Im Kloster Rupertsberg finden die Ordensschwestern eine Frauenleiche auf dem Altar ihrer Kirche. Die Journalistin Emma Prinz wird darauf angesetzt und macht sich mit ihrem alten VW-Bus auf den Weg nach Bingen. Die Spur führt direkt ins Kloster, selbst die Äbtissin gehört zum Kreis der Verdächtigen. Da stößt Emma auf ein uraltes Geheimnis rund um das berühmte Heilkundebuch Causae et Curae, das naturheilkundliche Vermächtnis der Hildegard von Bingen.
Das Buch ist ein Roman, seine Handlung und die Figuren sind frei erfunden. Doch das Leben und das Werk von Hildegard von Bingen werden historisch korrekt wiedergegeben. Nur das Kloster Rupertsberg existiert heute nicht mehr. Es wurde um 1150 von Hildegard von Bingen gegründet und 1632 zerstört.
Anette Huesmann, Jahrgang 1961, ist Wissenschaftsjournalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben.
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© 2020 Anette Huesmann
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Cover-Gestaltung: Thomas Heim, infarbe.com
Cover-Abbildung: VW Bus © Pixellio (www.depositphotos.com), Hildegard
von Bingen frei gestaltet nach einem Motiv einer Bildpostkarte von 1910,
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Abbildung Seite 6: Von Ferdinand Luthmer - Die Bau- und Kunstdenkmäler
des Rheingaues Keller, Frankfurt am Main 1902 [1], Gemeinfrei,
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39386432
Lektorat: Aufbau Verlag
Satz, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Die Originalausgabe ist 2012 unter dem Titel „Die Glut des Bösen“ im
Aufbau Verlag erschienen.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit
schriftlicher Genehmigung der Autorin.
ISBN: 978-3-7526-7907-6
Für Martina
Die Zitate zu Kapitelbeginn stammen aus »Hildegard von Bingen: Das Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe«. Entstanden etwa zwischen 1151 und 1158. Zitiert nach »Der Äbtissin Hildegard von Bingen: Ursachen und Behandlung der Krankheiten (causae et curae)«. Übersetzt von Professor Dr. Hugo Schulz, Greifswald. München 1933, Verlag der Ärztlichen Rundschau Otto Gmelin.
Abbildung aus dem mehrbändigen Werk »Politisches Schatzkästlein« von Daniel Meissner und Eberhard Kieser, erschienen ab 1623 in Frankfurt.
Der Wind der Lust aber, der in die beiden Behälter solcher Männer herabfällt, kommt so ungezügelt und in solch plötzlichem Anstoß wie ein Wind, der das ganze Haus unversehens und heftig erschüttert, und richtet den Stamm so tyrannisch auf, daß derselbe Stamm, der doch in voller Blüte dastehen sollte, sich in der Gehässigkeit der Weise der Vipern krümmt und in solcher Schlechtigkeit wie eine tod- und verderbenbringende Viper seiner Nachkommenschaft gegenüber seine Bosheit erweist.
Die SMS kam von der Leitstelle der Mainzer Polizei: Weibliche Leiche im Bingener Kloster Rupertsberg aufgefunden. KDD bereits vor Ort. Die Worte leuchteten grün auf dem Display ihres Handys. Emma scrollte nach oben. Der Presseruf war um 8.35 Uhr verschickt worden. Nachdenklich warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. 8.45 Uhr.
Emma legte das Handy zur Seite und fragte sich, ob sie die Geschichte übernehmen sollte. Eigentlich war es kein guter Zeitpunkt. Sie ging hinüber zum Schreibtisch und öffnete den Laptop. Der Lüfter startete und erste Kontrollzeichen flackerten über den Bildschirm.
»Du arbeitest?« Günter stand in der Tür ihres Wohnzimmers. Sein Blick war finster.
»Ein Presseruf. Kam heute Morgen um 8 Uhr 35. Die Geschichte könnte richtig gut werden«, antwortete Emma.
»Ich dachte, du hilfst mir«, sagte er.
Emma drehte sich um und fixierte ihn. »Arbeit geht vor. Das war unsere Absprache«, sagte sie gedehnt.
»Was ist mit unserem Urlaub in der Schweiz?«, fragte Günter. Seine Stimme bekam einen drohenden Unterton. »Es war ausgemacht, dass wir uns heute gemeinsam um die Ski kümmern.«
Emma musterte ihn nachdenklich. »Sorry«, sagte sie dann. »Daraus wird nichts. Die Geschichte kostet mich mindestens zwei Tage.«
Sie wandte sich wieder ihrem Laptop zu, einem in die Jahre gekommenen Dell Inspiron. Der Browser öffnete sich mit Google als Startseite. Emma tippte die Suchanfrage zum Kloster Rupertsberg ein. Sie hörte, wie Günter aus dem Zimmer ging. Emma ließ ihre Hände auf die Tastatur sinken und lauschte. Die Geräusche aus dem Schlafzimmer ließen sie vermuten, dass er dort seine Sachen zusammensuchte.
»Vergiss nicht, meine Schlüssel hier zu lassen«, rief sie rasch. Kurze Zeit später hörte sie das metallische Klirren der Schlüssel, dann klappte die Wohnungstür.
Emma atmete tief durch und strich sich über die Augen. Für einen Moment drohte die Leere sie zu überwältigen. Dann blinzelte sie und riss sich zusammen. Google zeigte eine Internetadresse, die vermutlich zur Homepage des Klosters gehörte. Froh über die Ablenkung studierte Emma die Internetseite und verschaffte sich mit wenigen Klicks einen ersten Eindruck. Dann klickte sie weiter bis zum Impressum und übertrug die Adresse in ihr Navigationssystem. Von Heidelberg aus war es eine gute Stunde Fahrt bis Bingen.
Emma suchte die Telefonnummern für die Presse heraus, doch im Mainzer Polizeipräsidium waren alle Nummern der Pressestelle besetzt. Die Kollegen waren ebenfalls schon dran. Emma erhob sich und ging langsam hinüber ins Schlafzimmer.
Neben der Schwelle lag ihr Wohnungsschlüssel auf dem Boden. Günter hatte ihn einfach fallen lassen. Emma bückte sich und zog ihn nachdenklich zu sich her. Sie hatten sich zwar nach dem Streit gestern wieder versöhnt, doch es war längst deutlich, dass sie in einer Sackgasse angekommen waren. Günter und sie hatten zu Beginn ihrer Affäre vereinbart, dass sie zwei vielbeschäftigte Singles waren und das auch bleiben wollten. Inzwischen hatte er zu spüren bekommen, dass sie aus beruflichen Gründen mindestens so häufig ihre Verabredungen platzen lassen musste wie er. Und das passte ihm nicht.
Das war’s vermutlich, dachte Emma. Sie war froh, dass sie und Günter sich nun nichts mehr vormachen mussten. Sie hatten einander Gesellschaft geleistet, aber mehr war daraus auch nicht geworden. Emma erhob sich und legte ihre Zweitschlüssel zurück in die Nachttischschublade. Ihr Blick fiel auf den Brief ihres Vermieters, der gestern mit der Post gekommen war und den sie vor Günter versteckt hatte. Zwei Monatsmieten war sie bereits im Rückstand, und er drohte ihr mit Kündigung, wenn sie nicht schnellstmöglich bezahlte.
Entschieden wandte sich Emma ab, packte ein paar Dinge zusammen und legte den Laptop und die Digitalkamera dazu. Die Routine half ihr, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sie warf einen Blick in die Küche, wo Günter vor seinem Abgang Frühstück gemacht hatte. Es roch nach Kaffee. Auf dem Tisch standen Tassen und ein Korb mit frisch aufgebackenen Brötchen. Ihr Magen knurrte. Trotzdem brachte sie es nicht fertig, sich allein an den gedeckten Tisch zu setzten.
Rasch packte sie zwei Brötchen und etwas Käse ein. Den Kaffee füllte sie in eine Thermoskanne und gab Milch hinzu. Nachdenklich sah sie sich noch einmal um. Auf dem Tisch waren zwei Tassen und ein leerer Brotkorb zurückgeblieben. Emma packte ihre Reisetasche fester und zog die Küchentür hinter sich zu.
Zehn Minuten später saß sie in ihrem Bus und ließ die Stadtgrenzen Heidelbergs hinter sich. Sie fuhr auf die A6 und wechselte am Kreuz Frankenthal auf die A61 Richtung Mainz. Es herrschte wenig Betrieb, der Ausflugsverkehr ließ noch auf sich warten. Emma setzte am Polizeifunk Scanner den Suchlauf in Gang, bis sie die Mainzer drin hatte. Doch außer zwei Verkehrsunfällen war nichts zu hören. Sie sah auf die Uhr. Der KDD, der Kriminaldauerdienst, war vor zwei Stunden vor Ort gewesen. Inzwischen mussten längst die Beamten der Kriminalpolizei eingetroffen sein und ihre Kollegen abgelöst haben.
Emma war als Polizeireporterin meist im Rhein-Neckar-Dreieck unterwegs, Heidelberg, Mannheim, Ludwigshafen und die kleineren Orte der Umgebung. Da sie auch für überregionale Zeitschriften schrieb, dehnte sie ihr Einzugsgebiet nach Bedarf auch auf umliegende Regionen aus.
Emma stellte ihr Mobiltelefon in die Freisprechanlage und versuchte es erneut bei der Pressestelle der Mainzer Polizei. Während sie darauf wartete, dass ihr Handy eine Verbindung herstellte, kramte sie in ihrem Gedächtnis, was sie im Internet zusammengesucht hatte. Die Leiche war im Benediktinerkloster Rupertsberg gefunden worden. Hildegard von Bingen hatte es Mitte des 12. Jahrhunderts erbaut. Emma wusste nur wenig über die mittelalterliche Gelehrte und Theologin. Sie nahm sich vor, für den Artikel noch ein paar Lebensdaten zu recherchieren.
Endlich gab ihre Freisprechanlage ein paar Töne von sich. Bei der Pressestelle war noch immer besetzt.
Emma drückte die Kurzwahltaste für Paul, ihren besten Freund, der mit ihr das Büro in Heidelberg teilte. Sie wusste, dass er heute dort sein wollte, um noch einen Bericht für seinen Sender zu sprechen. Er war fester Freier eines überregionalen Rundfunksenders und arbeitete für das Mannheimer Regionalstudio. Beim zweiten Signalton nahm er ab.
»Guten Morgen, Paul«, rief sie. Ihre Freisprechanlage war in Ordnung, doch die teure Elektronik konnte das Motorengeräusch des 20 Jahre alten VW-Busses nicht herausfiltern. Sie musste die Lautstärke hoch drehen, um überhaupt was verstehen zu können.
»Hallo, Prinzessin«, begrüßte er sie vergnügt, »was macht die Urlaubsvorbereitung?«
Emma stöhnte. Dann gab sie Paul eine kurze Zusammenfassung der morgendlichen Ereignisse.
»Also stürzt du dich jetzt in die Arbeit«, erwiderte er trocken.
»Ich hätte mir eigentlich ohnehin keinen Urlaub leisten können. Und du?«, rief Emma. »Ich dachte, du bist heute im Büro?«
»Dachte ich auch«, erwiderte Paul. »Aber Stefan hat mich heute Morgen raus geklingelt. Er ist krank, und sein Sender will unbedingt einen Bericht über die Frauenleiche im Kloster Rupertsberg. Da ich ihm noch einen Gefallen schulde, habe ich mich ins Auto gesetzt.«
»Dann sehen wir uns gleich«, erwiderte Emma und lachte. »Ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Hast du die Mainzer schon erreicht?«
»Ich hab sie erwischt, bevor ich los bin.«
»Und?«
»Die Ordensschwestern kamen um 6 Uhr zum Morgengebet und haben dabei die Frau gefunden«, sagte Paul. »Sie lag in der Klosterkirche auf dem Altar. War zu dem Zeitpunkt schon ein paar Stunden tot.«
»Mehr Infos gibt’s noch nicht?«, rief Emma.
»Nein«, erwiderte Paul. »Wir sehen uns dann.«
Emma legte auf und wählte die Nummer vom Wochenenddienst der Lupe. Die Zeitschrift war erst vor einigen Monaten an den Start gegangen und wollte überregional anderen großen Wochenmagazinen Konkurrenz machen. Dafür brauchten sie gute Geschichten. Emma hatte in den vergangenen Monaten mehrere größere Artikel für sie geschrieben.
»Eine weibliche Leiche wurde heute Morgen im Bingener Kloster gefunden«, rief Emma gegen das Motorengeräusch an.
Kohler antwortete nicht. Sie hörte die Musik im Hintergrund. Wenn der Ressortleiter Sonntagsdienst hatte, lief meist seine Lieblingsband Shakti.
»Was ist«, rief Emma, »kein Interesse?«
»Der neue Chefredakteur hat am Freitag die Weisung ausgegeben, dass wir Kapitaldelikte mit überregionaler Bedeutung nur noch von den Agenturen nehmen«, sagte Kohler. Seine Stimme klang blechern. »Damit sich das Geld wenigstens lohnt, das wir jeden Monat an die bezahlen.«
»Was heißt das?«, rief Emma. Die Honorare für Freie waren schon seit einigen Jahren im Keller und sanken immer weiter. Es wurde für sie immer schwieriger, genug für ihren Lebensunterhalt und die Miete zusammenzukriegen, und nun waren ihre Reserven aufgebraucht. Die Lupe war ein Geheimtipp gewesen, die Redaktion hatte in den ersten Monaten gut bezahlt. Doch Emma wusste bereits von Kollegen, dass die neue Zeitschrift nach den Rekordauflagen der ersten Wochen den Konkurrenzdruck umso mehr zu spüren bekommen hatte und bereits ins Trudeln kam. Seit der Chefredakteur vor einigen Wochen gewechselt hatte, driftete das Blatt immer weiter Richtung Boulevard.
»Nur, wenn du was Besonderes bringst«, sagte Kohler, »mehr, als die Agenturen liefern.«
»Das ist verdammt schwer«, rief sie zurück.
»Ja«, erwiderte Kohler. Die Musik im Hintergrund schien lauter zu werden.
»Bring mir ein Foto vom Tatort, muss ja keine Leiche mehr zu sehen sein, dann sind wir im Geschäft«, sagte er plötzlich.
»Hey«, protestierte sie, »du weißt, dass das nicht geht. Ich bin keine Fotografin. Außerdem habe ich keine Lust, mich mit der Polizei anzulegen.«
»Bring mir ein Foto vom Tatort, und ich denke über den Pauschalistenvertrag nach, von dem wir neulich sprachen«, sagte Kohler. Dann war nur noch ein rhythmischer Signalton zu hören. Mit einem Fluch drückte Emma die Ende-Taste. Kohler war ein Choleriker, der sich schnell aufregte, aber bisher war er immer fair geblieben. Doch der neue Chefredakteur brachte offensichtlich einen anderen Wind in die Redaktion. Gegenwind.
Vor der Klosteranlage stand ein Übertragungswagen des SWR. Der Ü-Wagen tauchte nur bei großen Geschichten auf, für einen Verkehrsunfall setzte er sich nicht in Bewegung. Zwei weitere Vans waren zu sehen und mehrere Kombis, bis unters Dach mit Gerätschaft vollgepackt. Die Kollegen von Rundfunk und Fernsehen waren wie immer schnell. Emma hatte die ersten Meldungen bereits unterwegs in den Nachrichten gehört. In Kürze würde es Berichte und Lifereportagen geben und nach den Mittagsnachrichten eine erste Zusammenfassung.
Ihr Blick schweifte über den Besucherparkplatz. Ohne Presseausweis hätte sie keine Chance gehabt, die äußere Absperrung zu passieren. In Mannheim und Heidelberg kannte sie die Beamten, doch hier war sie weit von ihrem üblichen Revier entfernt. Schätzungsweise zwanzig bis dreißig Journalisten waren bereits vor Ort, mehr als sonst. Sie hatten Glück, dass die Polizei und die Klosterleitung ihnen erlaubten, auf dem Parkplatz des Klosters zu stehen. Sonst mussten sie meist mit Straßenrändern vorlieb nehmen.
Paul hatte sie von weitem entdeckt und kam zu ihr herüber.
»Hi, Prinzesschen«, sagte er und vergrub die Hände in den Taschen seiner Cargohose. »Ich weiß inzwischen schon etwas mehr.«
»Komm rein«, erwiderte Emma.
Sie schob die Seitentür des Busses weiter auf und rutschte auf die Bank hinter den Klapptisch. Paul kletterte auf die Bank ihr gegenüber. Sein Sharan war vollgepackt mit technischer Ausrüstung, da blieb für ihn gerade noch genug Platz zum Schlafen. Wenn er konnte, setzte er sich zum Arbeiten in ihren Bus. Paul legte seinen Rucksack neben sich auf die Bank und sah sie prüfend an. Emma wich seinem Blick aus und zog ihre Tasche zu sich her. Sie mochte jetzt nicht über Günter reden.
»Kohler von der Lupe will, dass ich ein Foto vom Tatort mache«, sagte sie.
»Und?«, fragte er und runzelte die Stirn. »Du wirst dich doch auf solchen Blödsinn nicht einlassen. Das verstößt gegen den Pressekodex und bedeutet außerdem jede Menge Ärger mit der Polizei.«
»Er hat mir einen Pauschalistenvertrag versprochen, wenn ich ihm das Foto bringe«, sagte Emma.
»Du verkaufst deine Seele«, sagte Paul, »und auch deine berufliche Zukunft. Nach so einer Geschichte nimmt dich kein seriöses Blatt mehr ernst.«
»Ich bin pleite«, erwiderte Emma trocken. »Wenn sich in den nächsten Wochen nichts tut, muss ich Hartz IV beantragen.«
Paul hatte als fester Freier eines Rundfunksenders einen zuverlässigen Abnehmer für seine Geschichten und wurde einigermaßen vernünftig bezahlt. Die Honorare von Zeitungen und Zeitschriften waren niedriger als beim Rundfunk und Fernsehen. Sie sanken durch die Wirtschaftskrise immer weiter. Viele Freie hatten aufgegeben oder lebten von anderen Einkünften.
»Aber dieser Weg führt dich früher oder später ins Abseits«, entgegnete Paul.
»Ich habe keine Wahl«, sagte Emma. »Ich bin zwei Monatsmieten im Rückstand, und dir kann ich meinen Anteil fürs Büro schon seit drei Monaten nicht mehr bezahlen.«
»Ich hab dir doch gesagt, es ist in Ordnung, wenn ich das Büro eine Zeit lang allein finanziere.«
»So kann es einfach nicht weitergehen«, sagte Emma verzweifelt. »Ich will dir nicht ewig auf der Tasche liegen. Ich muss endlich wieder genug verdienen, dass es zum Leben reicht.«
Paul musterte sie nachdenklich. »Ich konnte vorhin kurz mit einem der Beamten sprechen«, sagte er dann und klappte seinen Laptop auf. Er schloss sein Aufnahmegerät mit einem USB-Stecker an seinen Samsung und startete Windows, um die Tonaufnahmen rüberzuziehen. »Es hat eine Weile gedauert, bis sie die Rechtsmedizinerin erwischt haben. Schließlich ist heute Sonntag. Aber sie trifft in Kürze ein und wird sich die Leiche ansehen. Der Staatsanwalt war schon da. Die Sonderkommission wird gerade gebildet, und die Leitung übernimmt wohl ein Kriminalhauptkommissar Grieser. Der führt bereits die ersten Vernehmungen durch.«
»Mehr geben sie noch nicht raus?«, fragte Emma. Sie zog ihren Schreibblock zu sich und notierte die wenigen Fakten.
»Die PK wird am Spätnachmittag sein, meinte die Pressestelle«, erzählte Paul. Er warf einen flüchtigen Blick auf seinen Bildschirm.
»Wo?«, fragte Emma. Es war unwahrscheinlich, dass die Polizei die Journalisten zur Pressekonferenz auf das Gelände ließ. Das nächste Polizeipräsidium lag in Mainz, und die Polizeiinspektion in Bingen war sicher zu klein. Sie sah hinüber zu den Klostermauern, die sich dunkel von der sanft ansteigenden Nordflanke des Rupertsberg abhoben. Die Anlage war unmittelbar in das Rhein-Nahe-Eck gebaut. Das Gelände fiel neben dem Parkplatz allmählich ab und endete jenseits der Eisenbahnschienen in einer flach auslaufenden Wiese, die mit einer Seite an die Nahe grenzte und mit der anderen an den Rhein.
»Noch offen.« Paul zuckte mit den Schultern. Ein Blinken auf seinem Bildschirm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er machte ein paar Klicks und trennte das Aufnahmegerät, ein neues Edirol in der Größe eines Rasierapparats, von seinem Laptop.
»Er hat mir übrigens noch ein paar Details verraten, off the records natürlich«, sagte Paul.
Emma hob fragend die Augenbrauen. Paul brachte in kürzester Zeit Männer wie Frauen dazu, vertrauliche Informationen rauszurücken. Häufig off the records, was bedeutete, dass sie es nicht schreiben durften, sonst gab es Ärger. Trotzdem waren die Hintergrundinformationen meist sehr nützlich.
»Die Frau wurde auf dem Altar gefunden, lag dort wie aufgebahrt. Sie muss auf ziemlich brutale Art und Weise ermordet worden sein«, sagte Paul. Er griff nach seinem Aufnahmegerät und verstaute es im Rucksack. Emma musterte nachdenklich den Notizblock vor sich, auf dem nur wenige Worte standen.
»Dünn«, sagte sie unzufrieden. »Wenig, was man wirklich schreiben kann.«
Paul zuckte mit den Achseln.
»Du machst dich auf zur Recherche«, stellte er fest. »Kann ich bleiben?«
Sie nickte. Sie wusste, dass Paul in spätestens einer Stunde seine News-Minute für die Mittagsnachrichten abliefern musste und einen ruhigen Platz brauchte, wo er seine Aufnahmen schneiden konnte. Da Paul für einen regionalen Radiosender arbeitete, gab es keine Konkurrenz zwischen ihnen. Emma griff nach ihrer Umhängetasche mit Digitalkamera und Laptop.
»Mach die Standheizung aus, wenn du gehst«, sagte sie. Der Tank war noch halb voll, und sie wusste nicht, wie lange der Einsatz dauern würde. Die Nächte konnten um diese Jahreszeit noch empfindlich kalt sein.
Paul streifte den Kopfhörer über und startete sein Schneideprogramm für Audiodateien. Er nickte abwesend. Emma kletterte nach draußen und schob die Seitentür ins Schloss. Sie überquerte den mit grauem Granit grob geschotterten Parkplatz. Eine Gruppe von Fernsehleuten stand neben einem Van und diskutierte über Einzelheiten ihres Berichts. Eine Windböe streifte Emmas Gesicht und brachte den Geruch von Frühling mit sich. Sie schob einige Haarsträhnen zur Seite, die wild über ihr Gesicht tanzten. Emma war froh, dass sie hier war.
Sie sah nach unten, wo die beiden Flüsse aufeinander trafen. Das Aprilgewitter der vergangenen Nacht hatte die Fluten der Nahe aufgewühlt. Braune Wassermassen wälzten sich in den klar wirkenden Rhein und hinterließen dort ein wolkiges Muster, das an einen stürmischen Herbsthimmel erinnerte.
Emma fröstelte. Der Anblick von so viel Wasser machte sie nervös. Sie näherte sich der verzogenen Holztür des Torhauses am nördlichsten Punkt des Klosters. Der Eingang befand sich in einem im Vergleich zum Rest der Anlage niedrigen Gebäude. Ein uniformierter Beamter mit spitz aufgezwirbeltem Schnurrbart und verschränkten Armen stand davor und musterte sie schweigend. Emma machte ein paar Fotos und ging dann weiter auf einen schmalen Spazierweg, der an einer kleinen Kapelle vorbei unterhalb der östlichen Klostermauer verlief.
Einige von ihnen verkehren gern und in menschlicher Weise mit den Frauen, weil sie kräftige Gefäße und heftig brennendes Mark besitzen. Trotzdem hassen sie die Frauen.
»Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Jesus.«
Schwester Lioba sprach das Gebet halblaut, so hatte sie das Gefühl, Gott könne ihre Worte genauso hören wie sie selber.
Trotzdem fiel es ihr diesmal schwer, mit den Gedanken dabei zu bleiben. Sie war erst gestern in ihr neues Amt als Äbtissin eingesetzt worden. Und schon heute wurde ihr eine schwere Bürde auferlegt.
Wie hätte ihre Vorgängerin gehandelt, Hildegard von Bingen? Sie war noch einige Jahre jünger gewesen, als sie die Leitung ihres Konvents übernahm. In ihrem 39. Lebensjahr war Hildegards Lehrerin und Mentorin, Jutta von Sponheim gestorben. Im selben Jahr, 1136, wurde sie zur Magistra gewählt. Das allein war schon eine schwere Aufgabe. Damals wie heute.
Doch Schwester Lioba musste nun, nur einen Tag nach ihrer Weihe, mit dem Tod einer Freundin fertig werden, die sie in ihrem eigenen Kloster ermordet aufgefunden hatte.
Ein leises Klopfen unterbrach ihre Gedanken. Schwester Lioba beendete den Rosenkranz.
»O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria.« Ihre Knie schmerzten, als sie sich von ihrer schmalen Gebetbank hochdrückte. Ob Hildegard von Bingen sich auch so alt gefühlt hatte, als sie zur Oberin gewählt worden war? Kaum denkbar. Sie hatte erst Jahre später begonnen, ihre berühmten Werke zu schreiben.
»Ehrwürdige Mutter, ich bedaure es sehr, Sie stören zu müssen, aber Kommissar Grieser möchte Sie sprechen.« Schwester Beatrix blieb neben der Tür stehen. Ihr Schleier saß leicht schief, und ihre Stirn war in sorgenvolle Falten gelegt. Schwester Lioba fuhr mit beiden Händen über ihr Habit und vergewisserte sich, dass sie dem Polizisten in Würde gegenüber treten konnte. Dann nickte sie Schwester Beatrix zu.
Schwester Lioba trat an ihren Schreibtisch, den sie von ihrer Vorgängerin übernommen hatte. Es war ein schweres Stück mit Metallfüßen und dunkel beschichteter Holzfaserplatte. Sie setzte sich auf den noch ungewohnten Platz dahinter.
Schwester Beatrix führte den Kommissar herein und ließ sie mit einem Nicken allein. Schwester Lioba blickte ihm ruhig entgegen. Grieser hatte sich ihr vor zehn Minuten als Kriminalhauptkommissar von der Zentralen Kriminalinspektion der Kripo Mainz vorgestellt. Er war vielleicht Anfang dreißig, mit dunklen Haaren, moderner Kurzhaarfrisur und einem angenehmen Gesicht. Er hielt ein schwarzes Notizbuch in seinen Händen und wirkte sehr entschieden. Eigentlich hatte sie sich den ersten Besucher, den sie im Arbeitszimmer der Äbtissin empfangen würde, anders vorgestellt.
»Es tut mir leid wegen vorhin«, begann er. Der Kommissar wirkte bekümmert. Schwester Lioba lächelte beruhigend. Früher begegneten die Menschen dem Habit mit Ehrfurcht, heute ließen sich viele davon verunsichern.
»Sie konnten ja nicht wissen, dass ich Miriam Schürmann gut gekannt habe«, erwiderte sie.
Grieser setzte sich auf den Besucherstuhl ihr gegenüber und startete erneut das Aufnahmegerät. Der Fund heute Morgen in der Kirche hatte Schwester Lioba sehr erschüttert. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen, als sie die Tote identifizieren musste. Als dann der Kommissar in ihrem Büro aufgetaucht war, um weitere Einzelheiten zu erfahren, da kämpfte sie sehr um ihre Fassung. Er hatte ihr eine Pause gegönnt, damit sie sich wieder fangen konnte. Sie fragte sich, ob er anderen Zeugen auch diese Besorgnis angedeihen ließ.
»Wir sind vor zwanzig Jahren in dieselbe Klasse gegangen«, fuhr sie fort.
»Welche Schule war das?«, fragte Grieser. Er öffnete das Notizbuch und zog einen schwarz gemusterten Stift aus seiner Halterung.
»Die Internatsschule des Benediktinerklosters Altdorf bei Heidelberg«, sagte Schwester Lioba. »Wir haben dort Abitur gemacht. Später haben wir lose Kontakt gehalten. Miriam war ein paar Mal hier und hat mich besucht.«
Grieser sah von seinem Notizbuch auf. »Wann war sie das letzte Mal da?«, fragte er.
»Gestern«, sagte Schwester Lioba und hielt inne.
Nach dem Geheiß deines Wortes / Ertöne ich wie eine Zither. / Nur was von dir stammt, o Gott, / berühre, mag und erstrebe ich. / Denn von dir bin ich ausgegangen, / bin erwachsen aus dir / und will keinen anderen Gott. / Dir gehorchen, das gibt mir Halt.
Das Gebet Hildegards von Bingen hatte ihr schon oft Trost gegeben. Es war albern, aber sie fand, es entsprach nicht der Würde ihres neuen Amtes, wenn sie gleich beim ersten Besucher in Tränen ausbrach.
Schwester Lioba atmete tief durch. Sie roch die Osterglocken, die Schwester Beatrix gestern Abend auf ihren Schreibtisch gestellt hatte, und den abgestandenen Kaffee, den sie vorhin nicht hatte anrühren können.
»Ich wurde gestern Morgen bei einem Gottesdienst zur Äbtissin geweiht«, begann sie. »Zu einer solchen Feier können wir Freunde und Verwandte einladen. Ich habe einige ehemalige Schulkameraden hergebeten. Und zu ihnen gehörte auch Miriam.«
»Sie blieb über Nacht?«, fragte Grieser.
»Sie kam am Freitagnachmittag, da die Feier gestern Morgen recht früh anfing.« Schwester Lioba hielt einen Moment inne, bis sie weitersprechen konnte. »Eigentlich hatte sie in unserem Gästehaus noch bis heute bleiben wollen. Aber dann ist sie doch schon gestern abgereist.«
»Sie ist gestern überraschend abgereist?«, fragte er und musterte sie eindringlich. »Wissen Sie warum?«
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Schwester Lioba. Der Kommissar starrte ihr unverwandt ins Gesicht. Sie kämpfte gegen den Impuls aufzustehen.
»Es waren noch andere Gäste von Ihnen im Gästehaus, hat mir Schwester Beatrix erzählt«, sagte er.
»Ja, das stimmt«, erwiderte Schwester Lioba bedächtig. Ihr Herz pochte, am liebsten hätte sie sich die Augen gerieben. Doch sie hielt sich weiterhin aufrecht und ließ beide Hände gefaltet vor sich auf dem Schreibtisch liegen.
»Ich sagte ja bereits, dass ich einige Schulkameraden von früher eingeladen habe. Wir kennen uns von der Internatsschule. Miriam gehörte auch dazu. Im Gästehaus sind derzeit noch Josef Windisch, Markus Hertl und Thomas Kern untergebracht, alle drei sind auch ehemalige Schulkameraden. Zu Markus Hertl und Thomas Kern hatte ich viele Jahre keinen Kontakt mehr. Miriam hat mich, wie ich schon sagte, einige Male besucht, und mit Josef Windisch unterhalte ich seit Jahren einen losen Briefkontakt.«
Grieser achtete nicht mehr auf ihre Worte. Ein Geräusch aus seiner Jackentasche hatte ihn veranlasst, sein Handy herauszunehmen und ein Gespräch entgegenzunehmen.
Schwester Lioba zog verärgert die Augenbrauen zusammen. Sie mochte diese moderne Form der Respektlosigkeit nicht. Doch sie war froh, eine Pause zu haben.
Griesers Stirn hatte sich in breite Querfalten gelegt, als er das Handy in sein Jackett zurückschob.
»Entschuldigen Sie mich bitte, Mutter Oberin«, sagte er zerstreut und erhob sich. »Meine Leute brauchen mich.«
Zögernd blieb er neben ihrem Schreibtisch stehen.
»Eine Frage habe ich noch«, sagte er nachdenklich.
Schwester Lioba blickte zu ihm hoch. »Ja?«, fragte sie abwehrend. Sie hörte hinter ihrem Rücken Motorengeräusch und das Knirschen des Schotters im Hof. Fahrzeugen war es verboten, bis in den Klosterhof zu fahren, es musste also eines der Einsatzfahrzeuge der Polizei sein.
»Eine Tätowierung in der Form eines Eselskopfes, sagt Ihnen das was?« Grieser blickte an ihr vorbei nach draußen.
Hinter ihren Augen klopfte es. Die Mahnung ihres alten Lehrers schien alle anderen Gedanken zu ersticken. Beim Verkehr mit Frauen sind sie ohne Maß und verhalten sich wie die Esel.
Schwester Lioba spürte, dass sie ihre Mimik nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ganz allmählich senkte sie den Kopf, so dass der Schatten ihres Schleiers sich über ihr Gesicht legte. Sie spürte, wie seine Aufmerksamkeit wieder zu ihr zurückkehrte. Der Kommissar wartete noch auf eine Antwort. Sie war froh, dass er ihre Augen nicht sehen konnte. Was für ein Segen, dass ihre Novizenmeisterin so großen Wert auf Haltung gelegt hatte.
»Tut mir leid«, hörte sie sich sagen, und ihre eigene Stimme klang fremd in ihren Ohren, »so schnell fällt mir dazu nichts ein.«
Die Lüge war eine lässliche Sünde, fand sie. Doch die Schuldgefühle rollten heran wie eine Sturmwelle und drohten sie mitzureißen.
Grieser hatte bereits das Aufnahmegerät an sich genommen und war zur Tür gegangen.
»Die Kollegin wird später das Protokoll Ihrer Vernehmung zur Unterschrift vorbei bringen«, sagte er. »Doch ich fürchte, ich werde Sie noch einige Male belästigen müssen.«
Schwester Lioba hatte den Eindruck, dass er es wirklich bedauerte. Er warf einen Blick zurück, als spürte er, was in ihr vorging. Prüfend wanderten seine Augen über ihr Gesicht. Schwester Lioba faltete bedächtig die Hände. Sie nickte förmlich und wartete mit gesenktem Kopf darauf, dass die Tür sich hinter ihm schloss.
»Gibt es im Kloster viele Ordensschwestern?«, fragte Emma. Sie saß in einem Café nahe dem Kloster. Die Bedienung, eine arrogant wirkende Teenagerin mit Lippenpiercing, zuckte gelangweilt die Achseln.
»Ich weiß nicht«, bequemte sich die junge Frau mit näselnder Stimme dann doch noch zu einer Antwort. »Ich komme eigentlich nie ins Kloster, und die Schwestern sind selten im Ort.«
Sie griff nach der leeren Kaffeetasse und drehte sich weg. Dann blickte sie noch mal über die Schulter zurück und sah Emma fragend an. Emma schüttelte den Kopf. Hier hatte niemand was erzählen können, es lohnte sich nicht, sitzen zu bleiben. Sie griff nach ihrer Tasche und trat auf die Straße. Die blasse Sonne stand im Zenit und schaffte es kaum, die aufgeplusterten Spatzen im Park gegenüber zu wärmen. Eine Gruppe kreuzte ihren Weg, drei Erwachsene und fünf Kinder, die kichernd und lachend durcheinanderliefen. Zwei der Kinder trugen aufwändige Gestecke mit bunten Bändern und Holzstangen. Die anderen hatten kleine Sträuße aus Palmzweigen in den Händen.
Das Kloster lag auf der Höhe von Bingen am linken Naheufer und gehörte zum Bingener Stadtteil Bingerbrück. Wenige Geschäfte säumten die Durchgangsstraße, ein Hotel drängte sich mit pfeifender Klimaanlage neben einer Volksbank in den Schatten einer alten Eiche. Überall standen Menschen in Gruppen zusammen, die neugierig zum Kloster sahen und wahrscheinlich darüber sprachen, was passiert war.
Emma sah die Straße hinunter und überlegte, wie sie an weitere Informationen kommen könnte. Ihr Blick fiel auf einen Kiosk am Ende der Straße. Emma setzte sich in Bewegung und steuerte auf das flache Gebäude zu. Von weitem sah sie eine Frau mit Strickjacke und bunt gestreiftem Schal, die zwei Jugendlichen Pappschalen mit Pommes in die Hand drückte. Die Stehtische neben dem Kiosk waren verwaist.
Emma trat an das Brett heran, das in Hüfthöhe rund um den Kiosk verlief.
»Eine Currywurst«, sagte sie.
»Pommes oder Brötchen?«, fragte die Frau hinter dem Tresen und musterte Emma interessiert. Sie hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe und ein offenes, freundliches Lächeln.
»Brötchen«, erwiderte Emma.
Die Kioskbesitzerin schob eine Pappschale unter die Öffnung einer Maschine und holte mit einer Zange eine der Würste vom Grill. Geschickt fädelte sie diese in den Einfüllstutzen der Maschine. Die Wurst fiel in Stücke zerlegt in die Schale.
»Machen Sie Urlaub hier?«, fragte die Frau beiläufig. Sie hob den Deckel von einem verbeulten Alutopf, in dem eine rote Flüssigkeit simmerte.
Emma schüttelte den Kopf. Sie beobachtete, wie die Kioskbesitzerin Currysoße in die Pappschale löffelte.
»Ein paar Touristen sind schon hier«, plapperte die Frau munter weiter. »Zu Ostern kommt immer schon der erste Schwung und eröffnet die Saison.«
»Essen die Schwestern vom Rupertsberg auch manchmal bei Ihnen?«, unterbrach Emma den Redefluss und nahm die gefüllte Schale entgegen. Sie fühlte sich in ihrer Hand angenehm warm an.
»Schwester Angelika holt sich ab und zu mal eine Portion Pommes«, sagte die Frau und warf Emma einen neugierigen Blick zu.
Emma lächelte. Sie stellte die Schale auf die Ablage vor sich und nahm einen Bissen. Die Wurst war gut. Emma beobachtete kauend zwei Kollegen mit Kamera und Mikrofon. Sie waren auf der anderen Straßenseite auf der Jagd nach einem Statement. Doch keiner der vorbeihastenden Fußgänger mochte stehen bleiben.
»Im Moment kommt man nicht rein ins Kloster« bemerkte Emma.
»Ins Kloster kommt man immer rein«, erwiderte die Frau und stellte den Topf mit Currysoße zur Seite. »Man muss nur wissen, wie.«
Emma musterte sie interessiert. Die Frau mochte etwa ihr Alter haben, Anfang dreißig, und sah aus, als hätte sie ihren Kiosk und die Gäste gut im Griff.
»Wie denn?«, fragte Emma beiläufig.
Ihr Blick blieb an einem Foto hängen, das am Kühlschrank hinter dem Tresen klebte. Darauf waren zwei Kinder zu sehen, ein Junge von etwa drei Jahren und ein etwas älteres Mädchen. Ein Gefühl von Neid stieg in ihr hoch. Die Kioskbesitzerin wischte gemächlich über den Tresen und warf Emma einen fragenden Blick zu.
»Es muss was passiert sein«, sagte sie statt einer Antwort. »Seit heute Morgen ist überall Polizei unterwegs.«
»In der Klosterkirche wurde eine Tote gefunden«, erklärte Emma. Die Imbissbudenbesitzerin hielt inne. Ihre Augen glitzerten, und sie beugte sich über den Tresen Emma entgegen.
»Sogar das Fernsehen ist da«, sagte Emma und zeigte kauend mit dem Kinn zu den Kollegen, die sich auf der Suche nach einem meinungsstarken Passanten inzwischen die Hälfte der Straße vorgearbeitet hatten. Die Kioskbesitzerin folgte ihrem Blick und schmunzelte.
»Es soll einen Tunnel unter der Nahe geben«, erklärte sie, »der von Bingen direkt in die Abteikirche führt. So konnten früher die Schwestern entkommen, wenn das Kloster belagert wurde. Ein Tourist hat mir vor zwei Tagen erzählt, dass Bauarbeiter neulich auf den alten Tunneleingang gestoßen sind.«
Sie lachte und beobachtete neugierig die Journalisten, die gerade einen alten Mann dazu bewegen konnten, etwas in die Kamera zu sagen.
»Klingt nicht sehr vielversprechend«, antwortete Emma und erwiderte ihr Lachen.
Die Frau warf ihr einen verschwörerischen Blick zu. »Die Friedhofskapelle ist tagsüber immer offen«, sagte sie bedächtig. Ihre Hand begann erneut, mit dem Lappen konzentrische Kreise über den Tresen zu ziehen. »Sie hat eine Tür zum Friedhof hin, der außerhalb des Klosters liegt. Und eine Tür nach innen zum Klosterhof.«
Emma erwiderte ihr Lächeln und warf die leere Pappschale in den offen stehenden Mülleimer neben sich.
»Jetzt nehme ich doch noch eine Portion Pommes«, sagte sie. Als sie zehn Minuten später ging, hatte sie genug erfahren, um sich ein Bild vom Kloster und den Schwestern machen zu können.
Emma steuerte auf das Hotel zu, das unmittelbar neben dem Kloster lag. Im Foyer entdeckte Emma ein Faltblatt vom Kloster Rupertsberg. Darin fand sie die Friedhofskapelle, von der die Frau gesprochen hatte. Im Prospekt war zu lesen, dass sie die ehemalige rupertinische Kirche gewesen war. Halb verfallen vermutlich, als Hildegard von Bingen Mitte des 12. Jahrhunderts einen passenden Platz suchte, um ihr neues Kloster zu gründen.
»Kann ich etwas für Sie tun?« Ein Angestellter des Hotels mit Aknenarben und einem lächerlich taubenblauen Anzug hatte sich unbemerkt neben sie gestellt. Trotz seines freundlichen Tons musterte er sie ungehalten. Emma schüttelte lächelnd den Kopf und verabschiedete sich mit einem Nicken.
Draußen war der graue Frühlingstag in einem leichten Nieselregen versunken. Emma überquerte die Straße und stellte sich in ein Bushäuschen. Der Wind wehte ab und zu eine feuchte Böe herein. Emma faltete den Prospekt auseinander und studierte den Grundriss der Klosteranlage. Sie sah hinüber zum Kloster, zu dem noch immer die ehemalige rupertinische Kirche gehörte. Als Friedhofskapelle waren zwei ihrer Außenwände Teil der südwestlichen Klostermauern.
Paul hatte ihr vorhin erzählt, dass die gesamte Klosteranlage zur inneren Absperrung gehörte. Die Polizei richtete immer zwei Sperrzonen ein. Die innere Absperrung rund um den Tatort war nur für die Polizei zugänglich. Dann folgte ein weiterer Gürtel als Puffer, die äußere Absperrung. Sie hielt Neugierige und Passanten auf Abstand. Dort durften sich Journalisten noch aufhalten. Doch die Klosteranlage selber war auch für sie tabu.
Ein Bus hielt unmittelbar vor Emma. Ein übergewichtiger Mann quälte sich mit zwei Krücken mühsam die Stufen hinunter, warf ihr einen neugierigen Blick zu und verschwand im Regen. Emma sah noch mal auf den Plan der Klosteranlage. Wenn sie tatsächlich über die Friedhofskapelle in den Klosterhof gelangte, musste sie am Kreuzgang entlang und die gesamte Klosterkirche umrunden, um dort über einen Seitengang in den Altarraum der Kirche zu gelangen. Sollte die Polizei sie aufgreifen, flog sie sofort raus. Emma strich sich das feuchte Haar aus der Stirn, steckte das Faltblatt ein und überquerte die Straße.
Gleichwohl ist ihre Umarmung, die sie mit den Frauen in mäßigen Grenzen halten sollten, schmerzhaft, widerwärtig und todbringend wie die von reißenden Wölfen.
Hauptkommissar Grieser rieb sich die Augen und kämpfte gegen das Bedürfnis zu gähnen. Als sein Vorgesetzter ihn heute Morgen aus dem Bett geholt hatte, um ihm die Leitung der Soko Hildegard zu übertragen, lagen gerade mal fünf Stunden Schlaf hinter ihm. Die Leitung hatte er nur bekommen, weil Möller im Osterurlaub war. Das war das erste Mal für ihn. Endlich konnte er zeigen, dass er mehr drauf hatte als die Sicherung eines Tatorts oder die Befragung von Zeugen.
»Ist er schon draußen, oder habe ich noch einen Moment?«, fragte Grieser und streckte sich.
»Er steht schon seit einigen Minuten im Flur, hat sich aber bisher noch nicht beschwert. Für einen Kaffee sollte es reichen«, sagte Sabine Baum.
»Bring ihn rein«, erwiderte er. Seine Kollegin zuckte die Achseln und ging hinaus. Eine halbe Minute später kam sie mit einem Mann im Schlepptau zurück, der sie um einen Kopf überragte. Genau der Typ Mann, den Frauen mochten: groß, schlank, gutaussehend. Zu allem Überfluss wirkte er auch noch freundlich und offen. Genau der Typ Mann, den Grieser nicht mochte.
»Kaffee?«, fragte er ihn statt einer Begrüßung.
Dr. Thomas Kern zog sich einen Stuhl heran und nickte. »Gern«, erwiderte er.
Grieser stand auf und ging hinüber zu dem Gerät, das auf Knopfdruck verschiedene Arten Kaffee lieferte. Er griff nach einer der Tassen und drückte die Taste für den doppelten Espresso.
»Was für einen Kaffee möchten Sie?«, fragte er und warf einen Blick über die Schulter.
»Cappuccino«, gab Kern zur Antwort und beobachtete ihn neugierig. Grieser griff nach einer weiteren Tasse und wartete, dass er die Maschine ein zweites Mal starten konnte.
»Ich nehme einen Milchkaffee«, erklang Sabine Baums Stimme hinter seinem Rücken.
Grieser brummte zustimmend. Die Maschine röchelte, und Grieser wartete darauf, dass sie die letzten Reste Milch ausspuckte. Hinter ihm stellte Sabine Baum das Aufnahmegerät an, mit dem sie die Vernehmung mitschnitten. Zuerst fragte sie die wichtigsten Daten ab: Name und Vorname, Alter, Beruf, Wohnort und Verhältnis zur Ermordeten. Dann klärte sie Thomas Kern darüber auf, dass er als Zeuge und nicht als Verdächtiger vernommen werde und dass er das Recht habe, die Aussage zu verweigern, sollte er sich damit selber belasten.
Grieser brachte Baum ihren Kaffee, den sie mit einem knappen »Danke« entgegennahm. Eine weitere Tasse stellte er vor Kern ab.
Sie saßen im Gäste-Refektorium des Klosters, dem Speisesaal für die Bewohner des Gästehauses. Der langgestreckte Raum war weiß tapeziert. Die schmale Querseite schmückte ein asketisch anmutendes Kreuz. Die Fenster verschwanden in tiefen Nischen, an deren Seitenwänden grob behauene Steine zu sehen waren. Die Einrichtung aus dunklem Holz wirkte modern.
Kern lehnte nachlässig auf einem Stuhl mit hoher Lehne und hatte eine Hand um sein Knie gelegt. Mit der anderen griff er nach dem Kaffee. Er trank einen Schluck und stellte die Tasse zurück auf den Tisch.
»Danke Ihnen«, sagte er. Sein grau meliertes Haar war exakt geschnitten und umrahmte ein ebenmäßig geformtes Gesicht, das Ruhe und Eleganz zugleich ausstrahlte. Grieser konnte ihn sich kaum in schmuddeliger und mit Blut beschmierter Kleidung vorstellen.
»Sie sind Gynäkologe?«, fragte Grieser.
Kern nickte.
»Und derzeit nur zu Besuch in Deutschland«, schob Grieser nach.
»Ich arbeite in einem kleinen Buschkrankenhaus in der Nähe von Léo in Burkina Faso«, sagte Kern. »Als Schwester Lioba mich zu ihrer Weihe als Äbtissin einlud, fand ich, das sei eine gute Gelegenheit, in Deutschland Spenden für das Krankenhaus zu sammeln.«
Grieser wusste von der Äbtissin, dass Kern das Krankenhaus vor etlichen Jahren selbst aufgebaut hatte und es nun leitete.
»Sie waren gestern im Kloster Altdorf bei Heidelberg«, sagte Grieser mit einem Blick auf seine Unterlagen, »und sind heute Morgen zurückgekehrt.«
»Ja, ich habe erst vor einer Stunde von Miriams Tod erfahren.«
Sein Gesicht verschattete sich.
»Sie kannten sie schon lange«, half der Hauptkommissar nach.
»Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen«, erwiderte Kern. »Im Internat der Abtei Altdorf. Aber das wird Ihnen Schwester Lioba gewiss schon gesagt haben.«
Grieser nickte.
»Dort waren Sie gestern?«, fragte er weiter.
»Ja«, erwiderte Kern. »Ich habe mit der Äbtissin über die Spenden gesprochen, die sie immer wieder für das Krankenhaus sammelt. Ich bin dann über Nacht geblieben.«
»Hatten Sie noch Kontakt zu Ihrer ehemaligen Klassenkameradin Miriam?«, fragte Grieser.
»Nein«, sagte Kern, und Grieser glaubte, echtes Bedauern aus seiner Stimme herauszuhören. »Obwohl wir während der Schulzeit sogar für kurze Zeit ein Paar waren. Aber wir haben uns nach der Schule aus den Augen verloren. Ich habe Schwester Lioba und auch die anderen an diesem Wochenende das erste Mal seit unserer Schulzeit wiedergetroffen.«
»Wann haben Sie Miriam Schürmann gestern zuletzt gesehen?«, schaltete sich jetzt Baum ein.
Grieser warf ihr einen dankbaren Blick zu. Er nutzte die kleine Erholungspause, um einen Schluck von seinem Espresso zu nehmen. Die Müdigkeit hatte inzwischen einem diffusen Gefühl von Anspannung Platz gemacht.
»Gestern Abend«, sagte Kern und drehte sich etwas, um Baum ins Gesicht blicken zu können. »Ich bin so gegen halb sieben gefahren und habe vorher mit den anderen zu Abend gegessen.«
»Mit den anderen heißt?«, fragte Sabine Baum knapp. Ihr Befragungsstil ließ es manchmal an Höflichkeit fehlen. Grieser fing ihren Blick auf und runzelte die Augenbrauen. Baum zuckte mit den Achseln.
»Miriam Schürmann, Markus Hertl und Josef Windisch«, antwortete Kern.
»Schwester Lioba war nicht dabei?«, fragte Baum weiter. Grieser wusste bereits, dass die Ordensschwestern immer in ihrem eigenen Refektorium aßen. Das Essen der Schwestern fand schweigend statt, wie es die Regel Benedikts von Nursia forderte, dem Gründer des Benediktinerordens. Früher wurden die Mahlzeiten von einer geistlichen Lesung begleitet, inzwischen war die Bibel durch eine Tageszeitung ersetzt worden.
Kern bestätigte, was die anderen bereits ausgesagt hatten.
»Und danach sind Sie gefahren?«, fragte Grieser.
Kern warf ihm einen Blick über seine Schulter zu.
»Ja«, sagte er und nickte. »Ich und Miriam. Sie hatte beim Mittagessen erklärt, dass sie noch am gleichen Tag fahren würde.«
»Hat sie gesagt, warum?«, klinkte sich nun Baum wieder ein. Kern musterte sie schweigend. Dann wandte er sich um und suchte Griesers Blick.
»Nein«, sagte er gedehnt. »Das hat sie nicht. Das hat mich schon gewundert. Aber ich habe nicht gewagt, sie zu fragen. In dem Moment strahlte sie etwas aus, das signalisierte, es ist besser, sie in Ruhe zu lassen.«
»Denken Sie, die anderen haben das auch so wahrgenommen?«, fragte Grieser.
Kern zuckte die Achseln. »Zumindest haben sie dazu nichts weiter gesagt«, gab er zur Antwort.
»Sind Sie auf direktem Weg von Bingerbrück nach Heidelberg gefahren?«, wollte Grieser wissen.
Kern nickte. Dann schien ihm etwas einzufallen.
»Ich habe am Kiosk hier im Ort noch einen kurzen Stopp eingelegt«, sagte er und lachte. »Das Abendessen war nicht ganz nach meinem Geschmack.«
»Kann jemand bestätigen, dass Sie die Nacht im Kloster Altdorf verbracht haben?«, fragte Grieser.
Kern warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.
»Schwester Orlanda, die Äbtissin von Altdorf. Ich habe mit ihr und zwei weiteren Schwestern des Konvents noch ein Glas Wein getrunken«, erwiderte er.
»Wo haben Sie die Nacht verbracht?«, fragte Grieser.
»Im Gästehaus des Klosters. Allein natürlich.«
»Haben Sie das Kloster an dem Abend noch mal verlassen?«, fragte Grieser.
»Schwester Orlanda hat sich so um neun Uhr verabschiedet«, erwiderte Kern. »Anschließend habe ich mich in Heidelberg mit einem alten Freund getroffen. So gegen 24 Uhr kehrte ich ins Kloster zurück. Dort habe ich direkt mein Zimmer aufgesucht und bin schlafen gegangen.«
Grieser blickte Sabine Baum fragend an. Seine Kollegin deutete mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung ein »Nein« an. Auch sie hatte keine weiteren Fragen mehr. Grieser erkundigte sich nach Namen und Anschrift des alten Freundes, mit dem Kern sich an dem Abend getroffen hatte, und erklärte dann, dass drüben in der Einsatzzentrale das Protokoll seiner Vernehmung abgetippt werden würde und er es anschließend noch unterschreiben müsste.
»Sie sollten uns Bescheid geben, bevor Sie wieder nach Burkina Faso zurückkehren«, sagte Grieser abschließend.
»Könnte das ein Problem werden?« Zum ersten Mal klang Kerns Stimme anders. Ein Hauch von Autorität schwang darin mit. »Ich werde in etwa zwei Wochen dort zurückerwartet.«
»Vermutlich geht das in Ordnung«, sagte Grieser. »Sie sollten sich vor ihrer Abreise noch mal bei mir melden. Aber ich schätze, wir werden uns bis dahin noch ein paar Mal sprechen.«
»Wird das wirklich nötig sein?«, fragte Kern.
»Ja«, erwiderte Baum knapp.
Der Friedhof grenzte unmittelbar an die Klostermauer, die zugleich eine Seitenwand der kleinen Kapelle bildete. Emma kam an einem frischen Grab vorbei. Die bedruckten Schleifen der Kränze lagen zerknittert auf der feuchten Erde. Ein hölzernes Grabkreuz verriet, dass hier Schwester Mechthild Becker begraben worden war, Äbtissin des Klosters Rupertsberg, 46. Nachfolgerin der Hildegard von Bingen.
Wie ein Kloster wohl zu einer neuen Äbtissin kam? Emma nahm sich vor, das später herauszufinden. Sie ging weiter und näherte sich dem Eingang der Friedhofskapelle. Die Frau vom Kiosk schien Recht zu behalten, die verzogene Tür gab ohne Probleme den Weg ins Innere frei. Emma schlüpfte hinein. Ein Geruch kam ihr entgegen, den sie überall wiedererkannt hätte, ohne dass sie sagen konnte, was es war. Weihrauch vermutlich, aber auch Kerzen, altes Gemäuer und eine gewisse, feierliche Ruhe. Ob Ehrfurcht vor einem höheren Wesen im Laufe der Jahre einen eigenen Geruch entwickelte?
Emma wartete, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnten. Sie stand gegenüber dem Altarraum an der Schmalseite der Kapelle. Durch die weit oben liegenden Rundbogenfenster fielen Lichtstrahlen herein, die sich über die Holzbänke legten und helle Streifen auf einen geflochtenen Läufer unbestimmter Farbe malten. Es war wärmer als erwartet. Emma ging ein paar Schritte in Richtung Altar. Der Bodenläufer knirschte unter ihren Füßen. Das silberfarbene Kreuz auf dem Altar war in helles Licht getaucht. Das schmerzverzerrte Gesicht der Jesusfigur schien unter der Dornenkrone förmlich zu glühen.