Impressum

Herstellung und Verlag:

BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7412-3075-2

Vorwort

Der Mordfall Hinterkaifeck ist einzigartig in der deutschen Kriminalgeschichte. Nicht nur aufgrund der Mystik, die den Fall umgibt, und der Verklärung, die bereits kurz nach dem 1922 begangenen sechsfachen Mord ihren Anfang nimmt, als die abgetrennten Schädel der Mordopfer zu Hellseherinnen gebracht werden. Auch aufgrund der großen Brutalität, mit der die Bewohner des Einödhofes in der Nacht vom 31. März auf den 01. April 1922 nacheinander getötet werden. Aus der zivilen Kriminalgeschichte des 20. Jahrhunderts sind nur wenige vergleichbare Fälle bekannt: 3 Fälle aus den USA, in denen Menschen mit einer Schlag- oder Stichwaffe ermordet werden, davon 2 Fälle mit familiärem Hintergrund, 1 Fall, in dem eine Axt als Tatwaffe benutzt wird. Keiner der Vergleichsfälle bleibt unaufgeklärt. Zur Mystifizierung des Falls Hinterkaifeck trägt auch bei, dass zahlreiche Ermittlungsakten und die Tatwaffe im Februar 1944 bei einem Bombenangriff auf Augsburg vernichtet werden. Trotzdem werden die Ermittlungen Ende der 1940er Jahre fortgesetzt. Letzte Untersuchungen finden in den 1980er Jahren statt, wenngleich hier kein Bemühen um Tataufklärung im Vordergrund gestanden haben dürfte.

Heute ist die Wahrscheinlichkeit, einen vergleichbaren Fall rasch aufzuklären, aufgrund der verfügbaren kriminaltechnischen und IT-Möglichkeiten deutlich höher als 1922. Davon abgesehen zeigt der Fall aber auch, dass die Notwendigkeit, aus den vorliegenden Indizien zunächst die naheliegenden Schlüsse zu ziehen, damals wie heute eine notwendige Bedingung zur Fallaufklärung darstellt. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich von falsifizierten Annahmen zu lösen. "Dies bedeutet", wie es in einem frühen Standardwerk der Verbrechensbekämpfung heißt, "daß der Kriminalist sich einmal bemühen muß, tatsächliche Anhaltspunkte für seinen Verdacht zu ermitteln, er aber zum anderen – und das gerade bei zunehmender Zahl solcher Anhaltspunkte – bestrebt sein muss, diesen Verdacht durch Zweifel selbst wieder zu erschüttern. Er muß sich davor hüten, dem Gesetz der Trägheit der Körper oder gar persönlicher Eitelkeit zu folgen, die ihn bei einer im Wege des Verdachts vorgefaßten Meinung beharren lassen wollen." [Groß / Geerds, Handbuch [2], S.141]

In der Aufarbeitung des Falls Hinterkaifeck ist trotz der oder gerade wegen der jahrelangen Ermittlungen keine Kriminalstrategie erkennbar. Im Bemühen, so viele tatrelevante Informationen wie möglich zusammenzutragen, wird versäumt, die im Laufe der Jahrzehnte gesammelten Fakten im Sinne einer Fallaufklärung sinnvoll zu kombinieren.

Ein großer Dank gilt dem Hinterkaifeck-Wiki, ohne dessen sorgfältige und umfangreiche Quellensammlung dieses Buch nicht möglich gewesen wäre, ferner dem Staatsarchiv München (Dr. Ulrike Claudia Hofmann). Ein besonderer Dank für die aktive Unterstützung bei der Fertigstellung des vorliegenden Buches gebührt den immerwährenden Diskussionspartnern und Korrekteuren mit unbestechlicher Logik, Diplom-Mathematikerin Ulrike Golla und Diplom-Mathematiker Dr. Hansjörg Walther. Verbleibende Fehler gehen ausschließlich zu Lasten des Autors.

Köln, im Juli 2016 Guido Golla

Inhaltsverzeichnis

  1. Auffindetag | Dienstag, der 04. April 1922
  2. Einödhof Hinterkaifeck
  3. Ermittlungen
  4. Fehlspuren und Widersprüche
  5. Konklusion
  6. Faktentabellen
  7. Abbildungen und Fotografien
  8. Quellen und Literatur
  9. Personenregister

A. Auffindetag | Dienstag, der 04. April 1922

Am Vormittag des 04. April 1922, einem Dienstag, ist der 22jährige Monteur Albert Hofner mit seinem Fahrrad auf dem Weg in das knapp 80 Einwohner zählende Dorf Gröbern (Oberbayern)1. Auf dem damals etwa 400 m westlich des Dorfes gelegenen Einödhof "Hinterkaifeck" soll Hofner einen Stationärmotor reparieren. Kurz vor 09:00 Uhr trifft Hofner in Hinterkaifeck ein. Da niemand zu Hause zu sein scheint – die hintere Haustür ist verschlossen, durch das Küchenfenster und Stallfenster ist niemand zu sehen –, wartet der Monteur eine Weile. Nach einer Stunde bricht er kurzerhand das Vorhängeschloss an der Motorenhütte mit seinem Werkzeug auf. In dem nur wenige Quadratmeter großen Anbau an der Rückseite des Anwesens befindet sich der Standmotor, den der Monteur richten soll. Während der mehrstündigen Reparaturarbeiten hört der Monteur nichts weiter als das Bellen eines Hundes sowie das Brüllen der Kühe. Um sich nicht ganz einsam zu fühlen, singt und pfeift er zwischendurch. Als Hofner eine entglittene Schraubenmutter aufhebt, hat er den Eindruck, als würde jemand an der Motorenhütte vorbeihuschen. Hofner tritt aus der Hütte heraus, kann aber niemanden entdecken. Nach Beendigung der Reparaturen wirft der Monteur gegen 14:30 Uhr den Motor zu einem kurzen Probelauf an. Als trotz des Motorenlärms keiner der Bewohner erscheint, verschließt Hofner die Motorenhütte wieder und geht ein letztes Mal um das Anwesen herum. Vor der Haustür im Hofraum ist der Hund angehängt, der unentwegt bellt. Das Tor zum Maschinenhaus ist geöffnet. Hofner sieht aus kurzer Entfernung hinein; er betritt das Maschinenhaus jedoch nicht. Da die vordere Haustür abgeschlossen ist und auch durch die Fenster rechts und links daneben niemand zu sehen ist, tritt der Monteur den Rückweg an.

In Gröbern bittet Hofner zwei junge Frauen, die im Garten des ersten Anwesens arbeiten, den Bewohnern von Hinterkaifeck auszurichten, dass der Motor repariert sei. Er habe niemanden antreffen können. Die Frauen, Töchter des Ortsführers Lorenz Schlittenbauer2, berichten bei der Brotzeit zuhause, was ihnen der Monteur gesagt hat. Lorenz Schlittenbauer schickt daraufhin gegen 15:30 Uhr seine beiden Söhne nach Hinterkaifeck. Die 16 und 9 Jahre alten Jungen kehren wenig später zurück und geben an, um den Hof herumgegangen zu sein, aber niemanden angetroffen zu haben. Schlittenbauer alarmiert daraufhin die benachbarten Landwirte Pöll und Sigl und begibt sich mit diesen sowie seinen beiden Söhnen nach Hinterkaifeck.

Schlittenbauer, Pöll und Sigl gelangen durch die unverschlossene Tür zum Maschinenhaus in die Scheunendurchfahrt und verschaffen sich von dort aus gewaltsamen Zutritt in den Stadel. In der Ecke der Scheune unterhalb der Tür zum Futtergang entdecken sie, unter einem Türblatt und abgedeckt mit Stroh, die teilweise übereinander liegenden Leichen von Andreas Gruber, 67 Jahre, seiner Ehefrau Cäzilia Gruber, 72 Jahre, deren Tochter Viktoria Gabriel, 35 Jahre, sowie der 7jährigen Cäzilia Gabriel. Alle Opfer weisen schwere Kopfverletzungen auf; die Gesichter sind blutverschmiert. Der Anblick ist so schockierend, dass zwei der Auffindezeugen die Scheune Richtung Hofraum verlassen. Der dritte Auffindezeuge dringt über den Futtergang in den Wohntrakt des Anwesens vor und sperrt die Haustür von innen auf, woraufhin die im Hofraum wartenden Begleiter eintreten. Im Wohntrakt finden sie die Leichen von Maria Baumgartner, einer 44jährigen Dienstmagd, sowie Josef Gruber, dem zweijährigen Sohn der Hofeigentümerin Viktoria Gabriel.

Die ersten Polizeibeamten treffen gegen 18:00 Uhr am Tatort ein. In ihrer Begleitung befindet sich der Wangener Bürgermeister Georg Greger, der von einem der Söhne des Ortsvorstehers Lorenz Schlittenbauer informiert worden ist3. Als erste Ermittlungsbehörde erreicht eine dreiköpfige Gerichtskommission des Amtsgerichts Schrobenhausen gegen 22:00 Uhr das Anwesen.

Bis zur Ankunft der ersten Beamten wird die Position von zwei Leichen im Stadel verändert: Während der Körper von Andreas Gruber von dem Leichenstapel heruntergezogen und auf den Rücken gedreht wird, wird die an der westlichen Scheunenwand verdeckt liegende Leiche von Cäzilia Gabriel ein Stück aus dem Heu herausgezogen (in Richtung der Futterschneidmaschine, deren Handgriff in den folgenden beiden Abbildungen am linken Bildrand erkennbar ist). Da die Lage der Leichen, wie sie die Beamten der Münchner Kriminalpolizei am frühen Morgen des 05. April 1922 vorfinden (Abbildung 1), weder mit der ursprünglichen Auffindesituation vom Nachmittag des Vortages noch mit der Beschreibung der Gerichtskommission vom späten Abend des 04. April 1922 übereinstimmt4, unternimmt die Kripo am 05. April 1922 einen Versuch, die Auffindesituation und Position der Leichen im Stadel zu rekonstruieren (Abbildung 2).

Abbildung 1: Auffindesituation Stadel | Nach Aufdeckung

Abbildung 2: Auffindesituation Stadel | Rekonstruktion

Den Tatortfotos des Erkennungsdienstes der Münchner Kriminalpolizei5 sowie den protokollierten Beobachtungen der Ermittler können die in Faktentabelle 1 zusammengefassten Ergebnisse entnommen werden.

01 Die Leichen von (1) Andreas Gruber, (2) Cäzilia Gruber, (3) Viktoria Gabriel und (4) Cäzilia Gabriel werden in der Tenne6 im Stadel (Scheune) aufgefunden. Die Toten liegen teilweise übereinander in der nordwestlichen Scheunenecke unmittelbar vor der Tür zum Futtergang (Stall).
02 Andreas Gruber befindet sich in Rückenlage mit dem Kopf unmittelbar an der westlichen Stallwand. Der Schädel des Toten weist starke Verletzungen auf. Das Gesicht ist mit Blut verschmiert.
03 Die Beine von Andreas Gruber sind gestreckt. Die Arme sind leicht angewinkelt. Die rechte Hand ist geschlossen; der Zeigefinger ist leicht gespreizt; die linke Hand ist geöffnet. Beide Hände liegen auf dem Bauch des Toten auf.
04 Am kleinen Finger, auf dem Handrücken der rechten Hand und an beiden Füßen sind dunkle Einfärbungen (Livores) erkennbar7; die Füße des Toten wirken gedunsen.
05 Der Tote ist mit einer langen, hellen Unterhose und einem hellen, bis über die Oberschenkel reichenden, langärmeligen Hemd bekleidet. Der rechte Hemdsärmel ist zugeknöpft.
06 Im rechten Beinbereich, etwa ab dem Knie, ist die Unterhose stark verschmutzt bzw. dunkel verfärbt.
07 Unmittelbar neben der Leiche von Andreas Gruber, zwischen Korpus und westlicher Stadelwand, sind Textilien oder Stoffreste zu erkennen. Ferner ein bedruckter Karton oder eine Zeitungsseite.
08 In beiden Tatortfotos ragt ein hölzerner Stiel oder Handgriff von links Richtung Bildmitte. Unterhalb des Stiels, in Höhe des Knies von Andreas Gruber, erkennt man den gebogenen Griff eines Ernte- oder Kartoffelkorbes aus Metall, und darunter den Metallkorb selbst (der zweite Korbgriff befindet sich unmittelbar neben dem rechten Knie des Toten).
09 Die Leiche von Cäzilie Gruber wird vor der Rekonstruktion der Auffindesituation in Rückenlage rechts neben der Leiche von Andreas Gruber gefunden (Abbildung 1). Der Körper ist gestreckt und weist in Richtung der nördlichen Scheunenwand; der Kopf liegt unmittelbar am Treppenaufgang zur Stalltür.
10 Am Schädel von Cäzilie Gruber sind starke Verletzungen erkennbar. Das Gesicht ist blutverschmiert.
11 Der rechte Arm der Toten ist angewinkelt, der Unterarm liegt auf der Brust. Die rechte Hand ist halb geöffnet. Der linke Arm ist in einem Winkel von ca. 30° vom Körper weggestreckt. Das linke Bein ist über das rechte Bein geschlagen.
12 Die Tote ist mit einer halbärmeligen, länglich gestreiften Kittelschürze bekleidet. Der Rockteil ist hochgerutscht, so dass beide Knie freiliegen. Man erkennt dunkle lange Kniestrümpfe, die unterhalb der Knie von Strumpfbändern gehalten werden. Am rechten Fuß trägt die Tote einen Holzpantoffel.
13 Der Rockteil ist auf der linken Vorderseite großflächig dunkel verfleckt; am Rocksaum ist ebenfalls eine dunkle Einfärbung (Blut) erkennbar.
14 Die Leiche von Viktoria Gabriel stößt auf dem Rücken liegend in einem Winkel von 90° an die Leiche von Cäzilia Gruber an, wobei der Kopf von Viktoria Gabriel unter dem Rocksaum von Cäzilia Gruber verborgen ist. Die Tote liegt gemäß Abbildung 1 zur Hälfte in etwa knietief aufgeschüttetem Heu (nur der Brustbereich, der rechte Arm sowie ein Teil des rechten Beins sind gemäß Abbildung 1 zu erkennen).
15 Die Schädeldecke weist starke Verletzungen auf; das Gesicht der Toten ist blutverschmiert. Die rechte Gesichtshälfte ist zertrümmert.
16 Die Tote trägt eine halbärmelige, gestreifte Kittelschürze und Strümpfe. Schuhe werden nicht gefunden. Am rechten Ellenbogen ist die Schürze dunkel eingefärbt.
17 Auf dem rechten Handrücken sind dunkle Flecken erkennbar.
18 Etwa 50 cm südöstlich der Leiche von Viktoria Gabriel erkennt man eine größere eingetrocknete Blutlache auf dem gestampften Scheunenboden.
19 Die Leiche von Cäzilia Gabriel liegt bei Auffindung parallel zur westlichen Scheunenwand nahe der Stalltür in etwa knietief aufgeschüttetem Heu. Die Leiche ist zusätzlich mit Heu bedeckt.
20 Am Schädel der Leiche sind starke Verletzungen zu erkennen; das Gesicht ist mit Blut verschmiert.
21 Am Hals des Mädchens direkt unterhalb des Kinns befindet sich eine quer verlaufende, klaffende Wunde. Auf der rechten Gesichtshälfte ist neben der Nase eine kreisförmige Verletzung sichtbar.
22 Cäzilia Gabriel ist nur mit einem Nachthemd bekleidet.
23 In der rekonstruierten Auffindesituation (Abbildung 2) erkennt man eine – der Unterbekleidung und Physiognomie zufolge – männliche Leiche, die in Bauchlage mit dem Kopf in Richtung Stalltür (Nordwesten) liegt.
24 Der Tote ist mit einem hellen Türblatt und einer darüber befindlichen 3040 cm hohen, losen Heuschicht bedeckt, so dass der obere Teil des Torsos und der Kopf nicht zu sehen sind. Der Teil der Leiche vom unteren Rückenbereich abwärts, der rechte Unterarm sowie beide Beine ragen unter der Abdeckung hervor. Der rechte Arm liegt am Körper an; die Beine sind gestreckt und liegen nebeneinander.
25 An der Ferse des linken Fußes und am Außenrist des rechten Fußes sind dunkle Verfärbungen zu erkennen.
26 Etwa 30-35 cm neben der linken Wade des Toten liegt ein einzelner Holzpantoffel im Heu.
27 Die Positionen der drei weiblichen Opfer sind in der nachgestellten Auffindesituation (Abbildung 2) nicht ohne weiteres erkennbar.
28 Zwischen der rechten Hand und dem Torso von Andreas Gruber erkennt man den Teil eines zur Hälfte mit Textilstoff bedeckten Unterarms. Etwa 30-40 cm neben dem rechten Handgelenk des Toten ist durch die Heuschicht weitere Textilstoff erkennbar.
29 An der Innenseite (Stallseite) der Holztür zum Futtergang befinden sich zahlreiche Blutspritzer (Schlagspritzspuren).

Faktentabelle 1: Auffindungssituation Stadel 04.04. | 05.04.1922

Einer der drei Auffindezeugen, Ortsvorsteher Lorenz Schlittenbauer, dringt vom Stadel aus durch den Stall in den Wohnbereich des Anwesens vor. Im Magdzimmer stößt er auf die Leiche von (5) Maria Baumgartner, die vor ihrem Bett auf dem Boden liegt (Abbildung 3). Im Schlafzimmer von Viktoria Gabriel wird (6) Josef Gruber erschlagen in seinem Stubenwagen aufgefunden (Abbildung 4)8.

Abbildung 3: Auffindesituation Wohnbereich | Magdzimmer

Abbildung 4: Auffindesituation Wohnbereich | Schlafzimmer Gabriel

Abbildung 5: Schematische Tatortskizze9

Abbildung 6: Hofansicht aus südlicher Richtung

Folgt man gemäß Abbildung 5 und Abbildung 6 dem Weg der Ermittlungsbeamten von der Scheune (4) aus durch Stall und Futtergang (3) über Küche und Magdzimmer in die Schlafzimmer von Viktoria Gabriel (2) und der Eheleute Gruber (1), können unter Hinzuziehung der Tatortfotos folgende Beobachtungen gemacht werden:

01 Der Hofhund (Spitz) ist im Stall angebunden. Am Kopf des Hundes ist eine Verletzung erkennbar (Schwellung und Trübung des rechten Auges). Das Tier macht einen verängstigten Eindruck10.
02 Der Futtergang im Stall wirkt zusammengefegt.
03 Auf dem Steinpflaster in der Küche sind einzelne Blutflecken sichtbar. Im Hausgang, in der Nähe der Küchentür, befindet sich ein weiterer Blutfleck auf dem Fußboden.
04 Auf dem Küchentisch liegen Essensreste sowie die Schultafel von Cäzilia Gabriel. Auf dem Herd steht eine mit Brotsuppe gefüllte Emailleschüssel.
05 Die Leiche von Maria Baumgartner wird im nordwestlichen Teil des Wohnbereiches, im Magdzimmer gefunden. Der Raum ist ca. 8-9 qm groß und kann nur durch die Küche betreten werden (Abbildung 5).
06 Die Tür zum Magdzimmer steht offen.
07 Die Leiche der Magd liegt in der Mitte des Zimmers auf dem Holzdielenboden. Bei Auffindung ist die Tote mit einer karierten Bettdecke des im Zimmer befindlichen Einzelbetts abgedeckt. Nur die mit Schnürschuhen bekleideten Füße ragen unter der Bettdecke hervor.
08 Wie nach dem Herunterziehen der Bettdecke erkennbar (Abbildung 3), liegt Maria Baumgartner in Seitenlage mit dem Gesicht zur Tür auf dem Boden (wobei das Gesicht der Toten auf dem Tatortfoto nicht zu erkennen ist). Die Tote ist vollständig bekleidet. Sie trägt einen gemusterten Rock und eine Jacke.
09 Die Beine der Toten sind leicht angezogen. Der rechte Arm steht vom Körper ab und ist zum Boden hin angewinkelt; die rechte Hand ist nach innen gedreht, wobei der Handrücken auf dem Boden aufliegt. Der linke Unterarm liegt unterhalb der Brust auf dem Boden. Der Handrücken weist nach unten und ist leicht angehoben; die Finger der linken Hand sind nach innen gekrümmt.
10 Der Kopf der Leiche liegt am Kopfende des Bettes. Am Schädel sind Schlagverletzungen zu erkennen; die Schläge sind den Verletzungen zufolge kreuzweise, d.h. mit abwechselnder Schlagrichtung (links/rechts) geführt worden. Das Gesicht der Toten ist blutverschmiert. Die Leiche liegt im Bereich des Oberkörpers in einer geronnenen Blutlache11.
11 Vor der Leiche liegt ein Tuch oder Schal auf dem Boden. Rechts davon ist unter dem Bett ein Pantoffel erkennbar. Am Fußteil des Bettes hängt eine Wolldecke. Das Kopfkissen liegt in der Bettmitte.
12 Auf der Fensterbank gegenüber der Eingangstür befinden sich Kleidungsstücke. Weitere Kleidungsstücke sowie die Reisetasche/der Rucksack der Toten liegen auf einer Holzbank unterhalb des Fensters. Links neben der Holzbank lehnt ein Regenschirm an der Wand.
13 Auf einer Ablage an der Südwand des Zimmers stehen Kochtöpfe, Blechgeschirr und eine beschriftete Papiertüte, die 250g Bleischrot enthält12. Hinter der Ablage, in der südwestlichen Zimmerecke, steht ein Holzfass; vor der Ablage, links neben der Tür zu Küche, ist ein Schrank zu erkennen13.
14 Durch die Küche gelangt man über den Hausgang zu den Schlafräumen der Eheleute Gruber sowie von Viktoria Gabriel und den Kindern (Abbildung 5). Das Bett der Eheleute Gruber ist unbenutzt.
15 Die Leiche von Josef Gruber wird im Schlafzimmer von Viktoria Gabriel gefunden. Die Zimmertür ist zum Auffindezeitpunkt geschlossen, aber nicht verriegelt. Der Schlüssel steckt von außen (Hausgangseite) im Schloss (Abbildung 4). Die beiden Fensterläden sind geschlossen.
16 Wenige Schritte hinter der Tür des ca. 20 bis 25 qm großen Zimmers ist vor einem Doppelbett ein Kinderwagen abgestellt. Das beschädigte Faltdach des Wagens zeigt in Richtung Fensterseite (Süden). Auf dem Faltdach des Wagens liegt ein dunkelrotes Kleid, das bis zu den Rädern herunterreicht (Abbildung 4).
17 Die Leiche von Josef Gruber liegt in Rückenlage im Kinderwagen. Die rechte Schläfenseite des Kindes ist eingeschlagen. Blut und Gewebeteile sind infolge der Wucht des Schlages über das Wageninnere hinaus an das Fußteil des Doppelbettes gelangt und haften dort an.
18 In Türnähe finden sich weitere Blutflecken auf dem Fußboden.
19 Das Kopfende des Doppelbettes steht an der östlichen Zimmerwand. Links an das Doppelbett schließt eine Anrichte/Schreibkommode an. Die Stellflächen im oberen Teil der Kommode sind mit zahlreichen, nicht näher protokollierten Behältnissen und Utensilien gefüllt. Die unter den Stellflächen befindlichen Schubladen sind geschlossen. Die beiden Türen des unteren Schrankteils sind leicht geöffnet.
20 An der Nordseite des Raumes befinden sich 3 Kleiderschränke (Kästen), dem Anschein nach teilweise geöffnet. Spuren von Gewaltanwendung sind an den Kästen nicht erkennbar14. Links neben der Eingangstür steht, mit der schmalen Seite an der westlichen Zimmerwand, das Metallgitterbett von Cäzilia Gabriel.
21 Das Doppelbett von Viktoria Gabriel ist unbenutzt. Auf der zur Kommode gerichteten Seite ist die Bettdecke eingedrückt. Auf dieser Betthälfte liegen vom Oberbett verdeckt: a) eine leere Brieftasche, b) eine Damenarmbanduhr, c) ein Notizbuch, d) mehrere Schlussnoten und beschriebene Papierseiten15.

Faktentabelle 2: Auffindungssituation Wohntrakt 04.04. | 05.04.1922

Kriminalpolizei und Gerichtskommission beginnen am Vormittag des 05. April 1922 noch vor Ort mit den Zeugenvernehmungen. Zu den ersten Vernommenen zählen – nachdem noch in der Nacht vom 04. auf den 05. April 1922 Bürgermeister Georg Greger von der Münchner Kripo befragt worden ist – die drei Auffindezeugen Schlittenbauer, Sigl und Pöll, die Kaffeehändler Hans und Eduard Schirovsky, die am Samstag, dem 01. April 1922 vergeblich versucht haben, auf Hinterkaifeck eine Kaffeebestellung aufzunehmen, Franziska Schäfer, die Schwester der ermordeten Dienstmagd Maria Baumgartner, die ihre Schwester am 31. März 1922 zum Anwesen begleitet, sowie Bernhard Gruber, Bruder des getöteten Andreas Gruber. Als letzter Zeuge wird an diesem Tag Josef Schrätzenstaller aus Gröbern befragt, ein ehemaliger Dienstknecht auf Hinterkaifeck. Die Zeugenaussagen werden in der Küche des Anwesens auf der mitgeführten Reiseschreibmaschine protokolliert. Unterdessen wird der Einödhof bis zum Nachmittag von zahlreichen Schaulustigen aufgesucht und umlagert. Erste Gerüchte machen die Runde, dass der oder die Täter aus der Umgegend stammen und dass sie sich mit der Landwirtschaft ausgekannt haben müssen, denn das Vieh sei gefüttert worden – auch noch nach dem Mord16.


1 Gröbern ist ein Ortsteil der damals selbständigen Gemeinde Wangen (heute: Gemarkung in der Gemeinde Waidhofen) im oberbayrischen Landkreis Schrobenhausen. Die nächsten, von Gröbern aus fußläufig erreichbaren größeren Ortschaften sind Wangen mit 160 Einwohnern (ca. 2,1 km von Hinterkaifeck entfernt) Waidhofen mit 500 Einwohnern (2,3 km), Hohenwart mit 1.025 Einwohnern (5,0 km), wo sich auch die nächste Gendarmeriestation befindet, und Schrobenhausen mit über 3.700 Einwohnern (6,8 km). Die nächsten Großstädte sind Ingolstadt (rund 24 km Fußweg), Augsburg (46 km) und München (63 km). Die Einwohnerzahl von Gröbern lässt sich für 1922 lediglich schätzen. Dem Adressbuch für das Bezirksamt Schrobenhausen zufolge werden 1936 in Gröbern 16 Männer mit ihren Frauen und Kindern registriert, wobei es sich ausschließlich um Eigentümer von Bauernhöfen handelt. Weibliche Hofbesitzer gibt es zu dieser Zeit in Gröbern nicht. Bezieht man pro Hof neben den Eheleuten durchschnittlich 2 Kinder sowie 1 Dienstboten mit ein, dürfte die Einwohnerzahl von Gröbern seinerzeit bei etwa 80 gelegen haben. Zum Vergleich: 1864 wird die Einwohnerzahl mit 75 angegeben. Das topographisch-statistische Handbuch aus dem Jahr 1868 nennt für Gröbern 25 Gebäude und 62 Einwohner. Vgl. Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern [FHVR], Fachbereich Polizei, Studienjahrgang 2004/07 B: Projektabschlussbericht zum Thema: Hinterkaifeck. Ein Mordfall und kein Ende, Fürstenfeldbruck (Juni) 2007, S. 32 (zit. FHVR, Hinterkaifeck) sowie http://www.hinterkaifeck.net/wiki (Stand der Internetquellen hier und nachfolgend bei Redaktionsschluss der vorliegenden Untersuchung).

2 In kleineren Gemeindeteilen wie Gröbern hat der Ortsführer (heute: Ortssprecher) die Aufgabe, Dorfangelegenheiten, wie gemeinsame Ernte- und Weideeinsätze, zu koordinieren und das Dorf mit beratender Stimme im Gemeinderat zu vertreten. Der Ortsführer unterstützt die Bewohner bei bürokratischen Fragen, übernimmt administrative Aufgaben, wirkt als Wahlvorsteher, beaufsichtigt und überwacht öffentliche Einrichtungen etc. Zu weiteren Funktionen Schlittenbauers, der zugleich Mitglied des Kirchenrats ist, vgl. http://www.hinterkaifeck.net/wiki.

3 Vernehmungsprotokoll Georg Greger, Wangen, 05.04.1922.

4 Im Protokoll der Gerichtskommission heißt es: "Unmittelbar unter der Schwelle dieser Türe [= Stalltür in Bildmitte von Abbildung 1 | Abbildung 2] lag die Leiche der Cäzilie Gruber und etwas quer zu dieser Leiche die Viktoria Gabriel. Diese beiden Leichen befanden sich noch in ihrer natürlichen Lage, man konnte sofort erkennen, daß sie noch so dalagen, wie sie zusammengesunken waren, östlich von diesen beiden Leichen, unmittelbar daneben, und zwar mit dem Kopf gegen die Stallwand lag die Leiche des Andreas Gruber und die der 9(!) jährigen Cäzilie Gabriel. Diese beiden Leichen lagen auf dem Rücken und zwar in vollständig gerader ausgestreckter Lage, so daß man sofort erkennen konnte, daß sie erst später in diese Lage gebracht worden waren." Augenscheinprotokoll des Oberamtsrichters Konrad Wiessner, Neuburg a. D., 04./05.04.1922.

5 Quelle: Staatsarchiv München.

6 Tenne bezeichnet hier den Arbeitsbereich, in dem das Getreide ausgedroschen wird. Die Tenne befindet sich in Abbildung 5 (Seite →) im nördlichen Teil der Scheune. Vgl. dementgegen die Bezeichnung "Scheunentenne" für die Durchfahrt zwischen Hoftor und Osttor in der Legende zur Planskizze des Oberinspektors Venus aus dem Jahr 1951 (http://www.hinterkaifeck.net/wiki). – Hier und nachfolgend wird die Aufarbeitung des Mordfalls durch begriffliche Ungenauigkeiten und durch die Verwendung unterschiedlicher Bezeichnungen für ein und denselben Gebäudeteil des Anwesens erschwert. Dies gilt sowohl für zeitgenössische Augenscheinprotokolle, Vernehmungsniederschriften, Berichte und Tatortskizzen als auch für neuere Untersuchungen zum Thema. Vgl. FHVR, Hinterkaifeck, S. 14f., 17. Dort wird als Auffindungsort der Leichen 1-4 der "Stall" anstelle des "Stadels" (Scheune) angegeben. – Ebenso finden sich in den zeitgenössischen Quellen mindestens fünf weitere Bezeichnungen für die an der Nordseite des Stadels angebaute Motorenhütte (Abbildung 5), wie zum Beispiel "Maschinenraum" (FHVR, Hinterkaifeck, S. 29), "Motorenhaus" (Vernehmungsprotokoll Michael Plöckl (sen.), Gröbern, 17.12.1951 | Vernehmungsprotokoll Johann Schlittenbauer, Gröbern, 10.01.1952 | Vernehmungsprotokoll Josef Schrätzenstaller, Gröbern, 17.12.1951), "Motorenhäuschen" (Bericht des ermittelnden Kriminal-Oberinspektors Georg Reingruber, München, 06.04.1922), "Motorhaus" (Vernehmungsprotokoll Albert Hofner, Reichertshausen, 15.05.1925), "Motorhütte" (Bericht des Staatsanwalts Richard Pielmayer, Neuburg a. D., 06.11.1926). Des Weiteren damit konfligierende Bezeichnungen für das Maschinenhaus, wie z.B. "Motorenhaus" (Vernehmungsprotokoll Johann Freundl, Gröbern, 17.12.1951 | Vernehmungsprotokoll Andreas Schwaiger, Gröbern, 17.12.1951) und "Maschinenhäuschen" (Augenscheinprotokoll des Oberamtsrichters Konrad Wiessner, Neuburg a. D., 04./05.04.1922). Dies führt vor allem in späteren Aufarbeitungen des Mordfalls zu Fehlinterpretationen von vorhandenen Protokollen und Zeugenaussagen.

7 Schwerkraftbedingt befinden sich die Livores (Totenflecken) an den abhängigen Körperstellen – mit Ausnahme der Aufliegestellen. Bei Andreas Gruber betrifft dies in erster Linie die Gesichtspartie sowie die Extremitäten, wobei sich die Leiche in Bauchlage befindet und mit dem Oberkörper so auf den Leichen von Cäzilia Gruber und Viktoria Gabriel liegt, dass sich ein Gefälle zwischen Oberkörpern und Beinen ergibt.

8 Aufgrund der schlechten Qualität der Originalaufnahme und des starken Gegenlichts durch die geöffneten Fensterläden (rechte Bildseite) wird in Abbildung 4 auf eine nachkolorierte und teilweise retuschierte Version des Tatortfotos zurückgegriffen. Quelle: http://www.hinterkaifeck.net/wiki.

9 Die geographische Lage von Backhaus und Geräteschuppen ist in Abbildung 5 vereinfacht dargestellt. Tatsächlich ist der Grundriss des Backhauses um ca. 45° in östliche Richtung, der Grundriss des Holz- und Geräteschuppens um ca. 20° in westliche Richtung gedreht. – Das Schlüsselsymbol an der Innenseite des Wegtores ist einer Tatortskizze entnommen, die am 10.04.1952 mit Hilfe des Zeugen Andreas Schwaiger aus Gröbern von der Münchner Kripo angefertigt wird. Vgl. FHVR, Hinterkaifeck, S. 175. Die Motorenhütte ist von außen mit einem Vorhängeschloss gesichert. Die Haustür an der Rückseite des Wohnhauses besitzt aufgrund einer an der nördlichen Hauswand befestigten Holzrinne, mit deren Hilfe Wasser aus dem Brunnen am Backhaus zum Stall geleitet wird, keine Türklinke. Die Tür kann von außen nicht geöffnet werden. Um die Tür nutzen zu können, kann die Wasserrinne beiseitegeschoben werden.

10 Der Hofhund – ein gelber Spitz – zieht den Schwanz ein, krümmt sich zusammen und zittert, sobald ein Fremder sich nähert. Anfassen lässt er sich von fremden Personen nicht, sondern schnappt gleich zu. Augenscheinprotokoll des Oberamtsrichters Konrad Wiessner, Neuburg a. D., 04./05.04.1922.

11 Bericht des ermittelnden Kriminal-Oberinspektors Georg Reingruber, München, 06.04.1922.

12 Die Aufschrift auf der Papiertüte lautet: "Scheppach Rupert | Gewerk D2 Nr. 54 | Lohn für den 2. mit 8.2.1920". In den Jahren 1919 und 1920 kommt der verheiratete Maschinenschlosser Rupert Scheppach (*31.05.1880), wohnhaft in Ingolstadt und im dortigen Reichshüttenwerk (ehem. Geschossfabrik) tätig, gelegentlich zum Hamstern nach Hinterkaifeck. Bei einer Gelegenheit soll ihn Andreas Gruber gebeten haben, sein Gewehr zu reparieren. Scheppach stellt fest, dass ein neuer Zündkegel benötigt wird und sagt zu, das Ersatzteil zu besorgen. Gruber bittet ihn, auch Schrotkugeln mitzubringen. Wenig später – schätzungsweise Februar oder März 1920 – kehrt Scheppach zurück, richtet das Gewehr und bringt auch die vereinbarten Schrotkugeln mit, eingepackt in seine Lohntüte. In Scheppachs Begleitung befindet sich der verheiratete Schlosser Georg Stadler, ebenfalls wohnhaft in Ingolstadt, der den Vorfall bezeugt. Scheppach wird bereits am 22.04.1922 von der Gendarmerie Ingolstadt vernommen; seine Aussage ist jedoch nicht mehr erhalten. Dass Scheppach zur Tatzeit in Ingolstadt gearbeitet hat, lässt sich anhand der Lohnabrechnung (Reichshüttenwerk) belegen (http://www.hinterkaifeck.net/wiki).

13 In Abbildung 3 erkennt man links vor dem Schrank das bis knapp unter die Zimmerdecke reichende Stativ der für die Tatortaufnahmen verwendeten batteriebetriebenen Fotolampe. Auf dem gesamten Hof ist keine elektrische Beleuchtung vorhanden.

14 Bericht des ermittelnden Kriminal-Oberinspektors Georg Reingruber, München, 06.04.1922. Wie sich herausstellt, werden die Schränke im Auftrag der Gerichtskommission bereits am 04.04.1922 von der Schrobenhausener Gendarmerie durchsucht.

15 Augenscheinprotokoll des Oberamtsrichters Konrad Wiessner, Neuburg a. D., 04./05.04.1922. Mit "Schlussnoten" sind vermutlich Vertragsdokumente zur Beurkundung des Kaufs von Wertpapieren – hier: Pfandbriefen – gemeint. Vgl. auch Bericht des Staatsanwalts Richard Pielmayer, Neuburg a. D., 06.11.1926.

16 Leuschner, Peter: Der Mordfall Hinterkaifeck. Spuren eines mysteriösen Verbrechens, 3., überarbeitet und erweiterte Auflage, Hofstellen 2007, S. 49f. (zit. Leuschner, Mordfall).

B. Einödhof Hinterkaifeck

Schlüsselpersonen

i. Cäzilia17 Gruber

Cäzilia Gruber, geb. Sanhüter wird am 27.11.1849 als eines von drei Kindern des Zimmermanns Martin Sanhüter (*1818) und dessen Ehefrau Monika Sanhüter, geb. Winter (*1812, †10.12.1861), in Gerolsbach geboren. Die Gemeinde, früher dem Landkreis Schrobenhausen, heute Pfaffenhofen angehörend, befindet sich etwa 13 bis 14 km Fußweg von Gröbern entfernt. Cäzilia Gruber ist in erster Ehe mit Josef Asam18 verheiratet. Aus der Ehe gehen vier Kinder hervor, von denen zwei im Kindesalter sterben: Eine am 15.12.1877 geborene und am selben Tag verstorbene Tochter unbekannten Namens, wobei es sich evtl. um eine Totgeburt handelt, sowie Andreas Asam (*10.07.1883, †05.10.1883). Der zweite Sohn Martin Asam (*23.07.1879) fällt im August 1916 in Frankreich. Die zweite Tochter Cäzilia Starringer (*08.02.1881, †1953) ist seit 1903 verheiratet und wohnhaft in Gerenzhausen (einem Weiler in der Gemeinde Gerolsbach).

Nach dem Tod von Josef Asam im Mai 188519 schließt Cäzilia im Dezember 1885 mit Andreas Gruber vor dem Notar Theodor Metzler in Schrobenhausen einen Ehe- und Erbvertrag ab. Es wird allgemeine Gütergemeinschaft vereinbart, wodurch Andreas Gruber Miteigentümer von Hinterkaifeck wird. Am 14. April 1886 findet die kirchliche Trauung zwischen Cäzilia Asam und Andreas Gruber in der Kirche von Waidhofen statt. (Trauzeugen sind die Väter Andreas Gruber und Martin Sanhüter).

Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor, von denen nur Viktoria Gruber (*06.02.1887) das Kindesalter überlebt. Zwei weitere Mädchen fallen der hohen Kindersterblichkeit zum Opfer: Sophie Gruber (*15.05.1889 Hinterkaifeck, †26.2.1891 ebenda), ferner eine notgetaufte Tochter unbekannten Namens (*01.09.1892 Hinterkaifeck, †01.09.1892)20. – Spätestens seit der Anzeige und Verurteilung von Vater und Tochter im Jahr 1915 wegen Blutschande weiß Cäzilia Gruber von deren Inzestverhältnis.

ii. Andreas Gruber

Andreas Gruber kommt am 09.11.1858 als ältestes von sechs Kindern21 des Zimmermanns und Gütlers Andreas Gruber (sen.) (*04.07.1825, †17.02.1902) und dessen Ehefrau Martina Gruber, geb. Obermair (auch Obermayr) (*30.06.1831, †08.02.1917) in Grainstetten zur Welt; einem Weiler in der Gemeinde Scheyern (Landkreis Pfaffenhofen, Regierungsbezirk Oberbayern), etwa 12 km von Gröbern entfernt. Von den Geschwistern lebt zum Tatzeitpunkt nur noch der jüngere Bruder Bernhard Gruber (*18.08.1863 Grainstetten, †19.08.1924 Strobenried).

Der Grubersche Hof wird 1893 an den zweitältesten Sohn Michael Gruber (*24.09.1861, †25.04.1916) übergeben, da Andreas Gruber seit dem 28. Dezember 1885 Miteigentümer von Hinterkaifeck ist. Am 14. April 1886 heiratet Andreas Gruber in Waidhofen Cäzilia Asam, geb. Sanhüter.

Kurz vor der kirchlichen Trauung zwischen der Tochter Viktoria Gruber und Karl Gabriel aus Laag wird der Hof Hinterkaifeck am 11. März 1914 auf Viktoria überschrieben. Andreas Gruber verdingt sich seitdem gemeinsam mit seiner Ehefrau Cäzilia als "Austrägler" bzw. Austragsbauer22 auf Hinterkaifeck, hat aber angeblich weiterhin das Sagen auf dem Hof.

Andreas Gruber wird am 28. Mai 1915 zusammen mit seiner Tochter Viktoria Gabriel vor der Strafkammer des Landgerichts Neuburg a. D. wegen des Verstoßes gegen § 173 StGB ("Beischlaf zwischen Verwandten") verurteilt und verbüßt eine einjährige Zuchthausstrafe in der Justizvollzugsanstalt Straubing23. Wie aus dem Urteil des Landgericht Neuburg a. D. hervorgeht, unterhält Gruber in den Jahren 1907 bis 1910 ein Inzestverhältnis mit seiner Tochter Viktoria (Akten des Landgerichts Neuburg a. D. Str. P. Reg. No. 105/15).

Am 10. September 1919 werden Andreas Gruber und seine Tochter von Ortsführer Lorenz Schlittenbauer erneut wegen Inzest angezeigt. Viktoria Gabriel soll zuvor gegenüber Schlittenbauer geäußert haben, dass ihr eigener Vater als Erzeuger des im September 1919 geborenen Sohnes Josef in Frage komme. Andreas Gruber lässt wegen der Gerüchte um die Vaterschaft des kleinen Josef angeblich einen Brief an Schlittenbauer schreiben, worin er ankündigt, ihn als Urheber der Gerüchte verklagen zu wollen. Zu einer Anzeige kommt es jedoch nicht24. Gruber, der in der Umgegend als verschlossen und menschenscheu gilt25 und der nach dem Kriegstod von Karl Gabriel angeblich eine erneute Verheiratung von Viktoria Gabriel verhindert, so u.a. mit Lorenz Schlittenbauer, wird am 13. September 1919 wegen des Wiederholungstatbestands der Blutschande in Untersuchungshaft genommen. Da Lorenz Schlittenbauer die Anzeige am 25. September 1919 wieder zurückzieht, wird Andreas Gruber zwei Tage später aus der Untersuchungshaft entlassen.

Am 08. Oktober 1919 zeigt Lorenz Schlittenbauer Andreas Gruber erneut wegen Blutschande an (ob Viktoria Gabriel ebenfalls angezeigt wird, ist nicht bekannt). Die Staatsanwaltschaft Schrobenhausen stellt am selben Tag den Antrag, Schlittenbauer unter Eid zu vernehmen. Bei der Vernehmung am 23. Oktober 1919 gibt Schlittenbauer an, am 25. September 1919 die Unwahrheit gesagt zu haben, da Viktoria Gabriel ihn seinerzeit zur Rücknahme seiner Behauptungen veranlasst habe26. Schlittenbauer bestätigt nunmehr die der Anzeige vom 10. September 1919 zugrundeliegenden Angaben. Nach Klageerhebung durch die Staatsanwaltschaft am 31. Dezember 1919 werden Andreas Gruber und Viktoria Gabriel im Mai 1920 vom Vorwurf des Verstoßes gegen § 173 StGB freigesprochen. Nach Ansicht des Gerichts stellen die wechselhaften Aussagen des Lorenz Schlittenbauer keine ausreichende Grundlage für eine Verurteilung dar. Eine Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft wird Andreas Gruber nicht zugebilligt (Akten des Landgerichts Neuburg a. D. Str.P.R.1920 No. 9).

iii. Viktoria Gabriel

Viktoria Gabriel wird am 06. Februar 1887 als einzige Tochter von Andreas Gruber und dessen Ehefrau Cäzilia auf Hinterkaifeck geboren27. Am 11. März 1914 wird sie per Übergabevertrag Eigentümerin des Anwesens. Sie schließt am selben Tag einen Ehe- und Erbvertrag mit Karl Gabriel ab (*16.12.1888 Waidhofen-Laag), der dadurch Miteigentümer von Hinterkaifeck wird. Viktoria und Karl Gabriel heiraten am 03. April 1914. Das Gehöft, das auf der Flurkarte des Bayerischen Landesvermessungsamtes aus dem Jahr 1902 eingezeichnet ist28, zählt mit einer Gesamtfläche von rund 16,9 ha, davon ca. 12 ha landwirtschaftliche Nutzfläche29, und einem Bestand von 16 Stück Rindvieh (darunter 4 Kühe, 2 Kalbinnen und 3 Kälber), 2 Ferkeln und etwa 25 Hühnern zu den größeren landwirtschaftlichen Betrieben jener Zeit30. Aus der Ehe zwischen Viktoria Gabriel und Karl Gabriel, der am 12. Dezember 1914 bei Gefechten in Neuville, Departement Pas-de-Calais, in Frankreich fällt31, geht eine Tochter (Cäzilia) hervor, die am 09. Januar 1915 auf Hinterkaifeck zur Welt kommt.

Am 22. Mai 1915 wird Viktoria Gabriel vor dem Landgericht Neuburg a. D. wegen Inzests mit ihrem Vater Andreas Gruber zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat verurteilt (Akten des Landgerichts Neuburg a. D. Str. P. Reg. No. 105/15). Viktoria Gruber soll sich bereits im Alter von 16 Jahren (1903) der damaligen Nachbarin Viktoria Schlittenbauer (sen.) wegen des Beischlafs mit Andreas Gruber anvertraut haben32. Für die Fortführung der inzestuösen Beziehung durch Viktoria Gabriel auch über das 21. Lebensjahr hinaus ist ein Erklärungsansatz denkbar, wonach sich nach dem jahrelangen Missbrauch durch den Vater bestimmte Verhaltensweisen manifestieren, mit denen sich Viktoria Gabriel unter dem Druck der familiären Umstände und im Bewusstsein, keine Hilfe von außen zu bekommen, abfindet. Trotz der dem Vater gegenüber weiterhin bestehenden Loyalität, wofür neben kulturellen und religiösen Rahmenbedingungen auch der Faktor Angst eine Rolle gespielt haben dürfte, ist nicht von einer freiwilligen, auf gegenseitigem Einverständnis beruhenden oder gar von Viktoria Gabriel bewusst angestrebten Inzestbeziehung auszugehen33.

Am 07. September 1919 bringt Viktoria einen Sohn (Josef) zur Welt. Als dessen Vater gibt sie einen Tag später den Gröberner Ortsführer Lorenz Schlittenbauer an, mit dem sie 1918 mehrmals geschlechtlich verkehrt haben will. Schlittenbauer lehnt die Vaterschaft ab und zeigt Andreas Gruber und Viktoria Gabriel wegen Blutschande (Inzest) beim Amtsgericht in Schrobenhausen an. Andreas Gruber wird wegen des Wiederholungstatbestands der Blutschande am 13. September 1919 in Untersuchungshaft genommen. Am 25. September 1919 zieht Schlittenbauer die Anzeige zurück und erkennt die Vaterschaft für Josef an. Andreas Gruber wird am 27. September 1919 aus der Untersuchungshaft entlassen. Nach einer neuerlichen Anzeige kommt es zur Gerichtsverhandlung (s.o.) gegen Andreas Gruber und Viktoria Gabriel, wobei Schlittenbauer nunmehr bestreitet, der Vater des kleinen Josef zu sein. Aufgrund der wechselhaften Aussagen von Schlittenbauer werden die Angeklagten Gruber/Gabriel im Mai 1920 freigesprochen.

iv. Cäzilia Gabriel

Cäzilia Gabriel lernt ihren Vater nie kennen. Bei ihrer Geburt (*09.01.1915 Hinterkaifeck) ist Karl Gabriel bereits an der Westfront gefallen. Trotzdem Viktoria Gabriel im Mai 1915 wegen "Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" verurteilt wird, steht die Vaterschaft von Karl Gabriel anscheinend außer Frage34.

Die bei ihrer Ermordung 7jährige Cäzilia besucht die Schule in Waidhofen. Dort wird sie bereits einen Tag nach der Tat von ihren Mitschülern vermisst. Eine Mitschülerin sagt Jahrzehnte später aus, dass Cäzilia Gabriel am 31. März 1922 im Unterricht eingeschlafen sei, da sie in der Nacht zuvor gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern der Familie auf der Suche nach ihrer Mutter Viktoria gewesen sei. Erst am Morgen des nächsten Tages habe man Viktoria Gabriel im Wald auf einem Baumstumpf sitzend gefunden.

Im Zuge der Erbauseinandersetzung wird der Anteil Cäzilias (3/8) nach ihrem Tod zu gleichen Teilen auf die noch lebenden Großeltern väterlicherseits sowie ihre Tante Cäzilia Starringer aufgeteilt35. Für die restlichen 5/8 des Hofes, die laut Erbvertrag (1914) Viktoria Gabriel gehören, werden neben Viktoria Gabriel auch Cäzilia und Andreas Gruber mit einem Anteil von jeweils 5/24 als Erblasser festgelegt. Die Anteile werden auf die 5 Geschwister von Andreas Gruber und Cäzilia Starringer verteilt, die als Tochter von Cäzilia Gruber (5/24), Halbschwester von Viktoria Gabriel (5/48) und Tante von Cäzilia Gabriel (1/16) 50% des Anwesens und damit den mit Abstand größten Teil des Anwesens erbt36. Im Juni 1922 ficht Cäzilias Großvater Karl Gabriel (sen.) die Erbfolge an. Er vertritt die Auffassung, dass Cäzilia nach ihrer Mutter gestorben sei. Mithin sei Cäzilia Gabriel in der Zeit zwischen dem Tod von Viktoria Gabriel und ihrem eigenen Tod alleinige Erbin ihrer Mutter gewesen. In dieser Zeit hätten ihr 8/8 des Hofes zugestanden. Nach den Obduktionsergebnissen lebt Cäzilia Gabriel nach Zufügung der Verletzungen noch wenige Stunden. Inwieweit Karl Gabriel (sen.) davon Kenntnis besitzt, lässt sich nicht feststellen. Allerdings sieht Karl Gabriel (sen.) in Cäzilias Kleidung zum Auffindezeitpunkt einen Beleg dafür, dass sie nach ihrer Mutter Viktoria Gabriel verstorben sein muss. Während Viktoria noch vollständig bekleidet ist, als sie getötet wird, trägt Cäzilia zum Todeszeitpunkt ihr Nachtgewand. Trotzdem geht das Gericht in Anlehnung an § 20 BGB a.F. davon aus, dass alle 6 Opfer bei einem einzigen gleichzeitigen Ereignis umgekommen sind37.

Schließlich besteht die Erbengemeinschaft aus 8 Personen. An Stelle der damals schon verstorbenen Geschwister von Andreas Gruber treten deren gesetzliche Erben. Da aufgrund des schwelenden Rechtsstreits mit Blick auf eine Veräußerung an Dritte keine Einigkeit in der Erbengemeinschaft zu erwarten ist, die aber bei einem gesamthänderischen Nachlass für eine Veräußerung des Anwesens notwendig ist, und sich zudem kein Käufer für Hinterkaifeck findet38, einigt man sich darauf, dass die Familie Gabriel den Hof erwerben kann. Im Herbst 1922 wird der Hof mit dem dazugehörenden Wald und den Ländereien an einen der Söhne von Karl Gabriel (sen.), Josef Gabriel (*22.03.1891, †11.02.1969 | Gastwirt in Rettenbach bei Schrobenhausen) veräußert. Als regulärer Kaufpreis werden 3 Mio. Mark39 vereinbart, wovon der Gegenwert des im Besitz von Karl und Franziska Gabriel befindlichen Anteils in Höhe von 3/16, sprich 562.500 Mark an die Familie Gabriel zurückfließt40. Nach der abschließenden Genehmigung des Kaufvertrags durch das Vormundschaftsgericht Pfaffenhofen am 10. März 1923 – für die minderjährigen gesetzlichen Erben der verstorbenen Geschwister von Andreas Gruber – lässt der neue Eigentümer Josef Gabriel den Hof auf Hinterkaifeck abtragen. Aus dem Abbruchmaterial wird auf dem Anwesen der Familie Gabriel in Laag, einem etwa 1 km von Hinterkaifeck entfernten Weiler, ein neuer Stadel errichtet41. Das Grundstück wird unter den drei Brüdern Josef Gabriel, Jakob Gabriel (*04.07.1899 Laag) und Anton Gabriel (Landwirt in Schlott bei Hohenwart) aufgeteilt.

v. Josef Gruber

Im Matrikelbuch der Pfarrei Waidhofen wird Josef Gruber, geboren am 07. September 1919 auf Hinterkaifeck42, als "illegitim" bzw. unehelich geführt43. Einen Tag nach seiner Geburt wird Lorenz Schlittenbauer von Viktoria Gabriel als Vater des Jungen angegeben. Schlittenbauer lehnt die Vaterschaft ab und zeigt den Großvater Andreas Gruber und die Mutter Viktoria Gabriel am 10. September 1919 wegen Blutschande an (woraufhin Andreas Gruber in Untersuchungshaft genommen wird). Zwei Wochen später zieht Lorenz Schlittenbauer seine Anzeige zurück und erkennt die Vaterschaft für Josef an. Es wird allgemein angenommen, dass der Widerruf der Anzeige auf Grundlage einer von Viktoria Gabriel gegebenen Zusage erfolgt, Lorenz Schlittenbauer zu heiraten.

Mit Anerkennung der Vaterschaft durch Lorenz Schlittenbauer am 30. September 1919 vor dem Amtsgericht Schrobenhausen wird der Unterhaltsanspruch des Mündels Josef Gruber auf 1.800 Mark festgelegt44. Lorenz Schlittenbauer wird verpflichtet, die vollständige Abfindungssumme, mit der nach geltender Rechtsprechung die Unterhaltsansprüche des Mündels bis zum vollendeten 16. Lebensjahr abgegolten sind45, innerhalb von 14 Tagen auf einem Sparbuch des Darlehenskassenvereins Waidhofen gutschreiben zu lassen. Auf Bitten von Andreas Gruber, der in der Verhandlung zum Vormund für Josef Gruber bestellt wird46, soll die Kindsmutter Viktoria Gabriel jährlich 100 Mark sowie die Zinsen der Abfindungssumme "als Entgelt für die Kosten der Auferziehung"47 erhalten. Der Eingang des Betrags von 1.800 Mark wird am 09. Oktober 1919 von Andreas Gruber bestätigt48.

Am 08. Oktober 1919 zeigt Schlittenbauer Andreas Gruber erneut wegen Blutschande an. Nach Klageerhebung durch die Staatsanwaltschaft am 31. Dezember 1919 werden Andreas Gruber und Viktoria Gabriel im Mai 1920 freigesprochen. Obwohl Schlittenbauer seine belastende Aussage unter Eid ablegt, werden seine Angaben als nicht ausreichend für eine Verurteilung angesehen (Akten des Landgerichts Neuburg a. D. Str. P. R. 1920 No. 9).

vi. Maria Baumgartner

Maria Baumgartner wird am 01. Oktober 1877 als eines von sechs Kindern der Eheleute Joseph Baumgartner (†1888) und Maria Baumgartner, geb. Birner (†1904), in Kühbach (Schwaben) geboren49 (etwa 17,1 km Fußweg von Gröbern entfernt). Von den fünf Geschwistern sind 1922 noch drei am Leben. Bis zum Tod der Mutter lebt die unverheiratete Maria Baumgartner in ihrem Elternhaus in Kühbach. Danach arbeitet sie als Magd bei verschiedenen Bauern, meist gegen Kost, Unterbringung und Kleidung.

Baumgartner ist geistig und körperlich benachteiligt. Aufgrund eines verkürzten Fußes leidet sie an einer Gehbehinderung. Sie ist im Besitz einer Invalidenkarte, welche am 27. März 1922 in Pörnbach ausgestellt wird. Nach Angaben des "Schrobenhausener Wochenblatts" vom 06. April 1922 ist im Arbeitsbuch von Maria Baumgartner vermerkt, dass sie am 03. Februar 1922 bei einem Landwirt Huber in Pörnbach (Landkreis Pfaffenhofen) aus dem Dienst tritt50. Anschließend ist Maria Baumgartner bei einer alleinstehenden, älteren Frau in Unterwittelsbach als Magd beschäftigt (etwa 20 km Fußweg von Gröbern entfernt). Die Stelle wird ihr gekündigt; angeblich weil der Bürgermeister keine "krüppelhafte Person" in der Gemeinde haben will. Danach wohnt sie übergangsweise in ihrem Elternhaus in Kühbach, das mittlerweile einer Verwandten, Franziska Birner, gehört.

Über ihre Schwester Franziska Schäfer kommt es im März 1922 zu einem Kontakt mit der Verdingerin (private Arbeitsvermittlerin) Julia Rockesmüller aus Schrobenhausen. Diese vermittelt Maria Baumgartner nach Hinterkaifeck, wo sie ab dem 01. April 1922 als Magd arbeiten soll. Am 31. März 1922 begleitet Franziska Schäfer ihre Schwester zu ihrer neuen Dienststelle nach Hinterkaifeck. Die beiden Frauen brechen am Nachmittag von Mühlried, dem Wohnort der Eheleute Franziska und Josef Schäfer, Richtung Hinterkaifeck auf, das rund 5 km entfernt liegt. Nach einem Umweg51 treffen die beiden Frauen gegen 17:00 Uhr auf dem Anwesen ein.

Prolog | Vortatphase

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