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Das, was du siehst, ist nicht.

Und für das, was ist, hast du keine Worte.

Kabir (ca. 1440 bis 1518 n.Chr.)

Ein Affront In einem Straßencafé sitzen sich zwei ältere Damen gegenüber. Sie kennen sich nicht. Sie essen Obstkuchen und trinken schwarzen Kaffee, den sie aus Kännchen in ihre Tassen gießen. In einem Moment des Innehaltens sagt die eine Dame zu der anderen, es sei doch ein Affront zu sehen, wie heutzutage gegen alle guten Sitten verstoßen werde. Zu unserer Zeit, sagt sie, sei das doch ganz anders gewesen. Da habe sich eine Mutter mit ihrem Baby an einen ruhigen Ort begeben. Ob sie es sich denn hätte vorstellen können, so in aller Öffentlichkeit. Lächelnd erwidert die Angesprochene, dass sie es sich zu keiner Zeit ihres Lebens hätte herrlicher vorstellen können. Jetzt aber sei sie dafür leider doch schon etwas zu alt. Auch habe man ihr schon vor Jahren eine Brust abgenommen.

Ein Gemunkel Nein, er sei nicht darüber erstaunt, dass im Haus gemunkelt wurde, der von links unten gehe in diese Videokabinen. Er sei aber auch nicht darüber erstaunt, dass im Haus nicht gemunkelt wurde, dass der von links unten einer von Tausend sei, der die Trompete so gut blasen könne wie der Maurice André.

Ein Geheimnis Um neun Uhr morgens geht er aus dem Haus, spaziert eine Stunde auf immer demselben Weg zum Stadtpark, um sich dort auf die Bank zu setzen, auf der er im Juni ein von der Junisonne beschienenes Briefkuvert vorgefunden hat, welches mit einem Streifen Tesafilm auf der Sitzfläche befestigt war. Vier Tage lang hat es unversehrt neben ihm auf der Sitzfläche geklebt. Am fünften Morgen war es verschwunden. Es lagen keine Fetzen am Boden. Nichts war zu finden. Aber er erinnert sich noch genau an die zwei handgeschriebenen Buchstaben, die auf dem weißen Kuvert standen.

Ein kleiner, dunkler Punkt Er sei einmal mit einer Freundin in Ägypten gewesen. Für einen Tagesausflug hatten sie sich ein Auto mit Lunchpaket gemietet, es aber mit der festgelegten Route und der Sicherheit nicht so genau genommen. Sie seien dann auch prompt steckengeblieben. Alle Versuche, das Auto wieder freizubekommen, waren buchstäblich im Sand verlaufen. Er sei, als die Freundin von Minute zu Minute gereizter mit dem Handy in der Hand rumgestakst sei, mit dem Fernglas einen Hügel hinaufgegangen, die Umgebung zu erkunden. Dabei sei ihm ein kleiner, dunkler Punkt aufgefallen, der sich markant von allen sonstigen Punkten abgehoben habe. Er habe auch gemeint, dass sich dieser kleine, dunkle Punkt bewege. Dass er, um das herauszubekommen, sich Fixpunkte eingeprägt habe. Es in Bälde auch zweifelsfrei hätte feststellen können, ob – und wenn ja, in welche Richtung – sich der kleine, dunkle Punkt bewege, wenn nicht in diesem Moment, nach nur einer Stunde, ein Jeep vom Hotel gekommen wäre. Dass er jetzt aber gar nicht wisse, warum er das mit dem kleinen, dunklen Punkt überhaupt erwähnt hatte. Es sei ihm doch nur um diese Autopanne gegangen.

Ein Drama Zwei kleine Käfer rennen über eine Straße. Einer wird überrollt. Man sieht nichts mehr von ihm. Dass das passieren kann, wissen die kleinen Käfer nicht. Dass das den mächtigen Platzhirschen im Stundentakt passiert, auch nicht.

Ein Ende Wie hat er sich seinen letzten Atemzug herbeigesehnt. In wie vielen Nächten. Als es dann passiert ist, sie die Maschinen abgeschaltet, das Bett mit dem Toten hinausgeschoben haben und nur noch Stille geherrscht hat, ist ihm diese Stille durch Mark und Bein gefahren. In den folgenden Nächten hat er oft an den Garten mit dem Baum gedacht, an dem er eine Schaukel für die Enkelkinder angebracht hat. Die, wenn sie ihn mit der Mutter besuchen gekommen waren, dann immer von ihm wissen wollten, wann er sie denn wieder bis in den Himmel hinein fliegen lassen würde. Die mit ihren Fäustchen dann gegen seine Matratze geboxt hatten, weil er ihnen keine Antwort gegeben hatte.

Ein Horror Heute sei ihm was Ungeheuerliches passiert. Er sei ohne sein Handy aus dem Haus gegangen. Und habe das, zu seinem Entsetzen, erst eine gute Stunde später, wieder zu Hause, bemerkt. Groß und breit habe es auf dem Esstisch gelegen. Die Vorstellung, es nicht nur die ganze Zeit über zu Hause liegengelassen, sondern längst verloren zu haben – Horror pur.

Ein kritischer Konsument