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Andreas M. Sturm (Hrsg.)

GIFTMORDE 3

WEITERE
TÖDLICHE
ANLEITUNGEN

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1. Auflage, Oktober 2016
Copyright © 2016 by edition krimi, Leipzig
edition krimi
Alle Rechte vorbehalten

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ANLEITUNGEN

Andreas M. Sturm

Vortwort

Andreas M. Sturm

Ritterstern: Kopfgeld

Franziska Steinhauer

Schwarzer Nachtschatten: Das Leid der Anderen

Mario Schubert

Granatapfelbaum: Finish für Fortgeschrittene

Martina Arnold

Bunte Kronwicke: Hamsterbäckchen

Patricia Holland Moritz

Großes Schöllkraut: Die Leidenschaft des Hieronymus Seidel

Petra Steps

Tollkraut: Vom Sterben des Unsterblichen

Regine Curth

Stechpalme: Weihnachten in Familie

Traude Engelmann

Feuerbohne: Todestag

Jan Flieger

Japanischer Schnurbaum: Kokosöhrchens düstere Rache

Frank Kreisler

Amerikanischer Maiapfel: Überlebensmodus

Andreas M. Sturm

Buchsbaum: Nur eine Nuance

David Gray

Afrikanisches Schöngift: Die bleichen Blumen des Bösen

Anne Mehlhorn

Kirschlorbeer: Paranoia

Autoren: Die Giftmischer

VORWORT
DES HERAUSGEBERS

Als ich vor vier Jahren die Herausgeberschaft für die Anthologie ›Giftmorde – 15 tödliche Anleitungen‹ übernahm, hätte ich nicht vermutet, dass diese Entscheidung mein Leben nachhaltig verändern würde. Sollten Sie jetzt mutmaßen, dass die Zahl der mysteriösen Todesfälle in meinem Umfeld stark zugenommen hat, muss ich Sie enttäuschen – es ist einfach nur meine Wahrnehmung, die sich gewandelt hat. Mit wesentlich wacheren Sinnen nehme ich jetzt die Pflanzenwelt um mich her in Augenschein.

Bevor ich begann, mich mit Giftpflanzen zu beschäftigen, konnte ich als Nichtbotaniker zwar die gängigsten Pflanzen namentlich benennen, unterteilte jedoch das restliche Grün in drei Gruppen: Baum, Strauch, Blume. Das hat sich grundlegend geändert. Jetzt bin ich in der Lage, eine Vielzahl der Pflanzen einzuordnen und weiß, ob sie giftig sind, oder nicht.

Oft verblüfft es mich dabei, welch enorme Anzahl von Giftpflanzen wir in unserer nächsten Umgebung kultivieren. Aber eventuell ist es nicht nur die Schönheit der Gewächse, an denen wir uns nicht sattsehen können, sondern vielleicht auch der kleine Kitzel, Todesboten in unserer Nachbarschaft zu wissen.

Mit Sicherheit haben es die Autoren des vorliegenden Buches ebenso gesehen. Sie werden mir zweifellos zustimmen – man kann es deutlich aus den Krimis herauslesen: dieses kleine, abgründige Lächeln, welches beim Schreiben um die Mundwinkel der Autoren gespielt haben muss und das sie in die Geschichten hineingeflochten haben.

Schwarzer Humor kommt somit nicht zu kurz, wenn ein Jugendlicher ein Biologieprojekt mit Hamstern startet, ein Wissenschaftler mit Schöllkraut experimentiert, ein Nachbarschaftskonflikt ausartet oder die Sehnsucht nach dem eigenen Sohn das Raubtier im Mann weckt.

Bei einigen Erzählungen dürfte Ihnen allerdings der Atem stocken. Denn die Folgen einer Paranoia, die Einladung zu einem Weihnachtsessen, die Rache einer betrogenen Ehefrau und die Verwechslung einer Keycard enden in Katastrophen.

Langweilig wird es also nicht werden und so wie es eine Rezensentin zu den Giftmorden 1 bereits treffend formuliert hat, ist es auch bei diesem Band: Wie bei einer Schachtel Pralinen ist hier für jeden Geschmack etwas dabei.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß mit den Geschichten des 3. Bandes der Giftmorde.

Andreas M. Sturm

Andreas M. Sturm

KOPFGELD

Ritterstern

Marathon im Bundesstaat Texas lag breit und träge in der Mittagssonne. Ich hatte schon schlimmere Nester gesehen; begraben werden wollte ich aber nicht in dieser Vierhundertdreißig-Seelen-Gemeinde.

Von den Einwohnern ließ sich keiner blicken, während ich in meinem Van gemächlich die Straße entlangrollte. Konnte ich gut verstehen. Wer setzt schon freiwillig während der heißesten Jahreszeit zur heißesten Stunde des Tages einen Fuß vor die Tür. Die waren alle schlauer als ich. Saßen gemütlich in ihren Häusern, hatten die Klimaanlage auf Anschlag und trieben die Stromrechnung in die Höhe.

Die letzte Nacht hatte ich in Houston verbracht und die Langeweile in einem schäbigen Hotel damit totgeschlagen, alle nötigen und unnötigen Informationen über Marathon aus dem Netz zu fischen. So konnte ich das Navi ignorieren und bog vor Pecos Bank rechts ab.

Keine Meile später verabschiedete sich der Ort. Nur ein paar heruntergekommene Anwesen verunzierten rechts und links den Straßenrand. Dann verschwanden auch die und ich fuhr wieder an dürren Bäumen vorbei, die wie Skelette auf der staubigen Prärie herumstanden.

Fast wäre ich an meinem Ziel vorbeigerauscht. Der billige Diner duckte sich in eine Bodensenke, als schämte er sich seiner armseligen Existenz.

Ich ließ den Van ausrollen und stellte ihn neben den anderen Karossen ab. Kein Windhauch bewegte die Luft, über allem brütete Stille – es war Siesta. Mein Enthusiasmus beim Aussteigen glich dem eines zum Tode Verurteilten, wenn er den ersten Schritt in Richtung Stuhl tat. Und der Wechsel vom klimatisierten Innenraum meines Fahrzeugs in die Gluthitze war noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Die Wagentür war kaum hinter mir zugefallen, da schrien meine Schweißdrüsen laut Hurra und begannen mit ihrer Arbeit.

Bevor ich meinen Fuß in den Iron Mountain Diner setzte, blieb ich stehen und schaute in die Runde. Für die Begegnung, die mich hier erwartete, musste ich mich mit der Örtlichkeit so gut wie möglich vertraut machen. Ich war auf der Jagd und da waren es oft die Kleinigkeiten, die über Leben oder Tod entschieden.

Doch ehe ich überhaupt zu einem klaren Gedanken fähig war, musste ich meinen Körper mit dem Nötigsten versorgen. Fiebrig fischte ich eine Schachtel Glimmstängel aus der Hosentasche, steckte mir die Kippe zwischen die Lippen, ließ mein Feuerzeug schnappen und inhalierte tief. Ich war die fünfhundertsechzig Meilen in einem Stück den U.S. Highway 90 von Houston über San Antonio, Brackettville und Sanderson bis zu diesem gottverlassenen Ort gekutscht. Da ich im Wagen aus Prinzip nicht rauchte, war mein Nikotinspiegel bis weit unter den Gefrierpunkt gerutscht.

So, als wollte ich mir nur die Füße vertreten, schlenderte ich rauchend um den Diner herum. Mit dem Anblick, der mich auf der Rückseite erwartete, hätte ich nie gerechnet. Eine Schar watschelnder Pinguine könnte mich nicht so überraschen wie diese Oase. Eine mit Sicherheit weibliche Hand hatte in dieser dreckigen und staubigen Einöde einen hübschen kleinen Garten angelegt, der so ins Auge stach, wie eine makellose Blondine inmitten eines Rudels besoffener Penner. Für Blumen hab ich nicht viel übrig, aber die über einen halben Meter hohen Pflanzen mit den großen Blüten fand ich recht beeindruckend.

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Wieder vor dem Haus, checkte ich die parkenden Fahrzeuge. Interessant war nur die Harley. Unwillkürlich zuckte meine Hand zum Revolver. Doch ich entspannte mich auf der Stelle. Ich würde um mein linkes Ei wetten, dass das nicht Porters Maschine war. Das Leder des Sitzes war speckig und eingerissen, das Chrom an mehreren Stellen abgeblättert. Ob Porter regelmäßig seine Unterhosen wechselt, dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen, aber seine Harley war auf jeden Fall tipptopp. Ich spuckte verächtlich in den Staub. Das Motorrad gehörte auf jeden Fall einem von den unteren Chargen.

Ich beschloss meinen Erkundungsgang mit einem Blick zur Sonne. Wenn man ein Date mit einem geisteskranken Arschloch wie Porter hat, ist es immer gut, die Sonne im Rücken zu haben. Ich wollte nicht geblendet werden, wenn der Typ einen nervösen Zeigefinger bekam.

Das Innere des Diners war so verlockend wie eine Nutte, die kurz vor der Rente steht. Ein saurer schaler Dunst, bestehend aus Rauch, Alkohol, Schweiß und Einsamkeit, schlug mir entgegen. Die vorsintflutliche Klimaanlage, die mehr Lärm als Kälte produzierte, schaffte es nicht, diesen Gestank ins Freie zu blasen. Der riesige Deckenventilator, der träge vor sich hin schlappte, machte das Kraut auch nicht fett.

Meine Blicke jagten wie eine Maschinengewehrsalve durch den Raum. Jedes Gesicht, jeden Winkel tasteten sie ab. Erst als ich mir sicher war, dass sich Porter nicht unter den Gästen befand, entspannte ich mich.

Außer den üblichen Gewohnheitssäufern und einem schmierigen Rocker in Lederjacke saß nur noch ein einsamer grüner Bengel, Anfang zwanzig mit Fleecejacke und Kapuze auf dem Kopf, vor einem Kaffee. Achtundfünfzig Jahre stromerte ich nun durch die Welt und glaubte, dass ich alles schon einmal gehört oder gesehen hatte. Typen wie der überzeugten mich vom Gegenteil. Im Raum herrschten mindestens fünfundzwanzig Grad und der huschelt sich ein wie ein Arktisforscher.

Ich verkniff mir ein Grinsen und hielt Ausschau nach der Bedienung. Hinter dem Tresen stand keiner. Wahrscheinlich auf dem Klo, vermutete ich und suchte mir schulterzuckend einen Platz mit dem Rücken zur Wand. Von hier hatte ich die Eingangstür und den gesamten Innenraum sehr gut im Blick.

Die Zeit, bis jemand vom Personal aufkreuzte, vertrieb ich mir damit zu rekapitulieren, was für Gründe mich überhaupt in diese Spelunke geführt hatten. Eigentlich war es nur ein Grund: Porter, oder besser die Prämie, die auf seinen Kopf ausgesetzt war.

Porter ist der Kopf einer Outlaw Motorcycle Gang, die sich auf Drogengeschäfte, Schutzgelderpressung und Prostitution spezialisiert hat. Jahrelang betrieben die Jungs ihre Unternehmungen fast ungestört. Den Behörden gelang es nie, sie am Arsch zu kriegen.

Doch Porter wurde übermütig und setzte einen perfiden Plan um, der ihm nach der zweiten Flasche Jim Beam in den Sinn gekommen sein musste. Er täuschte die Entführung der Tochter eines Senatsmitglieds vor und verlangte von diesem ein fettes Lösegeld.

Das Pikante an der Angelegenheit war, dass das Töchterlein freiwillig Daddys Luxusheim den Rücken gekehrt hatte, um mit den wilden Buben jede Menge Spaß zu haben. Da Daddy das nicht wusste, zahlte er brav. Natürlich wollte er im Anschluss das gute Kind wieder in seine Arme schließen. Das aber war der Kleinen absolut nicht recht, sie hatte am freien Rockerleben Gefallen gefunden. Porter jedoch gedachte, sich an den Deal mit dem Senator zu halten. Folgerichtig kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Mädchen und Porter. Porter, ganz Gentlemen, ließ seinen Charme spielen und haute dem aufmüpfigen Gör eine rein. Dumm war nur, dass Porter ein Hüne von einsneunzig und über vierhundert Pfund Lebendgewicht ist. Das zarte Girl hatte keine Chance. Porters Faustschlag brach ihr das Genick.

Jetzt hatten die Behörden endlich einen Grund Porter zu kassieren. Da in Oklahoma auf Mord die Todesstrafe steht – und der Senator setzte sich persönlich dafür ein, dass Porter die auch bekommen würde – zahlte der, ehe es zur Verhandlung kam, seine Kaution und machte sich vom Acker.

An dieser Stelle kam ich ins Spiel. Ich verdiene seit Jahren meine Brötchen als Bounty Hunter. Normalerweise nimmt man als Kopfgeldjäger so einen lukrativen Job gern an. Für die Prämie aber, die auf Porters Ergreifen stand, hätte ich meinen Hintern nicht hingehalten. Porter galt in seinem Umfeld als gefährlich, aber auf der Flucht, mit der Drohung der Giftspritze im Nacken, konnte man ihn mit einem tollwütigen Hund vergleichen.

Lebensmüde bin ich nicht, also lehnte ich den Job ab. Erst ein Anruf des Senators bewirkte meinen Sinneswandel. Er bot mir zusätzlich zur Prämie fünfzig Riesen. Diese Summe reichte aus, meine Rückstände zu begleichen, ein Jahr lang ohne Druck zu arbeiten und ich könnte sogar noch etwas Geld auf die hohe Kante legen. Man wird schließlich nicht jünger.

Diese Aussicht bewirkte, dass ich mich mit Feuereifer auf die Jagd begab. Monatelang trieb ich mich in stinkenden Rockerkneipen herum, saß unzählige Stunden vor dem Computer, aber es wollte mir einfach nicht gelingen, den Stein zu finden, unter dem Porter sich verkrochen hatte. Was konnte ich anderes erwarten? Porter ist clever, hat Geld und viele Freunde. Da ich nicht den blassesten Schimmer hatte, in welchem Bundesstaat er sich überhaupt versteckte, war ich nahe dran, die fünfzig Riesen abzuschreiben.

Erst eine anonyme E-Mail, die vor acht Tagen in meinem Postfach auftauchte, brachte Bewegung in die Sache. Im Normalfall vertraue ich solchen Hinweisen genauso wie einem Wanderprediger, der mir das Heil des Herrn verspricht und gleichzeitig die Hand aufhält. Doch weil ich auf das Geld scharf war, redete ich mir ein, dass der Tippgeber eine offene Rechnung mit Porter hat und diesem eine reinwürgen will.

So dämlich, einfach nach Texas zu düsen war ich natürlich nicht. Ich peilte die Lage und fand heraus, dass ein Ableger von Porters Biker Gang in der Gegend um Houston sein Revier hat. Dieses riesige Gebiet abzusuchen hätte selbst eine Division Texas Ranger vor Probleme gestellt. Zu meinem Glück war der Mail-Schreiber präzise gewesen und hatte den Iron Mountain Diner als den Ort bezeichnet, an dem sich Porter regelmäßig sehen ließ.

So war ich in Marathon gelandet, um Porter hoppzunehmen.

Da immer noch keine Bedienung in Sicht war, holte ich mein Tablet heraus, um den schmierigen Typen in der Lederjacke zu überprüfen. Seine ganze Erscheinung wies eindeutig in Richtung Biker Gang. Kaum hatte ich eine Suche angestoßen, drängte sich eine schlanke, gebräunte Frauenhand in mein Sichtfeld, die eine Karte auf den Tisch legte. Ich war mir hundertpro sicher, dass es diese Finger waren, die die Pflanzen hinter dem Diner pflegten.

Mein Blick löste sich von dem Zehn-Zoll-Display und ich wurde augenblicklich dafür belohnt. Die Frau, die mich aus blauen Augen anlächelte, übertraf sämtliche Nutten, mit denen ich in den letzten Jahren hatte vorlieb nehmen müssen, um Längen. Zwar war sie nicht mehr so jung wie die Professionellen, aber dafür wesentlich appetitlicher.

Ihr kehliges Lachen verriet mir, dass ich sie ziemlich dümmlich anstarren musste. Ich war aber auch total perplex. Nie hätte ich vermutet, in dieser Einöde meiner Traumfrau über den Weg zu laufen.

»Was möchten Sie trinken, Sir?«

Die Stimme hielt, was ihr Anblick versprochen hatte. Warm, sanft und rauchig schmeichelte sie sich in meine Ohren. Mein Gott, mit dieser Stimme könnte sie problemlos zweitausend Jahre alte Mumien zurück ins Leben holen.

»Ei… ein Bierchen, Ma’am.« Noch nie in meinem Leben hatte ich gestottert. Das war eine Premiere.

»Kommt sofort.«

Der Blick, den sie mir zuwarf, hätte einen Gletscher in null Komma nichts zum Schmelzen gebracht. Mit heruntergeklappter Kinnlade sah ich ihrer Kehrseite hinterher. Ihr Knackarsch wippte beim Gehen so aufregend, dass ich fast einen Herzkasper bekam. Ich hatte keine Ahnung, was ich anstellen musste, um bei der Zaubermaus zu landen, aber ich würde es herausfinden.

Doch ich durfte mich nicht zu sehr ablenken lassen. Ich hatte einen Job zu erledigen und wollte dabei gern am Leben bleiben.

Um meinen Puls herunterzufahren, setzte ich die unterbrochene Suche nach dem ungewaschenen Kerl fort. Da seine bösartige Rattenvisage ein ziemliches Unikat war, fand ich ihn schnell. Ray Duggan, Spitzname Wiesel. Na, wenn das nicht passte wie die Faust aufs Auge, will ich in Zukunft auch so eine bescheuerte Visage wie Ray in der Gegend spazieren tragen.

Rays Akte gab weit mehr her als nur seinen Spitznamen. Er ist stolzes Mitglied in derselben Rocker Gang wie Porter. Na, wenn das kein Wink des Schicksals war. Vielleicht hatte sogar Ray die anonyme Mail an mich geschrieben. Aber ganz egal, ob er ein kleiner Intrigant oder Porters Stiefelputzer war, Ray würde reden.

Ein unbescholtener Bürger war Ray nicht. Er hatte mehr auf dem Kerbholz als mancher Gewohnheitsverbrecher. Körperverletzung, diverse Verstöße gegen die Drogengesetze, Einbruch und eine ganze Latte an Sittlichkeitsdelikten. Ich sah zu ihm hinüber. Das passte. Wenn einer so aussah und so auf sein Äußeres hielt, musste er Gewalt anwenden, um eine Frau davon zu überzeugen, mit ihm ins Bett zu gehen.

Trotz seiner Hobbys war Ray nur eine kleine miese Ratte. Eine Fangprämie war nicht auf ihn ausgesetzt. Aber ich hätte ihn auch so links liegen gelassen, denn heute wollte ich den ganz dicken Fisch fangen.

Das erneute Auftauchen der Bedienung katapultierte Ray aus meinen Gedanken. War bereits der Anblick ihrer Rückseite eine Offenbarung gewesen, so wurde mir jetzt der Mund staubtrocken, als die Süße hüftschwingend auf mich zusteuerte. Sie war nicht groß, aber so super gebaut, dass meine Hose im Schritt auf einmal zwei Nummern zu klein war. Beim Servieren schenkte mir diese Wahnsinnsfee ein Lächeln, welches mich stutzen ließ. Da war weit mehr herauszulesen, als nur die routinierte Freundlichkeit einer Bedienung. Es war eindeutig ein Lockruf, der mir da aus ihren Augen entgegenblitzte.

Ich bedankte mich für das Bier, kratzte all meinen Mut zusammen und fragte sie nach ihrem Namen.

Keine Spur von Ziererei. »Rachel«, sagte sie einfach.

In dem Augenblick, als ich nach meinem Glas griff, wollte Rachel etwas auf dem Tisch ordnen. Wie zufällig berührten sich unsere Hände. Der kurze Kontakt mit ihrer Haut jagte einen Blitz durch meinen Körper. Vollkommen willenlos schaute ich ihr tief in die Augen. Sie erwiderte meinen Blick mit einer Intensität, die mir den Atem verschlug. Das Leuchten in diesen himmelblauen Tiefen war eindeutig. Die Berührung war kein Zufall gewesen.

Rachels Frage nach dem Essen klang beiläufig, doch der verführerische Klang ihrer Stimme war unmissverständlich.

Mühsam riss ich mich zusammen und versuchte einen normalen Gedanken zu fassen. Obwohl der Hunger in meinem Magen wühlte, verschob ich das Essen auf später. Ehe die Angelegenheit mit Porter nicht geklärt war, würde ich vor Anspannung keinen Bissen runterkriegen.

Ich bedankte mich bei Rachel und bestellte noch ein Bier. Der Alkohol würde meine Nerven entspannen.

Nur mit Aufbietung aller Kraft gelang es mir, Rachel aus meinen Gedanken zu verscheuchen. Meine Aufgabe hatte Vorrang. Wenn ich bei Porter versagte, wäre ich tot und als Leiche hätte ich nicht mehr viel von dieser Bombenfrau.

Das schabende Geräusch von Rays Stuhl auf dem Dielenboden schreckte mich auf. Er erhob sich, rülpste und lief mit leichter Schlagseite zum Klo.

Ich hinterher.

Erfreut stellte ich fest, dass er nicht nur im Sitzen mickrig aussah. Da gab es nichts an dem Mann, was er mir entgegensetzen konnte. Ich bin zwei Köpfe größer und doppelt so breit. Und es war kein Fett, was mein Hemd füllte. Ich hielt mich fit. Das musste ich, schon wegen meines Jobs. Manchmal rannten die Bad Guys einfach weg, wenn ich sie einkassieren wollte, tja und dann musste ich eben schneller sein. Einige von ihnen begnügten sich nicht mit weglaufen, sie wollten, dass ich auf der Strecke blieb. Da war es von Vorteil groß, schnell und stark zu sein.

Ich wartete vor der Kabine auf Ray. Sollte der erst mal sein Geschäft beenden, nicht dass er mich noch vollsaut.

Das Ferkel zog nicht mal, als er fertig war. Dümmlich grinsend verließ er, die Hose hochziehend, den Verschlag. Hände waschen schien auch nicht sein Ding zu sein, er wollte sofort wieder in Richtung Gastraum verschwinden.

Bis zur Tür kam er nicht. Ich packte ihn am Kragen und knallte ihn gegen die Wand.

»Du wirst mir jetzt erzählen, wo ich Porter finde.« Es wollte mir nicht gelingen, den Ekel aus meiner Stimme zu filtern.

Ray versuchte loszukommen, hatte jedoch keine Chance. »Ich kenne keinen Porter«, zeterte er trotzig und zerrte weiter an meinem Arm.

Ich drückte ein bisschen fester. »Du hast die Wahl. Es kann schmerzlos sein oder eben nicht.«

»Lassen Sie mich los, sonst ruf ich die Bullen.«

Nette Vorstellung. Ich gestattete mir ein kurzes Grinsen, dann setzte ich ihm blitzschnell meine Faust in den Magen. Ray riss den Mund auf, wie ein Karpfen auf dem Trockenen, brachte aber weder ein Stöhnen noch einen Atemzug heraus. Ich nahm die Hand von seinem Hals und sah zu, wie er in den Knien einknickte und es sich dann auf den Fliesen bequem machte. Seine Augäpfel drifteten nach oben weg und mit einem pfeifenden Schnaufer verabschiedete sich sein Geist.

Ich beugte mich zu dem hässlichen Häufchen Mensch und filzte seine Kutte. Dabei förderte ich eine Kanone und ein Handy ans Tageslicht. Ich steckte die Knarre ein und checkte anschließend sein Telefonverzeichnis. Unter P gleich nach einer Pearl stand Porters Name.

Ein Seufzen unter mir signalisierte Rays Rückkehr in die Welt der Munteren. Der Tritt meines Stiefels beschleunigte seine Wiederkehr.

Er legte die großspurige Masche ab und machte auf Mitleid. »Ich hab Ihnen nichts getan, was wollen Sie eigentlich von mir?«

Da kam er an den Falschen. Ich bin ein harter Mann und weniger gefühlsbetont als andere Menschen. Für mich zählt nur der Erfolg und die damit verbundene Prämie. Man muss leben.

Seine Hand, die sich langsam unter die Lederjacke stahl, sagte mir, dass seine Mätzchen nur Theater waren. Ich richtete seinen eigenen Colt auf ihn und Rays Finger erstarrten in der Bewegung, als ich den Hahn spannte.

Er wurde blass. »Oh Gott«, wimmerte er. »Oh mein Gott!«

»Den triffst du schneller als dir lieb ist, wenn du nicht endlich redest.«

»Ich hab es Ihnen schon gesagt, ich kenne keinen Porter.«

Wortlos hielt ich ihm sein Telefon vor die Nase.

»Scheiße«, murmelte er und schloss die Augen.

So kam ich nicht weiter. Ich musste ihm zeigen, wie ernst es mir war. Meine Hand packte seinen kleinen Finger, ein kurzer Ruck und Ray jaulte schrill auf.

»Wenn du nicht sofort ausspuckst, wo ich Porter finde, breche ich dir die anderen Finger auch noch.«

Zischend zog Ray die Luft ein. »Porter ist ein knallharter Typ, Mann. Wenn der rauskriegt, dass ich ihn verpfiffen hab, legt er mich um.«

»Nicht, wenn ich ihn in die Finger kriege.« Ich sagte das nicht nur so dahin. Es war mir todernst damit. Der Senator hatte sich deutlich ausgedrückt. Ihm war es egal, ob ich Porter lebend ablieferte und er die Spritze bekam oder ob ich ihn gleich an Ort und Stelle abservierte. Im letzten Fall bestand er allerdings auf einem Foto. Konnte ich ihm nicht verübeln nach den Erfahrungen, die er gemacht hatte.

Ich griff erneut nach Rays Hand, die Sache musste ein Ende finden.

»Nicht!« Ray quiekte wie eine angestochene Sau. Dann sprudelten die Worte aus ihm raus, wie Bier aus einer geschüttelten Büchse.

Wo Porters Versteck war, wusste Ray nicht, aber er rückte damit heraus, dass sich Porter fast jeden Abend hier im Diner einfand. Das genügte mir, nun musste ich den Kotzbrocken nur noch ruhigstellen, damit er mir nicht in die Quere kam.

Ein leises Knarren ließ mich herumfahren. Rachel hatte die Tür aufgeschoben und schaute durch den Spalt auf die besinnliche Szene in der Toilette. »Ich weiß nicht, was Sie für’n Problem mit dem Kerl haben, aber ich schaue ganz bestimmt in die andere Richtung, wenn Sie ihn umlegen.«

Ich spürte, wie sich mein Gesicht zur Grimasse verzog. Gute Erfahrungen hatte Rachel mit Ray und seinen Kumpanen bestimmt nicht gemacht.

Ihre nächsten Worte bestätigten meine Vermutung. »Seit das Ekel hier aufgetaucht ist, macht er mich fortwährend an, und zwar auf die widerliche Tour.«

Ray holte Luft und wollte etwas sagen, aber mein Blick ließ ihn verstummen. Böse schaute er zu Rachel hin und das schmierige Funkeln in seinen Augen verriet mir, dass er zu der Sorte von Feiglingen gehörte, die gern Frauen schlagen.

Ray hatte verdient, was jetzt geschah. Noch bevor er schnallte, was ihm blühte, packte ich ihn am Kragen, riss ihn in die Höhe und haute ihm eine rein, dass er auf der Stelle abtrat.

Mitten im Weg liegen lassen konnte ich ihn schlecht, also zerrte ich ihn in eine Kabine. Von da bat ich Rachel, mir meine Tasche aus dem Gastraum zu holen. Die Frau war nicht nur bildhübsch, sondern auch flink. Im Handumdrehen war sie wieder da und reichte mir das Gewünschte.

In meinem Job ist es erforderlich, die nötigen Utensilien mit sich herumzuschleppen. Ich opferte mehrere Kabelbinder, um Ray so fest zu verschnüren, dass er sich nicht mal mehr herumwälzen konnte. Für seine akustische Ruhestellung sorgte das extra starke Gewebeband mit Kautschukkleber. Damit kann man sogar einem Grizzly die Schnauze versiegeln.

»Ist nicht persönlich«, sagte ich höhnisch und gab Ray zum Abschied einen Tritt.

Ich hatte die Klinke noch nicht in der Hand, da stand schon Rachel neben mir, verschloss die Kabinentür mit einem Vierkant von außen und zog ein Schild mit der Aufschrift Out Of Order unter ihrem Shirt hervor.

Nachdem sie den Hinweis an die Tür gehängt hatte, zwinkerte sie mir zu. »Wenn ich das richtig verstanden habe, wartest du auf Porter. Der kreuzt frühestens in zwei Stunden hier auf. Da hast du genügend Zeit zum Essen, sonst fällst du mir noch um … Ach und danke, dass du mir die Schweine vom Hals schaffst.«

Ehe ich antworten konnte, war sie verschwunden. Verwundert kniff ich die Augen zusammen. Mit so einer cleveren Komplizin hätte ich nie gerechnet.

Ich trat ans Waschbecken und wusch mir gründlich die Hände. Ray stand vor Dreck und ich hatte ihn angefasst.

Im Gastraum steuerte ich zielstrebig zu meinem Platz. Keiner der Anwesenden hob den Kopf. Entweder sie hatten nichts bemerkt oder hatten gelernt, dass es gesünder ist, sich blind und taub zu stellen.

Ich hatte mich kaum gesetzt, da erschien Rachel mit zwei riesigen Portionen frischem Salat und setzte sich zu mir.

Sie bemerkte meinen kritischen Blick, kicherte und sagte: »Zier dich nicht. Salat ist gesund – auch für harte Männer.« Die Art, wie sie das Wort hart betonte, war mehr als eindeutig.

Gemeinsam mit ihr aß ich brav alles auf. Das Grünzeug schmeckte nicht mal schlecht. Frischer Salat, Mais und jede Menge Zwiebeln.

Der Hauptgang aber sagte mir mehr zu. Bohneneintopf mit viel Speck und Zwiebeln. Ausgehungert wie ich war, schlang ich alles herunter. Es war lecker und Rachel schien mein Kompliment ehrlich zu freuen. Das Besondere an ihrem Bohnentopf seien die frischen Zwiebeln, das gäbe den pikanten Geschmack, versicherte sie mir kauend.

»Da schwebt heut Nacht die Bettdecke«, erklärte ich, öffnete durstig eine neue Flasche Bier und lehnte mich satt und zufrieden zurück.

Rachel prustete los. Humor hatte sie also auch noch. Wie perfekt kann ein Mensch eigentlich sein?

Nachdem sie sich beruhigt hatte, stand sie auf, um sich um die inzwischen angefallenen Bestellungen der übrigen Gäste zu kümmern.

Ich guckte eine geraume Weile Löcher in die Luft und gerade als ich überlegte, ob ich noch ein Bier vertragen könnte, kam Rachel wieder an meinem Tisch vorbei und flüsterte in mein Ohr: »Die sind jetzt alle versorgt. Ich warte oben auf dich.«

Vollkommen verdattert starrte ich ihr hinterher. All meine Strategien, sie rumzukriegen, hatte ich umsonst geschmiedet. Die Frau verblüffte mich immer wieder aufs Neue. Ich wollte hoch und ihr hinterhereilen, aber ganz so schnell, wie ich es wollte, kam ich nicht voran. Scheiße, fuhr es mir durch den Kopf. War wohl ein Bier zu viel.

Kurz zuckte der Gedanke an Porter durch mein benebeltes Gehirn, aber ich tat ihn ab. Der Donnerhall einer vorfahrenden und entsprechend frisierten Harley würde mich rechtzeitig alarmieren.

Das Treppensteigen fiel mir schwer und ich musste mich am Geländer abstützen. Im ersten Stock angekommen, schüttelte ich benommen den Kopf. Verdammt, ich werde langsam zu alt für diesen Job. Das ständige Rumreisen zehrte an der Substanz.

Rachels Anblick brachte mein Blut wieder in Wallung. Verführerisch lächelnd stand sie vor einer offenen Tür und blinzelte mir zu.

Ich hatte nur ein Problem: Meine Beine wollten mir nicht mehr gehorchen. Sie fühlten sich an, als seien sie nicht mehr Teil meines Körpers. Wie ein besoffener Waschbär tappte ich ins Zimmer, schaffte es mit Mühe und Not bis zum Bett und krachte hinein. Kaum lag ich, wurde mir speiübel. Mit letzter Kraft stemmte ich mich mühsam auf die Seite und reiherte neben das Bett.

Mein Gott, was für eine Scheiße. Da bekomme ich einmal im Leben so eine Klassefrau angeboten und statt sie mir ordentlich vorzunehmen, kotze ich ihr in die gute Stube. Ich bündelte meine letzten Reserven, versuchte einen treuen Hundeblick aufzusetzen, wollte mich bei Rachel entschuldigen, doch der Ausdruck ihrer Augen würgte mein Gestammel bereits im Ansatz ab.

Die ganze Wärme war aus ihren Augen verschwunden. Eiskalt fixierte sie mich. »Bei den vielen Prämien, die du in den letzten zwanzig Jahren kassiert hast, erinnerst du dich bestimmt nicht mehr an Joey.«

Auf einmal hatte ich das Gefühl vor einem Tribunal zu stehen.

»Joey war mein Mann. Sein einziges Verbrechen bestand darin, dass er sich den falschen Bruder ausgesucht hatte.« Rachels Stimme war ruhig, aber unerbittlich. »Außer dass sie dieselbe Mutter hatten, hatte Joey mit Mike nichts gemein. Er hatte keinen blassen Schimmer, dass Mike bei einem Raubüberfall einen Apotheker abgeknallt hatte und sich auf der Flucht befand. Naiv und gutmütig, wie mein Joey nun mal gewesen war, freute er sich noch, als Mike bei uns auftauchte. Mike blieb nur über Nacht, dann verpisste er sich wieder. Mit Mike verschwanden auch Joeys Papiere, dafür standest du dann auf der Matte. Hattest einen Tipp bekommen. Du hast Joey keine Chance gegeben. Hast ihm kein Wort geglaubt, als er dir gesagt hat, dass du den Falschen hast. Mikes Ausweis in Joeys Tasche und die Ähnlichkeit der beiden Brüder waren für dich Beweis genug. Dir war nur die Prämie wichtig. Ob es einen Unschuldigen trifft, ging dir am Arsch vorbei.«

Trotz meiner Benommenheit stießen Rachels Worte eine längst vergessene Tür in meinem Gedächtnis auf. Ich erinnerte mich dunkel, auch an die Frau. Jetzt trug sie die Haare kurz und goldblond, damals waren sie lang und schwarz. Es waren einfach zu viele Gesichter in all den Jahren gewesen.

Fast fröhlich fuhr Rachel fort: »Du hast bestimmt den jungen Burschen unten gesehen, meinen Sohn, Little Joey. Er kennt sich prima mit Computern und dem ganzen Zeug aus. Wir beobachten dich schon lange und haben nur auf eine Gelegenheit gewartet. Über Porters Fall stand genügend in den Zeitungen und als der hier sein erstes Bier trank, wussten wir, dass das göttliche Fügung war. Die Mail hat dir Little Joey geschickt. Aber diesmal bekommst du die Prämie nicht.«

Sie trat ganz nah an das Bett heran. »Es waren nicht nur Gemüsezwiebeln in deinem Essen, ’ne ganze Menge stammt von dem Ritterstern, der hinterm Haus wächst. Hast du bei deiner Runde bestimmt gesehen. Ich hab ihn extra für dich gezüchtet.«

Langsam dämmerte mir der Inhalt ihrer Worte. Ich spannte alle Muskeln an, um aus dem verdammten Bett rauszukommen, doch meine Glieder waren völlig taub und nutzlos. Mir blieb nichts als liegen zu bleiben und ihr weiter zuzuhören.

Rachel zog einen Stuhl ans Bett, setzte sich und lächelte bitter. »Joey war ’n hübscher Boy. Zu hübsch. Im Knast hab’n ihm die richtig schweren Jungs den Arsch aufgerissen. Das hat er nicht verkraftet und sich mit einer Glasscherbe den Lebenssaft abgeschöpft. Im Vergleich dazu ist dein Abgang richtig gemütlich. Heute Abend bringen wir deine Leiche in die Prärie, Ray wird dich begleiten. Zeugen kann ich nicht gebrauchen und den wird keiner vermissen.«

Sie lächelte kalt, als sie hinzufügte: »Allein seid ihr zwei da nicht. Mike wartet schon fünf Jahre auf euch. Wenn irgendwann irgendwer eure Knochen findet, dann wird man vermuten, dass ihr drei Wanderer wart, die nicht genügend Wasser mithatten. Das Land hier hat schon manchen gefressen.«

Sie erhob sich, ließ ihren Blick noch mal über mich gleiten, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Erneut versuchte ich hochzukommen und wieder gelang es mir nicht. Vielleicht, wenn ich einfach ganz ruhig liegen blieb, baut mein Körper das Gift ab und ich komme durch. Das irritierende Stolpern meines Herzschlags weckte allerdings Zweifel in mir.

Das Letzte, was ich bewusst wahrnahm, war das tiefe Brummen von Porters Harley.

Franziska Steinhauer

DAS LEID DER ANDEREN

Schwarzer Nachtschatten

Lieber Peter,

nun haben wir schon lange nichts mehr voneinander gehört.

Aber ich habe beschlossen, das zu ändern.

Die letzten Jahre waren ziemlich langweilig, es ist einfach nicht mehr viel passiert. Die Kinder sind mir entwachsen, der Große lebt in Australien. Weit weg von mir, als hätte ich mich nicht immer aufopferungsvoll um ihn gekümmert. Merle ist noch geblieben. Obwohl das so auch nicht ist. Man müsste richtiger sagen, dass sie wieder zurückgekommen ist.

Verheiratet ist sie. Mit Peer.

Tja, die Kinder eben.

Und seit Jürgen endlich gestorben ist … Ein einziges Theater.

Ich selbst kümmere mich um meinen Freundeskreis. Wir sind nun auch nicht mehr die Jüngsten, Krankheiten stellen sich ein, die eine oder andere ist auch pflegebedürftig. Die Kinder kümmern sich heute ja nicht um die Alten! Ist eine Schande. Und so springen die Freunde ein, gehen einkaufen, putzen durch, versorgen die Katze, gehen mit dem Hund vor die Tür.

Seit Merle ihre kleine Sofie hat, besucht sie mich kaum noch. Ist mit dem Kind völlig ausgelastet. Peer arbeitet, sie hat so etwas wie eine Babypause genommen.

Die Kleine ist ein wahrer Sonnenschein.

Lacht viel, ist zufrieden. Eben ein Wonneproppen.

Und sonst?

Nicht viel.

Ich besuche Jürgens Grab, halte es in Ordnung, setze seine Lieblingsblüher im Frühling, nehme sie im Herbst wieder raus. Zu mir nach Hause nehme ich sie nicht mit. Ich konnte die Dinger nie wirklich leiden. Sein Grab ist das einzige, auf dem Stechapfel wächst, neben Pfaffenhütchen und Nachtschatten. Ich musste seine ›Parzelle‹ extra einzäunen, damit nicht irgendein Kind davon probiert und womöglich das Zeug nicht verträgt. Er war von jeher ein Sonderling. Als sein Geist sich verwirrte, wollte er mich sogar in die Psychiatrie einweisen lassen! Hat natürlich nicht geklappt. Ohne mich wäre er zu dieser Zeit auch längst nicht mehr klargekommen. Demenz ist eine schlimme Sache. Halluzinationen. Oft hat er um Hilfe geschrien, weil er dachte, es sei jemand mit bösen Absichten im Haus! Oder er ist im Schlafanzug durchs Dorf gelaufen und hat behauptet, jemand wolle ihn töten, er habe es gerade noch geschafft zu fliehen.

Mein Blütenorakel habe ich wieder aufgenommen.

Du weißt ja, ich konnte ganz gut damit in die Zukunft sehen.

Deshalb ist mir klar, dass jede Menge Ärger ins Haus steht.

Bis morgen!

»Plötzlicher Kindstod. Es tut mir sehr leid«, verkündete der Hausarzt, den Merle schon seit ihrer eigenen Kindheit Onkel Paul nannte, und stellte den Totenschein aus. »Ich konnte nichts mehr für deine Tochter tun.«

Merle starrte ihn ungläubig an.

»Das ist doch nicht wahr! Meine Süße war völlig gesund. Ein bisschen den Magen verdorben. Wie das bei Krabbelkindern eben so passiert. Als ich sie zum Schlafen hingelegt habe, war alles in Ordnung.«

»Ich kann dich gut verstehen. Es tut mir wirklich leid. Die Ursachen für diesen plötzlichen Tod liegen noch weitgehend im Dunkel – es gibt allerdings viele Theorien dazu. Ein schrecklicher Schlag des Schicksals – ich weiß, dass du deinem Liebling alles gegeben hast.«

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Merle wartete auf Tränen. Doch die wollten nicht fließen.

Ein dunkler Verdacht keimte in ihr auf.

»Ich kann das nicht glauben!«, trotzte sie folgerichtig.

»Manchmal sehen wir eine familiäre Häufung – aber eben nur in manchen Fällen, in anderen nicht. Und aus der Anamnese erkenne ich, dass auch dein eigener Start ins Leben schwierig war. Schon kurz nach der Geburt erlittest du einen Atemstillstand, immer wieder musstest du stationär behandelt werden. Erbrechen, unklare Fieberschübe.«

»Ich kann das nicht glauben!«, wiederholte die schockierte Mutter.

Der Arzt schloss Merle fest in seine Arme. »Ach, meine arme Kleine«, murmelte er. »Ich rufe deine Mutter an, sie wird dir beistehen.«

Sofie sah aus, als schliefe sie.

Fest, satt und traumlos. Als könne sie jeden Moment die Augen öffnen und ihre Mama mit diesem glücklichen Leuchten in den Augen ansehen.

Doch als sie die Hand ihrer Tochter berührte, spürte sie nur Kälte.

An jenem Tag konnte sie das Bestattungsinstitut nicht allein verlassen.

Ihr Mann und ihre Mutter stützten die junge Frau, für die sich die strahlende, leichte Zukunft plötzlich schwarz verfärbt hatte und als untragbare Last auf ihren Schultern lag.

Dabei waren die Eheleute so begeistert ins Familienleben gestartet. Eine wunderbar problemlose Schwangerschaft, eine rosige, süße Tochter – alles auf den Punkt sozusagen. Das Glück der Eltern perfekt. Die Großmütter stolz.

Und nun hatte ein widerwärtiges Schicksal die Sonne ausgeknipst.

Merle brauchte therapeutische Unterstützung.

Eine Zeit lang fürchtete Peer, er könne auch noch Witwer werden und müsse fortan die beiden wichtigsten Frauen seines erwachsenen Lebens auf dem Friedhof besuchen.

Es dauerte Monate.

Merle begann zaghaft, ein wenig Bunt unter die schwarze Kleidung zu mischen.

Peer hatte seine eigene Verarbeitungsstrategie gefunden. Sport.

Er ging Laufen – fand eine ausgesprochen attraktive weibliche Mitläuferin – in mancher Woche schaffte er 60 Kilometer. Seiner Fitness tat das gut, seiner Ausstrahlung ebenfalls – Merles Stimmung eher weniger, denn nun ließ er sie nicht nur tagsüber mit ihrer Trauer allein, sondern auch noch in den frühen Abendstunden und am Wochenende.

Nicht nur mit ihrer Trauer, auch mit ihrem Verdacht.

War da mehr als nur gemeinsames Laufen?

Weil ihm seine Frau in ihrer Depression zuwider war?

Und wie konnte Peer nur so widerlich fröhlich sein, sogar unter der Dusche singen?

Wo doch ihr Sonnenschein tot in einem Grab lag?

Hatte ihm die kleine Tochter am Ende gar nichts bedeutet – war etwas, das ersetzt werden konnte? Eine neue Frau und ein neues Kind. Eine andere Familie. Keine quälenden Erinnerungen, keine endlosen Stunden mehr mit der freudlosen Merle.

Kam er deshalb fast nie mit auf den Friedhof? Weil der Tod der Tochter nichts bedeutete?

Und manchmal mischte sich ein anderer beunruhigender Gedanke unter all die anderen: Hatte Peer etwas mit Sofies Tod zu tun? Hatte er, während sie selbst schlief, ihr gemeinsames Kind …? Eine grausige Vorstellung, quälend und möglicherweise ungerecht.

Merle wusste nicht, was sie glauben sollte.

Es war eine schwierige Zeit.

Ihre eigene Mutter, Gundula, keine echte Hilfe.

Die Großmutter betrauerte das verlorene Enkelkind fast noch mehr als Merle selbst. Wenn das überhaupt möglich war. Natürlich konnte sie das verstehen. Ein Stück weit zumindest. Sie, die einzige Tochter, hatte ihr das ersehnte Enkelkind geschenkt – und nun war es gestorben. Die zeitliche Zukunft der Großmutter begrenzt. Ihre Sorge, es könne nun gar keinen weiteren Nachkommen geben, nicht ganz von der Hand zu weisen. Gerade auch bei dem momentanen Zustand der Ehe ihrer Tochter mit Peer.

Merle besuchte ihr Kind jeden Tag. Gleich nach dem Frühstück. Das wurde ihr zum Ritual. Erzählte Sofie von dem, was für den jeweiligen Tag anstand. Aufregend war es nicht. Nie. Die Krankschreibung ersparte ihr das Mitleid der Kollegen und so blieb der übliche Hausfrauenalltag, den sie nur schwer bewältigen konnte. Stundenlang saß sie vor der Tür zum Garten und starrte blicklos auf den Rasen, auf dem Sofie nun ihre ersten Gehversuche hätte machen sollen.

Das Dorf sprach inzwischen von Schicksal.

Erwartete Haltung.

Man tuschelte laut darüber, dass man an solchen Herausforderungen im Leben auch wachsen könne, wenn man nur wolle. Trauer nach gewisser Zeit überwunden werden sollte.

Schließlich sei die Familie jung, man müsse das Leben wieder entschlossen in die Hände nehmen und gut.

Selbst die Großmutter spürte die nachlassende Bereitschaft der Nachbarn, das anhaltende Trauern zu akzeptieren.

»Gundula hör mal, deine Merle sollte vielleicht mal zu einem Arzt gehen. Da gibt es doch heutzutage gute Medikamente«, wusste Hannelore, die gern auf der Bank unter der großen Linde auf dem Friedhof saß. »Wenn sie sich nicht bald am Riemen reißt, wird der brave Junge nicht mehr lange warten. Ich sehe ihn manchmal beim Einkaufen. Der macht keinen zufriedenen Eindruck. Und er sieht sehr gut aus. Ich an Merles Stelle, würde ein bisschen mehr auf ihn achten, sonst guckt er sich nach was anderem um.«