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© Rainer Werner, Was bleibt, stiften die Dichter, Dichter und ihre Werke vom Barock bis zur Gegenwart
Originalausgabe, 1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten.
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Grafische Gestaltung: Patricia Strunk - ColouredMonkey
Coverbilder: iStock
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783752637045
Deutsch ist das Unterrichtsfach, das den Schülern reichhaltige Bildungserlebnisse bescheren kann. Sie lernen meisterhafte Werke unserer großen Dichter kennen, die ihnen geistige Orientierung bieten. Viele Werke enthalten Bezüge zu Philosophie, Religion, Mythologie und Geschichte, die den geistigen Horizont der Schüler erweitern. An der sprachlichen Gestaltung der Werke können sie ihr Sprachgefühl schulen. Deutschlehrer unterschätzen gerne das Potential, das in der Biografie der Dichter verborgen liegt. Schüler möchten wissen, welcher Liebesbeziehung sich Goethes berühmtes Gedicht "Willkommen und Abschied" verdankt. Sie möchten erfahren, in welcher Lebenssituation und geistigen Verfassung Franz Kafka war, als er eine Erzählung schrieb, in der sich ein junger Mann eines Morgens in einen Käfer verwandelt sieht. Lange Zeit galt es in der Literaturdidaktik als anstößig, das Leben unserer Dichter und Schriftsteller zur Interpretation ihrer Werke heranzuziehen. Die Befassung mit dem "autonomen" Text selbst sollte nicht durch vorschnelle Rückschlüsse auf die Lebensumstände, denen die Werke ihre Entstehung verdanken, verwässert werden. Dabei genügt oft ein Blick in die Biografie eines Dichters, um die Nähe von Werk und Leben zu erkennen. Goethe spricht in seiner Autobiografie "Dichtung und Wahrheit" davon, dass seine Werke "Bruchstücke einer großen Konfession" gewesen seien. Von dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki kennen wir die Aussage, dass das Erstlingswerk eines Dichters meistens gelinge, weil es aus dem eigenen Leben geschöpft sei, das mehr zu bieten habe, als die freie Erfindungsgabe erschaffen könne.
Natürlich muss man bei der biografischen Deutung von Literatur die Vermittlungsschritte bedenken, die zwischen den Lebensumständen der Dichter und ihren Werken liegen. Literatur enthält neben gesellschaftlichen und biografischen Aspekten immer auch einen autonomen Kern, der im philosophischen Gehalt und der ästhetischen Struktur der Werke begründet liegt. Dennoch möchten Schüler gerne wissen, wie sich das Leben der Dichter abgespielt hat, deren Werken sie sich im Unterricht mit Hingabe widmen. Die Deutschlehrkräfte sollten diesem Wunsch entgegenkommen und über das Leben unserer Dichter Auskunft geben.
Dieses Buch soll den Lehrkräften dabei helfen, den Schülern im Literaturunterricht die Vita der großen deutschen Dichter näher zu bringen. In jedem Dichter-Porträt werden die wichtigsten Lebensstationen benannt und die in der jeweiligen Phase entstandenen Werke in knapper Form interpretiert. Bei der Auswahl der vorgestellten Werke wird auf ihre Qualität besonderen Wert gelegt. Im Zentrum stehen vor allem die Werke, die auch heute noch Gegenstand des Literaturunterrichts sind.
Ich widme dieses Buch den Schülern des John-Lennon-Gymnasiums in Berlin-Mitte, die meinen Unterricht mit ihrer Neugier und ihrem Lerneifer bereichert haben.
Rainer Werner
Berlin, 2020
Die Jubiläums-Artikel zu den folgenden Dichtern erschienen unter meinem Namen im Erstdruck in der Katholischen Bildung, Verbandsorgan des Vereins katholischer deutscher Lehrerinnen e.V., Hedwig-Dransfeld-Platz 4, 45143 Essen:
Heinrich Heine (2/2016); Bertolt Brecht (5/2016); Andreas Gryphius (7+8/2016); Rainer Maria Rilke (10/2016); Hermann Hesse (7+8/2017); Theodor Storm (11+12/2017); Annette von Droste-Hülshoff (5+6/2018); Theodor Fontane (9+10/2018); Else Lasker-Schüler (1+2/2019); Franz Kafka (5+6/2019); Gottfried Keller (7+8/2019); Kurt Tucholsky (1+2/2020); Friedrich Hölderlin (3+4/2020).
Andreas Gryphius kennen wir vor allem als Dichter der Vanitas. Das lateinische Wort bedeutet Vergeblichkeit, Nichtigkeit. Es geht auf eine Stelle im Alten Testament zurück, an der der Prediger Kohelet, der Sohn Davids, sagt: "Es ist alles ganz eitel [...]. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne?" Martin Luther verwendet in seiner Bibelübersetzung den Begriff "eitel" in seinem ursprünglichen Sinne von "nichtig". Die meisten Gedichte von Andreas Gryphius, selbst die wenigen Liebesgedichte, die er verfasst hat, handeln von dem Gefühl der Vergeblichkeit.
Andreas Gryphius wird am 2. Oktober 1616 - also zwei Jahre vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges - in Glogau, einer Kleinstadt im damaligen Fürstentum Glogau, Niederschlesien, geboren. Heute ist die Stadt polnisch und heißt Glogów. Stadt und Herzogtum haben eine bewegte Geschichte. Mal gehören sie zur böhmischen Krone, mal werden sie vom polnischen König regiert. Vom großen Krieg wird die Stadt mehrfach in Mitleidenschaft gezogen. 1632 wird sie von den Protestanten eingenommen, ein Jahr später von den Katholiken zurückerobert. 1642 wird sie von schwedischen Truppen besetzt. Gryphius´ Vater ist lutherischer Pfarrer. Sein Name ist Paul Greif. Der Sohn hat den Familiennamen später zu Gryphius latinisiert, wie es im Zeitalter des Humanismus bei Intellektuellen üblich gewesen ist. Durch die spätantike Namensvariante will man sich vom "finsteren" Mittelalter abgrenzen und an die helle Antike anknüpfen. Andreas Gryphius hat schon als Kind schwere Verlusterfahrungen zu verkraften. Der Vater stirbt, als der Junge vier Jahre alt ist; beim Tod der Mutter ist er vierzehn. Einige Biografen vermuten, dass hier die eigentliche Quelle für das beim Dichter unerschöpfliche Thema der Vergeblichkeit liegt. 1928 beginnt der kaiserliche Landeshauptmann mit der Zwangskatholisierung Glogaus. Die Protestanten werden aus der Stadt vertrieben. Darunter befindet sich auch Michael Eder, der Stiefvater des kleinen Andreas. Er ist ebenfalls protestantischer Pfarrer. Er flieht in das kleine Städtchen Driebritz, das im damaligen Polen liegt und als glaubenstolerant gilt. Erst als Andreas 15 Jahre alt ist, darf er seinem Stiefvater ins Exil folgen. Um Andreas von katholischen Schulen fernhalten zu können, unterrichtet ihn der Stiefvater selbst. 18-jährig nimmt der junge Mann das Studium am Akademischen Gymnasium in Danzig auf. Hier lernt er die unterschiedlichen theologischen Richtungen, die er bislang nur in ihrer praktischen Auswirkung erfahren hat, auch theoretisch kennen. Gleichzeitig macht er sich mit der wegweisenden Dichtungstheorie des Martin Opitz vertraut (1597-1639), die dieser in seiner Schrift "Buch von der Deutschen Poeterey" (1624) niedergelegt hat. Von hier ab wird er die damals gebräuchlichen Formen der Dichtung nicht nur perfekt beherrschen, sondern sie auch für seinen spezifischen poetischen Ton nutzbar machen.
Zum Studium begibt sich Andreas Gryphius in die niederländische Stadt Leiden, eine der führenden protestantischen Universitäten Europas. Er schreibt sich als Student der Philosophie ein und hört Vorlesungen u.a. auch von René Descartes. Als Privatdozent bietet Gryphius eigene Seminare in Mathematik, Astronomie, Poesie und Geschichte an. 1644 bricht Gryphius mit einer Gruppe junger pommerscher Adeliger zu einer vierjährigen Reise durch Frankreich und Italien auf. Solche Kavalierstouren sind seit der Renaissance üblich. Sie dienen dazu, den Angehörigen des Adels und des Bildungsbürgertums nach Vollendung des Studiums den letzten Schliff zu geben, bevor sie in den Beruf und ins Eheleben eintreten. Bevorzugte Ziele sind Frankreich, Italien, Spanien und das Heilige Land. Dass sich Gryphius einer Gruppe Adeliger anschließen darf, verdankt er einem prominenten Gönner, dem kaiserlichen Beamten Georg Schönborn, dessen Söhne er als Hauslehrer ("Hofmeister") unterrichtet und zum Studium begleitet hat. Nach der Rückkehr nach Deutschland erhält Gryphius einige ehrenvolle Berufungen als akademischer Lehrer, darunter eine Professur für Mathematik, die er allesamt ablehnt. Stattdessen kehrt er in seine Heimat Schlesien zurück und lässt sich in seiner Geburtsstadt Glogau nieder. Dort wird er ein Jahr nach dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück ("Westfälischer Frieden", 1648) juristischer Vertreter (Syndikus) der Glogauer Landstände. Der Friedensvertrag hat die Prinzipien des "Augsburger Religionsfriedens" (1555) bestätigt. Danach gilt weiterhin das Prinzip "cuius regio, eius religio": Der Herrscher bestimmt die Konfession seiner Untertanen. Religiöse Minderheiten erhalten das Recht, mitsamt ihrer Familie und ihrer Habe auszuwandern. In manchen Regionen Deutschlands gibt es nach dem Westfälischen Frieden allerdings auch konfessionell gemischte Landstände, denen freie Religionsausübung gewährt werden sollte. Trotz der vertraglichen Garantien gibt es jedoch in der Praxis ständig Reibereien. Die konfessionelle Koexistenz muss immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. Dieser Aufgabe widmet sich der Jurist Andreas Gryphius mit Leidenschaft und mit dem rhetorischen Geschick eines protestantischen Pfarrers. Er sieht diese Aufgabe als so wichtig an, dass er dafür auf die akademischen Ehren als Professor verzichtet.
Der Dreißigjährige Krieg fällt fast genau in die Lebenszeit von Andreas Gryphius. Nur in der Zeit seines Studiums im holländischen Leiden (1638-44) und während seiner Bildungsreise nach Frankreich und Italien (1644-47) weilt er außerhalb Deutschlands. So kann es nicht ausbleiben, dass er vom grausamen Geschehen dieses Krieges menschlich und auch als Dichter stark beeinflusst wird. Schon in seiner Kindheit - als 12-Jähriger - muss er miterleben, dass sein Stiefvater und seine Mutter aus der Heimatstadt vertrieben werden, weil sie dem evangelischen Glauben angehören. Viele seiner Werke handeln deshalb von der Grausamkeit des Krieges und von den seelischen Verwundungen, die er hervorruft. Am bekanntesten von allen Kriegsgedichten wurde das Sonett "Tränen des Vaterlandes / Anno 1636".
Tränen des Vaterlandes / Anno 1636
Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
Hat aller Schweiß, und Fleiß, und Vorrat aufgezehret.
Die Türme stehn in Glut, die Kirch’ ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest, und Tod, der Herz und Geist durchfähret.
Hier durch die Schanz und Stadt, rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut,
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot,
Dass nun der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.
In drastischen Bildern malt der Dichter die Verwüstung von Stadt und Land und die Ermordung der Menschen, die in den Malstrom der Vernichtung geraten. Die Stadt wird verwüstet und gebrandschatzt ("Die Türme steht in Glut"), Frauen vergewaltigt ("Die Jungfern sind geschänd´t"). Die Pest wütet noch zusätzlich in den Städten und rafft die Menschen in Scharen dahin. Die Formulierung "Die Kirch ist umgekehret" kann man realistisch deuten - das Kirchengebäude wird zerstört - , aber auch im übertragenen Sinne: Die Menschen müssen ihren Glauben aufgeben, weil der Sieger in der Schlacht dem Volk einen anderen Glauben diktiert. Mit Gryphius´ Heimatstadt Glogau ist dies mehrfach geschehen. Die Antithese "Doch schweig ich..." im ersten Terzett des Gedichts weist auf das hin, was der fromme Dichter immer als das Grausamste empfunden hat: Den Gläubigen wird ihr Glaube ("der Seelen Schatz") geraubt. Sie werden in eine fremde Konfession gezwungen.
Das Gedicht zeigt die formale Gestaltung, die wir von den meisten seiner Gedichte kennen. Es ist ein Sonett mit zwei Quartetten und zwei Terzetten. Das Metrum ist der Alexandriner, also ein sechshebiger jambischer Reimvers, der in der Mitte eine Zäsur aufweist. Im Original ist die Zäsur durch einen Schrägstrich (/) gekennzeichnet.
Ein anderes Gedicht zeigt, dass Gryphius vor der Wucht des pathetischen Ausdrucks nicht zurückschreckt. In dem Sonett "An einen Unschuldigen Leidenden" werden über drei Verse hinweg die Folterwerkzeuge aufgezählt, die im großen Krieg zum Instrumentarium des Schreckens gehörten:
"Ein Brandpfahl und ein Rad, Pech, Folter, Blei und Zangen, Strick, Messer, Hacken, Beil, ein Holzstoß und ein Schwert Und siedend Öl und Blei, ein Spieß, ein glühend Pferd [...]"
Für uns moderne Zeitgenossen ist die Schlussfolgerung des Gedichts nur schwer nachzuvollziehen. Gryphius lobt den Tod als christlicher Märtyrer.
"Der ist kein rechter Christ / dem vor dem Kreuze grauet".
Schon als 21-Jähriger hat Andreas Gryphius das poetische Thema seines Lebens gefunden und auch schon formvollendet gestaltet: das Vanitas-Motiv. Das Sonett "Menschliches Elende" erscheint 1637 in der Gedichtsammlung "Lissaer Sonette". In diesem Jahr hält sich Gryphius auf dem Gut der Familie Schönborn auf, wo sein Bruder als Pfarrer amtiert. Der frisch gebackene Student Andreas nimmt bei der befreundeten Familie eine Stelle als Hauslehrer für die Kinder an. Die Tätigkeit lässt ihm genügend Zeit für eigene Dichtungen. Die so entstandene Sammlung von Sonetten lässt er im polnischen Lissa drucken, was den Namen des Zyklus erklärt.
Menschliches Elende
Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhaus grimmer Schmerzen.
Ein Ball des falschen Glücks / ein Irrlicht dieser Zeit.
Ein Schauplatz herber Angst / besetzt mit scharfem Leid /
Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.
Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
Und in das Toten-Buch der großen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind / sind uns aus Sinn und Herzen.
Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt /
Und wie ein Strom verscheust / den keine Macht aufhält:
So muss auch unser Nam / Lob Ehr und Ruhm verschwinden /
Was itzund Atem holt / muss mit der Luft entfliehn /
Was nach uns kommen wird / wird uns ins Grab nachziehn
Was sag ich? wir vergehn wie Rauch von starken Winden
Auf die Schlüsselfrage der menschlichen Existenz "Was sind mir Menschen doch?" gibt das lyrische Ich im ersten Quartett sechs Antworten, die alle auf dasselbe hinauslaufen: Der Mensch ist ein vergängliches Wesen. In den nächsten drei Strophen wird das Motiv der Vergänglichkeit variiert, indem das Leben des Menschen mit flüchtigen Erscheinungen der menschlichen Kommunikation (Geschwätz, Scherze) und der Natur (Fluss, Luft, Rauch, Wind) verglichen wird. Die Folgerung, die der Mensch aus der Erkenntnis der Vergänglichkeit ziehen sollte, bleibt ausgespart. In anderen Vanitas-Gedichten hat sie Gryphius in die Schluss-Pointe gesetzt: Nur der christliche Glaube kann der menschlichen Existenz Dauer verleihen.
Im letzten Jahr seines Studiums in Leiden, 1643, dichtet Gryphius die bekannte Ode, die die Vanitas-Vokabel dreifach im Titel führt. In 15 Strophen wird das Motiv variiert und auf den Höhepunkt der Erkenntnis geführt, dass es angesichts der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens darauf ankommt, am einzig Haltbaren, der Gotteszuversicht, festzuhalten.
Vanitas! Vanitatum Vanitas!
Die Herrlichkeit der Erden
Muss Rauch und Asche werden.
Kein Fels, kein Erz kann stehn.
Dies, was uns kann ergötzen,
Was wir für ewig schätzen,
Wird als ein leichter Traum vergehn.
[...]
Wohl dem, der auf ihn trauet!
Er hat recht fest gebauet.
Und ob er hier gleich fällt:
Wird er doch dort bestehen
Und nimmermehr vergehen
Weil ihn die Stärke selbst erhält.
Die Ode findet sich im Evangelischen Gesangbuch als Lied Nr. 527 unter dem Titel "Die Herrlichkeit der Erden". Es wird nach der Melodie "Innsbruck, ich muss dich lassen", komponiert von Heinrich Isaac (um 1450-1517), gesungen.
Das wohl bekannteste Gedicht von Andreas Gyphius stammt aus dem Kriegsjahr 1637. Der Dichter ist erst 21 Jahre alt, als ihm diese weisen Verse gelingen.
Es ist alles eitel
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein,
Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.
Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein,
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.
Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach! Was ist alles dies, was wir für köstlich achten,
Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t.
Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten!
Die ins Auge springende rhetorische Figur des Gedichts ist die Antithese. Sie zieht sich durch das ganze Gedicht hindurch. Dem vermeintlich prallen und unverwüstlichen Leben werden die Erscheinungen des Todes gegenübergestellt: Häuser - Zerstörung, Städte - Wiese, Blumen - zertretene Überreste, lebendiger Leib - Gebeine, Ruhm - Traumgespinst. Das "Spiel der Zeit" - eine beliebte Wendung des Dichters - macht alles zuschanden, worauf sich der Mensch etwas einbildet. Dieses Sonett mündet in die epigrammatische Schlusspointe, dass nur die Hinwendung zu Gott die Vergänglichkeit überdauern kann.
Als Dichter der Liebe wird Gryphius in der Fachliteratur gemeinhin nicht gewürdigt - zu Unrecht. Wie alle Barockdichter hat auch er sich mit der Thematik des "Carpe diem", zu der die Erotik gehört, auseinandergesetzt. Die Menschen im Barock sind innerlich zerrissen zwischen Weltbejahung und Sinnengenuss hier und Weltverneinung und Jenseitssehnsucht dort. Dem "Carpe diem" (Nutze den Tag) steht deshalb das "Memento mori" (Gedenke des Todes) unerbittlich gegenüber.
Für den erotischen Lebensgenuss im Barock steht beispielhaft das Gedicht von Martin Opitz (1597-1639) „Ach liebste lass uns eilen“ (1624).
Ach liebste lass uns eilen / Wir haben Zeit / Es schadet das Verweilen / Uns beiderseit.
Der Edlen Schönheit Gaben / Fliehn Fuß für Fuß / Dass alles was wir haben / Verschwinden muss [...]"
Drum lass uns jetzt genießen / Der Jugend Frucht / Eh´ als wir folgen müssen / Der Jahre Flucht. [...]
Aus dem Verfall des weiblichen Körpers und der Vergänglichkeit seiner Schönheit gibt es für das lyrische Ich nur eine Schlussfolgerung: das erotische Verlangen. Die Erotik muss intensiv ausgelebt werden, solange dies noch möglich ist.
Diese Einstellung wird man bei Gryphius vergeblich suchen. Sein Liebesbedürfnis ist von anderer Art. Es zielt auf eine geistige Veredelung des Körperlichen ab:
"Verdeckt die bloße Brust / und öffnet mir das Herz" [...] ("An Eugenien")
In den Gedichten, die der Dichter einer anonymen - vermutlich nur ideellen - Geliebten namens Eugenie widmet, paraphrasiert er mehrfach diesen Gedanken:
"Doch schöner / wenn den Leib ein´ edle Seele ziert,
Die einzig sich nur lässt die Tugend unterweisen." [...] ("An Eugenien")
Die geistige Übereinstimmung der Liebespartner hält Gryphius deshalb für entscheidend, weil das Körperliche der Vergänglichkeit, dem schleichenden Verfall preisgegeben ist. In einem der Eugenien-Gedichte verdeutlicht der Dichter die Vergänglichkeit alles Irdischen am Beispiel der Rose, die durch das "Spiel der Zeit" verwelkt: "Eugenie, so gehts / so schwindet was wir schauen." Der Vergänglichkeit des Körpers stellt Gryphius den "keuschen Geist" der Geliebten und die "Blume der Zucht" gegenüber, die einzig den Verfall überdauern können. Die Liebe der Frau soll in erster Linie den "Geist" des Geliebten "erwecken". Das gelingt nicht im schnellen Liebesgenuss mit wechselnden Partnerinnen, sondern nur in der Ehe ("...durch ein Band / das ewig sei...", "An Eugenien"). An diese Devise hat sich Gryphius auch selbst gehalten. 1649 heiratet er die Fraustädter Kaufmannstochter Rosine Deutschländer, mit der er danach sieben Kinder hat.
Neben den Eugenie-Gedichten gibt es einige sarkastische Spottgedichte, die an wechselnde Frauen gerichtet sind (An Lucinden; An Jolinden; An Melanien). In ihnen wird die Verführungskraft der Frau abgewertet: "Was ist der zarte Mund? / Ein Köcher voller Pfeile" ("An Lucinden") oder die Schmink- und Putzlust der koketten Frau kritisiert: "Die Schmink ist´s / die euch so blutrote Lippen macht [...] Euer eingekauftes Haar kann auch ein Kind erkennen" ("An Jolinden").
Ganz und gar ungewöhnlich ist das Gedicht "Über die Gebeine der ausgegrabenen Philosetten". Darin demonstriert das lyrische Ich am Beispiel der Knochen eines verstorbenen und wieder ausgegrabenen Mädchens das Prinzip des Verfalls: "O hässlich´ Anblick! ach! wo sind die güldnen Haar!" - Wenn ein Betrachter des Skeletts den Schädel in Augenschein nimmt, soll er sich vergegenwärtigen, dass nur die Seele die Verwesung des Körpers überdauern kann: "Ist jemand / der sich nicht für diese Stirn entsetzt? / Der denke / wie sich werd´ alsdann sein Geist befinden." Hier sieht man, dass bei Gryphius selbst bei den Liebesgedichten der religiöse Grundton, die christliche Erwartung der ewigen Seligkeit, immer mitschwingt.
1650 entsteht eines seiner schönsten Sonette: "Abend". Mit der Rückkehr in seine Heimatstadt Glogau beginnt der letzte Lebensabschnitt des Dichters. Das Gedicht gestaltet die Einsicht, dass wir dem Lebensabend unweigerlich entgegengehen, in eindringlicher Bildersprache.
Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk. Wo Tier und Vögel waren,
Trauert jetzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!
Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn.
Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren
Ich, du und was man hat und was man sieht hinfahren.
Dies Leben kommt mir vor als eine Rennebahn.
Lass höchster Gott mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten
Lass mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten.
Dein ewig-heller Glanz sei vor und neben mir.
Lass, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen.
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir.
Die großen Abend- und Nachtgedichte der Romantik (Eichendorff, Novalis, Brentano) sind ohne das Vorbild dieses Gedichts nur schwer vorstellbar.
Andreas Gryphius stirbt am 16. Juli 1664 an einem Schlaganfall, den er in Ausübung seines juristischen Amtes während einer Sitzung der Glogauer Landstände erleidet. Er liegt in Glogau begraben. In einer "Grabschrift / die er ihm selbst in tödtlicher Leibes Schwachheit auffgesetzet", hat Gryphius seinen Tod geistig vorbereitet. Auch darin dominiert das Motiv der Vergänglichkeit. Es wird didaktisch gewendet, indem die Betrachter der Grabinschrift gezwungen sind, die Botschaft der Vanitas in sich aufzunehmen.
"Ich bin nicht mehr denn du / ich bin was du gewesen /
Bald wirst du seyn was ich. Mein Wissen / Thun und Lesen /
Mein Nahme / meine Zeit / mein Leben / Ruhm und Stand
Verschwinden als ein Rauch [...]"
Gryphius hat nicht nur Gedichte verfasst, wie man glauben könnte, wenn man diese Lebensbeschreibung liest. Auf die Kommentierung seiner Trauer- und Lustspiele wurde hier verzichtet, weil sie sich weder auf der Bühne noch im Literaturunterricht unserer Schulen gehalten haben. Allenfalls eine der Komödien, "Peter Squenz", ist ab und zu als typische Barock-Komödie auf der Bühne zu sehen. Wir kennen den Plot aus Shakespeares Theaterstück "Ein Sommernachtstraum", wo die Handwerker-Truppe um Peter Squenz die Tragödie „Pyramus und Thisbe“ aus Ovids „Metamorphosen“ aufführt und tollpatschig in eine Slapstick-Komödie verwandelt.
Unsterblich bleiben die Gedichte von Andreas Gryphius, vor allem die Sonette "Es ist alles eitel", "Abend", "Tränen des Vaterlandes" und "Menschliches Elende". Sie gestalten die menschliche Grunderfahrung der Vergänglichkeit allen Lebens, der kein Mensch ausweichen kann. Auch wenn heute vielen Zeitgenossen die christliche Glaubenszuversicht nicht mehr zu Gebote steht, kann man sich der suggestiven Wirkung der Vanitas-Lyrik von Andreas Gryphius nicht entziehen.
Andreas Gryphius: Gedichte, Nachwort von Thomas Borgstedt, Reclam Verlag, Stuttgart 2012
Andreas Gryphius: Dichtungen, Texte deutscher Literatur 1500-1800, hgg. von Otto Conrady, München 1968
Bei der Wiedergabe der vollständigen Gedichte wurde aus Gründen der leichteren Lesbarkeit auf moderne Textfassungen zurückgegriffen. Der germanistische Kenner und Liebhaber findet in den einschlägigen Anthologien die Originalfassungen.
Gotthold Ephraim Lessing wird am 22. Januar 1729 im sächsischen Kamenz nahe Dresden geboren. Sein Vater Johann Gottfried Lessing ist der Pastor der Hauptkirche St. Marien, seine Mutter Justina Lessing, geb. Feller, ist die Tochter seines Amtsvorgängers. Der kleine Gotthold wächst in einem protestantischen Elternhaus auf, das von strengen Glaubensvorstellungen geprägt ist. Vom Vater erbt der Sohn die Liebe zur Welt der Bücher und einen starken Bildungstrieb. Der kleine Gotthold ist hochbegabt. Schon mit fünf Jahren liest er die Bibel und den evangelischen Katechismus. In der Lateinschule seines Geburtsorts Kamenz bei Dresden gilt er als geistiger Überflieger. Der Kurfürst von Sachsen bewilligt ihm ein Stipendium für die Fürstenschule St. Afra in Meißen. Sie gilt als Anstalt für die Ausbildung der geistigen Elite des Landes. Auf dem Stundenplan stehen Theologie, Latein, Griechisch, Geschichte, Mathematik und Logik. Auch in diesem Internat ist Lessing ein herausragender Schüler, der durch seinen Scharfsinn und sein enormes Gedächtnis hervorsticht. Die Lehrkräfte merken schnell, dass auch St. Afra nicht mehr genügt, um den Wissensdurst des Jungen zu stillen. Rektor Theophilus Grabner schreibt über seinen Meisterschüler: "Es ist ein Pferd, das doppeltes Futter haben muss. Die Lektiones, die andern zu schwer werden, sind ihm kinderleicht. Wir können ihn fast nicht mehr brauchen." - Mit siebzehn Jahren beginnt Lessing in Leipzig das Studium der Theologie und Philosophie. Er schreibt sein erstes Lustspiel, "Der junge Gelehrte", den die Schauspielertruppe um Friederike Caroline Neuber (die "Neuberin") aufführt. In Leipzig beginnt der bisherige Büchermensch das Leben in all seinen Facetten zu entdecken: "...die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen." (Brief an die Mutter). Dem ersten Lustspiel folgen weitere. Auch Gedichte und Erzählungen entstehen, die in verschiedenen Zeitschriften gedruckt werden. Nach zwei Jahren verlässt Lessing fluchtartig die Stadt, um sich vor seinen Gläubigern zu retten. Er hat für die Schauspielertruppe gebürgt und muss nach ihrem Bankrott für die Schulden aufkommen. Er schreibt sich an der Universität zu Wittenberg ein, wo er mit dem Medizinstudium beginnt. Vermutlich hat er es jetzt auf einen soliden Brotberuf abgesehen. 1752 schließt er das Medizinstudium mit dem Magisterexamen ab. Von 1751 bis 1755 lebt Lessing - nur von der Examenszeit in Wittenberg im Jahre 1752 unterbrochen - in Berlin. Dort schließt er Freundschaft mit dem Philosophen Moses Mendelssohn, dem Verleger Christoph Friedrich Nicolai und dem Schriftsteller Ewald von Kleist. Als Mitglied im "Montagsclub" kommt er mit weiteren Berliner Geistesgrößen in Berührung. Zwischen seinem 27. und 41. Lebensjahr führt Lessing ein unstetes Wanderleben - immer auf der Suche nach einer einträglichen beruflichen Position. Die Stationen führen ihn über Leipzig und Breslau nach Hamburg, wo er 1767 die Stelle des Dramaturgen am Hamburger Nationaltheater übernimmt. Das Projekt scheitert 1770 an der mangelnden Zuschauerresonanz. Lessing verlässt Hamburg mit einem Berg von Schulden und wird zum Leiter der berühmten Bibliothek von Herzog August II. von Braunschweig-Wolfenbüttel ("Bibliotheca Augusta") bestellt. 1776 verleiht ihm der Herzog den Titel eines Hofrats. Im gleichen Jahr heiratet er die Kaufmannswitwe Eva König, die er von seiner Hamburger Zeit her kennt. Beiden ist nur ein kurzes gemeinsames Glück beschieden. Eva Lessing stirbt am 10. Januar 1778 nach der Geburt ihres Kindes am Kindbettfieber. Im Todeszimmer seiner Ehefrau schreibt Lessing sein letztes Theaterstück "Nathan der Weise". Am 15. Februar 1781 stirbt Gotthold Ephraim Lessing in Braunschweig an einem Schlaganfall. Auf dem Dom-St. Magnifriedhof wird er bestattet.
Gedichte schreibt Lessing nur in seiner Jugendzeit. Es sind überwiegend Liebes- und Trinklieder im anakreontischen Stil der Zeit:
Trinket, Brüder, lasst uns trinken,
Bis wir berauscht zu Boden sinken;
Doch bittet Gott den Herren,
Dass Könige nicht trinken.
Denn da sie unberauscht
Die halbe Welt zerstören,
Was würden sie nicht tun,
Wenn sie betrunken wären?
Die zweite Spielart der Lyrik, die Lessing nutzt, sind Epigramme, also kurze zugespitzte Sinngedichte. Sie dienen der Belehrung des Lesers, aber auch der streitbaren Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Gegnern.
Wer wird nicht einen Klopstock loben?
Doch wird ihn jeder lesen? - Nein.
Wir wollen weniger erhoben
Und fleißiger gelesen sein.
Lessing dichtet zahlreiche Fabeln. Dabei bedient er sich der Reim- und Prosaform. Mit dieser Gattung lässt sich eine belehrende Intention besonders gut verfolgen. Am Ende der Fabel steht in der Regel eine Pointe, die eine allgemeine Moral verkündet.
Der Tanzbär
Ein Tanzbär war der Kett` entrissen,
Kam wieder in den Wald zurück,
Und tanzte seiner Schar ein Meisterstück
Auf den gewohnten Hinterfüßen.
"Seht", schrie er, "das ist Kunst; das lernt man in der Welt.
Tut es mir nach, wenn´s euch gefällt,
Und wenn ihr könnt!" - "Geh", brummt ein alter Bär,
"Dergleichen Kunst, sie sei so schwer,
Sie sei so rar sie sei,
Zeigt deinen niedern Geist und deine Sklaverei."
Ein großer Hofmann sein,
Ein Mann, dem Schmeichelei und List
Statt Witz und Tugend ist;
Der durch Kabalen steigt, des Fürsten Gunst erstiehlt,
Mit Wort und Schwur als Komplimenten spielt,
Ein solcher Mann, ein großer Hofmann sein,
Schließt das Lob oder Tadel ein?
Ein in Gefangenschaft gehaltener Bär hat sich von seinen Ketten befreit und kehrt zu seinen Artgenossen zurück. Als er ihnen die Tanzkunststücke vorführt, die ihm in Gefangenschaft antrainiert wurden, weist ihn ein alter Bär zurecht. Für ihn ist die vermeintliche Kunst Ausdruck einer Sklavenmentalität. In der zweiten Strophe wird diese Aussage auf die menschliche Sphäre übertragen. Die Eigenschaften, die sich ein Höfling ("Hofmann") aneignet, um dem adeligen Herrn zu gefallen, seien keine Tugenden, sondern verwerfliche "Schmeichelei[en]". Im Gewande der Tierfabel kritisiert Lessing die kriecherischen Bemühungen mancher Bürger, ihrem adeligen Dienstherrn gefällig zu sein. Er plädiert für bürgerliches Selbstbewusstsein und Abgrenzung vom Adel.
In den beiden Prosafabeln "Der Löwe mit dem Esel" und "Der Esel mit dem Löwen" setzt sich diese Kritik fort. Ein Löwe macht sich "die fürchterliche Stimme" des Esels zunutze, um im Wald Tiere zu jagen. Eine "naseweise Krähe" kritisiert den König der Löwen, weil er sich mit einem schnöden Esel abgibt. Der Löwe verweist in seiner Antwort auf den Nutzeffekt, den der Esel ihm bietet. Die Pointe zeigt, dass die "Großen"..."einen Niedrigen [nur] ihrer Gesellschaft würdigen", wenn sie einen Nutzen aus ihm ziehen können. In der zweiten Fabel wird der Esel, der in Gesellschaft des Löwen in den Wald geht, von einem Artgenossen begrüßt: "Guten Tag, mein Bruder!" - Dessen schroffe Antwort ("Unverschämter") verdeutlicht, dass sich die Niedrigen sogar noch etwas darauf einbilden, wenn sie von den Hochgestellten ausgenutzt werden. Beide Fabeln sollen das Selbstbewusstsein des Bürgertums stärken.
Am 30. September 1767 wird das Lustspiel "Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück" am Hamburger Nationaltheater unter großer Begeisterung des Publikums uraufgeführt. Es nimmt Bezug auf den Siebenjährigen Krieg (1756 - 1763), in dessen Verlauf das Preußen Friedrichs II. sich die österreichische Provinz Schlesien einverleibt. Der preußische Major Tellheim hat den Dienst quittiert, weil er von der Militärverwaltung verdächtigt worden war, sächsische Kontributionen in die eigene Tasche gesteckt zu haben. Zu seiner wohlhabenden Verlobten Minna von Barnhelm hat er die Beziehung abgebrochen, weil er sich als ehrloser Mann ihrer nicht mehr würdig empfindet. Durch Zufall treffen sie in einem Berliner Gasthof wieder aufeinander. Tellheim hat beim geldgierigen Wirt seinen Verlobungsring versetzt, um mit dem Erlös seine Schulden zu bezahlen. Minna kauft den Ring zurück und steckt ihn an den Finger. Bei einer Aussprache stellt sie die schlichte Frage: "Lieben Sie mich noch, Tellheim?" - Larmoyant antwortet er, dass er als "der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Krüppel, der Bettler" keinen Anspruch mehr auf ihre Liebe erheben könne. Jetzt weiß Minna, dass sie den verletzten Stolz Tellheims nur mit Hilfe einer List kurieren kann. Sie fingiert den Verlust ihres Vermögens, um sich Tellheim als mittellose Frau zu präsentieren. Prompt erwacht bei ihm der Instinkt des männlichen Beschützers: "...ihr Unglück hebt mich empor, ich sehe wieder frei um mich und fühle mich willig und stark, alles für sie zu unternehmen." - Nachdem Minna noch das Geheimnis des Verlobungsringes an ihrem Finger gelüftet hat, löst sich alles in Wohlgefallen auf.
Lessing gelingt mit seiner "Minna von Barnhelm" ein Musterbeispiel für die von ihm geforderte Komödienform, die sich von den seichten Lustspielen französischer Provenienz abhebt: "Das Possenspiel will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie will beides." - Die Komödie ist zugleich ein Beispiel für den Triumph aufgeklärten Denkens, weil die weibliche Protagonistin, die von sich sagt, sie sei eine "große Verehrerin von Vernunft", mit eben dieser Gabe den Knoten der Verwirrung löst. Gegenüber Schriftstellerkollegen, die den preußischen Kriegserfolg mit hymnischem Patriotismus feiern, reagiert Lessing mit Zurückhaltung: "Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes [...] keinen Begriff, und sie scheinet mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich gern entbehre." (Brief vom 14. 02. 1759) - Minna ist das Theaterstück Lessings, das sich als besonders bühnenwirksam erwiesen hat. Es wird bis heute gerne auf unseren Bühnen gespielt.
Das Trauerspiel in fünf Akten erscheint 1772 und wird im selben Jahr in Braunschweig uraufgeführt. Thema ist - wie in bürgerlichen Trauerspielen des 18. Jahrhunderts üblich - die Tugend eines Bürgermädchens, das durch die Nachstellungen eines lüsternen Adeligen bedroht ist. Emilia Galotti steht vor der Heirat mit dem Grafen Appiani. Beide wollen ihr junges Glück in gesellschaftlicher Abgeschiedenheit auf dem Lande leben. Durch die Ehe mit einer Bürgerlichen wäre dem Grafen ohnehin ein Leben am Hofe verschlossen. Prinz Hettore Gonzala hat ein Auge auf das schöne Bürgermädchen geworfen und ihr sogar in der Kirche während der Messe erotische Komplimente gemacht ("Er sprach von Schönheit, von Liebe."). Der zynische Kammerdiener des Prinzen, Marinelli, entwickelt einen abgefeimten Plan, um die Hochzeit zu vereiteln und das junge Mädchen dem Prinzen zuzuführen. Er lässt die Kutsche auf der Fahrt zur Trauung zum Schein überfallen, um Emilia zu "retten". In Wirklichkeit lässt er Emilia auf das Lustschloss des Prinzen entführen. Im Handgemenge der fingierten Entführung wird der Bräutigam getötet. Auf dem Lustschloss des Prinzen gibt sich dieser als Retter Emilias aus. Diese durchschaut die List und verlangt, ihre Eltern zu sehen. Emilias Vater, Odoardo Galotti, wird, als er auf dem Schloss eintrifft, von der Mätresse des Prinzen, Orsina, aufgeklärt, welches Schicksal Emilia zu erwarten hat, wenn sie in die Hände des Prinzen gerät: "Doch was kann Ihre Tochter dafür? - Bald wird auch sie verlassen sein. - Und dann wieder eine! - Und wieder eine!" - Sie steckt dem Vater einen Dolch zu, mit dem er den Prinzen ermorden soll. Sein bürgerliches Ehrgefühl hindert Odoardo daran, die Tochter durch einen Mord zu befreien. Als er seiner Tochter gegenübersteht, fleht sie ihn an, ihr den Dolch zu geben, damit sie sich töten kann: "Ich allein in seinen Händen? - Nimmermehr, mein Vater." - Der Vater erinnert sie an die Kostbarkeit ihres Lebens. Sie antwortet ihm mit dem Hinweis, dass sie der Verführung des Prinzen vielleicht nicht widerstehen und deshalb ihre Unschuld verlieren könnte: "Verführung ist die wahre Gewalt. - Ich habe Blut, mein Vater; [...] auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts." - Der Vater sträubt sich gegen das Verlangen seiner Tochter. Erst als diese auf einen Vater verweist, der ehedem seine Tochter selbst getötet hat, um sie "von der Schande zu retten", erdolcht er sie. Ihre letzten Worte klagen den Despoten an, der den Vater zu dieser schrecklichen Tat gezwungen hat: "Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert."
Das Drama zeigt die Kunst Lessings, plastische und zugleich differenzierte Charaktere auf die Bühne zu stellen. Odoardo verkörpert den typischen Patriarchen, der misstrauisch über seine Tochter wacht. Seine Frau Claudia ist die etwas naive Gattin, die sich geschmeichelt fühlt, wenn die Tochter von den Nachstellungen durch den mächtigsten Mann im Staat berichtet. Emilia wird nicht eindimensional als frommes Mädchen geschildert, die mit allen Mitteln ihre Unschuld verteidigt. Sie wird auch als ein junge Frau gezeigt, die für die erotischen Schmeicheleien des Prinzen empfänglich ist, wenngleich Sitte und Moral es verbieten, sich darauf einzulassen. Vielleicht fühlt sie sich auch deshalb durch die Komplimente geschmeichelt, weil ihr zukünftiger Ehemann ein eher langweiliger Liebhaber zu sein scheint. Sein Urteil über die Vorzüge Emilias lassen Erotik und Leidenschaft vermissen: "Ich werde eine fromme Frau an Ihnen haben." - Lessings Charaktere spiegeln die Vielfalt menschlicher Emotionen wider. Dadurch werden ihre Motive psychologisch begründbar und für den Zuschauer nachvollziehbar.
Die zeitgenössische Kritik des Dramas bezieht sich vor allem auf den Schluss. Der Prinz weist gegenüber dem Vater alle Schuld von sich und schickt seinen Kammerdiener Marinelli als Schuldigen in die Wüste: "Geh, dich auf ewig zu verbergen." - Der Vater begibt sich als Mörder seiner Tochter in Gefangenschaft des Prinzen, der im Kleinstaat auch die Hohe Gerichtsbarkeit innehat. Gleichzeitig verweist er auf das Jüngste Gericht, in dem Gott den Prinzen richten wird: "Und dann dort - erwarte ich Sie vor dem Richter unser aller!" - In der historischen Vorlage des antiken Historikers Livius, die Lessing für sein Drama benutzt hat, erdolcht ein Vater seine Tochter Virginia, um sie vor der Vergewaltigung durch den Diktator Appius Claudius zu bewahren. Diese Tat wird zum Anlass für einen Volksaufstand der Römer, durch den der Frevler von der Macht vertrieben wird. Auf diese politische Dimension verzichtet Lessing bewusst, wenn er schreibt: "Er [Lessing] hat geglaubt, dass das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist als ihr Leben, für sich schon tragisch genug und fähig genug sei, die Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte." - Kritiker äußern den Verdacht, Lessing habe auf den Volksaufstand verzichtet, um die Zensur zu besänftigen, damit das Drama auf den deutschen Bühnen überhaupt aufgeführt werden kann. Die Zuschauer haben die politische Brisanz des Stückes gleichwohl erkannt, weil Handlung (Attentat auf eine Hochzeitskutsche, Entführung der Braut, Tötung des Bräutigams) und Charaktere (lüsterner Prinz, abgefeimter Kammerdiener) eine deutliche Sprache sprechen. Eine Szene hat einen besonders adelskritischen Inhalt: Der Sekretär Rota legt dem Prinzen ein Todesurteil zur Unterzeichnung vor. Der durch seine Leidenschaft abgelenkte Prinz sagt zu ihm: "Nur her! Geschwind. [...] Es könnte schon geschehen sein. Ich bin eilig." Die Szene zeigt, wie wenig bei einem absolutistischen Herrscher ein Menschenleben zählt.
Lessing akzentuiert die Dramentheorie des Aristoteles, der zufolge das Drama "Furcht und Mitleid" erregen sollte, indem er das Gewicht auf das Mitleid legt, das als starke Emotion die Gefühle der Zuschauer in Bewegung setzen kann: "Der mitleidige Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste." - Dem Pfarrerssohn Lessing wird auch bewusst gewesen sein, dass Mitleid eine christliche Haltung darstellt.
Lessings Trauerspiel "Emilia Galotti" schreibt schon zwei Jahre nach seiner Uraufführung Literaturgeschichte. In Goethes Erfolgsroman "Die Leiden des jungen Werther" (1774) wird geschildert, dass der Protagonist, als er sich erschießt, ein Exemplar des Trauerspiels "Emilia Galotti" auf dem Pult liegen hat. Lessing ist über diesen Romanschluss nicht erfreut, weil er das reale Vorbild für den Selbstmörder Werther, Johann Friedrich Jerusalem, als Erzieher der herzoglichen Familie in Braunschweig gut gekannt hat und seinen Charakter durch Goethe verfälscht sieht.
Lessings letztes Drama "Nathan der Weise", das er ein "dramatisches Gedicht" nennt, erscheint 1781. Zwei Jahre später wird es in Berlin uraufgeführt. Ort der Handlung ist Jerusalem nach dem dritten Kreuzzug. Diese vielfach umkämpfte Stadt stellt für die drei großen Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam ein heiliger Ort dar. Der reiche Jude Nathan kommt von einer Geschäftsreise zurück und erfährt, dass seine Tochter Recha von einem Tempelherrn, der einem christlichen Ritterorden angehört, vor dem Feuertod gerettet worden ist. Der Tempelherr ist vom Sultan Saladin kurz vor seiner Hinrichtung begnadigt worden, weil er seinem verstorbenen Bruder Assad ähnlich sieht. Der Sultan bittet den reichen Juden Nathan zu sich, weil er sich in Geldnöten befindet. Im Gespräch mit dem Sultan erzählt Nathan die berühmte "Ringparabel", die des Sultans Frage nach der wahren Religion beantworten soll. Ein orientalischer König hat drei Söhne, die er gleichermaßen liebt. Er steht vor der schwierigen Entscheidung, einen Ring - ein altes Erbstück des Königshauses - an denjenigen weiterzugeben, den er am meisten liebt. Der Ring hat die Eigenschaft, seinen Träger "vor Gott und Menschen angenehm zu machen." Der König lässt zwei weitere Ringe anfertigen, die dem echten Ring aufs Haar gleichen, und übergibt vor seinem Tod die drei Ringe an seine Söhne. Als sie sich um den echten Ring streiten, schlichtet ein kluger Richter den Streit mit folgenden Worten:
"Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf‘!"
Als Gleichnis für die drei Weltreligionen gedacht, enthält es die Botschaft, dass sich der Wahrheitsgehalt einer Religion nicht in ihren Bekundungen, sondern in ihrer praktischen Humanität erweist. Der Sultan ist von dieser Erkenntnis begeistert und trägt dem Juden seine Freundschaft an. Das Drama nimmt seinen Fortgang. Der Tempelherr verliebt sich in Recha. In der Folge wird aufgedeckt, dass Recha nicht die leibliche Tochter von Nathan, sondern von ihm als kleines, christlich getauftes Waisenkind adoptiert worden ist. Der Tempelherr ist also Rechas Bruder. Nathan hat das kleine Mädchen als sein Kind angenommen, nachdem seine Frau und sieben Söhne bei einem christlichen Pogrom umgekommen sind: "Ich nahm / Das Kind [...] küsst´ es, warf / Mich auf die Knie´ und schluchzte: Gott! auf Sieben / Doch nun schon Eines wieder!" - Die beiden Geschwister stehen zu Nathan, in dem sie einen Vater im Sinne einer Geistes- und Seelenverwandtschaft sehen. Recha ruft unter Tränen: "Keiner, keiner sonst!" . Die Harmonie, mit dem das Drama schließt, ist ein Symbol für die Art und Weise, wie Menschen verschiedenen Glaubens zusammenleben könnten.
Das Drama verdankt seine Entstehung einer Kontroverse, die Lessing als Bibliothekar in Wolfenbüttel mit dem Hamburger Pastor Melchior Goeze ausgetragen hat. Es ist der Pastor, der sich dafür ausgesprochen hat, Goethes "Werther" zu verbieten. Im Streit mit Goeze geht es Lessing um die Kritik an der christlichen Offenbarungsreligion. In mehreren Streitschriften ("Anti-Goeze", 1778) setzt Lessing der Theologie der Offenbarung den Deismus gegenüber, eine natürliche und vernünftige Religion, der zufolge Gott die Welt zwar erschaffen, ihren Gang jedoch den Naturgesetzen anvertraut hat, die wie ein ablaufendes Uhrwerk wirken. Der Deismus postuliert, dass der Mensch in seinem Wirken frei und nicht Gottes unmittelbarem Willen unterworfen sei. Als Lessings Dienstherr Herzog Karl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel ihm weitere Veröffentlichungen im Goeze-Streit untersagt, weicht er auf das Gebiet des Theaters aus: "Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater, wenigstens noch ungestört wird predigen lassen." In dem hartherzigen und dogmatischen christlichen Patriarchen von Jerusalem hat Lessing ein Portrait seines Feindes Goeze gezeichnet. Als ihn der Tempelherr fragt, wie mit einem Juden zu verfahren sei, der ein getauftes Christenkind als Tochter annimmt und als Jüdin erzieht, antwortete er fanatisch: "...der Jude wird verbrannt."
Nach Lessings Tod 1781 wird sein "Nathan" Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Christen sehen in ihm einen Anschlag auf das Christentum, Juden müssen antisemitische Angriffe über sich ergehen lassen. Erst im 19. Jahrhundert wird der "Nathan" als Beispiel vorbildlicher religiöser Toleranz zur gymnasialen Schullektüre. Im "Dritten Reich" wird das Drama wegen seiner judenfreundlichen Tendenz totgeschwiegen. Nach 1945 wird es wieder in den Kanon der Schullektüre aufgenommen. Bis heute wird es auf unseren Bühnen gespielt.
Im Jahre 1767 wird das "Hamburgische Nationaltheater" gegründet, als dessen Dramaturg Lessing berufen wird. Aus diesem Anlass veröffentlicht er eine Sammlung theaterkritischer Beiträge, die später als "Hamburgische Dramaturgie" berühmt werden sollte. Die Sammlung enthält kritische Besprechungen der aufgeführten Stücke und daraus abgeleitet die Darlegung einer eigenen Theatertheorie. In Ablehnung des französischen Klassizismus der Autoren Racine, Corneille und Moliere formuliert er eine Dramenkonzeption, die die sklavische Umsetzung der Poetologie des Aristoteles zugunsten einer freien und schöpferischen Handhabung kritisiert und überwindet. Lessing fordert tragische Helden, die eine Identifikation des Publikums ermöglichen. Diese könne nur gelingen bei einer "Wahrscheinlichkeit der Umstände" und mit lebensnahen Helden, die weder "völlige Bösewichte" noch zu tugendhaft sein dürften. Die Ranghöhe der Helden müsse man erniedrigen, sie also nicht länger nur in der Welt der Götter und Könige suchen. Lessing hält an dem Postulat des Aristoteles fest, dass eine Tragödie beim Zuschauer "Furcht und Mitleid" erregen solle. Dazu Lessing: "Mitleid entsteht, wenn der, der es nicht verdient, ins Unglück gerät, Furcht, wenn es jemand ist, der dem Zuschauer ähnlich ist.""den Deutschen ein Nationaltheater [...] verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind."