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Goran Vojnović

Vaters Land

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© Tina Deu

DER AUTOR

Goran Vojnović, geboren 1980 in Ljubljana. Studium der Regie an der Theater- und Filmhochschule Ljubljana. Enfant terrible und einer der talentiertesten Autoren seiner Generation. Sein Romanerstling Čefuri raus! hatte den Rücktritt des slowenischen Innenministers zur Folge.

Erfolgreicher Regisseur zahlreicher Filme.

Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt.

DER ÜBERSETZER

Klaus Detlef Olof, geboren 1939, aufgewachsen in Lübeck und Hildesheim, Studium der Slawistik in Hamburg und Sarajevo. Bis 2005 Lehrtätigkeit an den Universitäten Klagenfurt, Graz und Wien. Lebt und arbeitet in Zagreb und Pula. Zahlreiche Übersetzungen aus den südslawischen Literaturen. Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzer 1991.

Goran Vojnović

Vaters Land

Roman

Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof

TransferBibliothek

FolioVerlag

TransferBibliothek CXXVIITitel der Originalausgabe: Jugoslavija, moja dežela, Ljubljana: Beletrina Academic Press
© der Originalausgabe: Beletrina Academic Press, 2012. www.beletrina.com
 
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Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.
Mit weiterer freundlicher Unterstützung durch die Trubar Foundation (Trubarjev sklad pri Društvu slovenskih pisatlejev) und die Öffentliche Agentur für das Buchwesen der Republik Slowenien (Javna agencija za knjigo Republike Slovenije).
 
 
© Covermotiv: Fotolia/astrosystem
 
© Folio Verlag, Wien • Bozen 2016
Alle Rechte vorbehalten
 
Lektorat: Joe Rabl
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
 
ISBN 978-3-85256-686-3
 
www.folioverlag.com
 
 
E-Book: ISBN 978-3-99037-056-8

1

Meine Kindheit endete unversehens an einem ganz gewöhnlichen Frühsommertag des Jahres 1991. Es war ein schwüler Tag, und die Erwachsenen flehten schon seit dem frühen Morgen das nachmittägliche Gewitter herab, während wir Kinder uns verwundert fragten, woher alle, die in den Kleingärten von Šijana weder Tomaten noch Zucchini zogen, mitten in der Badesaison ein Bedürfnis nach Regen verspürten. Unsere Welt war damals eben noch immer sehr verschieden von der Welt unserer Eltern, und die Erwachsenen waren für uns größtenteils Wesen von einem anderen Stern, die uns nur interessierten, wenn sie ohne Arme oder Beine waren, wenn sie ihre Haare oder Bärte bis zum Boden hinunter wachsen ließen, sich wie Indianer kleideten, tätowierte Rücken hatten oder Muskeln wie Rambo 1, 2 und 3.

Einen dieser interessanten Erwachsenen zu besichtigen hatten wir uns an diesem heißen Morgen auf den Weg gemacht. Mario und Siniša konnten nämlich einfach nicht glauben, dass ich den Typ mit der roten Beule im Gesicht noch nicht gesehen hatte, von der manche behaupteten, dass sie nur ein großer Gehirntumor sei, andere hingegegen, dass es sich um Bulimie handle, eine neue Krankheit, über die man bereits im Fernsehen sprach und die angeblich, wie Siniša behauptete, den Kopf des Betreffenden langsam in eine große rote Beule verwandelte. Den Typ mit der Beule hätten bis dahin schon alle gesehen außer mir, behauptete Mario, während Siniša ein Erlebnis nach dem anderen mit ihm in der Hauptrolle aufzählte. So sei einmal auf dem Vidikovac, laut den Worten des größten Aufschneiders von Pula, eine deutsche Touristin erschrocken vor ihm zurückgeprallt und habe den ganzen Weg bis zu ihrem Hotel auf Verudela rückwärts gemacht, eine italienische Familie habe von seiner Existenz sogar die Polizei und die italienische Botschaft in Belgrad informiert. Beide, Mario wie Siniša, behaupteten, dass ich diesen Menschen unbedingt gesehen haben müsse, denn normal sei nur die eine Hälfte seines Kopfes, die andere sei aufgedunsen und rot wie eine halbierte Wassermelone oder ein Basketball.

Ich brauchte nicht lange überredet zu werden, und schon marschierten wir alle zusammen am Supermarkt vorbei Richtung Männerheim auf der anderen Seite der Dinko-Vitezić-Straße. In diesem todlangweiligen weißen rechteckigen Block lebten neben dem Typ mit der Beule größtenteils Arbeiter der Uljanik-Werft, die nach dem anstrengenden Arbeitstag in der Schiffswerft nachmittags in Ruhe vor dem Eingang saßen, an ihren Nikšićer und Sarajevoer Bieren nippten und ihre bosnischen Themen debattierten. Sie lebten, obgleich um die Ecke von unseren Blocks, in ihrer für uns fast unsichtbaren Parallelwelt, gaben sich mehr oder weniger nur miteinander ab und versammelten sich abends im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss des Männerheims, um sich den Dnevnik, die Tagesschau, die Übertragung eines Fußballspiels oder eine heimische Serie anzusehen.

Tagsüber, so erklärten mir die über alles informierten Freunde, hocke der Typ mit der Beule gewöhnlich vor dem Fernseher und verfolge vom frühen Morgen an regungslos das Programm von TV Zagreb, von den Smogovci bis zu den Dokumentarsendungen, die der legendäre Delo Hadžiselimović „ausgewählt“ hatte. Es heiße, so Siniša, dass die Mitbewohner schon einmal Geld gesammelt, ihm einen kleinen tragbaren Fernseher gekauft und den in seinem Zimmer aufgestellt hätten, dass er aber noch immer jeden Tag im Gemeinschaftsraum herumhänge, obwohl er nie mit jemandem je geredet habe. Mario sagte noch, dass der Schweißer Vaha ihm einmal angeblich alle zehn Minuten das Programm umgeschaltet habe, dass der Typ aber überhaupt nicht reagiert habe, so als ob es ihm völlig egal wäre, was er sieht.

Unter diesen Geschichtchen kamen wir vor den Eingang zum Männerheim mit großen Erwartungen, fast so großen wie damals, als wir am Vorabend der Premierenvorstellung zum Zirkuszelt beim Istra-Stadion gingen, um dort heimlich den Übungen der Zirkusartisten zuzusehen, wobei uns aber, noch bevor wir durch das hohe Gras näher geschlichen waren und ins Innere hineingeschaut hatten, ein kleines schreiendes Zigeunermädchen so erschreckt hatte, dass wir drei großen Burschen kopflos vor dem winzigen schwarzen Wesen bis ganz zum Stadion flüchteten.

Aber an jenem Tag hätten wir im Männerheim schwerlich eine Situation antreffen können, die sich von der erwarteten mehr unterschieden hätte. Anstelle des einsamen Typs mit der Beule war der Gemeinschaftsraum nämlich bis zum letzten Winkel gestopft voll und alle glotzten in die Röhre, in der, jedenfalls schien es so, die Nachrichten liefen. Die Stimmung war ähnlich der vom letzten Jahr, als die Bewohner des Männerheims nach dem zweiten Tor von Piksi in dem unvergesslichen Achtelfinale gegen Spanien von einer solchen Euphorie erfasst wurden, dass sogar die Polizei einschreiten und sie zur Ruhe bringen musste und Ramo in der Notaufnahme landete, weil er einen Stromschlag abgekriegt hatte, als er den Fernseher und die Antenne geküsst hatte.

Zwölf Monate später stellten Siniša, Mario und ich, unter den Fußballfans des nachmittäglichen Fernsehprogramms nach dem „Melonenmann“ Ausschau haltend, überrascht fest, dass sich für SFR Jugoslawien nur noch der kleinere Teil der versammelten Mannschaft begeisterte. Die wurden inoffiziell, das sah ein Blinder, von Milo Lola Ribar kommandiert, der jeden Tag eine Kiste Bier oder zwei packte und jetzt lauter als alle brüllte, von wegen „wer gibt noch einen Scheiß“ auf Jugoslawien, wenn es letztes Jahr gegen die Ustascha aus Argentinien verloren habe, und dass es ihn im Leben nicht mehr interessiere. Neben ihm, schon unmittelbar vor dem Fernseher, stand Mali Mirso, ein Sechzehnjähriger, der ein erwachseneres Gesicht hatte als Bata Živojinović und sich auch so benahm und der jetzt alle Anwesenden auf das Ernsteste warnte, dass jetzt Schluss sei mit Sonnenbaden, Ferragosto und Feuerwerk in der Arena, aber nicht sagte, weshalb. Es waren hier, im Gemeinschaftsraum des Männerheims, noch ziemlich viele Schreihälse versammelt, deren unartikulierte Anfeuerungen uns aber unverständlich blieben, obwohl beim Anblick ihrer hochroten Gesichter klar war, dass sie alles gaben.

Direkt am Eingang, wo wir wegen des Gedränges stecken geblieben waren, stand Pulas berühmter Filmvorführer Cera. Cera ließ uns, seine „kleinen Komše“, seine kleinen Nachbarn, wie er uns nannte, umsonst zu den Abendvorstellungen im Kino Beograd. Dann war der Saal gewöhnlich leer, denn ganz Pula wusste, dass bei Cera nach acht Uhr die „Spulen durcheinanderkamen“ und er die Filme von der Mitte oder vom Ende her laufen ließ. Doch ungeachtet aller Liebe zur Biska, dem istrischen Mistelschnaps, war Cera einer der nettesten Menschen, die ich kannte, auch an diesem Tag drehte er sich, nachdem er gesehen hatte, dass keinem von uns auch nur im Geringsten klar war, was hier lief, zu uns um und erklärte uns: „Sollen die Janeze doch nach Luxemburg baden gehen, wenn sie Jugoslawien nicht mögen.“

Es war offensichtlich, dass bei Ceri die „Spulen“ heute schon erheblich früher durcheinandergekommen waren als gewöhnlich, und so sahen wir noch immer verwundert auf die von den Nachrichten hypnotisierte Menge vor uns. Alle lebten wir in der Überzeugung, dass TV Kalender eine noch interessantere Sendung als TV Dnevnik war, deshalb verstanden wir absolut Bahnhof von dem, was da geredet wurde. Siniša und Mario schlugen vor, dass wir uns verziehen sollten, und schon machten wir Anstalten zurückzumarschieren zu unserem Block, aber ich wollte ja den Typ mit der Beule sehen und machte einen Schritt nach vorn, um den Blick noch ein wenig über die Menge der immer mehr in Feuer geratenden Fernsehzuschauer wandern zu lassen. Doch anstelle des „Melonenmannes“ erblickte ich durch die Glaswand am gegenüberliegenden Ende des Raums niemand anderen als meinen Vater, der am Männerheim vorüber langsam nach Hause strebte.

Mein Vater schaute auf seinem Heimweg aus dem Dienst gewöhnlich wenigstens für ein paar Minuten bei den Heimbewohnern rein, trank ein Bier, erfuhr die Tagesneuigkeiten und kommentierte sie, meistens gemeinsam mit Mali Mirso, der sein Liebling war. Aber an diesem Tag, während Mirso auf dem Stuhl vor dem Fernseher stand und der versammelten Menge wütend zubrüllte, jetzt kämen „Zeiten, die auch die größten Idioten zur Vernunft bringen werden“, ging mein Vater in Gedanken versunken seinen Weg, ohne sich auch nur für einen Augenblick nach dem umzusehen, was sich nur wenige Meter von ihm entfernt abspielte.

Ich versuchte mich durch die Menge zu drängeln und ihn vor dem Eingang des Blocks gegenüber abzufangen, aber ich musste rasch erkennen, dass ich, wenn ich mich durch die Schreier drängelte, die mit den Händen fuchtelten, nur mein Glück herausforderte und mir ganz nebenbei eine „Arbeiterohrfeige“ einfangen konnte. Deshalb drehte ich um und beschloss, meinen Vater vor dem Supermarkt abzufangen. Soviel ich sehen konnte, schleppte er sich ungewöhnlich langsam dahin, und es bestand kein übertriebener Grund zu der Befürchtung, dass er mir entkommen könnte.

Sein Blick war leer wie der eines Blinden, und als ich vor dem Geschäft stand und beobachtete, wie er näher kam, sah es so aus, als würde er auch an mir vorübergehen, so wie er an der Menge im Männerheim vorübergegangen war. „Vorüber wie an einem türkischen Friedhof“, hätte Tante Enisa dazu gesagt. Aber er blieb doch stehen und umarmte mich mit aller Kraft, dass ich kaum Luft kriegte und unter seiner Uniform seinen gemeißelten Soldatenbauch spürte, den er so gern im flachen Wasser der Gortan-Bucht umherstapfend zur Schau stellte. Meine Mutter und ich neckten ihn deshalb, und er versuchte uns seine Geschichte vom Temperaturunterschied zwischen Wasser und Luft zu verkaufen und davon, dass es nicht gesund sei, gleich ins Meer zu springen. Mein Vater trank nie im Dienst und oftmals hatte ich ihn sagen hören, dass lediglich in Jugoslawien während der Arbeitszeit mehr getrunken werde als nach der Arbeit und dass das den Staat einmal ins allzu frühe Grab bringen werde, aber jetzt, da er mich mit seinen starken Armen so fest an sich drückte, dachte ich allen Ernstes, dass er betrunken wäre.

Endlich ließ er mich los, aber nur, um mich im nächsten Augenblick noch stärker am Arm zu packen und zu sich zu ziehen und mich dann seltsam anzusehen und nach langem Starren, weshalb ich schon dachte, er sei vielleicht nicht ganz bei sich, zu fragen, ob ich mit ihm auf dem Markt einen He-Man kaufen wolle.

Etwas war ganz böse durcheinandergeraten. Die Plastikfiguren der Helden meines geliebten Zeichentrickfilms waren mein liebstes Spielzeug, aber die hatte meine Mutter streng verboten, weil ich zu Hause schon drei hatte, He-Man, Skeletor und Teela, und ihr das mehr als genug erschien. Sie behauptete, dass die Figuren zu teuer seien und dass ich ohnehin nicht mit ihnen spielte, weil ich dafür schon zu alt sei. Sie sagte auch, dass ich sie nur deshalb kaufte, weil ich verwöhnt sei, und sah dabei auf ganz besondere Weise meinen Vater an, der so tat, als hätte er keine Ahnung, worum es ging.

*

Zum Markt gingen wir schweigend, und mein Vater blieb diesmal nicht alle paar Meter stehen, um rasch jemanden zu begrüßen, was gewöhnlich damit endete, dass ich den Beutel mit den Lebensmitteln vom Markt nach Hause trug, während er bis zum späten Abend „einen auf die Schnelle“ mit Vlatko oder Mate trank. Und dann am Abend betrunken meine Mutter umarmte, die sich ihm beleidigt zu entziehen suchte und unablässig wiederholte, dass er sich den nächsten Monat nur mit seinen Saufkumpanen in den Armen liegen werde. An diesem Tag ging er gesenkten Hauptes durch Pula und hatte unterwegs für Bekannte kaum ein Kopfnicken übrig, zu meiner großen Überraschung wollte er auch nicht an der Ruine beim Nikola-Tesla-Park haltmachen, wo wir fast schon rituell die barfüßigen „Pubertätlinge“ zählten, die immer mehr wurden im staubigen Hof eines Hauses, an dem schon zwei Jahre hindurch ein riesiges Graffito prangte: „KOSOVO REPUBLIKA – ISTRA KONTINENT“.

„Pubertätlinge“ hatten mein Vater und ich die Zigeunerkinder genannt, weil die am Ende der langen Mole der Badeanstalt Valkane jeden Tag massenhaft in kurzärmligen Hemden badeten, so wie Jovans Sohn Milan, ein dürrer Hänfling, der auf diese Weise, wie mir meine Mutter erklärte, vor den Mitschülerinnen schamhaft seine allzu augenfälligen Rippen verbarg.

Was die Zigeunerkinder in Valkane unter ihren Hemden verbargen, habe ich nie herausgefunden, hat mich aber auch nicht übertrieben interessiert. Mein Vater liebte die Zigeuner auf seine Weise und erzählte gern, dass er selber einer von ihnen sei. Vor allem wenn er bei Stanežić den geliebten Pleterje-Sliwowitz genossen hatte, erklärte er mit feierlichem Ernst, dass ihn, noch nicht größer als ein Laib Brot, seine Zigeunereltern, die außer ihm noch achtzehn andere Zigeunerkinder gehabt hätten, irgendwo vergessen hätten. Erst im Angesicht der Not hätten ihn ein freundlicher serbischer Onkel und eine noch freundlichere ungarische Tante adoptiert, die dann aber leider allzu früh verstorben seien und ihn als noch kleinen Jungen der Jugoslawischen Volksarmee hinterlassen hätten. Die Leute hörten meinem fröhlich aufschneidenden Vater immer voller Interesse zu und wussten nie so recht, ob er ihnen leidtun sollte oder ob sie ihn vielleicht um eine derartige Lebensgeschichte beneiden sollten.

Aber egal, ob meinen Vater einst wirklich Zirkuszigeuner vergessen hatten oder er sich alles zusammen nur ausgedacht hatte, um die traurige Geschichte von dem Waisenkind, das von Hauptmännern und Generälen erzogen worden war, auszuschmücken, Tatsache war, dass ich auch deshalb so oft an die He-Man-Figuren kam, weil der Zigeuner Maki sie verkaufte. Mit ihm konnte mein Vater endlos lange feilschen, selbst bis zu einer halben Stunde konnte er den Preis einer Figur von acht auf vier Dinar drücken, um ihm am Ende, wenn sich Maki mit der Niederlage abgefunden hatte und nur noch der Ordnung halber polterte, dass vier Dinar nichts anderes als das Ende für ehrliche Verkäufer von Schmuggelware bedeuteten, einen Zehner in die Hand zu drücken, ihm freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen und im Weitergehen zu sagen, dass er einen so ehrlichen Zigeuner sein Lebtag noch nicht gesehen habe.

An diesem Tag gab es kein Feilschen. Mein Vater drückte Maki wortlos das Geld in die Hand, und während ich Makis sonstigen bunten Ramsch nur mit dem Blick streifte, war er schon im Gedränge des Marktes verschwunden. In diesem Moment machte ich mir zum ersten Mal Sorgen um meinen Vater und begann mich fast in Panik durch die Menge zu drängen. Ich hatte plötzlich Angst, dass mein Vater in Gedanken auf die Straße treten könnte, ohne nach links und rechts zu sehen, und dass ihn ein wild gewordener italienischer Tourist oder ein betrunkener Opa auf seiner Vespa überfahren könnte. Mit meiner neuen Plastikfigur rannte ich deshalb immer nervöser den Markt rauf und runter und verrannte mich dabei in Damen in blumengemusterten Kleidern, aber mein Vater blieb spurlos verschwunden. Für einen Moment schoss es mir, dass er vergessen haben könnte, dass wir zusammen gekommen waren, und dass er einfach zum Mittagessen nach Hause gegangen war, als ich endlich sah, wie er vor dem Eingang zum Supermarkt stand und verwirrt um sich blickte. Ich wollte schon zu ihm laufen, als jemand die Hand auf meine Schulter legte und mich zurückhielt. Ich drehte mich um und sah Maki, der mich mit seinen großen schwarzen Augen besorgt fixierte: „Viel komisch, Brüderchen, dein Alter heute. Wenn er bloß nicht auch die Prekomanda gekriegt hat, ha?“

Nie zuvor hatte ich das Wort „Prekomanda“ gehört und ich hatte keinen Schimmer, was es bedeutete. Ich war elf Jahre alt und träumte nur davon, dass sich Mario diesen Sommer das Boot seines Vaters ausleihen könne und wir drei allein nach Fratarski otok, unserer Badeinsel, fahren würden.

2

KOSOVO REPUBLIKA – ISTRA KONTINENT!

Ich hatte keine Ahnung, woher gute sechzehn Jahre später plötzlich dieses längst vergessene Pulaner Graffito kam, aber es schien, als würden die Buchstaben im Rhythmus meines immer wilder klopfenden Herzens zittern. Die Bilder, Gesichter und Orte, die ich einst tief unter der Oberfläche des Bewusstseins vergraben hatte, blitzten jetzt vor meinen Augen auf wie in einem verrückten MTV-Video. Mein früheres Leben kehrte in Form einer Halluzination zurück, und ich hatte das Gefühl, mich in einem wahnsinnig gewordenen Karussell zu befinden, das mich jeden Moment unwiederbringlich hinaus in eine Welt werfen würde, von der ich überzeugt gewesen war, dass es mir vor Langem schon gelungen sei, sie aus der Erinnerung zu löschen. Mein aufgewühltes Unterbewusstsein brach hervor, und gegen meinen Willen überließ ich mich ihm immer mehr. Die dicken schwarzen Buchstaben auf den weißen Mauern von Pula blinkten immer stärker, und es schien, als wollten sie im nächsten Augenblick auffliegen, zusammen mit den Steinquadern, die sie einst geziert hatten.

K-O-S-O-V-O-R-E-P-U-B-L-I-K-A-I-S-T-R-A-K-O-N-T-I-N-E-N-T!

Ich setzte mich in meine zwanzig Jahre alte Rostschüssel, die ich in der Garage neben dem Heizwerk in Moste geparkt hatte. Ich hätte zu Enes fahren müssen, meinem fast legalen Automechaniker und Ex-Mitglied der Gruppe VIS-Saneri, damit dieser berufsmäßige Traumtänzer aus Donji Vakuf meinen müden Straßengaul für die erste längere Fahrt nach vielen Jahren herrichtete, aber stattdessen starrte ich regungslos an die Garagenwand, auf der meine Halluzinationen tanzten. Ich versuchte mein linkes Bein ins Auto zu zwängen und auf die weiche japanische Kupplung zu treten, aber das Bein, als gehörte es jemand anderem, klebte am Betonboden der Garage und interessierte sich nicht im Geringsten dafür, dass Enes’ beliebig gleitende Arbeitszeit vermutlich am Auslaufen war. Für einen Augenblick fürchtete ich sogar, dass es mir nie mehr gelingen werde, mich aus diesem Hirn-Körper-Winterschlaf herauszureißen.

Wer weiß, wann ich zuletzt an die Dinko-Vitezić-Straße in Pula gedacht hatte, an die weißen Offiziers-Blocks und an meine dortige Kindheit vor dem Sommer des Jahres 1991. Ich hatte all das einst in der Erde verscharrt, ohne Grabstein, ohne Kreuz, ohne Kerzen, ohne Trauerrede, ohne Trauerzug, und war ohne Blick zurück weit wegmarschiert, überzeugt, dass diese vergessene Welt nie mehr zum Leben erwachen würde. Und jetzt auferstand sie Stück für Stück unversehrt aus den Tiefen der Erinnerung und paralysierte mich in meiner eigenen Garage. Schon mehr als zwanzig Minuten unbeweglich, versuchte ich vergeblich in den Zustand klinisch-psychischer Lethargie zurückzufinden, in den mir so teuren Gleichmut, der mich all die Jahre vor dem Einbruch unbeherrschbarer Gefühle bewahrt hatte. Aber ich konnte mich keinen Millimeter bewegen. Mein bis vor Kurzem verstorbener Vater hatte mich fast sechzehn Jahre nach seinem Tod so unbarmherzig mit seiner Unsterblichkeit aus dem Hinterhalt überfallen, dass ich fast physisch spüren konnte, wie in mir das Gefühl des Grauens zunahm und mich mit seinem gewaltigen Gewicht zu Boden drückte.

Für einen Augenblick schien mir, dass jemand an der Garage vorüberging. Wer immer es war, es war so oder so sinnlos zu erwarten, dass er stehen bleiben und nachsehen würde, was hinter der offenen Tür vor sich ging. Warum sollte es denn auch in dieser Stadt von Ignoranten überhaupt jemanden interessieren, dass ich schon eine ganze Ewigkeit in meinem ausgedienten Auto saß, ein Bein aus ihm hinausstreckte und mit der rechten Hand wie abwesend auf dem mit Klebeband bezogenen Lenkrad herumtastete. Den hier lebenden Wesen ist es allemal lieber, wenn alles normal ist, wenn alles, auf das sie stoßen, so alltäglich ist wie immer.

Alles war zurückgekehrt. Pula und seine geistreichen Graffiti, das Hotel Bristol in Belgrad, die unerträgliche Schwüle von Novi Sad. Zurückgekehrt war Ljubljana, jenes Ljubljana, wie es damals war. Zurückgekehrt war meine Mutter, als sie noch meine Mutter war. Der Erinnerungskarneval in meinem Kopf erlebte gerade seinen Höhepunkt und jetzt begann das große Feuerwerk. Die Bilder begannen so rasch zu wechseln, dass ich sie nicht mehr unterscheiden konnte, und ich empfand immer noch die lange unterdrückten ungefilterten Gefühle des Elfjährigen nach. Alles vermischte sich miteinander, und im nächsten Augenblick war da nur noch ein unbestimmtes Glitzern. Ich begann nach Luft zu schnappen, ich war am Ersticken und spürte, wie ich das Bewusstsein verlor. Meine unschuldige Lüge, die mir eine Woche Krankenstand beschert hatte, wurde bei dem Befinden immer geringer und meine Kaffeeautomaten vermissten mich mit immer mehr Berechtigung.

Mit aller Gewalt versuchte ich mich zusammenzureißen, versuchte daran zu denken, um welche CD aus dem Auto mich Nadja gebeten hatte, richtete den Blick in die Ecke der Garage und versuchte, um mich in miese Stimmung zu bringen, zu ergründen, was sich in den zerdrückten Pappschachteln verbarg, wer sie überhaupt dort abgestellt hatte und warum derjenige aus der Garagenecke einen Lagerplatz für Stückgut gemacht hatte.

Ich startete den Rosthobel. Er rasselte und spuckte, der alte Hurenbock, aber er sprang schon beim ersten Versuch an, wofür ich ihm unendlich dankbar war. Ohne mich bewusst entschlossen zu haben, drückte ich aufs Gas, und die Schüssel setzte sich rückwärts in Bewegung. Im selben Moment vernahm ich lautes Scheuern. Ich sah, wie die offene Tür an der Garagenwand entlangkratzte, und zog im letzten Augenblick die Handbremse, bevor die Tür an den Türstock knallen, sich bis zur Unkenntlichkeit verformen und das Fenster in tausend kleine Stückchen zerbersten würde.

Ich stellte den Motor wieder ab.

*

„Wann fährst du?“

„Weiß ich nicht.“

„Wann brauchst du das Auto?“

„Bald. Wenn möglich, morgen.“

„Und wohin fährst du?“

„Weiß ich nicht … noch nicht.“

„Hör mal … weißt du nicht … noch nicht! Du bist wirklich wie mein Žiga. Er weiß, dass er einmal den Gockel machen wird, denn er ist jung und sieht gut aus. Er weiß nur nicht, wen er gockeln wird und wann.“

Enes spulte seine üblichen Sprüche ab, bevor er die Schraubenschlüssel in die Hand nahm, und murmelte, dass er anrufen werde, wenn das Auto fertig sei. Er war eben der Chef, nach langen Jahren des Malochens für ihm gleichende Kretins, und konnte endlich seine Ventile und Auspuffe so richtig auslüften. Seine halb illegale Werkstatt Dino, die er nach seinem Erstgeborenen benannt hatte, lag versteckt an der Eisenbahnstrecke gegenüber dem Stadion in Šiška. „Sie ist so gut versteckt, dass hier selbst die Šiptari noch nie ihr Eis verkauft haben“, beschrieb er sein schwarzes Loch jedem armen Kerl, der sich unglücklicherweise zu ihm verirrt hatte. Jetzt war dieser arme Kerl ich, und Enes schob endlich seinen bosnischen Kopf unter die Haube.

„Wer hat dir den Ventilator gewechselt?“

„Nadja ist gefahren …“

„Und warum hast du ihn nicht zu mir gebracht?“

„Das Auto ist mitten auf der Straße stehen geblieben …“

„Und wohin hat sie es gebracht?“

„Nach Dolgi most.“

„Nach Dolgi most. Und … wie viel hat ihr das Untier dafür abgenommen?“

„Ich erinnere mich nicht.“

„Sieh her, wie er das … Und warum hat sie dich nicht gerufen, damit du mich rufst?“

„Die Slowenen funktionieren nicht so.“

Dieses magische Argument stellte ihn völlig zufrieden.

„Ah, gut. Macht nichts. Werden wir schon richten.“

Bei Enes schlug ich trotzdem sinnlos mindestens eine halbe Stunde tot und fragte mich in dieser verlassenen Einöde mitten in der Stadt, ob ich vielleicht auch Rabatt bekäme, wenn ich in seinen Augen nicht als „einer von uns“ gälte. Natürlich fiel mir nicht im Traum ein, jeder Pfeife aus Donji Vakuf zu erklären, dass ich mich nie als einer von ihnen gefühlt hatte und auch keiner von ihnen zu sein wünschte. Leichter, aber auch billiger war es, die Zähne zusammenzubeißen und sich mit ihm „auf Unsrisch“ auszutauschen und sich nebenbei mit Vermutungen zu beschäftigen, wie viel Rabatt ich wohl als slowenischer Janez ausgehandelt hätte.

„Ich frag dich nicht, weißt du … ohne Grund, wohin du fährst. Ich meine, das ist mir scheißegal, fahr, wohin du willst … meinetwegen auch nach Slovenske Konjice, aber der Unterschied ist, ob du rauffährst oder runter.“

„Wie meinst du das?“

„Sieh her. Rauf, da hast du feine Straßen, ohne Löcher. Schön aufs Gas und du schnurrst dahin. Aber runter … du weißt selbst, wie es ist.“ Ich hatte keine Ahnung. Jenseits der Kolpa war ich schon „seit damals“ nicht mehr.

„Ich fahre runter.“

„Aha. Žiga! Žigaaa! Herkommen! Dieses Auto bringst du auf Vordermann … dass es läuft wie ein kleines Küken. Der Junge ist einer von uns. Ein Bosnier.“

„Sind das nicht alle?“

„Red keinen Scheiß.“

Žiga griff mit seinen schwarzen Händen nach den Schlüsseln und setzte sich ins Auto. Die Schüssel sprang diesmal erst beim dritten Versuch an.

„Was lachst du, jebem ti ćaću tvoga. Im ehemaligen Jugoslawien haben wir, die Bosnier, gevögelt, alle Übrigen haben sich vermehrt – wie die Ratten. Ihr beide seid jung und wisst das nicht, aber mindestens die Hälfte all dieser Janeze, Ivane und Jovane, die sich jetzt auf dem Balkan aufspielen, hat irgend so ein Mujo oder Suljo gemacht.“

Enes war ein glücklicher Mensch. Er hatte eine Gemeinde, die ihm nicht widersprach, und das war auch alles, was er sich jemals gewünscht hatte.

„In den Zeiten konnte ein Bosnier anmachen, welche immer er wollte, nur dass sich keine mit ihm verheiraten wollte. Die Jugoslawinnen wollten nicht, dass der Kindsvater Mujo hieß. Oder Enes. So weit reichte ihre berühmte Brüderlichkeit und Einheit nicht. Und deshalb ist es überhaupt kein Wunder, dass es so geendet hat.“

*

Als ich von der Werkstatt Dino zurück in die Laibacher Zivilisation marschierte, war mein Befinden in einem derart kritischen Zustand, dass mich nicht einmal die Laibacher Taxifahrer in schlechtere Laune versetzen konnten. Ich setzte mich in einen blauen Opel Vectra und beschloss, lieber zehn Euro einzubüßen, als mich damit zu beschäftigen, ob der Verdächtige irgendeinen Knopf am Taxameter drücken würde, der sich dann mit der Geschwindigkeit von drei Euro die Minute dreht, oder ob er mich von Šiška zur Poliklinik über Ravbarkomando fahren würde.

Noch weniger hatte ich Lust, mich mit ihm zu unterhalten und zu hören, dass gestern Abend eine Polizeikontrolle in der Celovška war und wie es sich im Zentrum gestaut hatte, denn die Hutfahrer schalten an der Ampel in den Leerlauf und ziehen die Handbremse. Für keine Taxidebatte hatte ich auch nur annähernd genügend Energie, deshalb sah ich aus dem Fenster und studierte die wahnsinnig aufregenden Panoramen der Drenikova und Topniška ulica, während der abgeranzte Opel in seliger Stille Richtung Stadtmitte brauste.

„Ist es hier in Ordnung?“

Er hielt an der Bushaltestelle in der Njegoševa, und der Taxameter zeigte sechs Euro fünfzig Cent. Ich stieg aus, überquerte die Straße und befand mich vor dem Eingang zur Poliklinik, ohne richtig zu wissen, was ich dort anfangen würde. Der Gedanke, noch einige Zeit dort warten und mir die gemischte Prozession baldiger Leichname, Gebrochener und Hypochonder ansehen zu müssen, gefiel mir nicht unbedingt, aber ich hatte ohnehin das Gefühl, schon drei Tage im Wartezimmer einer sozialistischen Zahnambulanz zu sitzen. Außerdem war ich psychisch noch immer nicht bereit, hineinzumarschieren und in diesem Kampf auf alles oder nichts die Initiative zu übernehmen.

Passive Aggression sagte mir im augenblicklichen Zustand viel mehr zu. Ich lehnte mich an eine Säule und bereitete mich darauf vor, für eine unbestimmte Zeit den Blick vorsichtig von einem Patienten zum anderen schweifen zu lassen, damit nicht ein Invalide zufällig das Gefühl bekäme, ich würde ihn anstarren, denn meine Mutter hatte mich einst gelehrt, dass das nicht höflich sei. Duša, die schon hundert Jahre an der Poliklinik arbeitet, weiß über diese Dinge Bescheid.

*

„Ich brauche nichts. Ich will mir nur eine anzünden.“

Die Dame mit dem Rollator bewegte sich auf mich zu, hinter ihr im Eingang stand verwirrt ein Glatzkopf, vermutlich ihr Sohn, der nicht wusste, ob er nach der Jacke laufen, die Dame mit Gewalt ins Warme zurückziehen oder sich selbst auch eine anzünden sollte. Er wirkte wie ein Mensch, der reichhaltige Erfahrung mit einfachen Fragen hat, auf die er keine einfachen Antworten findet, und der nach längerem Überlegen befindet, dass es wohl das Beste sei, wenn er irgendwohin die Stufen hinunterginge. Die Dame machte neben mir halt, zog eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie sich an.

„Willst du auch eine?“

Ich nickte, und sie reichte mir auch ihr Feuerzeug, sodass ich mir nach langer Zeit wieder einmal eine anzündete. Ich bin kein Raucher, aber dann und wann hatte ich nichts gegen eine Dosis Gift in den Adern.

„Und, sind Sie gesund oder krank?“

„Gesund.“

„Dann sind wir schon zwei. Nur diese modernen Kinder und Enkel kapieren nicht, dass ein Mensch mit achtzig alt ist, und bringen mich hierher zu irgendwelchen Untersuchungen, und dann finden die Holzköpfe hier jedes Mal was. Mal das Cholesterin, dann die Gefäße, dann, ach scheiß doch drauf. Danach möchten mich die Gimpel bei der Unterwasser-Aerobik einschreiben, und sie lassen mich nicht rauchen und Braten essen und was weiß ich was noch. Hört doch auf mit dem Scheiß, hab ich gesagt, nun mal halblang, dass ich in Frieden gesund sterben kann, so wie es sich gehört, statt dass ihr mich hier wie ein Pflänzchen begießt.“

Während ich versuchte, an den richtigen Stellen zu nicken, um wenigstens nach außen so zu wirken, als würde mich die Lebensgeschichte der Dame mit dem Rollator interessieren, war Duša unbemerkt an uns beiden vorübergegangen, sodass ich sie erst bemerkte, als sie schon gute zehn Meter weg war. Ich warf den halb gerauchten Tschick ins Gebüsch und stürmte ihr nach.

„Duša! Dušaaaaa! Dušaaa!“

Sie war schon am Zebrastreifen, als sie sich endlich umdrehte und mich wahrnahm. Sie war keine, die das Leben überraschen konnte, und noch weniger zeigte sie die Überraschung. Die Tatsache, dass sie mich zum ersten Mal seit Monaten sah und dass ich erst nach mehreren Jahren wieder einmal vor dem Eingang zur Poliklinik auf sie wartete, nahm sie so ausdruckslos hin, als würde sie die Reprise einer mexikanischen Seifenoper sehen. Ich hätte sie hassen können wegen dieses Blicks, wenn ich ihn nicht einst auch bei mir entdeckt hätte und wenn ich sie nicht schon wegen so vieler anderer Sachen gehasst hätte. Aber so, wie ich sie jetzt hasste, hatte ich es noch nie getan. Vielleicht nur damals, als sie eines Tages beschloss, mit mir nur noch Slowenisch zu sprechen. Ich sprach mit ihr noch immer Serbokroatisch, und selten mit solchem Genuss wie heute.

„Und was machst du hier?“

„Wo ist er?“

„Wer?“

„Ich will die Nummer, die Adresse, egal was. Ich will wissen, wo er ist.“

„Von wem redest du?“

„Du weißt schon.“

Meine Terminator-Mutter kam mir für einen Moment sogar schockiert vor, aber schon im nächsten Moment lief sie über die Straße, als wollte sie vor dem eigenen Sohn flüchten. Ich hoffte, dass sie wenigstens auf der anderen Straßenseite stehen bleiben würde, aber Seelchen strebte seelenlos fort zu ihrem Auto, das sie schon seit mehreren Jahren in der Ilirska parkte. Ihr Mann Dragan hatte ihr über seine Kanaken-Verbindungen eine Parkgenehmigung für Anwohner beschafft, damit Frau Ćirić nicht fürs Parkhaus bezahlen musste. Ich wusste, dass sie fähig war, sich in ihren kackgelben Clio zu setzen und nach Hause in Fužine zu fahren, ohne mit mir auch nur noch ein Wort gesprochen zu haben. Duša hatte sich nach alter Gewohnheit einfach ausgeklinkt.

Ich zog sie am Ärmel, aber sie blieb nicht stehen. Jetzt war es offensichtlich, dass sie tatsächlich vorhatte wegzufahren, und mir blieb nichts anderes übrig, als sie von ihrem Auto wegzuziehen und zu versuchen, sie zum Reden zu bringen.

„Ich weiß, dass er lebt, und ich will ihn sehen.“

Statt einer Antwort versuchte sie sich mit Gewalt aus meiner Umarmung zu befreien. Mit den Händen drängte sie mich zur Seite und sie versuchte sogar, nach mir zu treten, aber das ging ihr zu meinem Glück nicht besonders gut vom Fuß. Ich hielt sie weiter fest um die Mitte gefasst und wartete, dass sie sich beruhigen und aufhören würde mit dem idiotischen Herumgezapple. Aber Duša war hartnäckig, und einen Augenblick später bohrte sie ihre langen roten Fingernägel in meine Hand. Reflexartig zog ich sie zurück, sodass es uns beide gegen den Zaun am Rand des Gehwegs schleuderte, und während sie schwankte und um das Gleichgewicht kämpfte, stellte ich mich zwischen sie und ihren Clio. Natürlich versuchte sie an mir vorbeizukommen, aber ich schob sie ohne Schwierigkeiten zurück.

Mehrmals hatte ich sie schon in Verdacht gehabt, dass sie dann, wenn sie sich ausklinkt, nicht ganz bei sich ist, aber nie so ernstlich wie jetzt, als sie auf dem Gehweg ein paar Meter von mir weglief und dann buchstäblich auf die Fahrbahn sprang, um an ihr Auto zu kommen. Erst als ich auch das verhinderte, hielt sie endlich ein. Sie trat zurück auf den Gehweg und schnappte nach Luft. Ein, zwei Minuten später drehte sich Duša endlich zu mir um.

„Komm morgen in der Pause, dann unterhalten wir uns in Ruhe.“

Noch immer wirkte sie ausgeklinkt.

„Versprich es.“

„Versprochen.“

*

Ihr Versprechen bedeutete mir nicht viel, aber ich kannte meine Mutter und wusste, dass es das Höchste war, was ich von ihr bekommen konnte. Meine Hoffnung, dass sie morgen tatsächlich erscheinen würde, beruhte nur darauf, dass es diesmal ernst war und dass diese Information vielleicht auch bis zu ihrem abgeschalteten Betriebssystem durchgedrungen war. Ein wenig rechnete ich auch damit, dass es Duša klar war, dass ich genau so ein Sturschädel war wie sie und dass ich endlos lange vor der Poliklinik warten konnte. Aber in diesem Augenblick, als sie mit ihrem Clio in die Zaloška einbog, war ich trotzdem nicht überzeugt, dass ich sie am nächsten Morgen tatsächlich zu sehen kriegen und es mir gelingen würde, ihr irgendetwas aus der Nase zu ziehen.

Es reizte mich, mich in irgendeinen obskuren Stadtbus zu setzen, etwa den Dreizehner, und zwei oder drei Runden durch die Stadt zu machen, aus dem Fenster zu starren und wie ein vergessener Schal in Gesellschaft autistischer Teenager auf dem Weg aus der Schule dazuhocken, aber es war schon fast drei und mir war klar, dass ich in keinem Bus einen freien Sitzplatz finden würde. Und wenn, würde sich schon an der nächsten Haltestelle eine alte Oma mit ihren Markttüten vor mir aufbauen und mir mit vorwurfsvollem Blick und planvollem Vorschieben ihrer Beutel in meinen Schoß zu verstehen geben, ich solle von dem ihr zustehenden Platz verschwinden.

Deshalb trabte ich am Klinischen Zentrum vorbei mit der festen Absicht, auf dem Weg nach Hause, bis zur Kajuhova, eine wenigstens annähernde Idee zu bekommen, wie ich das alles – oder was immer von dem allen – Nadja sagen soll. Beziehungsweise was ich ihr auftischen soll, wenn ich schon mitten im Eröffnungssatz feststelle, dass ich ihr nichts sagen kann. Was in Wirklichkeit eine sehr reale Möglichkeit war.

Nadja hatte ich nach fast drei Jahren noch immer nicht völlig ausstudiert. Mir war auch nicht klar, was sie an mir fand, und ich hatte keine Vorstellung, wie sie unsere Verbindung sah. Sie stammte aus einemganz anderen Film, eine ausgezeichnete Studentin der Mikrobiologie aus einer ordentlichen Vorortsfamilie. Vor allem gehörte sie zur Generation der ganz Coolen, die sich wegen täglich neuer Weltuntergangsprophezeiungen keinen dicken Kopf machen. Seit sie ihre Pickel weggekriegt hatte, gab es für Nadja keine Probleme mehr, oder aber ich hatte sie in meiner ererbten Unempfindlichkeit noch nicht bemerkt. Manchmal schien es so, als wäre sie nur deshalb mit mir zusammen, weil ein fast zwei Meter großes lebenslang unlösbares Problem, das ihr konkret das Leben verkomplizierte, das Einzige war, was ihr in ihrer noch nicht abgeschlossenen Kindheit fehlte.

Wenn ich Nadja gegenüber irgendetwas fühlte, war das höchstwahrscheinlich Dankbarkeit. Ich war ihr dankbar, dass sie nicht in mir herumstocherte, weil sie meine komplizierte Lebensgeschichte nicht interessierte, und sie nicht an dem Trauma litt, dass ich sie noch nicht meiner Mutter vorgestellt hatte. Die Unbelastetheit mit mir in jeder Hinsicht war mir bei ihr unendlich sympathisch, und ich fürchtete, dass ich mit der Geschichte von meinem bis vor Kurzem verstorbenen Vater alles verderben würde.

*

„Dieser Schlamm ist nur Pose! Damit du sagen kannst, dass du dich beim Rock Otočec im Schlamm gewälzt hast.“

„Bist du verrückt? Hör mal, hat dich nicht mal so ein Typ im KMŠ angemacht und zu dir gesagt, dass er sich dieses Jahr im Schlamm gewälzt hat und ob du jetzt mit ihm gehst?“

Mein Dilemma lösten an diesem Abend zum Glück vorübergehend Nadjas Studiker. In unser gemietetes kleines Loch waren nämlich ihre beiden steirischen Kommilitonen eingefallen, die vielversprechenden Mikrobiologen Matjaž und Nina, die gerade dabei waren, zusammen mit Nadja unsere irrtümlich erstandenen Dosen Laško zweckdienlich zu entsorgen. Die drei, die mit dem Studium nur die unendliche Freiheit verbanden, die der Auszug von zu Hause mit sich brachte, und deshalb im Studium der Mikrobiologie an der Laibacher Fakultät das Paradies auf Erden sahen, waren, als ich nach Hause kam, bereits geraume Zeit mitten in ihren lebenswichtigen Debatten und kümmerten sich nicht übertrieben um meine Anwesenheit. So konnte ich mich ins Schlafzimmer verziehen und einzuschlafen versuchen.

Mein Studium hätte sich von ihrem nicht mehr unterscheiden können. Ich hatte mich an der Fakultät nur deshalb eingeschrieben, um an die Krankenscheine des Studentenservice zu kommen und so meinem Ex-Chef und Ex-Kriminalisten Dare dabei zu helfen, das System auszutricksen. Jahre später war es mir dann gelungen, mich davon zu überzeugen, dass tägliches Einschlürfen von Wissen auch eine Möglichkeit der Ordnungs- und Sinngebung für mein chaotisches Lebens sein konnte, und so begann ich mit einer Vielzahl junger Enthusiasten zu den Vorlesungen an der Philosophischen zu strömen. Dort hörte ich den einen Tag über die linguistischen Theorien Noam Chomskys, den anderen über Entwicklungspsychologie und am dritten über slawische Mythologie. Schon das dritte Jahr war ich im zweiten Jahrgang Ethnologie und Kulturanthropologie und hatte es nicht besonders eilig voranzukommen. Vorlesungen hörte ich aber noch immer gern, und manchmal genoss ich es sogar, danach mit den Kommilitonen auf ein Bier oder zwei zu gehen. Das war aber auch alles. Dass ich mich mit ihnen regelmäßig auf den Studentenpartys abfüllte, war für mich auch weiterhin unvorstellbar.

„Willst du sagen, dass jemand das wirklich gut findet. Dass einer das dort wirklich genießt? Hör doch auf! Alle gehen nur deshalb hin, damit sie hinterher erzählen können, wie betrunken sie waren, dass sie dort gleich im Schlamm gevögelt haben!“

„Ich sage nur, für manche Leute ist das echt Party!“

„Ach komm, hör doch auf.“

Vermutlich gab es heute Abend keine Debatte, die die Wand meiner Schlafkoje ungehindert durchdringen würde, und ich versuchte mich auch nicht darauf einzustellen, damit mir die drei zukünftigen Mikrobiologen nicht auf die Nerven gingen. Die ganze Welt ödete mich an und es gab überhaupt keinen Grund, dass die drei eine wie auch immer geartete Ausnahme wären.

„Bist du okay?“

Nadja hatte ihre Dosis intus und lächelte mir an der Tür stehend neckisch zu. Vermutlich war sie pinkeln gewesen und hatte sich auf dem Weg aus der Toilette erinnert, dass sie einen Freund hat.

„Wir gehen in die Metelkova die Sau rauslassen. Gehst du mit?“

Sie wusste, dass ich nicht der Typ für die Metelkova bin und dass ich, wenn es sich nur einrichten ließ, den Sauf- und Fresströgen in der ehemaligen Kaserne planmäßig auswich. Was natürlich nicht bedeutete, dass meine nächtlichen Streifzüge nicht häufig in der Metelkova endeten, aber aus eigenem Willen beziehungsweise nüchtern ging ich dort nicht gern hin.

„Soll ich dich wecken, wenn ich nach Hause komme?“

Nadjas Lächeln wurde noch neckischer und reizte zweifellos. Aber diese Nacht war ich leider nicht übertrieben erektiv gestimmt.

„Nicht nötig.“

„Gut. Dann gute Nacht.“

Die mikrobiologische Bande schaffte es unter betrunken klingendem Flüstern langsam doch hinaus, aber ich war deshalb dem Schlaf kein bisschen näher gekommen. Immer noch musste ich an die morgendliche Begegnung mit Duša denken, an meinen Vater und an alles, was mir Duša vielleicht sagen, vielleicht aber auch verschweigen würde.

Ich war wach, als Nadja gegen halb fünf durch die Tür gerumpelt kam und vergeblich versuchte, leise ins Bett zu gelangen. Heimlich beobachtete ich sie, als sie sich auszog, in der Meinung, dass mich ihre Nacktheit wenigstens für einen Augenblick ablenken werde, aber auch ihr junger Körper hatte nicht so viel übernatürliche Macht, dass er mich aus dem augenblicklichen Zustand totaler gefühlsmäßiger Todesstarre herausgeholt hätte.

Sie legte sich neben mich und war im Nu in einen ruhigen trunkenen Schlaf gesunken. Ihr langes braunes Haar verströmte den Geruch von Gras und ich dachte, dass ich mir mit einem Joint helfen könnte, aber ich hatte keine Lust, aufzustehen und mitten in der Nacht in ihrem Täschchen herumzukramen. Bald hörte ich, wie sie ganz leise schnurrte, wie jedes Mal, wenn sie es mit dem Bier übertreibt. Ich wusste, dass sie mich nicht hören würde, auch wenn ich ganz laut brüllte, und wagte es, mir vorzusagen:

„Mein Vater ist nicht tot. Aber dafür ist er ein Kriegsverbrecher.“

*

„Wir treffen uns um 11:00. Schlage vor Zweite Hilfe. LG, Duša“

Wenn es bei der Poliklinik ein chinesisches Restaurant gegeben hätte, würden wir uns im chinesischen Restaurant treffen. Weil aber in der Nähe nur die „Zweite Hilfe“ war, trafen wir uns dort. Duša pfiff schon seit jeher auf ein lauschiges Ambiente in ihrem Alltag, und was mich anging, hätten wir uns an diesem Tag auch im Heizraum oder im Operationssaal treffen können. Wie auch immer, ihre Nachricht, die mich um halb acht Uhr morgens weckte, ließ mich wenigstens wissen, dass es mir schließlich doch gelungen war einzuschlafen.

Duša war ähnlich unausgeschlafen wie ich, mit schlecht verdeckten Augenringen, und es hatte den Anschein, dass es endlich auch bei ihr den Nerv getroffen hatte, was eine angenehme Überraschung war. Sie bestellte einen doppelten Kaffee und ein großes Glas Wasser und zündete sich eine Zigarette an. Auch mir bot sie eine an und fragte, ob ich rauche, aus Höflichkeit, wie man das lediglich einen Unbekannten bei der ersten Begegnung fragt. Wir saßen also am Tisch auf der Terrasse der Zweiten Hilfe und rauchten und mir fiel auf, dass wir den Tschick auf fast gleiche Weise hielten. Ich sah aber auch, dass ihre Hand zitterte.

„Ich habe nicht viel Zeit, also sag mir, was du von mir willst.“

„Ich will ihn sehen.“

„Du weißt doch, dass du das nicht kannst. Er versteckt sich. Sie suchen ihn.“

„Das ist mir egal.“

„Niemand weiß, wo er ist.“

„Du weißt es?“

Sie schüttelte den Kopf. Duša vermied es, mir in die Augen zu sehen. Dafür hatte sie in den wenigen Minuten schon dreimal auf die Uhr gesehen und sich sechsmal zum Eingang des Lokals umgedreht.

„Das letzte Mal hat er sich bei mir vor drei Jahren gemeldet. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt.“

Ich rechnete auf die Schnelle nach, wie viele Jahre es her war, dass sich Duša entschlossen hatte, mir die erschütternde Nachricht mitzuteilen, dass mein Vater irgendwo an der Front gefallen sei. Zwölf Jahre hatte sie Kontakt mit ihm gehabt, Kontakt mit einem Toten, gefallen in einer Offensive gegen den gesunden Menschenverstand.

„Von wo hat er sich bei dir gemeldet?“

„Ich denke, es ist besser …“

„Von wo hat er sich bei dir gemeldet?“

„Er versteckt sich vor allen. Warum glaubst du …“

„Von wo hat er sich bei dir gemeldet?“

„Aus Brčko.“

„Adresse?“

„Warum glaubst du, dass er mir …“

„Vielleicht hat er gehofft, dass du ihn besuchst. Oder dass ich ihn besuche. Dass wir ihm schreiben …“

„Vlado, schau …“

„Die Adresse!“

Die Kellnerin brachte Duša den doppelten Kaffee und ein großes Glas Wasser und mir irgend so einen Saft. Duša zahlte sofort und sagte, sie habe es eilig.

„Die Adresse!“

„Er hat gesagt, dass er nicht an dieser Adresse bleiben werde, dass er woanders hingeht, dass er dort nicht mehr sicher ist. Drei Jahre ist das her. Eine neue habe ich nie bekommen.“

Ich hätte „Die Adresse!“ mit gleichem Ton noch hundertmal wiederholen können. Ich hätte dieses Wort bis morgen früh wiederholen können, und Duša wusste das. Sie leerte das Glas Wasser und machte sich an den Kaffee.

„Ich weiß ja, dass du mir nie verzeihen wirst, weil ich gesagt habe, dass er tot ist. Aber ich muss dir auch sagen, dass er in all den Jahren, in dieser ganzen Zeit, niemals, nicht ein einziges Mal gesagt hat, dass er unschuldig ist. Das hat er mir nie gesagt. Und er hat auch nicht gesagt, dass es ihm leidtut. Ich möchte nur, dass du weißt, dass die Möglichkeit besteht, dass er wirklich schuldig ist. Ich will, dass du das weißt. Nur das.“

*

„Da, so gut wie fertig.“

Enes hatte vermutlich keine Ahnung, was in seiner Werkstatt mit meiner Schüssel geschehen war, die er auf Gedeih und Verderb Žigas jugendlichem Ungestüm überantwortet hatte. Höchstwahrscheinlich schien ihm der zwanzig Jahre alte japanische Motor, der Benzin und Öl schluckte wie ein Sattelschlepper, geeignet für das Training eines begabten Neulings in seinem automechanischen Viertligaklub. Dieser, der unbestrittene Star der Mannschaft im ewigen Aufstieg, genehmigte sich unterdes irgendwo ein kleines Bier mit Birnenschnaps und unterhielt mit seinen Scherzen „unsere Leute“ im Lokal „von einem von uns“.

„Wann kann ich kommen?“

„Wann fährst du?“

„Morgen.“

„Dann komm am Nachmittag.“

„Und wie viel wird mich das Ganze kosten?“

„Das bereden wir dann, mein Vladika. Wir sind Menschen, keine Slowenen.

3

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