Jutta Voigt, geboren in Berlin, Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität, Redakteurin, Essayistin und Kolumnistin bei den Wochenzeitungen Sonntag, Freitag, Wochenpost und Zeit. 2000 Theodor-Wolff-Preis.
Bei Aufbau erschienen: »Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR«, »Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht«. Zuletzt: »Spätvorstellung. Von den Abenteuern des Älterwerdens«. Neu im Aufbau Verlag erscheinen 2016 von Jutta Voigt: »Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens« und »Verzweiflung und Verbrechen. Menschen vor Gericht«.
Kein Ort Drüben.
Warum fuhr der Westonkel mit einem geliehenen Mercedes in den Osten? Wie konnten Städte wie Reutlingen und Paris zu Sehnsuchtsorten werden? Jutta Voigt erzählt von den Absurditäten des Reisens zwischen Ost und West, als es noch nicht das Normalste von der Welt war, dass man in ihr rumfährt.
In ihrem brillant geschriebenen, ironischen und hellsichtigen Text stellt Jutta Voigt fest: Ost- und Westdeutsche kannten sich viel besser, als nach 1989 gemutmaßt wurde – und sie profitierten voneinander. Die einen freuten sich auf schöne Geschenke, die anderen genossen die Bewunderung ihres dicken Audis, ihres Lebensstandards, vor allem aber die Dankbarkeit für die mitmenschlichen Dienste an den Brüdern und Schwestern. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist die Besuchszeit vorbei. Dennoch fühlen sich viele Ostdeutsche immer noch zu Besuch im Westen und viele Westdeutsche als generöse Gastgeber.
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Westbesuch
Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht
Inhaltsübersicht
Über Jutta Voigt
Informationen zum Buch
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Einleitung
Nicht aussteigen!
Augenblick des Beginns
Lebt wohl, Kameraden!
Deutsche Erzählungen 1: Terra incognita
Deutsche Erzählungen 2: Ausflug eines Abenteurers
Komm ein bisschen mit nach Italien
Deutsche Erzählungen 3: Ist hier eine Frau Zech?
Mein, dein, sein, unser, euer Schicksal
Deutsche Erzählungen 4: Hinten, wo es schwarz wird
Der Schleier der Braut
Sagen Sie mir, wie man die Sehnsucht abschafft!
Deutsche Erzählungen 5: Tante Hilde aus Osnabrück
Weißt du noch?
Deutsche Erzählungen 6: Tanzmariechen
Auf Westbesuch in Polen
Hunde, Plünderer, Kontrolleure
Dringlichkeit Blitz
Mon Chéri, mein Westpaket
Deutsche Erzählungen 7: Neuruppin unvergessen
Es kommt der Tag, da musst du in die Ferne
Deutsche Erzählungen 8: Der Segelfreund
Reise in ein fernes Land
Deutsche Erzählungen 9: Herr Frank und das Käfighuhn
Besuch von der Revolution
Deutsche Erzählungen 10: Links, links, links
Herr Berger von der Stasi
Man sieht sich
Deutsche Erzählungen 11: Glasperlenneger
Bills Ballhaus
Deutsche Erzählungen 12: Der Mann im Nebel
Las Palmas ist wie immer
Flucht ins Königreich
Deutsche Erzählungen 13: Pariser Leben
Der Traum vom Loch in der Mauer
Deutsche Erzählungen 14: Rate mal, wer hier ist!
Ein Schimmer durch die geschlossene Tür
Deutsche Erzählungen 15: Ein grauenhaft schöner Geruch nach Westen
Da war Andacht
Deutsche Erzählungen 16: Bei uns wird nichts bewiesen
Das Zittern des Reisekaders
Deutsche Erzählungen 17: Der Reisende und der Bettler
Bettgeflüster
Deutsche Erzählungen 18: Reisekaderkind
Wer reisen will, der schweig fein still
Deutsche Erzählungen 19: Die Frau, die sich durch die Welt liebte
Move and you are dead
Deutsche Erzählungen 20: Bunte Platten aus dem KaDeWe
Schmidt, nimm mich mit!
Deutsche Erzählungen 21: Lilli und der Diplomat
Über sieben Brücken
Deutsche Erzählungen 22: Wir sind doch verwandt
Alle wollen raus, Bernd auch
Deutsche Erzählungen 23: Der unbekannte Verlust
Weltwunder
Deutsche Erzählungen 24: Bis dass der Tod euch scheidet
Besuch des verlorenen Sohns
Liebe und Verrat
Gloria und ich
Verwendete Literatur
Dank
Impressum
Mit einem besonderen Dank an Carmen Bärwaldt
Für Gloria
Die Sehnsucht ist ein Erzeugnis
mangelhafter Erkenntnis.
Thomas Mann
Ich habe Geschichten aus der Besuchszeit aufgeschrieben, meine und die der anderen. Alltägliches und Absurdes, Drama und Groteske. Westbesuch – ein Wort, das Erinnerung in sich trägt, an Willkommen und Abschied, Umarmung und Entfremdung, an Apfelsinenduft und Bubblegum. »Wenn von einer lang zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr übrig ist«, schreibt Marcel Proust, »verweilen ganz alleine, viel fragiler, aber lebenskräftiger, immaterieller, ausdauernder, treuer, der Geruch und der Geschmack noch lange Zeit.« Westbesuch – linguistisches Souvenir, sinnliches Andenken. Ein Wort mit vielen Wirklichkeiten. Die Zeitenfolge täuscht, die Zeiten vermengen und überschlagen sich. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben einen gemeinsamen Raum: Lebenszeit. Auch in diesem Buch macht die Zeit Sprünge, das Damals lebt auf im Präsens, Gegenwart nimmt Zukunft vorweg.
Ich habe Erzählungen aus den Zeiten der Sehnsucht aufgeschrieben: die Geschichte von der Frau, die sich durch die Welt liebte, weil sie die Welt nicht sehen durfte. Die von Herrn Frank, der in ein Kinderferienlager floh, als sein Schwager aus Schleswig-Holstein seinen Besuch angesagt hatte. Die von Lilli, die sich mit einem Diplomaten aus dem Westen tröstete, weil sie einen Geheimdienstmann aus dem Osten nicht kriegte. Deutsche Menschen: Herr Schwarzenbach in Köln konnte seinen Geburtsort Neuruppin nicht vergessen. Herr Z. sah sich um sein Erbe gebracht, obwohl er mit Onkel Karl eine ganze Flasche Mariacron geleert hatte. Frieda aus Ostberlin heiratete einen Mann aus Zürich, weil sie raus wollte, einfach raus. Die Erzählungen aus den Zeiten der Sehnsucht sind immer auch Geschichten über die Liebe – Geschwisterliebe, Freundesliebe, Mutterliebe, Vaterlandsliebe. Wenn die Zeiten der Sehnsucht vorbei sind, wird auf beiden Seiten von Enttäuschung die Rede sein, von Undankbarkeit und verratener Liebe.
»Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten«, das hatte, eine sozialistische Gemeinschaft im Blick, Heinrich Heine einst geträumt. Ex oriente lux, ex occidente luxus – das Licht, das aus dem Osten kam, war ein Docht, der früh verglühte. Der Luxus, der aus dem Westen kam, überstrahlte das kleine Leuchten mühelos. Das Projekt erledigte sich selbst, und das Himmelreich wechselte eilig von Ost nach West. Die DDR war eine sozialistische Frühgeburt, befand der Dramatiker Heiner Müller. Der Blick des Westens ist von Anfang an ohne Empathie für das Frühchen gewesen. Der Blick des Mangelwirtschaftsostens auf den Wirtschaftswunderwesten changierte zwischen Anbetung und Verdammung. Die Anbetung siegte. Eine bessere Welt? Ja gern, aber heute, nicht erst morgen, eine mit Bananen, elektrischen Zahnbürsten und dem Campanile auf dem Markusplatz von Venedig.
Ohne Mauer wäre Ostberlin – rein statistisch gesehen, wenn man die Flüchtlingszahlen von 1958 hochrechnet – im Jahre 1987 komplett entvölkert gewesen. Auf der Bernauer Straße in Berlin ist ein bronzener Stolperstein in den Asphalt eingelassen. Er dokumentiert, was im Nachhinein noch weniger zu fassen ist als in der Gegenwart von damals: »Berliner Mauer 1961–1989«. Damit man die Königskinder nicht vergisst. Nicht das Abschiednehmen und das Winken. Nicht die Rentner in den ratternden Interzonenzügen. Nicht die heimlichen Treffs in den Autobahnraststätten, nicht die deutsch-deutschen Zusammenkünfte in den Cafés von Prag und Budapest. Damit der Westbesuch nicht vergessen wird, der mit prall gefüllten Plastiktüten in den Osten kam. Damit man sich an den Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße erinnert. An den weißen Strich: Weiße Kontrollinie nicht vor Aufforderung überschreiten! An die Kontrolleure mit ihren steinernen Gesichtern: Fahren Sie rechts ran! Heben Sie den Rücksitz an! Nehmen Sie die Sitzbank raus! Rücken Sie vor auf den nächsten Kontrollpunkt! Machen Sie das linke Ohr frei! Damit man sich vergegenwärtigt, was Westbesuch bedeutete. Kontrolle, Angst, Vorfreude, Vergleich.
Nicht nur Onkel und Tante waren Westbesuch. Nicht allein die Geschäftsleute auf der Leipziger Messe, die griechischen Matrosen in Rostock und die Schüler aus Nordrhein-Westfalen auf Klassenfahrt. Auch die Beatles, die Rolling Stones, Leonard Cohen und Tom Waits, Costa Cordalis und Udo Lindenberg waren Westbesuch. Rudi Dutschke und die Hippies waren Westbesuch. Miniröcke und Twist, die Konvergenztheorie und die Kybernetik, der RIAS, Rundfunk im amerikanischen Sektor, und ARD und ZDF – allesamt Westbesuch. In der Regel besuchte der Westen den Osten. In Ton und Bild, Ideen und Gedanken. Das Westfernsehen machte, dass in den östlichen Wohnzimmern jeden Abend die Mauer aufging – Hofgang für die Eingeschlossenen. Ein sakraler Vorgang, ein heiliges Ritual, und das Werbefernsehen als Abendmahl. Westbesuch war auch der Besuch des Ostens im Westen, Rentner, Reisekader und Verwandte in dringenden Familienangelegenheiten, alle anderen blieben hinter der Mauer und sehnten sich. Der Westen als Traumziel, mit seiner Unerreichbarkeit hatte seine Heiligsprechung begonnen. Jener Westen, der über aller Wirklichkeit schwebte, diese Welt voll herrlicher Dinge, die keinen Preis hatten, eine Art Kommunismus im Kapitalismus – dieser Westen war die Erfindung des Ostens, ihm gehörte der Himmel gleich nebenan, ganz und gar. Ein historisch einmaliger Überfluss an Hoffnung, wer nicht mehr weiterwusste, kannte einen geheimen Ausweg aus Liebeskummer, Midlifecrisis, Weltschmerz und Ehekrach. Sehnsucht ist besser als Selbstmord. Es gab einen glitzernden Notausgang, der führte in ein Land, das besser schien als alles und den großen Vorteil hatte, utopisch fern und durch nichts zu entzaubern zu sein. Die Tür war fest verschlossen, doch manchmal fiel ein Lichtstreif durch den Türspalt, hinter dem die Erlösung von allem Übel lockte. Irrational, verrückt, absurd.
Das Absurde erfasste alle Lebensbereiche, sogar die Brieftaube unterlag seiner Herrschaft. Brieftauben durften nicht von Ost nach West »aufgelassen« werden, auch als Westbesuch einfliegen durften sie nicht – Seuchengefahr! »Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß« – untersagt – »hat ein’ Zettel im Schnabel, von der Mutter einen Gruß« – verboten, die Vögel hätten Staatsgeheimnisse schmuggeln können. Dabei trägt die Brieftaube, die Verpaarung der besten Eigenschaften verschiedener Taubensorten, einen Namen, der solchen Verboten widerspricht: Einheitsbrieftaube.
Es kam vor, dass Angehörige des Bundesgrenzschutzes an der Grenze bei Lübeck in aller Eintracht mit DDR-Grenzsoldaten Bier tranken – das Normale erschien absurd, das Absurde normal. Manch einer brauchte einen Passierschein, um sein eigenes Haus betreten zu können. Es gab Häuser, in denen die Bewohner mit dem Kopf im Westen und mit dem Hintern im Osten waren. Bis die Fenster zugemauert wurden. Der Kopf im Westen und der Alltag im Osten, vierzig Jahre lang, so war es, so blieb es. Es gab Fenster, die konnte man nicht zumauern. Ich kannte einen zwanzigjährigen Ostberliner, der wusste die Fahrpläne und Haltestellen sämtlicher Buslinien in Westberlin auswendig, inklusive Sonn- und Feiertage sowie Nächte. Er hatte Westberlin nie gesehen und würde es nach menschlichem Ermessen vor dem Rentenalter nicht zu sehen kriegen.
Die DDR war das einzige Land auf der Welt, wo dem Alter ein Glanzlicht aufgesetzt wurde – das Beste zum Schluss: der Westen. Vierzigjährige zählten die Jahre, bis sie sechzig würden und reisen dürften, Männer fünfundsechzig. Das Leben als Wartesaal, der Lebensabend als Sonnenaufgang. »Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an«, sang Udo Jürgens, das Ostvolk fühlte sich verstanden und sang mit. Bis dahin war Besuchszeit. Zeit, einander nicht aus den Augen zu verlieren. Zeit, sich nahe zu bleiben. Zeit, sich voneinander zu entfernen. Die Mauermelancholie – eine Art Belletristik der deutschen Teilung – war der kleinste gemeinsame Nenner, und der reichte für viele gemeinsame Abende in Küchen, Kneipen und Wohnzimmern des Ostens, wo lange deutsche Gespräche geführt wurden, über Autos, Lebenshaltungskosten, die Vor- und Nachteile der Systeme. Wir haben uns ertragen und vertragen. Meinungsverschiedenheiten wurden vertagt, um die heile Welt der deutschen Teilung nicht zu ruinieren. »Liebes Königskind, reicht der Kaffee noch, oder soll ich wieder ein Pfund mitbringen?« – so begannen Briefe zwischen West und Ost.
Wie Terrier auf der Promenade haben wir uns beschnüffelt. Im Osten riecht es komisch, stellte der Westbesuch bei der Begrüßungszeremonie jedesmal fest, er witterte Abgase. Es riecht hier nach Braunkohle, nach Lysol, nach altem Fett. Die Gastgeber nickten: Bei uns stinkt es, aber ihr riecht gut, ist das Weichspüler? Das Odeur des Westens setzte die Marke der Überlegenheit in jeden Plattenbau. Wir haben uns besucht und beschenkt, geliebt und geschont, gelobt und belogen. Die Verführung zur Verstellung war einzig und unwiderstehlich: der dicke Max und der arme August in den Rollen ihres Lebens. Geschenkegeber und Geschenkenehmer. Das Klischee war Realität. »Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins« – die Ankündigung eines Pornofilms am Bahnhofskino von Oberhausen war das erste, was ich sah vom Westen, als ich in der Morgenkühle mit dem Zug in jenem spröden Ort im Ruhrgebiet ankam, wo der Westen dem Osten zu gleichen schien in seiner unverstellten Lebensart, seiner Nüchternheit und seinem Grau.
Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins. Haben die Deutschen einander gezeigt in der Besuchszeit, oder haben sie nur das von sich sehen lassen, wovon sie sich einen Gewinn erhofften? Wir hätten aufrichtig sein können, authentisch, ehrlich. Wir hätten einander zeigen können, wie wir wirklich waren. Aber wollten wir das? Hatten wir nicht unsere Freude am Rollenspiel und zogen daraus unseren Vorteil?
Verwandtschaft im Westen bedeutete für die im Osten Lebenden Westpakete, Westgeld und Westreisen »in dringenden Familienangelegenheiten«, da konnten Todesfälle zu Glücksfällen werden. Stammbäume und Familiengeschichten wurden danach abgesucht, ob nicht in Osnabrück ein Onkel, in Reutlingen eine Tante, in Unkel ein Vetter aufzutreiben war. Ahnenforschung hatte Konjunktur, jeder Großneffe war ein Grund zum Feiern. Sie rütteln sich, sie schütteln sich / Sie werfen das Säcklein hinter sich / Sie klatschen in die Hand / Wir beide sind verwandt – das Lied vom Bi-Ba-Butzemann kennt jedes Kind.
Weil es für die Westdeutschen weit weniger reizvoll war, Ostverwandtschaft zu haben, hatten sie auch weniger. Sie waren nicht erpicht, einen Cousin in Halle oder eine Großtante in Schwerin ausfindig zu machen, um infolgedessen Pakete schicken oder auf Verwandtenbesuch in die DDR reisen zu müssen, aus Pflicht zum Widerstand gegen die Teilung des Vaterlands. Jeder Westverwandte hingegen war eine Quelle der Freude, ein Fenster in die Welt. Außerdem schmeckte der Kaffee besser, den er mitbrachte. Ein Westdeutscher hat ausgerechnet, dass er in vierzig Jahren DDR fünf Zentner Kaffee in den Osten schleppte. »Die haben bei uns bestellt wie in einem Versandhaus«, erinnerte sich ein anderer.
Jahrzehntelang bloß zu Besuch zu kommen anstatt zusammenzuleben, bleibt nicht folgenlos, das Doppelleben der Deutschen hatte seine Abgründe. Liebe und Hass, Bewunderung und Neid, Nähe und Distanz auf schmalem Grat. Im Liedgut liegt Wahrheit: »Onkel und Tante, ja das sind Verwandte, die man am liebsten nur von hinten sieht«, singt man in der Künneke-Operette »Der Vetter aus Dingsda«. Die Ostdeutschen haben die Onkel und Tanten aus Köln und Hamburg gern von vorn gesehen, als reitende Boten westlichen Wohlstands in Tüten; aber eben auch gern von hinten. Die Westdeutschen dachten nicht anders: Was sagt die Sonne am Abend, wenn sie untergeht? Gottlob, ich bin wieder im Westen. Dennoch bot die Mauer, dieses mörderische Verhängnis deutscher Geschichte, dauernden Anlass zu innerer Größe. Sie hat den Alltag mit Gefühl aufgeladen. Sie hat das Triviale tragisch, das Banale rührend, das Normale großartig gemacht. Sie hat der deutschen Wehmut einen glaubwürdigen Background gegeben und der deutschen Innigkeit ein Ziel. Es flossen reichlich Tränen zwischen Ost und West, Tränen der Trauer, der Freude und des Glücks, der Rührung und des Selbstmitleids, Krokodilstränen auch. Das Ende der Besuchszeit war das Ende einer Amour fou.
Die bizarre deutsche Zwischenzeit währte ein halbes Jahrhundert, sie war zufällig mein Leben. Epoche oder Episode, fragen sich die Geschichtsschreiber – ist sie möglicherweise doch eine Ära gewesen? »Nie wieder Krieg«, schworen 1946 meine Eltern, rauchten eine Chesterfield und traten in die SED ein. Es sollte was Besonderes entstehen, eine ganz und gar andere Gesellschaft, ein Gemeinwesen der Gleichen und Freien, dafür alle Kraft und aller Verzicht. Der Enthusiasmus war von kurzer Dauer. Schon die nächste Generation zweifelte. Die darauffolgende erlebte nur noch die Leere, nur noch die sinnlose Einschränkung der persönlichen Freiheit; manche muss man zu ihrem Glück zwingen, dachten die Getreuen. Dass mit dem Sozialismus die Menschheit »aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« springe, hatte Engels prophezeit. Der Sprung misslang.
Vierzig Jahre geteiltes Deutschland, vierzig Jahre doppeltes Deutschland. Ein Nichts in der Unendlichkeit, vom Winde verweht. Eine Menge für den, der seine Zeit auf Erden in eben diesem Augenblick zugebracht hat. Unvorstellbar für den, der nicht dabei gewesen ist. Der historische Rang wird später entschieden. Zeit schlägt Zeitpunkt, sagt im Radio eben ein Banker, der mit dieser Sentenz seine Kunden zu Geldanlagen auch in unsicheren Zeiten ermutigen will. Zeit schlägt Zeitpunkt, Zeit hat Zeit, Zeit hat Zukunft. Die Gegenwart drängt auf Verdrängung, vorwärts und vergessen. Auch das Vergessen haben wir uns geteilt, die einen vergessen schneller, die anderen langsamer; je mehr Gefühl, um so mehr Gedächtnis. Mehr Gefühl haben zweifellos die Ostdeutschen investiert. Mächtig fegte der Sturm der Geschichte durch sie hindurch, hinterließ kahle Stellen, abgeblätterte Existenzen, Hoffnung auch. Die Sehnsucht lässt alle Dinge blühen, der Besitz zieht alle Dinge in den Staub, wissen die großen Geister. Andererseits: Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.
Auf dem Wochenmarkt vor meiner Tür rief neulich die Gemüseverkäuferin einer Kundin einen Halbsatz nach, der vor zwanzig Jahren in einem Teil Deutschlands ganz gewöhnlich, im anderen Teil unerhört gewesen wäre: Viel Spaß in Paris! Kaum einer kann sich heute noch vorstellen, was eine Reise nach Paris mit einem Mauermenschen machte.
Das Unglaubliche passiert, Sylvia aus Ostberlin sitzt im Zug nach Paris. März 1981. Paris, Paris, Paris – das Wort beginnt sich in Bewegung zu setzen, fünf Buchstaben sind dabei, Wirklichkeit zu werden, die Räder wiederholen das Wunderwort in zielsicher monotonem Rhythmus, Paris, Paris, Paris, Paris rattern sie. Sylvia ist neununddreißig. Sie hat einen Mann, zwei Kinder, keine Westverwandtschaft und seit fünfzehn Jahren dieselbe Arbeitsstelle, eine verkramte kleine Redaktion, die dem Zug der Zeit per pedes folgt und sich an kaum eine Regel hält. »Du machst immer den Eindruck, als würdest du noch was vom Leben erwarten«, hatte 1977 ein Freund mit Dauervisum zu Sylvia gesagt. Es klang wie ein Vorwurf, herablassend, verächtlich fast; wer die Verhältnisse in der DDR einigermaßen durchschaute, konnte keine Erwartungen mehr haben, wer noch Hoffnungen hegte, war hoffnungslos infantil. Sylvia trank an jenem Abend viel Wodka mit den resignierten Freunden, sie musste die Zumutung runterspülen, schließlich war es ihr Leben, dass da ohne Träume sein sollte, das einzige Leben, das sie hatte, und weil alles nichts wert ist ohne Vorfreude, hielt sie kindlich an ihr fest.
»Ganz Paris träumt von der Liebe« – zu diesem Chanson hatte sie zum ersten Mal im Leben ein Mann zum Tanzen aufgefordert, sie war damals fünfzehn und mit ihren Eltern auf einem Fest in einer Vorortbaracke, in der Girlanden hingen. Bevor es die Mauer gab, hatte sie in einem Kino drüben am Ku’damm Jean-Paul Belmondo mit seinem unverschämt verknautschten Gesicht die Champs-Elysées runterschlaksen sehen, »Außer Atem« hieß der Film. Sie hatte »Bonjour, Tristesse« von Françoise Sagan gelesen und »Petite fleur« von Chris Barber gehört, »sag Adieu, aber tu mir nicht weh«. Wieder und wieder hatte sie sich das Studentenleben über den Dächern von Paris vorgestellt. Yves Montands zärtliches »C’est si bon« hatte sie begleitet auf all ihren Wegen, die selbstverständliche Überzeugung: Was kostet die Welt, ich kriege sie gratis samt Sartre, Toulouse-Lautrec und einem Pernod im Café de Flore. Irgendwie, irgendwann.
Sylvia hat es geschafft, sie wird Paris sehen, obwohl sie Paris nicht sehen soll. Sie hat den vorgeschriebenen Reiseweg einzuhalten, ohne Aufenthalt. Ihr Ziel ist Lille. Sie soll an Paris vorbeifahren, als wäre es nicht da. Nicht aussteigen! Sie darf zu einem Dokumentarfilmfestival, zu dem sie als Filmkritikerin eingeladen ist. In dem angeordneten Sofortbericht über den Verlauf der Westreise wird sie nach der Rückkehr vermerken, dass sie ohne jeglichen Verzug nach Lille gelangt ist und sich dort achtundzwanzig progressive Dokumentarfilme angesehen hat. Besondere Vorkommnisse: keine.
Seit das Westvisum in ihrem Besitz ist, fühlt sie sich wie in Trance, die Welt erscheint ihr bunt, so muss es sein, wenn man Drogen nimmt, Bewusstseinserweiterung. Unbeirrbar wie eine Schlafwandlerin hatte sie das zwielichtige Labyrinth des Bahnhofs Friedrichstraße durchquert, wie eine Feder war sie hinweggeflogen über Schneisen, Schranken und Barrieren, über den weißen Strich, vorbei an stoischen Grenzern mit kalten Blicken. Den Übergang von ihrer in die andere Welt vollzog sie leichtsinnig und skrupellos. »Vöglein, flieg in die Welt hinaus!« – die kleine Zeichnung von einem Mädchen im roten Kleid, das einen Vogel in der Hand hält, hängt als Erinnerung an ihre Nachkriegskindheit in der Küche an der Wand. Vöglein, flieg in die Welt hinaus, es ist höchste Zeit, Sylvia ist neununddreißig, das längste Jahr im Leben einer Frau.
»Jetzt geht’s los, rettungslos, rettungslos. Jetzt geht’s los, sehr gefährlich, aber herrlich« – die Offenbach-Operette »Pariser Leben«, Sylvia hat sie oft gehört in ihrer Lieblingskneipe. Öfter war es ihr gelungen, ein Stück Übermut in ihr Leben zu pflanzen, alles eine Frage der Vorstellungskraft. »Jetzt geht’s los, rettungslos, rettungslos, jetzt geht’s los, sehr gefährlich, aber herrlich, jetzt geht’s los, jetzt ist der Teufel los.« Der Zug nähert sich Belgien, immerhin Belgien, Paris auf halbem Weg. Belgische Grenzbeamte gehen mit gleichmütig-höflichen Gesichtern durch die Abteile. Stolz reicht Sylvia ihren Pass hin. Dann der Satz, der die Katastrophe in sich birgt: »Wo ist Ihr Durchreisevisum?« Sylvia guckt den Belgier an wie einen Außerirdischen, ihr Herz ist ein Hammer, was ist ein Durchreisevisum, sie hat kein Durchreisevisum, sie kann auch kein Durchreisevisum besorgen. Sie sieht sich schon aussteigen und umkehren, ihr erster Ausflug in die Welt würde auf dem Bahnsteig eines belgischen Grenzorts enden, Paris perdu. Ihre Fassungslosigkeit, der ganze Jammer einer glücklos Reisenden scheint den Belgier zu rühren, vielleicht denkt er auch einfach nur praktisch. »Vorn im Zug sitzt der Bundesgrenzschutz«, sagt er, »gehen Sie hin und lassen Sie sich einen provisorischen Pass ausstellen!« Sylvia bittet ihn in ihrem ungeübten Französisch, zu wiederholen, was er da gesagt hat. Der füllige Mann mit dem müden Teint kommt ihrer Bitte nach. »Ganz vorne, an der Spitze des Zuges, da sitzt der Bundesgrenzschutz«, sagt er. Bundesgrenzschutz – der gesammelte Kalte Krieg in einem Wort, Sylvia friert. Kontakt zum Bundesgrenzschutz, als DDR-Dienstreisende dem Klassenfeind so nah! Das darf sie nicht, das ist verboten.
Paris ist stärker. Sie schwankt durch den schwankenden Zug bis zu dem Abteil, an dem »Bundesgrenzschutz« steht. Da sitzen vier junge Männer in Uniform, drei von ihnen sind wohl Rheinländer, sie hören Musik und sind in aufgeräumter Stimmung, es ist Karnevalszeit. Der vierte blättert mit spitzen Fingern Sylvias Pass durch, er sieht die Frau aus dem Osten mit unverhohlenem Misstrauen an. »Wichertstraße 71«, liest er laut, als würde er das Haus kennen, in dem sie wohnt. Sylvia erschrickt: Vielleicht ist der ein Republikflüchtling. Die kann einfach so in den Westen reisen, könnte der denken, und ich musste mich in Gefahr begeben. Was immer er denkt, die gute Laune der drei anderen siegt. Sie stellen der verzweifelten Reisenden einen provisorischen bundesdeutschen Pass aus, »Gültig für alle Staaten der EG«. Sie muss noch nicht einmal was dafür bezahlen, so viel Westgeld hätte sie gar nicht. »Danke«, sagt sie, der Klassenfeind lächelt. »Einmal am Rhein, du glaubst, die ganze Welt wär dein«, Kölle Alaaf!
Wieder im Abteil, starrt sie auf die Bescheinigung: »Gültig für alle Staaten der EG«. Belgien, Frankreich, Italien, Schweiz, Spanien, Griechenland – die Welt auf einem einzigen Stück Papier. Ist sie jetzt eine Landesverräterin? Sie wird das Papier nur zur Durchreise benutzen, aber sie könnte, auf den Konjunktiv kommt es an. Paris, Paris, Paris – die Räder rattern nicht mehr, Westgleise sind nahtlos. Jedes französische Wort, das sie beim Blick aus dem Fenster wahrnimmt, liest sie mit Andacht; die Pariser Vororte sehen grau aus, aber anders grau als zu Hause.
Der Zug läuft im Gare du Nord ein. Es ist Nachmittag. »Sei gepriesen mit lautem Jubel, Paris, Paris, du Paradies« – die Operette geht mit auf die Reise. Am Bahnsteig stehen Claude und Gérard, Freunde, die öfter in Ostberlin waren, und bei denen sie auch schlafen kann. Bonjour, Bonjour, Küsschen, Küsschen. Sie laden Sylvia in ihr Auto und fahren sie zum Lafayette. »In zwei Stunden holen wir dich wieder ab«, sagen sie. Sie ist sprachlos. Da steht sie nun, ein Ding zwischen Dingen. Sie sitzt nicht, wie sie sich das erträumt hatte, in einem Bistro an einer quirligen Pariser Straßenecke, einen kleinen Roten vor sich, im Radio die Stimme von Edith Piaf. Nein, sie steht in einem Kaufhaus rum, wie bestellt und nicht abgeholt, dazu beinahe gänzlich ohne Geld. Sie ist eingeladen, in Lille warten Kost und Logis. Sylvia irrt ratlos durch Bijouterien, Parfümerien, Accessoires-Abteilungen, sie könnte heulen. Luftsprung mit harter Landung, der Salto der Sehnsucht schlägt in einem Kaufhaus auf. Später erfährt sie, dass Claude und Gérard häufig Dienstreisende aus der DDR betreuen, und alle wollen als Erstes ins Kaufhaus.
Am nächsten Morgen fährt sie nach Lille weiter. Sie wohnt in einer alten Pension mit grünen Fensterläden, Bad und Bidet befinden sich hinter einer Spanischen Wand, endlich richtet sich die Wirklichkeit nach Sylvias Erwartungen, so hat sie sich Frankreich vorgestellt. So ist es beschrieben bei Maupassant, Zola, Balzac, sogar bei Robbe-Grillet. Am Abend geht sie in ein Restaurant, das Moules et frites heißt, sie muss die Früchte der Fremde kosten, sie bestellt moules et frites. Sitzt vor dem Teller und weiß nicht, was tun, kein Besteck da. Entschuldigen Sie, fragt sie einen Mann am Nebentisch: »A quelle manière on mange les moules, wie isst man Muscheln, ich komme aus der DDR?« Sie fragt das durchaus selbstbewusst, sie ist schließlich nicht von dieser Welt. Der Franzose zeigt Sylvia, wie man eine leere Muschelhälfte als Löffel benutzt, mit ihr die Muschel von der anderen Muschelhälfte löst und daraus die Sauce schlürft. Er tut das ganz beiläufig, als wäre es normal, in einem Moules-et-frites-Restaurant gefragt zu werden, wie man Muscheln isst.
Eine Frau aus der DDR sitzt in einem Restaurant in Lille und isst Muscheln! Eine unerhörte Begebenheit. Die Abteilung Agitation und Propaganda beim ZK der SED hat die Journalisten angewiesen, in ihren Texten unbedingt und ohne Ausnahme die Worte »Frutti di mare« zu vermeiden. Um nicht Bedürfnisse zu wecken. Am Tag darauf beginnt Sylvia, die achtundzwanzig progressiven Filme anzusehen. Zwischendurch guckt sie in Geschäften, was sie mitbringen kann für zu Hause, damit sie einen fassbaren Beweis hat, dass sie wirklich hier war. Teuer darf es nicht sein, sie hat verdammt wenig Francs. In einem Kramladen kauft sie vier dicke Suppentassen, auf denen in blauer Schreibschrift soupe d’oignon steht, bouillabaisse, velouté d’asperges und soupe d’ail; Zwiebelsuppe, Spargelsuppe, Knoblauchsuppe. Von den Suppentassen aus Lille ist bis heute keine kaputt, es ist achtundzwanzig Jahre her.
Am letzten Abend geht sie mit Leuten vom Festival was trinken. Da ist Alain. Groß, dünn, jung. Sie bemerkt ihn nur, weil er sie bemerkt. Seine dunklen Augen leuchten wie die Weißen Nächte von Leningrad. Sie versteht nicht, dann doch. Sie erzählt ihm die Geschichte vom Lafayette, sie lachen über Sylvias Enttäuschung. Alain schlägt vor, ihr Paris zu zeigen, am nächsten Morgen fahren sie zusammen von Lille nach Paris. Sylvia sitzt neben ihm im Zug, als wäre es das Normalste von der Welt, dass man in ihr rumfährt. »Nicht aussteigen! Ohne Aufenthalt durchfahren! Nicht vom Weg abweichen!« – die Befehle halten in ihrem Kopf einen Parademarsch der Verdikte ab. Parigi, Parigi, summt Alain vor sich hin – warum spricht er Paris italienisch aus?
In den folgenden achtundvierzig Stunden erlebt Syvia einen Ort, den es nicht wirklich gibt, ein Paris, über das sie gelesen, gehört und Filme gesehen hat. Ein Paris, wie es nur ein Reisender wahrnehmen kann, der weiß, dass er ein einziges Mal im Leben, von heute bis übermorgen, den Ort seiner Träume erleben wird und dann niemals wieder. Niemals wieder! Sylvia ist außer sich. Detonation der Gefühle. Augen im Ausnahmezustand. Auf dem Boulevard du Montparnasse fährt ein Lastwagen in eine Bushaltestelle, eine Frau fliegt durch die Luft. Sylvia wendet sich ab, sie will da nicht hinsehen, es passt nicht in ihren Traum. Viens, Alain! Er zeigt ihr die Sorbonne, da studiert er. Sie essen in einem Lokal mit blaukarierten Tischdecken, es heißt La Fermette. Wein nach Belieben, steht auf der Speisekarte. Alain wohnt im XX. Arrondissement, in jenem Ménilmontant mit den engen Straßen, das Maurice Chevalier einst besungen hat: »Die Jungs von Ménilmontant«. Sie müssen sich an der Concierge vorbeischleichen, eine lange Wendeltreppe bis ganz oben. Vor der Wohnung liegt ein Zettel: »Monsieur, bezahlen Sie bitte Ihre Rechnung!« – die Stadt nähert sich Sylvias Erwartungen, ihr verspäteter Flug über die Dächer von Paris gewinnt an Höhe.
Alain zeigt ihr den Père Lachaise mit dem dunklen Efeu, dem ewigen Grün an der Mauer der erschossenen Kommunarden. Sie sieht die Gräber von Piaf, Musil, Chopin und Oscar Wilde. Sieht die Grabsteine von Vätern, Müttern, Kindern, liquidiert von den Nazis, »papa chérie, mort 1941«. In solchen Momenten denkt sie, dass sie doch aus dem besseren Teil Deutschlands kommt. Im Gare du Luxembourg entzückt sie ein Foto-Automat, so was kennt sie nicht. Sylvia macht begeistert ein Bild von sich, als Andenken: Sylvia in Paris – so hat sie ausgesehen in den Pariser Momenten. Sie will Alain ein Foto schenken, er lehnt ab, er will das Bild von ihr im Kopf behalten, das seine Erinnerung formen wird.
Sie laufen durch Paris von morgens bis nachts, es ist März, es regnet, Sylvia will keinen Moment verpassen. Als könne sie Paris in sich reinfressen, für immer und ewig. Alain trägt sie an diesem verhangenen Vormittag über den Boulevard St. Michel. Kitsch, denkt sie, die Pflicht zur Distanz ist allgegenwärtig. Boulmiche, sagt er, Boulmiche – die pariserische Kurzform für den Boulevard St. Michel. Sein Entzücken über Paris ist nicht geringer als ihres, sie sind beide besoffen vom Ausnahmezustand des Augenblicks und der Vergänglichkeit. Er plündert sein Konto, um ihr die Closerie des Lilas zeigen zu können, ein legendäres Lokal, in dem Hemingway und andere Größen Durst und Hunger stillten. Später sind sie in einem Bierkeller, wo der Pianist den Touristen-Hit »Oh, Champs-Elysées« klimpert, alle singen mit, auch die Einheimischen.
Im Café de Flore telefoniert Sylvia nach Berlin – was für ein Vorgang, einfach so aus Frankreich in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik zu telefonieren, über alle Grenzen hinweg, dazu noch aus dem Café de Flore. »Peter, ich bin im Café de Flore in Saint-Germain«, spricht sie atemlos in die Telefonmuschel, schon die Wörter haben, so scheint ihr, einen verräterischen Klang. Man lebt nur einmal – der simple Satz geht ihr durch den Kopf, als hätte sie die Binsenweisheit eben erfunden. Sie hat sich in den Pariser Alltag geschmuggelt, sie ist eine Illegale, mit Schuldbewusstsein und schlechtem Gewissen. Was für eine Schuld, wem gegenüber ein schlechtes Gewissen? Den grollenden Grenzorganen der DDR gegenüber oder den siebzehn Millionen, von denen die meisten Paris erst sehen dürfen, wenn sie alt und grau sind? Verkehrte Welt, wenn das Normale ein schlechtes Gewissen macht.
Nach einundvierzig Stunden bringt Alain sie zum Gare du Nord, lange rennt er neben dem Zug her, mit dem Sylvia zurück in die DDR fährt. Sie kennt solche Szenen aus dem Kino, aber dies hier ist ihr eigener Film, davon gibt es nur eine einzige Kopie. »Bin vor Freude wie benommen / Ich kann’s noch gar nicht recht verstehn / Das lang ersehnte große Wunder ist geschehn / Ich hab heut Nacht Paris gesehn« – die Offenbach-Operette ist von 1870 – Sylvias Paris-Besuch passierte 1981; Grenzen können die Gültigkeit von Gefühlen über Jahrhunderte konservieren. Die heimlich Reisende wird wieder den verbotenen Zettel vom Bundesgrenzschutz brauchen. Sie muss ihre Papiere beim Schlafwagenschaffner des Moskau-Paris-Express abgeben und bittet, dass er ihr den provisorischen bundesdeutschen Pass unbedingt vor der Grenze zur DDR aushändigt. Der jungsgesichtige Russe sagt, dass er ihr den Pass nur wiedergeben würde, wenn sie ein bisschen zu ihm ins Abteil käme, Witz oder Drohung. Sylvia sagt nein, Russen brauchen klare Ansagen. Der Schaffner setzt eine ambivalente Miene auf und verschwindet. Sylvia hat Angst, wie immer, wenn sie glücklich ist. Die DDR-Grenzer dürfen das Papier nicht bei ihr finden, sie würden sie festhalten, vielleicht verhaften. Jedenfalls könnte sie jede Chance, noch einmal rauszukommen, noch einmal durch die Mauer zu dürfen, begraben. Möglicherweise würde sie ihren Beruf verlieren oder gar erpressbar werden für die Stasi. Irgendwann, rechtzeitig, bringt der Schlafwagenschaffner ihr das heikle Papier zurück, »Gültig für alle Staaten der EG«. Kurz vor der Grenzstation Griebnitzsee zerreißt Sylvia den Zettel, der ihr zu einer anderen Existenz hätte verhelfen können, sie lässt die Eintrittskarte zur Welt in Schnipseln aus dem Zugfenster fliegen. Sie hat Paris gesehen, einmal, das muss genügen für ein ganzes Leben. Sie hat Paris gesehen, in drei Monaten wird sie vierzig.
Der Bahnhof Friedrichstraße in seiner wachsamen Düsternis ist illuminiert von einem Schimmer, den nur sie wahrnehmen kann, ein heimliches Leuchten. Sie freut sich auf zu Hause. Die Erinnerung, materialisiert in vier Suppentassen mit französischer Schrift, einem Kuvert mit der Speisekarte von der Closerie des Lilas, acht Metrotickets und der Fahrkarte Berlin–Lille über Paris und zurück, nimmt sie mit hinter die Mauer. Der Beweis, dass es wirklich geschehen ist.
Später wird Sylvia manchmal das Foto aus dem Automaten im Gare du Luxembourg betrachten und eine Art Triumph in ihren Augen entdecken.
Sylvia bin ich.
Vormauerzeit. Du fährst für zwanzig Pfennige vom Bahnhof Friedrichstraße im Ostsektor eine Station mit der S-Bahn und bist in einem anderen Leben. Berlin, sagen wir 1958, ist ein Weltenmix, ein Waschkessel der Widersprüche, ein Wechselbad der Ideologien. Du kaufst dir am Lehrter Bahnhof im Westsektor eine Schachtel Rothändle, für die du zum aktuellen Tageskurs zehn Ostmark in zwei Westmark wechseln musst, »Ostgeld wird in Zahlung genommen« – der Hinweis findet sich an allen Westberliner Geschäften. Du fährst zurück und gehst zur Parteiversammlung. Oder: Du brichst aus Charlottenburg in den Ostsektor auf, bestellst dir in einem HO-Café ein Stück Käsetorte, musst deinen Ausweis vorzeigen und für die volkseigene Torte mit Westmark zahlen, nicht etwa mit drüben eingewechselter Ostmark, das wären zum Kurs von eins zu fünf nicht mehr als lumpige zwanzig Westpfennige für ein anständiges Stück Osttorte gewesen. »Herr Schimpf und Frau Schande« nennt man die Spekulanten aus den Westsektoren, manche von ihnen binden sich Ostrinderfilets um die Hüften, bevor sie wieder rüber in den Westen fahren. Schnäppchen nach Art der Zeit. Auch die im Osten verschaffen sich Vorteile. Hilde aus Wildau näht sich zwölf kleine Taschen in ihren Teddymantel und transportiert auf diese Weise frische Eier nach drüben, wo sie das Dutzend Hühnergold für Westgeld verkauft. Die Frau im Teddymantel darf sich in der Bahn allerdings nicht hinsetzen.