Kapitel 3


Aokigahara Jukai unterschied sich vollkommen von allen Wäldern, die ich bis dahin betreten hatte. Die Vielfalt der immergrünen Nadelhölzer und anderen Bäume war dermaßen dicht zusammen- und miteinander verwachsen, dass es förmlich die Augen überforderte und der Eindruck entstand, die Vegetation sei schier undurchdringlich. Die Äste verzweigten sich in den Wipfeln zu einem engmaschigen Geflecht, das viel Sonnenlicht schluckte, weshalb es hier deutlich dunkler war, als wenige Minuten zuvor auf dem Parkplatz – und alles in dieser schattenhaften Welt aus Sepiatönen wirkte verzerrt, urtümlich und einfach … falsch. Besser kann ich es nicht beschreiben: aus dem Ruder gelaufener Wildwuchs. Die Wurzeln der Fichten, Tannen und Kiefern konnten nicht tief reichen, weil der Waldboden unter der dünnen Asche- und Humusschicht aus uneben ausgehärteter Magma bestand, das nach der letzten Eruption des Fujis Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hier erkaltet war. Darum wuchsen viele Wurzeln kurzerhand über der Erde, ein Gewirr aus knorrigen Holztentakeln, die vergeblich Halt suchten, um zu überleben, und über das Blauschwarz hervorstechende Vulkangestein krochen. Deshalb waren einzelne Bäume anscheinend Opfer ihres Wachstums geworden und umgestürzt, weil sie es nicht mehr geschafft hatten, ihr hohes Gewicht zu verankern, falls sie nicht noch schief an ihre gleichmütig wirkenden Nachbarn gelehnt dastanden, und lagen nun flach zwischen krummen Ästen und anderem verrottendem Sturmholz am Boden. Genau genommen hätte man annehmen können, der Wald sei krank und liege im Sterben, hätte er nicht so viele grüne Blätter getragen und Moose, Flechten und Kräuter wachsen lassen, die ihm einen dringend nötigen Farbanstrich gaben.

»Ein bisschen wie Mittelerde würde ich sagen«, meinte Neil, womit er als Erster das Schweigen brach, das über uns gekommen war. »Die Ents, Baumbart und so weiter.«

Bei seinen Worten fiel mir plötzlich ein Knäuel Wurzeln in der Nähe ins Auge, die fast nahelegten, diese Bäume könnten in Kürze zum Leben erwachen und einfach so davonlaufen.

»Ein Zauberwald«, sagte Mel. »So seh ich das. Dieses kräftige Grün … wie in einem Märchen.«

Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile weiter. Es war banales Geplänkel um seiner selbst willen, Geräusche zum Aufheben der Stille, und es versandete auch rasch wieder. Im Laufe der nächsten zwanzig Minuten gingen wir an mehreren verrosteten und schmutzigen Hinweisschildern vorbei. Einige ermahnten potenziell Selbstmordgefährdete zum Überdenken ihres Vorhabens in Hinblick auf liebende Nahestehende, wohingegen andere Wanderer darum gebeten wurden, den lokalen Behörden jede Person zu melden, die alleine war oder depressiv beziehungsweise aufgebracht wirkte. Auf einem Schild stand auch, das Camping hier nicht erlaubt sei. Das schüchterte uns zwar ein, doch Tomo bekräftigte, dass es nur eine weitere Abschreckungsmaßnahme gegen Suizid war, denn viele Einheimische kamen offenbar unter dem Vorwand hierher, zu zelten, wobei sie aber lediglich nur Mut schöpfen wollten, sich anschließend selbst zu töten.

Je tiefer wir in den Wald hineingingen, desto beklommener, wurde mir zumute. Es war einfach zu ruhig, zu still. Ich hatte bisher noch kein einziges Tier gehört, weder Vogelgezwitscher noch Insekten – gar nichts. Wie konnte ein dermaßen üppig begrünter Ort so bar jeglicher Fauna sein? Und wieso überhaupt? Tiere kümmerte es doch gewiss nicht, dass der Wald eine Anlaufstelle für Selbstmörder war.

Mel, die neben mir herging, nahm jetzt meine Hand und drückte sie sanft. Ich drückte zurück. Mir war allerdings nicht ganz klar, ob dies nur eine Geste der Zuneigung oder eine Aufforderung zum Reden sein sollte.

Da sie nichts sagte, vermutete ich Ersteres.

»Du bist ja gut drauf«, bemerkte ich.

»So fühle ich mich auch.«

»Bist du gar nicht verkatert?«

»Nicht mehr. Hab wahrscheinlich lange genug gepennt.«

»In diesem Wald zu sein macht dir nicht zufällig Angst oder?«

»Ich finde ihn faszinierend, wenn auch nicht im positiven Sinn. Es ist einfach eine sehr spezielle Umgebung, ganz anders als Tokio, verstehst du?«

Ich dachte kurz darüber nach, konnte mich aber nicht festlegen, ob ich ihr vollkommen zustimmte. Tokio war ein Wald aus Glas und Stahl, während Aokigahara aus Bäumen und Steinen bestand, doch bei beiden handelte es sich gewissermaßen um Friedhöfe. Kannte man sich nämlich nur ein wenig in der gnadenlos kommerziell ausgerichteten Kultur Japans aus, sah man schnell in den glänzenden Wolkenkratzern, welche die Skyline der Metropole prägten, nichts weiter als unpersönliche Grabsteine, und erachtete die Menschen, die darin arbeiteten, nur als Sklaven, die sich unentwegt von einem Tag zum nächsten hangelten, um bis zu den »goldenen Jahren« des Ruhestands durchzuhalten. Ironischerweise stumpften viele von ihnen schon lange vorher in spiritueller Hinsicht ab. Diesbezüglich hätte man wohl auch den armen Tropf fragen können, der seinen Anzug mit Schuhen und Koffer in seinem Auto liegen gelassen hatte.

Ich wollte Mel darauf ansprechen, wusste aber nicht, wie ich es auf verständliche Weise in Worte fassen sollte. Stattdessen sagte ich nur: »Stimmt, das ist ein wirklich verrückter Ort.«

»Genau solche Trips werde ich vermissen, wenn wir aus Japan wegziehen. Wir hätten so etwas viel öfter machen sollen. Warum haben wir das denn nicht?«

Ich antwortete trocken: »Weil wir so viel arbeiten.«

»Weil wir uns dieses Ei selbst ins Nest gelegt haben. Wir hätten viel häufiger auswärts Urlaub machen sollen.«

Mit dem »Ei« meinte sie HTE. Es war halb scherzhaft gemeint: Etwas, dass wir uns selber eingebrockt hatten und nun nicht mehr loswurden.

»Weißt du«, fuhr sie fort, »meine Freundin Francine hat an einer Uni angefangen. Sie bekommt dort sechs Monate Urlaub – sage und schreibe ein halbes Jahr – und verdient trotzdem noch mehr als wir.«

»Wenn du willst, können wir uns ja demnächst auch an einer Uni bewerben.«

»Dazu ist es zu spät, Ethan. Wir sind zu lange hier.«

Darauf erwiderte ich nichts.

Sie schaute mich von der Seite an, weil sie offensichtlich dachte, ich sei ihr böse, doch das war ich eigentlich gar nicht. Deshalb ging sie kurz auf Zehenspitzen, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken.

»Danke«, sagte ich.

»Verarsch mich nicht!«

»Tue ich nicht. Ich finde das schön.«

Lächelnd entgegnete sie: »Ich unterhalte mich mal mit John.«

Ich schaute jetzt nach vorne zu ihm, er war gerade dabei Tomo irgendeine Geschichte zu erzählen.

»In Ordnung.«

Sie lief los und holte die beiden rasch ein. Ich schaute dabei zu, wie sie sich zwischen sie drängte, John Scott legte einen Arm um ihre Schultern und sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Dann nahm er den Arm wieder herunter … was meines Erachtens nach, allerdings viel zu lange dauerte.

Neil ließ sich zurückfallen, bis er mich erreicht hatte. Er pfiff die Melodie jenes berühmten Lieds aus dem Sezessionskrieg, das man heute vor allem unter dem Titel »The Ants Go Marching« kennt, der ursprüngliche wollte mir beim besten Willen nicht mehr einfallen.

Ich warf ihm einen seltsamen Blick zu. Neil Rodgers – gerne auch »Neilbo«, »Mr. Rodgers« oder manchmal auch »unser Kiwi«, wenn man sich im Kollegenkreis über ihn ausließ. Derek Miller, einer unserer Mitarbeiter und Kanadier, stichelte besonders oft über ihn, indem er ihn als schrulligen Serienvergewaltiger bezeichnete. Damit schoss er natürlich weit über das Ziel hinaus, doch leicht schrullig war Neil offengestanden tatsächlich. Ich schätze, wenn man ihn darauf ansprechen würde, hätte er sogar zugestimmt. Nicht dass er irgendwie knausrig gewesen wäre, aber ein paar seltsame Angewohnheiten hatte er schon. Zum Beispiel besaß er nur einen einzigen Anzug, und den trug er jeden Tag. Das wussten wir sicher, weil er direkt neben der linken Gesäßtasche ein kleines Loch hatte. Sein Handy führte er immer in einem Gürtelhalter mit sich herum, so wie Captain Kirk seinerzeit seinen Phaser. Und zu jeder Mahlzeit aß er das Gleiche: Reis, fermentierte Sojabohnen, ein paar Nüsse und einen Salat, wenn er Frühschicht hatte. Reis mit Hähnchenbrust und drei oder vier Dim Sum mit Schweinefleisch, wenn er bis zum Abend arbeiten musste. Seine Frau kochte immer für ihn und verpackte das Essen dann in Tupperware-Dosen, auf deren Deckel Neil mit wasserfestem Stift seinen Namen geschrieben hatte.

Dessen ungeachtet war er meinem Dafürhalten nach unter den rund zwanzig Vollzeitlehrern an unserer Schule bei den Schülern der beliebteste. Zumindest wurde er am häufigsten für Privatstunden eingespannt. Wir unterrichteten sowohl Kinder als auch alte Menschen, sei es einzeln oder in kleinen Gruppen. Mehrheitlich kamen auch Büroarbeiter zu uns, die von ihren Unternehmen dazu gezwungen wurden, Englisch zu lernen, oder auch gelangweilte Hausfrauen, die einfach jemanden zum Reden brauchten. Nachdem ich jahrelang immer wieder die gleichen Lektionen erteilt hatte, graute es mir bisweilen vor Stunden mit bestimmten Schülern, in deren Verlauf ich zum tausendsten Mal das Partizip Perfekt erklären musste.

Neil war da ganz anders.

Er versprühte irgendwie eine irrsinnige, geradezu manische Energie. Weil er deshalb an den Moderator Fred »Mister« Rogers erinnerte, der jahrzehntelang eine bekannte amerikanische Kindersendung moderiert hatte, hatte er eben den Spitznamen »Mr. Rodgers« bekommen. Aus diesem Grund mochten ihn die Schüler wahrscheinlich auch so gerne. Sie wussten, dass er immerzu hundert Prozent gab.

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, fragte ich Neil jetzt, in erster Linie, damit er mit dem Pfeifen aufhörte. Das an alte Zeiten erinnernde Lied war in diesem Wald vollkommen unangebracht, ja geradezu schauerlich.

Er sah mich begriffsstutzig an. »Hier zu übernachten?«

»Ja.«

»Es war doch eure Idee.«

»Nein, eigentlich die, der Israelis.«

»Aber John Scott und du, ihr wolltet doch auch unbedingt.«

»Ich dachte, es könnte interessant werden.«

»Und jetzt?«

Ich ließ meinen Blick über die Baumlandschaft schweifen. »Ich find's immer noch interessant.«

»Willst du etwa kneifen?«

»Es ist ja nicht so, dass wir die Ersten sind, die diesen Wald betreten. Immerhin gibt es sogar Pfade.«

»Aber wie viele schlagen wohl hier über Nacht ihr Lager auf?«

»Wer weiß das schon?«

»Denkst du, dass wir eine Leiche finden werden?«

»Ich weiß nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Willst du das denn?«

»Da bin ich mir nicht sicher. Na ja, eventuell schon. Falls es sich ergibt, dann ist es eben so.«

Während ich noch darüber nachsann, wie ehrlich ich zu mir selbst war, sah ich ein, dass wir noch eine andere Möglichkeit zum Zeitvertreib hätten nutzen können, bis sich das Wetter wieder besserte: in einem der typischen Gasthäuser mit Fliegengittertüren und Tatami-Matten auf dem Boden einkehren. Mel und Tomo wären bestimmt dafür gewesen, aber was Neil anging, wusste ich nicht so recht. Er war bekannt dafür, seine Finanzen zusammenzuhalten, und hatte sich wahrscheinlich nur zum Zelten breitschlagen lassen, weil es nichts kostete.

Ich schaute wieder nach vorne. Mel ging immer noch neben John Scott her. Sie trug eine violette K2-Jacke und eine Jeans. Ich besaß genau die gleiche Jacke in Schwarz. Wir hatten sie allerdings nicht gekauft, um uns als Pärchen hervorzutun. Sie waren in einem Geschäft im Tokioter Bezirk Shinjuku für die Hälfte ihres ursprünglichen Preises angeboten worden, und weder Mel noch ich hatten damals dicke Jacken mit nach Japan genommen. Das war das Problem, wenn man als Lehrer im Ausland arbeitete. Der weltliche Besitz beschränkte sich darauf, was man in einen oder zwei Koffer stopfen konnte.

Mel wandte John Scott wiederholt den Kopf zu, weshalb ich mich fragte, worüber die beiden wohl sprachen. Ich schnappte leider nur einzelne Worte auf, mehr nicht.

Neil pfiff nun wieder. Ich fragte ihn: »Wie geht es Kaori?«

»Sie fährt dieses Wochenende mit der Kleinen nach Disneyland.«

»Wie alt ist Ai jetzt?«

»Vier.«

»Geht sie schon zur Schule?«

»In den Kindergarten.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die beiden vor uns. »Woher kennen sich die Zwei eigentlich?«

John Scott sagte gerade wieder etwas zu Mel, woraufhin diese ihm zum Spaß gegen die Schulter boxte.

»Sie waren zusammen auf der Highschool.«

»Du magst ihn nicht, hab ich recht?«

Das war eine sehr gute Frage. Mochte ich John Scott? Ich machte mich genauso der Unsitte schuldig, meine Mitmenschen schnell abzuurteilen und dann an meiner Einschätzung festzuhalten, selbst wenn sie sich letzten Endes als vollkommen falsch herausstellte. In seinem Fall jedoch glaubte ich nicht, dass mein erster Eindruck abwegig gewesen war. Er war einfach ein anmaßendes Großmaul.

»Spielt das denn 'ne Rolle?« Ich tat gleichgültig. »Dazu kenne ich ihn nicht gut genug.«

Neil nickte, als würde er die Erklärung plausibel finden, und fing dann wieder zu pfeifen an. Ich sparte mir die Mühe, ihn zu bitten, es zu unterlassen.

 

Auf dem Weg kamen uns nun drei einheimische Wanderer entgegen, zwei Männer und eine Frau, alle in entsprechender Kleidung und mit Regenschirmen aus durchsichtigem Plastik.

»Konnichiwa!«, rief Ben freundschaftlich. »Konnichiwa

Seine Aussprache war tatsächlich noch schlimmer, als meine. Das Trio grüßte aber freundlich zurück, lächelte und verbeugte sich anschließend.

»Wie wandert es sich so?«, fragte er.

Das verwirrte sie anscheinend.

Ich half ihm: »Wandern?«, fragte ich. »Gut?«

Ein zögerliches, mehrmaliges Nicken folgte.

»Hey – sumimasen?«, fuhr Ben fort. Sich auf Japanisch mitzuteilen fiel ihm offenbar schwer, weshalb er es schnell aufgab und es auf Englisch versuchte: »Wir suchen nach anderen Wegen, also nicht den einschlägigen. Ihr versteht?«

Sie verstanden es anscheinend nicht. Vielmehr schienen sie es plötzlich unheimlich eilig zu haben.

John Scott hielt sie mit einem »Yo, hey, jetzt macht mal halblang« zurück. Dann wandte er sich Tomo zu. »Mach mal den Dolmetscher.«

»Was soll ich ihnen denn sagen?«

»Das, was Ben gerade gesagt hat, dass wir Alternativen zu dieser Route suchen.«

Tomo zierte sich offensichtlich.

»Du meine Güte«, meinte John Scott stöhnend. »Tu's einfach.«

Also fragte Tomo nach.

Der ältere der beiden Männer – er hatte ganz weiße Haare, was auch für seinen Schnurrbart galt, und eine Brille mit goldfarbenem Rahmen – wirkte sofort ungehalten. Er blaffte etwas im Gegenzug, Tomo antwortete, indem er entschuldigend die Hände hochhob, bekam aber prompt das Wort abgeschnitten. Der Mann brauste auf und spuckte beim Sprechen regelrecht. Sobald Tomo versuchte, ihn zu besänftigen, schüttelte er sowohl seinen Kopf als auch die Arme und erhob seine Stimme noch mehr. Ich schaute dem Geschehen ratlos zu. Dass Japaner die Fassung verloren, hatte ich bisher nur sehr selten erlebt. In diesem Zusammenhang fiel mir auf einmal ein weiteres Sprichwort ein: Ein Nagel, der herausragt, wird eingeschlagen, und zwar fest.
Im Alltag ließ sich dies auf alles Mögliche beziehen. Mach nicht früher Feierabend als deine Mitarbeiter. Fälle geschäftliche Entscheidungen nicht eigenmächtig. Verspäte dich niemals. Verberge deine wahren Gefühle.

Was war hier also los? Der Weißhaarige rastete mittlerweile komplett aus. Tomo, dem bewusst geworden war, dass diese Diskussion zu nichts führte, streckte die Waffen. Ich legte eine Hand auf seinen Rücken und führte ihn sanft weiter. Die beiden anderen folgten uns.

John Scott fragte neugierig: »Was hatte der denn für ein Problem, Mensch?«

Tomo schüttelte nur den Kopf.

»Er sagt, wir nicht hier sein dürfen.«

»Und was hat er dann hier zu suchen?«

»Er geht Lavahöhlen, Eishöhlen.«

»Warum dann die ganze Aufregung?«

»Er denkt, wir suchen Tote.«

Der Mann brüllte uns immer noch an.

»Was sagt er jetzt?«, fragte ich.

»Er will uns anzeigen.«

»Ist es denn verboten, diesen Weg zu verlassen?«

»Ich glaube nicht. Er ist scheiß verrückt, wen juckt's?«

»Du kannst mich mal, kemosabe!«, schnauzte John Scott zurück und zeigte dem Alten einen Mittelfinger.

»Hey«, rief ich. »Bleib locker.«

»Was denn, wieso?«

»Du bist unverschämt.«

»Hör dir das Arschloch doch mal an.«

»Er hat ja nicht ganz unrecht«, erwiderte ich. »Vielleicht zelten wir doch besser nicht hier draußen.«

»Komm mir jetzt bloß nicht auf die Tour. Er wettert doch nur, weil wir keine Japaner sind, sondern gaijin. Wären wir keine Ausländer, würde er garantiert nicht so auf uns losgehen. Die müssen ihren Rassismus endlich mal überwinden.«

»Du entsprichst halt einfach ihrem Klischeebild vom lauten, unausstehlichen Amerikaner.«

»Ach ja? Und er entspricht meinem von einem fremdenfeindlichen Wichser.«

»Du bist hier nun mal nicht zu Hause«, erinnerte ich ihn.

»Hat er deshalb das Recht, so auszuflippen?«

»Du weißt aber schon, dass kemosabe nicht Japanisch ist, oder?«

»Was denn sonst?«

Ich ging kopfschüttelnd weiter und dachte mir meinen Teil.

 

Kurz nach meinem Umzug nach Japan hatte ich mit ein paar Freunden ein Restaurant besucht. Das Tagesangebot belief sich darauf, dass man sich für dreihundert Yen so viel Shōchū, Bier, Cocktails und Highballs hinter die Binde kippen durfte, wie man nur konnte. Alles stand an einer Selbstbedienungstheke bereit, doch es gab einen Haken: Man hatte zum Trinken nur eine halbe Stunde Zeit, bevor man wieder blechen musste. Als unverblümte Zecher waren wir deshalb innerhalb einer Stunde sternhagelvoll und guter Dinge. Während mein schottischer Mitbewohner und ich mit der Bahn nach Hause fuhren, unterhielt ich mich am Handy laut mit meiner Ex Shelly, die zufällig gerade aus den Staaten angerufen hatte. Er saß mir gegenüber und starrte still auf ein Glas in seiner Hand, das er voller Rum aus dem Lokal mitgenommen hatte, um weiter trinken zu können. Ein alter Mann stakste plötzlich zu uns hinüber, was mir aber nicht auffiel, bis er auf einmal anfing, mich in seiner Muttersprache zu beschimpfen. Ich wusste damals noch nicht, dass Telefongespräche im öffentlichen Verkehr hier als extrem großer Fauxpas galten, und maulte deshalb munter zurück. Der Schotte starrte mich mit glasigem Blick an, sagte irgendetwas und kotzte sich anschließend selber voll. Zu seiner Verteidigung sei gesagt, dass er eine gehörige Menge Erbrochenes mit dem gestohlenen Glas auffing. Der japanische Mann stieg daraufhin rot vor Wut an der nächsten Haltestelle aus.

Damals hielt ich den Typen für ein Arschloch, weil er sich gefälligst um seinen eigenen Krempel hätte kümmern sollen. Später erkannte ich allerdings, dass ich in Wirklichkeit der Arsch gewesen war, weil ich mich nicht an die japanische Etikette gehalten hatte. Klar, er sah in mir wahrscheinlich einen typischen gaijin, aber genauso führte ich mich ja auch auf. War er deshalb gleich ein Rassist? Ich denke nicht. In Japan gilt je nach gesellschaftlicher Situation ein extrem komplexes System aus heiklen Regeln. Die Menschen dort kennen sie, Ausländer hingegen oft nicht. Darum nimmt man Ausländer eben anders wahr und behandelt sie auch dementsprechend. So läuft es einfach in Japan. Entweder gewöhnt man sich daran oder man zieht wieder weg.

 

Wir gingen noch ungefähr zehn Minuten weiter, bis wir fanden, wonach wir gesucht hatten. Zwischen zwei Bäumen am linken Rand des Hauptwanderwegs war ein Seil gespannt. Daran hing mittig ein Schild mit der Aufschrift »BETRETEN VERBOTEN« auf Englisch. Dahinter verschwand ein schmaler, mäandernder Pfad im Dickicht, der offenbar fast unbenutzt war. Die dürren Jungbäume links und rechts neigten sich nach innen, sodass sich ihre Zweige in der Höhe verschränkt hatten wie Knochenfinger, was den Eindruck eines Tunnels erweckte, den man nicht unbedingt durchschreiten wollte.

Die Nervosität, die ich schon zuvor empfunden hatte, stellte sich jetzt wieder ein, dieses Mal allerdings wesentlich penetranter, und ich fragte mich zusehends, ob unsere Idee, hier draußen zu übernachten, wirklich klug war.

Mel dachte augenscheinlich das Gleiche, denn sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust, als würde sie plötzlich frieren und meinte: »Sag jetzt bitte nicht, wir gehen da durch.«

»Aber sicher doch«, bestätigte Ben.

»Warum campen wir denn nicht gleich hier?«

»Weil hier gar kein Abenteuer in Aussicht steht.«

»Ich hatte bis jetzt schon genug Abenteuer.«

»Hier würde man uns doch sofort entdecken.«

»Wer denn? Wir sind bisher nur an drei Wanderern vorbeigekommen.«

»Wir nehmen diesen Weg«, meinte Ben nachdrücklich, »suchen uns ein gediegenes Plätzchen und schlagen dann unser Lager auf.«

»Der Alte hat damit gedroht, uns anzuzeigen«, gab Neil zu bedenken. »Was, wenn er genau das tut und die örtliche Polizei gleich hier aufkreuzt? Ich bin wirklich nicht scharf darauf, eingebuchtet zu werden.«

»Eingebuchtet? Wofür denn?«, fragte John Scott. »Weil wir den Hauptweg verlassen haben?«

»Das wäre immerhin unbefugter Zutritt. Die Drei haben garantiert unsere Campingausrüstung gesehen. Da können sie doch zwei und zwei zusammenzählen.«

»Das hier ist öffentliches Gelände!«

»Auf diesem Schild steht ganz ausdrücklich, dass das Betreten verboten ist.«

»Aber nichts von strafrechtlicher Verfolgung.«

»Was heißt denn das hier?«, warf Mel ein. Sie zeigte auf ein kleineres Schild neben dem Englischen, das mit Kanji beschriftet war.

»Nicht in den Wald gehen«, übersetzte Tomo. »Sie verirren sich.«

»Das ist alles?«, fragte ich.

»Seht ihr?«, sagte John Scott.

Ich schaute mich nach weiteren Warnhinweisen um … und entdeckte eine Überwachungskamera zehn Fuß weit entfernt oben an einer schwarzen Metallstange, die teilweise hinter Bäumen verborgen war.

»Was zur Hölle ist denn das?« Ich zeigte darauf.

Alle schauten hinüber. Der eine oder andere raunte verwundert.

»Wer die wohl aufgehängt hat?«, dachte Neil laut. »Die Polizei?«

»Wahrscheinlich«, entgegnete Ben. »Das ist aber keine große Sache.«

»Was meinst du damit?«, fragte Mel. »Sie könnten uns schließlich in diesem Augenblick beobachten.«

»Selbst wenn«, sagte Tomo, »wird sie sich nicht um uns kümmern.«

Das konnte ich nicht nachvollziehen. »Wieso denn nicht?«

»Weil sie sich Sorgen um die Leute macht, die Selbstmord begehen wollen. Ihr hingegen als Ausländer? Da können sie sich denken, dass ihr euch nicht umbringen wollt. Ihr seid ihnen egal.«

Ben kam wieder auf den Punkt, indem er sagte: »Sind also alle einverstanden? Gehen wir dort entlang?«

Ich sah noch einmal Mel an. Sie zuckte resignierend mit den Achseln, was auch meine Gleichgültigkeit widerspiegelte. Ben grinste daraufhin breit und stieg über die Absperrung, um danach Nina darüber zu helfen. Dabei rutschte ihre kurze Hose an den Beinen hoch. John Scott folgte ihr und schwang seine Beine nacheinander hinüber, ohne die Knie zu beugen, gefolgt von Tomo und schließlich Neil, der prompt mit einem Fuß hängen blieb und fast umfiel. Ich hob das Seil einfach hoch, woraufhin sich Mel bückte und darunter hindurchging.

So verließen wir den Hauptpfad und schlugen den Weg ins Ungewisse ein.

Kapitel 5


Es wurde auf einmal merklich dunkler, und zwar erschreckend schnell. Kurz vorher hatte man zwischen den verzweigten Baumkronen noch stellenweise den deckend grauen Himmel gesehen, doch jetzt ließ sich durch die zunehmend dichter zusammengestauchten Wipfel wenig, bis gar nichts mehr davon ausmachen, sodass man meinen könnte, es dämmere bereits, obwohl es in Wirklichkeit noch mitten am Tag war. Normalerweise genoss ich die Übergangsphase vom späten Nachmittag zum frühen Abend mit ihrer friedlich ruhigen Atmosphäre stets, aber nicht im Aokigahara. Hier wirkten die Bäume seltsam Unheil verkündend und verdorrt. Ihr Grün leuchtete nicht mehr, so als sauge ihnen irgendetwas das Leben aus. Die Schatten wurden länger und schwärzer und gingen langsam ineinander über. Allmählich spielte mir sogar meine Fantasie Streiche und uferte so weit aus, dass ich mir qualvoll verzogene Gesichter an runzeligen Baumstümpfen oder einen verkohlten Schädel auf einem Haufen Vulkansteine einbildete. Darüber hinaus beschlich mich das unbehagliche Gefühl, dass wir beobachtet würden. Mehrere Male nahm ich am Rande meines Gesichtskreises Bewegungen wahr.

Trotzdem fehlten weiterhin jegliche Spuren von Tieren oder Wind. Es gab nur die Bäume und uns in dieser … Gruft.

Ich war offenbar nicht der Einzige, der sich vom Wald ins Bockshorn jagen ließ. Wir verhielten uns allesamt wie Tiere, die ständig irgendwo Fallen witterten und nervös hochschauten oder uns auf die beengenden Umgebungsverhältnisse konzentrierten, als ob uns überall etwas Gefährliches auflauern würde.

Plötzlich knackte es rechts von uns im Gestrüpp. Ben und Nina, die zu zweit vor mir hergingen, sprangen sofort vor Schreck fast einen Fuß hoch. Tomo ging ruckartig in die Hocke und hielt sich die Hände an die Wangen, wie die Figur auf dem Munch Gemälde Der Schrei. Mel hingegen packte meinen Unterarm so fest, dass es wehtat. Dann brüllte plötzlich John Scott hinter uns vor Lachen. Ich erkannte, was er getan hatte, noch bevor er einen weiteren Stein in den Wald warf.

»Mensch, John!«, rief Mel wutentbrannt. »Das war nicht lustig!«

Aber er lachte immer weiter. Neil, der neben ihm stand und wahrscheinlich konspirativ eingeweiht worden war, kurz bevor John Scott den ersten Stein aufgehoben hatte, sah verlegen erheitert aus.

»Du Fuck-Arsch!«, schimpfte Tomo, obwohl er selbst dämlich grinsen musste. »Ich hab fast in Hose geschissen mir.«

Daraufhin lachte John Scott nur noch lauter. Ben und Nina begannen nun ebenfalls zu kichern. Letzten Endes amüsierten wir uns alle köstlich, was auch bitter nötig war, denn dabei ließ endlich der Druck nach, der sich offensichtlich bei uns allen aufgestaut hatte.

Unsere Erleichterung war jedoch nur vorübergehender Art, und nachdem wir zu Ende gelacht hatten, setzen wir uns wieder in Bewegung. Dabei kehrte einmal mehr unweigerlich Stille ein und diese beunruhigte mich genauso wie zuvor.

Ich warf Mel, die neben mir auf ihrer Unterlippe kaute und den Kopf nach vorne geneigt hatte, um zu sehen, wohin sie trat, einen intensiven Blick zu. Ich glaubte fast, ihre körperliche Anspannung spüren zu können. Als sie zu mir herüberschaute, lächelte sie zaghaft – einstudiert wie bei den Krankenschwestern damals, als ich bis zu Garys Tod bei ihm am Bett geblieben war. Ein Zuversicht spenden wollendes Lächeln.

Kurzerhand bekam ich Gewissensbisse, weil ich ihr diese Campingtour aufgezwungen hatte. Auf so etwas wie dies war Mel nun mal nicht geeicht. Sie sträubte sich oft schon davor, Horrorfilme zu sehen, weil sie sich zu sehr fürchtete, und ließ sich nur sehr selten, wenn überhaupt mal, zu gewagten oder gar illegalen Handlungen hinreißen.

Ich nahm ihre Hand in meine und fragte sie: »Erinnert dich das Ganze hier immer noch an einen Zauberwald?«

»Ein bisschen«, antwortete sie. »Mir kommt es aber eher so vor, als seien wir ins Reich der bösen Hexe eingedrungen.«

»Ich weiß, was du damit sagen willst.«

»Worüber hast du gerade nachgedacht? Du warst ja während der letzten fünf Minuten ganz still.«

»Über unsere Reise nach Spanien«, entgegnete ich wahrheitsgemäß. Ich war im Kopf nämlich die dümmsten Dinge durchgegangen, die ich in meinem bisherigen Leben gedreht oder zu drehen versucht hatte. Unter den ersten drei rangierte mein Beschluss im Sommer zuvor, den Caminito del Rey in Spanien zu bewältigen, einen damals noch absolut verfallenen Klettersteg, der nur drei Fuß breit war und dreihundertdreißig Meter über einem Fluss an einer steilen Felswand entlangführte. Dabei leide ich unter Höhenangst. Ging aber irrsinnigerweise davon aus, diese Tour zu bewerkstelligen, trage dazu bei, sie zu überwinden. Als ich allerdings an eine Stelle gelangte, wo der Beton zerbröckelt war und eine weite Lücke klaffte, die lediglich von dünnen Stahlstreben überbrückt worden war, drehte ich mich hastig um und kehrte schnurstracks zu Mel zurück, die so umsichtig gewesen war, es gar nicht erst zu probieren.

»Blauer Himmel, warmes Wetter«, sagte sie jetzt. »Der Urlaub war doch so schön. Hättest du ihn bloß nicht erwähnt.«

»Wärst du jetzt lieber wieder dort?«

»Du meinst als in Japan? Oder lieber dort als in einem verwunschenen Wald?«

Ich hatte eigentlich Letzteres gemeint, behauptete aber nach ihrer Schlussfolgerung trotzdem: »Lieber als in Japan. Wir müssen ja nicht in die USA zurückkehren, aber stattdessen könnten wir uns doch zum Beispiel Stellen in Spanien suchen. Dort werden auch Englischlehrer gebraucht.«

»Das ist nicht so einfach. Die ziehen Briten vor, die bereits einen europäischen Pass haben.«

»Wie wär's dann mit Thailand oder Tschechien? Sogar die Türkei wäre denkbar. Auch dort herrscht ständig Bedarf an Englischlehrern. Das ist der große Vorteil am Lehramt: Man kann überallhin ausscheren und kommt dabei viel herum.«

»Und wie willst du das langfristig machen, Ethan? Wir können doch nicht in der Welt herumreisen, bis wir sechzig sind. Wir müssen doch irgendwann …«

Ich beendete den Satz für sie: »… erwachsen werden.«

»Ja, das meinte ich.«

»Wir sind doch erst sechsundzwanzig.«

»Also eher dreißig als zwanzig.«

»Aber noch näher an fünfundzwanzig als an dreißig.«

»Wie dem auch sei.«

»Wir sind immer noch jung.«

»Wir werden aber älter, und was haben wir dann vorzuweisen? Kein Haus, keine Ersparnisse, keine …« Sie ließ die Worte verklingen. »Und was ist mit Kindern?«

Ich schluckte schwer. Das leidige Thema. In letzter Zeit brachte sie es immer häufiger zur Sprache. Ich wünschte mir durchaus ein oder zwei Kinder … irgendwann einmal. Dreißig kam mir in dieser Hinsicht von jeher wie ein gutes Alter vor, obwohl ich nicht wusste, weshalb ich mich gerade darauf festlegte, mal abgesehen davon, dass es den Beginn eines neuen Lebensjahrzehnts markiert. Vermutlich rechnete ich damit, bis dahin so viel an Reife hinzugewonnen zu haben, um die Vaterrolle übernehmen zu können.

»Willst du denn wirklich schon Kinder?«, fragte ich sie.

»Bald.«

»Aber dafür sind wir doch noch viel zu jung.«

»Jung, jung, jung!«

»Hast du mal überlegt, wie teuer das werden wird?«

»Genauso ist es. Aus diesem Grund will ich ja, dass wir Japan verlassen – wir können nicht einfach wie lange auch immer weiter durch die Lande tingeln, nicht mit den Gehältern, die wir verdienen. Momentan geht es uns gut, weil wir nur uns selbst versorgen müssen, aber wenn ich ein Kind bekäme? Es muss schließlich zur Schule gehen, Kleider und etwas zu essen haben, dann noch Arztkosten … In den Staaten würde ich mich um einen Job beim Bildungsausschuss der Regierung bewerben. Dort gibt es Mutterschaftsurlaub und Zusatzleistungen.«

»Und du wärst in Kalifornien. Ich muss dir ja bestimmt nicht sagen, wie weit es von dort aus nach Wisconsin ist oder? Dann könnte ich auch genauso gut in Japan bleiben.«

»Du könntest doch zu mir nach St. Helena ziehen.«

St. Helena? Ich war sprachlos. Diese Kleinstadt im Napa Valley konnte sich nur damit brüsten, dass Robert Louis Stevenson 1880 frisch verheiratet mit seiner Frau und seinem Stiefsohn dort gewesen war. Der Vorschlag, dorthin umzusiedeln, kam mir heute zum ersten Mal zu Ohren und erwischte mich deshalb auf dem komplett falschen Fuß.

Ich war mittlerweile zu der Einsicht gelangt, dass es vier Arten von Lehrern in Asien gab, die Englisch als Fremdsprache unterrichten. Erstens die jungen Menschen, die ein oder zwei Jahre im Ausland verbringen und ein wenig Geld sparen wollen, bevor sie in ihre Heimat zurückkehren und eine Laufbahn antreten, von der sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr wegkommen. Die zweite Gruppe umfasst diejenigen, die letztlich in Übersee heiraten und dann bis ans Ende ihrer Tage im Exil bleiben, wobei sie eventuell hin und wieder mal nach Hause fliegen, für Hochzeiten oder Beerdigungen beziehungsweise zu gemeinsamen Weihnachtsfesten mit ihren alternden Eltern. Zur dritten Kategorie zählen abenteuerlustige Gemüter, die gewillt sind, höhere Gehälter und Lebensstandards in Japan oder Südkorea für einen lässigeren Wandel in den tropischen Gefilden Südostasiens aufzugeben. Dabei handelt es sich vorwiegend um Männer mit wenig Interesse daran, sich in nächster Zeit oder auch überhaupt jemals fest an eine Frau zu binden. Genauer gesagt hegen viele von ihnen den Traum, sich früh zur Ruhe zu setzen, eine Hütte an einem weißen Sandstrand zu kaufen und danach ihren Lebensabend so zu gestalten, dass sie stets Billigbier zischen können und wechselnde Freundinnen haben, die nur halb so alt sind wie sie selber.

An vierter Stelle stehen wohl die Läufer, deren Bezeichnung sich von ganz allein erklärt: Sie laufen vor irgendetwas davon.

In diese Kategorie passten Mel und ich. Ich flüchtete vor Garys Tod, während sie endlich den Ruf ihrer Familie abschütteln wollte.

Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie in ihrem Abschlussjahr an der Universität von Kalifornien gewesen war. Bald darauf hatte ihre Mutter etwas mit einem anderen Mann angefangen. Kaum dass ihrem Vater dies zu Ohren gekommen war, hatte er sich Zugang ins Haus ihres neuen Mackers verschafft und diesen mit einer Plastiktüte erstickt. Schließlich war er von der Polizei von San Diego, einer Spezialeinheit zur Festnahme Flüchtiger, aufgespürt worden und saß nun mit einer lebenslänglichen Haftstrafe im Staatsgefängnis Corcoran – demselben Drecksloch, wo auch Charles Manson seine letzten Daseinsjahre fristet.

Nach Mels Abgang von der Uni war sie nach St. Helena zurückgekehrt, um bei ihrer Mutter zu bleiben, doch der Mord hatte sich unaufhaltsam in den Köpfen der Stadtbewohner festgesetzt. Andauernd war sie bedrängt worden und schließlich nach einem Monat nach Japan geflohen, um sich dem Ganzen zu entziehen.

Man kann allerdings nicht ewig davonlaufen, und obwohl sie nun deutlich machte, dass sie wieder in die Staaten ziehen wollte, hätte ich mir nie vorstellen können, dass sie damit auch ihre alte Heimatstadt meinte.

Jetzt sah sie mich gespannt an und wartete auf meine Antwort.

»Wir können nicht dorthin zurück«, sagte ich.

Da wurde ihr Blick sofort finster. »Wieso nicht?«

»Das weißt du genau.«

»Das ist doch jetzt schon ewig her. Menschen vergessen.«

»Nicht in Kleinstädten!«

»Ich habe nichts verbrochen.«

»Das spielt dabei keine Rolle.«

»Die Stadt ist wunderschön.«

»Es gibt viele schöne Städte, Mel. Warum gerade St. Helena?«

»Weil meine Mom einsam ist«, erwiderte sie nach kurzem Überlegen. »Ich glaube, sie würde sich wünschen, dass ich wieder in ihrer Nähe bin.«

Ich wurde panisch. »Du willst, dass wir bei deiner Mutter wohnen?«

»Selbstverständlich nicht, aber zumindest in der Nähe. Ich könnte sie dann mehrmals wöchentlich besuchen.«

»Gibt es in St. Helena überhaupt Schulen, wo wir arbeiten könnten?«, fragte ich diplomatisch.

»Denkst du, ich sei zu Hause unterrichtet worden? Die Highschool dort hat eine Schülerzahl von knapp fünfhundert.«

»Und wie hoch stehen die Chancen dafür, dass dort eine Stelle frei ist, geschweige denn gleich zwei?«

»Nachfragen kostet doch schließlich nichts, oder?«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, machte ihn aber gleich wieder zu. Ausgerechnet in diesem Wald und in dieser Situation wollte ich nicht mit Mel streiten, weshalb ich einfach verhalten die Schultern hochzog.

Ihren darauffolgenden Blick konnte ich nicht wirklich deuten. Sie ging schneller weiter und ließ mich hinter sich zurück, woraufhin ich mir die kommenden fünf Jahre in St. Helena ausmalte, umgeben von Flieder, Stiefmütterchen und vielleicht einem wütenden Mob, dem der Sinn nach Lynchjustiz stand.

 

Wir waren mittlerweile mehr als anderthalb Stunden unterwegs, und ich gewöhnte mich gerade an die unterschwellig bedrohliche Fremdartigkeit des Aokigaharas, als der Pfad abrupt vor zwei auf groteske Weise zusammengewachsenen Bäumen endete, die mich gleichzeitig faszinierten und abstießen.

Sie standen eng umschlungen da wie mit sich ringende Schlangen, als hätten sie sich über Jahrzehnte hinweg zum Himmel hochschrauben wollen, nachdem ein anderer Baum umgestürzt war und den Platz freigegeben hatte. Sie verkörperten perfekt den erbarmungslosen Überlebenskampf um jeden Preis, der diesen Wald allerorts prägte, und bestätigten außerdem meinen Eindruck, dies sei ein grausamer, urzeitlicher und unwirtlicher Ort – ein Stück Hölle auf Erden –, selbst für die Flora.

Wie es aussah, hatte jemand auf ungefähr zehn Fuß Höhe einen weißen Pfeil an die beiden Stämme gemalt. Diese zeigten allerdings in entgegengesetzte Richtungen.

»Sind das Wegweiser?«, fragte Mel mit zweifelndem Unterton.

»Ich nehme mal an, die Polizei hat sie gemalt«, meinte Neil, »um andere Routen zu finden.«

»Oder Leichen«, entgegnete ich.

Die anderen schauten mich ernst an.

»Meinst du echt, die führen zu irgendwelchen Toten?«, erwiderte Mel.

»Jetzt vielleicht nicht mehr«, räumte ich ein. »Die Polizei dürfte sie mittlerweile beseitigt haben.«

»Also gut, wo gehen wir entlang?«, fragte John Scott, während er sich eine neue Zigarette ansteckte.

»Ich finde, wir sollten diesen Pfad nicht verlassen«, entgegnete Mel.

»Wir gehen ja nicht weit«, versicherte er ihr.

Ben nickte. »Wir werden uns einfach aufteilen. Die eine Hälfte geht eine Stunde lang links entlang, die andere rechts. Falls eine Gruppe etwas entdeckt, meldet sie sich bei der anderen.«

Mel und ich schauten schnell auf unsere Handydisplays. Wir hatten beide Empfang.

»Und was ist, wenn niemand etwas entdeckt?«, fragte sie.

Ben antwortete gleichmütig: »Dann treffen wir uns in zwei Stunden wieder hier.«

»Dann sind wir uns also einig?«, hakte John Scott nach.

»Ja, Mann«, bestätigte Tomo.

Er nickte Neil zu. »Was denkst du, Dicker?«

Neil schaute geistesabwesend in den Wald hinein. »Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Ich habe ein ungutes Gefühl, was diesen Ort angeht.«

»Klar, er ist ja auch verdammt unheimlich. Wir alle gruseln uns, aber jetzt sind wir schon so weit gekommen, dass wir irgendetwas finden müssen.«

»Mensch, das ist es ja: Ich will ja gar nichts finden.«

»Du möchtest keine Leiche sehen?«

»Wir haben hier nichts zu suchen! Was wir tun, ist nicht in Ordnung, es ist respektlos.«

Mel nickte bestätigend.

»Will noch jemand den Schwanz einziehen?«, fragte John Scott herausfordernd.

Das ärgerte Neil. »Ich ziehe nicht den Schwanz ein.«

»Dann komm doch mit.«

»Ja, Mann«, pflichtete ihm Tomo bei. »Sei kein Feigling.«

Neil warf die Hände hoch. »Ich bin kein Feigling! Und falls ihr zwei dann den Mund haltet, okay, dann komme ich eben mit.«

»Hurra!«, brüllte John Scott wie ein Schwachsinniger. Danach schaute er Mel und mich an.

Wenngleich ich allmählich auch infrage stellte, ob das, was wir hier draußen taten, wirklich rechtens war, hatten die Pfeile zugegebenermaßen tatsächlich meine Neugier geweckt. Außerdem war der Einwand dieses Kerls ja irgendwie berechtigt. Da wir schon einen so weiten Weg zurückgelegt hatten: Warum sollten wir jetzt aufhören? Um herauszufinden, was quasi hinter der letzten Biegung lag, mussten wir nur noch ein kleines Stückchen weitergehen. Anschließend konnten wir ja ein Lager aufschlagen, etwas essen und ein bisschen relaxen, bevor wir tags darauf, mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben, umkehren würden.

Mel erkannte wohl an meinen Augen, dass ich mich festgelegt hatte, und gab widerwillig nach. »Nur noch eine weitere Stunde«, sagte sie, »und dann ist Schluss.«

»Nur noch eine weitere Stunde«, wiederholte Ben lächelnd. »Also gut – Nina und ich, wir gehen links entlang. Wer will uns begleiten?«

»Bin dabei«, antwortete John Scott. Er trat seine Zigarette aus, sagte: »Bis später«, zu uns beiden und machte sich dann auf den Weg wie ein pflichtbewusster Pfadfinder, der sich sein nächstes Leistungsabzeichen verdienen wollte.

Die Israelis winkten zum Abschied und folgten ihm.

»Da waren's nur noch vier …«, meinte Neil leise.

Kapitel 8


»John? Ich bin es. Kannst du mich verstehen?« Mel fragte ihn daraufhin, wie es ihnen auf ihrem Weg ergangen war, hörte kurz zu und hakte dann ein paarmal nach. Er musste sich ständig wiederholen, also schien die Verbindung schlecht zu sein, bevor sie ihm erzählte, dass wir so etwas wie eine Grabstätte gefunden hatten. Sie beschrieb ihm, wie sie zu uns gelangen konnten, und warnte ihn ausdrücklich vor dem Krater, in den sie gefallen war. Während sie von allem berichtete, was sie erlebt hatte, wurde sie zusehends aufgeregter. Schließlich beendete sie das Gespräch.

»Haben sie auch was gefunden?«, fragte ich neugierig.

Sie nickte. »Er erzählte etwas von einem Hundekäfig aus Metall.«

»Was?«

»Ja, eines dieser Dinger zum Tragen, wenn man zum Beispiel zum Tierarzt geht.«

»Steckte noch ein Hund darin?«

»Hab ich nicht gefragt, aber bestimmt nicht. Sonst hätte es John garantiert erwähnt.«

»Warum nimmt denn jemand seinen Hund mit hierher?«, wunderte sich Tomo.

»Weil er nicht allein sterben will?«, vermutete Neil.

»Also so etwas wie erweiterter Selbstmord, nur mit einem Tier?«, fragte Mel.

Ich dachte kurz darüber nach. Hatte die betreffende Person zuerst den Hund und dann sich getötet? Oder war es ihr einfach wichtig gewesen, in ihrer letzten Stunde Gesellschaft zu haben? Streunte nun vielleicht ein wilder Hund durch diesen Wald und ernährte sich von kleinen Nagern, oder vielleicht sogar von Menschenleichen?

Ich verdrängte diese Vorstellung hastig und fragte in die Runde: »Wie dem auch sei, was machen wir denn jetzt? Die brauchen doch mindestens 'ne Stunde, bis sie hier sind.«

»Ich will aber immer noch sehen Kadaver«, meinte Tomo.

Das erstaunte mich. »Ein halbes Grab wie das hier reicht dir noch nicht?«

»Nein, Mann.«

»Dann such halt weiter. Ich ruhe mich in der Zeit lieber hier aus.«

Mel stimmte mir zu: »Ich auch.«

»Neil?«, fuhr Tomo fort. »Willst du mitkommen?«

»Nein, lass mal gut sein, Kumpel.«

»Ach, komm schon. Ich geh nicht allein. Könnte mich verirren, sterben. Dann deine Schuld.«

Neil schüttelte trotzdem den Kopf.

»Bitte, Mann«, quengelte Tomo. »Nur ganz kurz.«

»Ich sagte Nein.«

»Sei doch kein Feigling.«

»Tomo, ich schwöre …«

»Schon gut, schon gut. Aber kommt doch mit, bitte.«

»Nein.«

»Bitte?«

»Ach, Mensch, um Himmels willen, Tomo!«

»Bitte?«

Neil seufzte.

»Also kommst du mit?«, fragte Tomo.

»Bist du dann endlich still?«

»Ich sag nichts mehr.«

Neil bat mich, in der Zeit auf seinen Rucksack aufzupassen, bevor er sich Tomo anschloss und sich gemeinsam mit ihm tiefer in den Wald hinein begab.

»Lass uns doch ein Stückchen dort entlanggehen«, schlug ich Mel vor und nickte in Richtung der Bäume hinter ihr.

Wir entfernten uns ein beträchtliches Stück vom Fundort, legten uns unter eine gewaltige Zeder, wo der Boden flach war, schoben uns die Rucksäcke in den Nacken und schauten zum Blätterdach hinauf.

Eine Zeit lang schwiegen wir. Ich wollte gerne über diese Yumi sprechen, wusste aber nicht so recht, wie ich das Eis brechen oder was ich überhaupt sagen sollte. Dabei ging es mir vor allem darum, nicht zu bagatellisieren, was wir erlebt hatten. Weil dieser mutmaßliche Sterbeort so seltsam aussah – nicht bereinigt, unberührt und mit am Boden verstreuten persönlichen Besitztümern –, hatte ich das Gefühl, meinen Worten ein gewisses moralisches Gewicht verleihen zu müssen.

Mel fragte schließlich: »Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?«

Das traf mich unvorbereitet. »Ja, natürlich. In der Schule.«

»Erinnerst du dich noch an Elise?«

»Ja klar.«

»Sie gehörte deiner Gruppe an.«

»Meiner Gruppe?«

»Du weißt, was ich meine.«

Vermutlich schon. Wie in jedem beruflichen oder gesellschaftlichen Umfeld gab es auch an unserer Schule Cliquen. Eine dieser »Gruppen«, wie Mel sie gerade genannt hatte, bestand aus älteren, verheirateten Lehrern wie Neil, die in der Regel stets unter sich blieben. Männer Anfang dreißig hatten sich ebenfalls zusammengeschlossen. Es waren vier, und sie tauschten sich jeden Tag über ihr ausschweifendes Nachtleben aus: russische Prostituierte, Transvestiten-Bars, Straßenkämpfe mit anderen Ausländern … Sie scherzten gerne, verhielten sich allen anderen gegenüber aber stets freundlich, und ich kam relativ gut mit ihnen aus. Meine Gruppe umfasste Kolleginnen und Kollegen bis Ende zwanzig, die das College gerade erst hinter sich gebracht hatten und ein oder zwei Jahre auf Reisen sein wollten, um etwas von der Welt zu sehen. Abgesehen von mir waren da der Kanadier Derek Miller und drei Frauen: Jennifer, Karen und zuletzt eben auch Elise. Mel hatte sich ebenfalls ab und an zu uns gesellt. Derek hatte sie gemocht; den anderen Frauen passte sie nicht in den Kram.

Die letzte erwähnenswerte Gruppe, falls man sie überhaupt so nennen konnte, stellten die notorischen Einzelgänger dar, also die Sonderlinge und die spießigen Langweiler. Ich schere zwar ungern alle über einen Kamm, doch eine bessere Beschreibung für unsere Mitarbeiter fällt mir leider nicht ein. Brendan Christofferson, auch bekannt als Blade, gab ein gutes Beispiel dafür ab. Im Laufe eines Jahres hatte er die halbe Zeit diesen Spitznamen angenommen: Blade wie in dem Vampirfilm mit Wesley Snipes. In seiner Freizeit trug er oft Hüte oder flocht sich bunte Bänder in seine langen, schwarzen Haare, zog Stiefel mit Plateausohlen an und hängte sich mehr Kettchen an den Körper als Keith Richards. Er sprach extrem tuntig und stank das Lehrerzimmer regelmäßig mit seinem schwarzen Nagellack voll.

Ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz der Englischlehrer in Japan fällt in Brendans Sparte, wahrscheinlich, weil das Land so abgedreht ist, dass man solche Spleens mit Stolz an die große Glocke hängen kann und als Weißer aus dem Westen von den Einheimischen angesehen wird, als sei man ein Wikingergott oder etwas in der Art. Die Hauptfigur eines beliebten Comics hier, der zu dieser Wahrnehmung beiträgt, ist ein dürrer, introvertierter Kanadier, der sich im Zuge seiner Übersiedlung nach Japan prompt in Charisma Man verwandelt, einem Typ vom Schlag Rock Hudsons, dem die Frauen anschließend scharenweise zu Füßen liegen.

»Was ist mit Elise?«, fragte ich gespannt darauf, was Mel mit dieser nostalgischen Anwandlung bezweckte.

»Sie stand auf dich.«

»Ich weiß.«

»Warum hast du nie etwas mit ihr angefangen?«

Dies aus dem Mund der eigenen Lebensgefährtin zu hören war komisch, weshalb ich mich schwertat, ihr eine Antwort darauf zu geben. »Weil …«, begann ich.

»Weil was

»Keine Ahnung. Ich fühlte mich eben nicht zu ihr hingezogen.«

»Wieso nicht? Sie war doch hübsch.«

»Und laut«. Elise stammte aus Australien, genauer gesagt aus einer Provinzstadt im Westen von Queensland, und hatte offenbar keinen Lautstärkeregler. Praktisch alles plärrte sie näselnd mit hundert Dezibel herum, wobei sie ständig die Vokale betonte und in unsäglichem Maße lang zog.

»Unheimlich laut«, stimmte Mel grinsend zu.

»Und?«, fragte ich.

»Was und?«

»Ich lernte dich kennen!«

Obwohl ich ihr nicht ins Gesicht schauen konnte, denn wir lagen immer noch nebeneinander und schauten zu den Wipfeln hinauf, ahnte ich, dass sie lächelte. Dies war offenbar die richtige Antwort gewesen. Dabei machte ich mir aber keinesfalls etwas vor. Ein paar Wochen nach meiner Einstellung war ich montagnachmittags zur Arbeit gekommen und im Lehrerzimmer auf Mel gestoßen. Sie hatte zurückgezogen über einem Buch gebrütet, aus dem sie später unterrichten musste. Ich weiß noch, wie Derek mich am selben Tag zur Seite genommen und auf sie bezogen obszöne Gesten gemacht hatte, was mir rückblickend total surreal vorkommt, weil er mittlerweile zu meinen besten Freunden zählt und ich mit Mel liiert bin.

 

Während der darauffolgenden Tage war ich mit ihr ins Gespräch gekommen, wann immer es sich ergeben hatte – also leider eher selten, weil auch sie neu und deshalb damit beschäftigt war, sich die Lehrbücher, das System und alles andere anzueignen. Elise hatte natürlich sofort bemerkt, wie ich Mel umwarb, und reagierte auf zweierlei Weise: Erstens hörte sie auf, mit mir zu flirten, was sie praktisch ununterbrochen getan hatte, seit wir uns kannten. Zweitens benahm sie sich ihrer Konkurrentin gegenüber reservierter, was so weit ausartete, dass sie sich in den beiden Jahren bis zu Elises Rückkehr nach Australien kaum miteinander unterhielten. Aus diesem Grund passte Mel nie so wirklich in unsere Gruppe.

 

»Sie war eine Zicke«, sagte sie nun.

»Du auch«, erwiderte ich.

»Ich?«

»Weißt du noch, wie ich dich zum ersten Mal gefragt habe, ob wir gemeinsam etwas Trinken gehen könnten? Auf der Zugfahrt nach der Arbeit?«

»Ja, und weiter?«

»Erinnerst du dich noch daran, was du darauf geantwortet hast?«

»Dass ich keinen Schirm dabeihabe.«

»Und was um alles in der Welt sollte das heißen?«

»Es regnete doch.«

»Aber ich wollte ja nicht mit dir picknicken.«

»Ich weiß nicht, ich bin irgendwie in Panik geraten. Das war schließlich in meiner ersten Woche an der Schule. Ich wollte nicht wirken wie … so eine Tussi.«

»Ich dachte, du hättest einen Freund gehabt.«

»Hatte ich ja auch … na ja, so mehr oder weniger. Und du hattest ebenfalls 'ne Freundin.«

»Ich?«

»Jawohl, Shelly MacDonald.«