nicht mehr aufzudecken vermögen. Sowie Herodot sie einmal in sein Werk aufgenommen hatte, war sie offen für Neuinterpretationen, und jeder Aspekt der Etrusker, der ausländisch zu sein schien, konnte dazu benützt werden, die Verbindung zu belegen.
Die pelasgische Herkunft stammt aus einer anderen Überlieferung. Die Pelasger galten als die Urbevölkerung Griechenlands, und ihr Name wurde zu einer Art Sammelbegriff für die frühesten Siedler in der Ägäis. Über sie, oder auch über ihre Sprache, gab es keine gesicherten Erkenntnisse. Eine Reihe etruskischer Städte behauptete, von den Pelasgern abzustammen, darunter Cerveteri und Tarquinia. Die Griechen, wie auch die Etrusker selbst, mussten Fragen über die Ursprünge etruskischer Städte beantworten, und eine Möglichkeit, dies zu tun, bestand darin, ihre Geschichte mit jener der Griechen zu verflechten. Nach dieser Theorie wurden die etruskischen Städte von eingewanderten Pelasgern gegründet, was natürlich den Vorteil hatte, dass sie gewissermaßen griechisch waren. Zudem ließ sich genealogisch ein mythischer Tyrrhenos als Sohn des Telephos und Enkel des Herakles konstruieren: Cortona beanspruchte für sich, Bestattungsort des Odysseus zu sein, der dort als Nanas (der »Wanderer«) bekannt war. So schufen sich etruskische Städte auf die gleiche Weise wie griechische eine beeindruckende Vorgeschichte; es ist faszinierend, wie viele Bilder von Aeneas und seinem Vater Anchises, die der Einnahme Trojas durch die Griechen entkommen waren, in Veji zu sehen sind. Letztendlich beanspruchte Rom Aeneas für sich, doch es gab einen heftigen Konkurrenzkampf im Hinblick auf mythologische Gründergestalten.
Zusätzliche Schwierigkeiten bereitet bei der pelasgischen Theorie eine befremdliche Stelle bei Herodot, der, auf die Sprache der Pelasger eingehend, behauptet, sie würde in Kreston, »oberhalb der Tyrsener«, noch immer gesprochen. (Ansonsten bezeichnet Kreston eine Stadt in Thessalien im nördlichen Griechenland.) Bis der Text zu Dionysios von Halikarnassos gelangte, war aus Kreston Kroton geworden, und man ging davon aus, dass es sich dabei um Cortona handelte (nicht um die Stadt in Kalabrien, die ebenfalls Kroton hieß). Das einzige, was klar ist, ist, dass wir es hier mit einem riesigen Durcheinander zu tun haben. Die Sprachfrage wurde jedoch herausgepickt und entwickelte sich zu einem Schlüsselproblem.
Das Etruskische ist keine indogermanische Sprache, und das ist in Italien eigenartig. Es ähnelt ein wenig der Sprache auf einer Stele (einer mit einer Inschrift versehenen Marmorplatte), die auf der griechischen Insel Lemnos gefunden wurde. Gab es hier eine genuine Verwandtschaft? Leider lässt sich die Inschrift in völlig unterschiedlicher Weise interpretieren: Sie könnte ein Hinweis auf ein Volk im Osten sein, von dem die Etrusker abstammen; auf eine Migration von (einigen wenigen oder vielen) Etruskern nach Osten oder darauf, dass es in sehr alter Zeit sowohl im Osten als auch im Westen eine als Tyrrhener oder Tyrsener bezeichnete Gruppe gab (was wiederum erklären könnte, wie Herodot sie in der Gegend von Thessalien verorten kann).
Das Gegenteil eines Ansatzes, der von einer Migration ausgeht, ist die Hypothese von der Autochthonie, das Argument, dass ein Volk schon immer an einem bestimmten Ort ansässig war. Wie wir gesehen haben, vertritt Dionysios von Halikarnassos diese Theorie. Autochthonie ist ein anderer Ansatz zur Erklärung der Eigenheit der etruskischen Sprache und Religion; wie die Ägypter werden sie als das Andere konstruiert, nicht weil sie von außen kamen, sondern weil sie schon so lange in dem Gebiet heimisch waren.
Angesichts dieser Behauptungen und Gegenbehauptungen sind moderne Wissenschaftler natürlich immer bestrebt gewesen, die Antwort auf die Herkunftsfrage zu finden, doch alle wissenschaftlichen Bemühungen führten zu nichts, und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war die Konzentration auf zweifelhafte Ansätze, die die These einer Herkunft aus dem Osten bzw. aus anderen Regionen stützen sollten, keine gute Werbung für eine wissenschaftliche Disziplin. Massimo Pallottino (1909–1995), den man durchaus als den bedeutendsten Etruskologen des 20. Jahrhunderts bezeichnen könnte und der selbst ein einflussreiches Buch über das Thema geschrieben hat, zog die Notbremse; wie er zu Recht betonte, hatte sich alles, was gesagt worden war, lediglich um den Widerspruch zwischen Herodot und Dionysios von Halikarnassos gedreht, ohne dass dies weitergeführt hätte. Die wirklich wichtige Frage sei, wie die Etrusker tatsächlich waren, nicht, woher sie kamen, ihre Entwicklung also, nicht ihre Herkunft. Aufgabe der Etruskologie sei es, die Kultur zu erforschen.
Dies bereitete der Diskussion über die Herkunftsfrage vorerst ein Ende und führte zu den entscheidenden Entwicklungen, die die wissenschaftliche Erforschung der Etrusker während der vergangenen 50 Jahre prägten. Die Wissenschaft schreitet jedoch immer weiter voran, und in jüngster Zeit drängte sich die Frage nach der Herkunft der Etrusker aufgrund von Bemühungen, mit Hilfe von DNA-Analysen eine Antwort zu finden, wieder ins Blickfeld. Eine Analyse von antiken Gebeinen wies auf eine große Kontinuität bis in die Jungsteinzeit hin, was das Autochthonie-Argument stützt. Eine andere verwies auf menschliche Kontakte mit dem Osten, und eine dritte auf Vieh, das aus dem Osten stammte; die Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen wurden als Beweis dafür angeführt, dass Herodot recht habe. Allerdings bewegt sich die Zeitspanne im Hinblick auf die belegten menschlichen Kontakte irgendwo zwischen 800 vor und 800 nach Christus, weshalb die Untersuchungsergebnisse nicht als schlüssiger Beweis für Herodots Version von einer Wanderungsbewegung gelten können, die Generationen vor dem Trojanischen Krieg im 12. Jahrhundert stattgefunden haben soll. Allerdings lässt sich anhand maternaler mitochondrialer DNA ersehen, dass einige Frauen aus Gebieten jenseits des Mittelmeeres stammten. Im Kontext der in hohem Maße internationalen Elite, die sich im 8. Jahrhundert v. Chr. herausbildete, wäre dies nicht verwunderlich.
Sind also die Etrusker noch immer rätselhaft? Zweifellos wird die Wissenschaft immer neue Erkenntnisse gewinnen, und irgendwann erhalten wir vielleicht eine endgültige Antwort auf die Frage, woher die Etrusker kamen. Sollte das der Fall sein, wird dies sicher interessant sein, doch man ahnt, dass es keinen der historischen Berichte untermauern wird, die sämtlich zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten und zu Zwecken konstruierte Identitäten beschreiben, die sich mehr an dem, was zu späteren Zeiten opportun erscheint, orientieren, als dass sie im Volk weiterlebende Erinnerungen überlieferten. Es ist keine Kritik an Herodot, wenn man sagt, dass die Geschichte der Lyder über ihre Wanderungen wahrscheinlich nicht auf dem Wissen um Ereignisse basiert, die selbst für sie in der fernen Vergangenheit stattgefunden hatten, und dass auch ein DNA-Nachweis für eine Herkunft der Etrusker aus dem Osten kein Beweis dafür wäre, dass die Lyder oder Herodot wussten, wovon sie redeten.
Die Frage der Herkunft mag zumindest für einige eine Frage der Perspektive sein. Betrachtet man sie von einem Blickwinkel aus, der bis in die Altsteinzeit zurückreicht, würde man eine Entwicklung über einen langen Zeitraum hinweg erwarten. Mit anderen Worten, jeder kommt von irgendwo her. Die Frage, wie Umwälzungen in Sprache und Landwirtschaft in der Jungsteinzeit verbreitet wurden, ist noch nicht geklärt: Gab es ein indogermanisches Volk, das sich über Europa ausbreitete, oder wurden technische Veränderungen und Gewohnheiten durch Kontakt verbreitet?
Wie immer die Antwort lauten mag – es gibt offensichtlich Ecken in Europa, die sich ihre eigenen Sprachen bewahrt haben: Baskisch ist das Standardbeispiel dafür. Gegen dieses Argument spricht im Fall der Etrusker der erstaunliche Umstand, dass eine so wohlhabende und fruchtbare Region nicht das vorrangige Ziel irgendeines vordringenden Volkes war, wo doch im übrigen Italien eine vom Indogermanischen abgeleitete Sprache gesprochen wurde. Wenn die indogermanischsprachigen Völker tatsächlich in Italien einfielen, warum dann nicht auch in die Toskana?
Sowohl im Hinblick auf die Archäologie als auch auf die Sprache ist es durchaus sinnvoll, nach Norden und nach Osten zu schauen. Wie wir sehen werden, bestehen im späteren 2. Jahrtausend v. Chr. enge Parallelen und Verbindungen zu dem, was nördlich und südlich der Alpen passiert, und die einzige Sprache in Italien, die ansatzweise eine Ähnlichkeit mit dem Etruskischen aufzuweisen scheint, ist das wenig bekannte Rätische. Gab es jedoch eine Bevölkerungsbewegung, kann sie nur um 1200 v. Chr. oder früher angesetzt werden; trifft dies zu, dann sind die Etrusker auch nicht rätselhafter als all die anderen Völker Italiens. Niemand widmet der Frage viel Zeit, woher die Bevölkerung Roms 1200 v. Chr. kam.
Das bringt uns zu Pallottinos Einwand zurück. Aspekte der etruskischen Kultur verführten die antiken Schriftsteller dazu, ein Spiel kultureller Assoziation zu spielen, das ihnen Spaß machte. Ethnizität war ein wichtiges Konzept im Altertum, und die etruskische Fallstudie zeigt, wie viele Optionen sich entwickeln ließen. Dabei geht es jedoch um Fragen des Selbstverständnisses und der Fremdzuschreibung − und sie sind interessanter als die Frage, woher die Etrusker kamen.
Das Etruskische war keine indogermanische Sprache, d. h., es besaß nicht die gemeinsamen überkommenen grammatischen Strukturen, die die meisten europäischen Sprachen aufweisen und von denen man allgemein annimmt, dass sie sich zusammen mit landwirtschaftlichen Anbaumethoden in der Jungsteinzeit ausgebreitet haben. Das erschwert das Verständnis des Etruskischen. Es bereitet jedoch keine Schwierigkeiten, Etruskisch zu lesen. Ab dem 8. Jahrhundert verwendeten die Etrusker ein Alphabet, das sie von den Phöniziern übernommen hatten und das im Mittelmeerraum in Gebrauch war. Die Buchstabenformen unterscheiden sich nur geringfügig von jenen, die die Griechen zur gleichen Zeit verwendeten; und obwohl das Etruskische sein Alphabet beibehält, so dass es im 2. Jahrhundert schließlich ganz anders aussieht als formale griechische Alphabete, ist es problemlos lesbar (Abb. 3). (Etruskische Inschriften sind in der Regel von rechts nach links geschrieben.)
Abb. 3: Diese Aufstellung zeigt das phönizische, griechische und lateinische Alphabet und illustriert ihre Ähnlichkeit. Die Etrusker verwendeten leicht abgewandelte Versionen des griechischen Alphabets, in umgekehrter Richtung geschrieben, und bisweilen mit lokalen Abweichungen.
Das ist das genaue Gegenteil der Entzifferung der im mykenischen Griechenland benutzten Linearschrift B: Da verstanden wir die Schriftzeichen nicht, die verwendet wurden. Als dann klar wurde, dass sie für Silben stehen, erkannte man, dass es sich bei der Sprache um eine frühe Form des Griechischen handelte; damit wurden die Texte auf den gebrannten Tontafeln sofort mehr oder weniger verständlich. Im Fall des Etruskischen kennen wir zwar das Alphabet, doch sind damit Wörter geschrieben, deren Bedeutung sich uns nicht immer erschließt.
Nach dieser Vorbemerkung können wir uns nun den schriftlichen Zeugnissen zuwenden. Das Etruskische ist fast ausschließlich in Form von Inschriften auf Stein oder Metall oder auf Keramik gemalt überliefert; meist handelt es sich um Weihinschriften, doch gibt es auch einige längere Inschriften, u. a. auf drei dünnen Goldtäfelchen aus Pyrgi (Abb. 4), von denen eines mit einem parallelen phönizischen Text beschriftet ist und die von der Weihe eines Tempels oder einer Kultstätte erzählen. Auch zwei Opferkalender sind erhalten geblieben; einer stammt aus Capua, beim anderen handelt es sich um ein außergewöhnliches »Buch« aus Leinen. Das 1500 Wörter umfassende »Buch« wurde zerrissen, und die Leinenstreifen wurden als Mumienbinden verwendet, die sich heute im Archäologischen Museum in Zagreb befinden. Doch die große Mehrheit der Wörter in etruskischen Inschriften sind Namen. So lesen wir auf einem Grab in Volsinii »mi aranθia flavienas«, was schlicht »Ich (bin das Grab von) Aranth Flavienas« bedeutet. Insgesamt gibt es ca. 12 000 Inschriften, die Mehrheit ist kurz und klar verständlich.
Abb. 4: Diese drei Goldbleche, von denen jedes etwa 10 × 20 cm groß ist, werden auf die Zeit um 500 v. Chr. datiert und stammen aus Pyrgi, dem Hafen von Cerveteri. Eines ist in phönizisch-punischer Schrift beschrieben und enthält eine Widmung an Astarte; eines mit etruskischer Inschrift ist eine Widmung an Uni; das dritte erwähnt ein jährlich stattfindendes Fest.
Das Vorherrschen von Namen in den Inschriften hat Anstoß zu einer sorgfältigen Erforschung der etruskischen Namensgebungspraxis und zu Vergleichen mit anderen Teilen Italiens gegeben. Bis ins 8. vorchristliche Jahrhundert sind Personen nur mit einem Namen bezeugt. Nach dem 8. Jahrhundert und dem grundlegenden Schritt hin zu urbaneren Siedlungsgründungen werden in weiten Teilen Mittelitaliens zwei Namen üblich. Anstelle von »x, Sohn des y« finden wir nun Namen wie »x, aus der Familie y«; damit werden (genaugenommen) aus Patronymika (d. h. Adjektivableitungen vom Namen des Vaters) Gentiliznomen. Warum war es für die Etrusker und andere zu diesem Zeitpunkt wichtig, einen klaren Bezug zu ihrer Familie herzustellen? Allgemein wird angenommen, dass ein Zusammenhang mit der Vererbung von Eigentum besteht, was auf eine sehr signifikante Entwicklung im Hinblick auf die Familienstruktur und die Beziehung zwischen der Familie und komplexeren Gesellschaftsstrukturen verweist. Zudem erkennt man an der Namensgebung auch Sklaven: Sie haben nur einen Personennamen, verbunden mit einem Hinweis auf ihren Besitzer; aus Chiusi kennen wir »Antipater cicuσ«: Antipater (ein griechischer Name), der Cicu gehört (d. h., ein Sklave des Cicu ist).
Mit der römischen Eroberung geriet das Etruskische als geschriebene Sprache unter Druck. Es gab keinen Erlass, der den Gebrauch der Sprache verboten hätte; vielmehr dürfte der wachsende Zustrom lateinischsprachiger Siedler den Gebrauch der Sprache weniger attraktiv, vielleicht auch weniger angenehm gemacht haben; es gibt Hinweise darauf, dass lateinischsprachige Personen sich über Menschen lustig machten, die eine fremde Sprache oder Latein mit einem starken Akzent sprachen. Gleichzeitig war Zweisprachigkeit eine Weile lang durchaus eine Option.
Wir kennen 28 etruskische und lateinische Bilingue, alle stammen aus dem Zeitraum vom späten 2. Jahrhundert v. Chr. bis ins 1. Jahrhundert n. Chr., und nicht alle sind mit der Elite verbunden. Lucius Scarpius, ein Freigelassener der Scarpia und Priestergehilfe aus Perugia, ist ein faszinierendes Beispiel. Die Inschrift befindet sich auf einer Urne mit einem Deckel aus Travertin-Marmor; die Urne selbst war mit einem Gorgonenhaupt, das Tympanum des Deckels mit einer Rose und einer Traube verziert. In dem Grab fand man 15 Urnen und 5 Grabgefäße; die Urne der Scarpia befand sich in der Nähe. Die etruskische Version ist falsch geschrieben; die Person, die Lucius die Freiheit gab, war eine Frau − oder war sie seine Frau?
Die berühmteste zweisprachige Inschrift findet sich indes auf dem in Pisaurum gefundenen Grabmonument. Die Inschrift in schön geschriebenen lateinischen und etruskischen Buchstaben lautet:
[L•CA]FATIUS•L•F•STE•HARUSPE[X] FULGURIATOR