Der Autor
Sabri Mussa wurde 1932 in Damiette (Ägypten) geboren. Nach dem Studium der schönen Künste schrieb er als Journalist für verschiedene Zeitschriften in Kairo und Bagdad. 1958 brachte er einen Erzählband heraus. Sein erster Roman, Affäre halber Meter, erschien 1962. Der grosse Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm 1973 mit Saat des Verderbens. Das Buch wurde von den Kritikern als Meilenstein der modernen arabischen Literatur gelobt und zählt auch heute noch zu den besten zeitgenössischen arabischen Romanen. Das Werk des in Kairo lebenden Autors umfasst Romane, Erzählungen, Essays sowie Drehbücher.
Die Übersetzerin
Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik und Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik und Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungstätigkeit am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Übersetzerin literarischer Werke aus dem Arabischen (u. a. von Sahar Khalifa, Hanna Mina, Hassouna Mosbahi, Sabri Mussa, Alifa Rifaat und Tajjib Salich).
Titel der arabischen Originalausgaben:
Affäre halber Meter: Ḥâdith an-niṣf mitr
Die sechs Erzählungen stammen aus Sabri Mussas Erzählband as-Sayyida allatî wa-r-raǧul alladî lam
Copyright © 1962/1999 by Sabri Mussa
E-Book-Ausgabe 2016
Copyright © der deutschen Übersetzung
2004 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Coverfoto: Markus Kirchgessner
ISBN 978 3 85787 943 2
www.lenos.ch
Affäre halber Meter
Inhalt
Affäre halber Meter
Ein klarer Fall
Ein Mann und eine Frau
Der Wolfshund
Ein Wohltäter
Vater, Sohn und Esel
Happy Christmas
Nachwort
Affäre halber Meter
Die Angelegenheit wurde auf zivilisierte Art und Weise geregelt, ganz nach Etikette und ohne Gesichtsverlust.
Er war hochgewachsen. Als er sich vorstellte, verbeugte er sich. Dann forderte er mich auf, ich möge mich von meiner Freundin fernhalten. Er habe vor, sie zu heiraten!
Ich kannte ihn nicht. Aber in den letzten Tagen hatte meine Liebste seinen Namen immer wieder verzückt vor sich hingeplappert, als wollte sie mich damit bedrohen.
Eilig teilte er mir mit, dass er auf ihren Wunsch hin die Ehre habe, mir zu begegnen. Also zog ich meine Krallen ein und drückte ihm die Hand. Ich setzte mir die Maske des Hochmuts aufs Gesicht und wünschte ihnen, miteinander glücklich zu werden.
Es war mir ein Vergnügen, so zivilisiert und modern zu sein!
1
Geheime Chronik eines gewöhnlichen Mannes
Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mann.
Klammheimlich, mit halbgeschlossenen Augen nach den Gesetzen der Gesellschaft schielend, spähen die Begierden aus meinem Innern.
Damit wir uns recht verstehen: Sie müssen wissen, dass ich überhaupt keine Erfahrung im Erzählen von Geschichten habe. Während ich zu Ihnen spreche, steht vor mir eine halbe Flasche leichter Weisswein, wie sogar amerikanische Schulmädchen ihn trinken dürfen. Am frühen Abend ist ein wenig Regen gefallen und hat meine Fensterscheiben bespritzt. In so einer Atmosphäre läge es mir fern, Ihnen etwas vorzuschwindeln.
Meine Augen sind blau. Mein Haar sieht aus wie von der Sonne versengt. Mein Gesicht ist ebenmässig. Trotzdem wirke ich auf den ersten Blick wie ein plumper Bauer.
Geboren bin ich in einer sozialen Schicht, die Aversionen gegen Hunde hat.
Sie werden gleich begreifen, was ich meine. Bedenken Sie nur einmal, dass in jeder Gesellschaft gewöhnlich die untere Klasse das geeignetste Milieu für die Aufzucht dieser braven Tiere darstellt.
Die versnobte Oberschicht wiederum benötigt häufig ein lebendiges, warmes Geschöpf, an dem sie ihre Mitleidsinstinkte ausleben kann. Dafür hat sie die Hunde erwählt, denn diese wissen eine solche Schwäche nicht zu nutzen und bleiben stets, was sie nun einmal sind – brave Tiere.
Die Schicht dazwischen aber besteht aus lauter egozentrischen Individualisten. Diese Leute interessieren sich für nichts, ausser für sich selbst. Unablässig klettern sie nach oben, wo sie dann verschlagen und arglistig auf den Türschwellen der feinen Leute herumlungern. Unruhe und Sorge nagen an ihnen, denn die Angst, in die untere Klasse abzustürzen, verlässt sie keinen einzigen Augenblick. In einem derart angespannten Zustand findet der Mensch nun wahrlich keine Musse für die Hundezucht.
In diese Zwischenschicht also, die keinerlei Mitleid für die braven Tierchen aufbringt und zudem immer gleich in Panik gerät, wenn sie etwas von ihrem Besitz einbüsst, wurde ich hineingeboren. Ich, der Blauäugige, von dem eines melancholischen Herbsttages ein unbekannter hochgewachsener Mann mit einem devoten Diener in offensichtlich heuchlerischer Bescheidenheit verlangte, er möge ihm seine Liebste abtreten, da er sie zu heiraten gedenke!
Gott weiss, ob er sie wirklich heiraten wollte oder ob er die alte, abgegriffene Karte nur als Trumpf ausspielte, um Zeit zu gewinnen.
Schauen wir ein wenig zurück. Es wird wohl niemanden verdriessen, wenn wir ein wenig zurückschauen.
Die Geschichte begann im Jahre 1798. Ein türkischer Pascha namens Usmân Âgha Katchoda herrschte über ein Dorf in Ägypten. Eines Abends sass er in seinem Palastgarten und langweilte sich. Da bemerkte er eine kleine Bäuerin, die Wasser in den Palast trug, und er vergewaltigte sie.
Ein, zwei Jahre später schwärmten die Legionäre der französischen Expedition in Ägypten aus, um eine Erhebung der Eingeborenen niederzuschlagen. Ein französischer Soldat drang in eine Hütte ein, das war in einem anderen Dorf. Er sah eine andere kleine Bäuerin und vergewaltigte sie.
Diese Doppelvergewaltigung, die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts stattfand, sollte den grössten Einfluss auf meine Persönlichkeitsstruktur als Mann des zwanzigsten Jahrhunderts erlangen.
Die erste kleine Bäuerin wurde schwanger, und Katchoda verheiratete sie mit einem Domestiken, einem Zuckerbäcker in seinem Palast.
Die zweite kleine Bäuerin wurde ebenfalls schwanger, von dem französischen Soldaten. Sie nahm einen einfachen Fellachen zum Mann, um ihre Schande zu vertuschen.
Zwischen den Jahren 1798 und 1929 entstand eine lange Kette, eine schicksalhafte, festgefügte Verkettung aus Heiraten, Schwangerschaften und Geburten von zahlreichen Kindern und Enkeln. Schliesslich erreichte das Blut des türkischen Paschas samt einigen seiner markantesten Eigenschaften die Adern eines blasierten Süsswarenhändlers, der sich für etwas Besseres hielt.
Das Blut des französischen Soldaten aber gelangte in die Adern einer aufgeweckten kleinen Bäuerin. Allerdings schien sie oft bedrückt, ja sie neigte zu Melancholie, weil ihr Leben gar so trübe war. Ihr Vater besass drei Ehefrauen und noch fünfzehn andere Kinder.
In einer längst vergangenen Nacht des Jahres 1929, einer dunklen, nur von einem blassen Stern und einigen im Winde flackernden Dorflaternen erhellten Nacht, begab sich der hochmütige Süsswarenhändler, Usmân Âghas letzter Spross, zu jenem melancholischen Bauernmädchen, letzter Nachfahrin der französischen Vergewaltigung, und ehelichte sie.
Und so, auf ganz legalem, ehrbarem Wege, begleitet von ein wenig Trubel und ein wenig Gewalt, konnte mein Vater die ersten Keime für mich legen.
Ungefähr neun Monate später wurde ich geboren.
Ein blauäugiges Kind mit kunterbuntem, sprunghaftem Naturell.
Damals hätte ich mir wohl nicht träumen lassen, dass mich gerade dieses wechselhafte Wesen am Ende auf so moderne, wohlerzogene Art und Weise um meine Liebste bringen würde.
Als ich drei Jahre alt war, bangte meine Mutter bei jedem Luftzug um mich. Täglich wusch und frottierte sie mich wohl fünfzigmal, sobald sie argwöhnte, ich sei etwa mit Staub in Berührung gekommen oder eine Nachbarin habe mich an ihren Busen gedrückt.
Immer wenn ein Besuch mich kleines Wesen mit neidisch funkelnden Augen betrachtet hatte, musste ich mit gespreizten Beinen siebenmal über eine Glutschale voller Räucherwerk steigen.
Eines Tages wurde ich so wütend, dass ich mein Entchen auf die Schale richtete und die Glut löschte.
Der Vorfall ging als lustige Begebenheit in die Familienchronik ein. Jedesmal, wenn man sich der Kindergeschichten erinnerte, wurde er wieder erzählt.
Dieses übertriebene Getue um mich unbedeutendes Persönchen bewirkte jedoch, dass ich später schwächlich und passiv wurde. Bis heute bin ich ausserstande, Entscheidungen zu treffen.
Als ich zehn war, brüstete sich mein Vater vor seinen Freunden, während sie gerade alle miteinander ihre Wasserpfeifen schmauchten, er habe mich so gut erzogen und ausgebildet, dass ich vor lauter Schüchternheit kaum den Blick von der Strasse zu heben wagte. Ich sei verschämt wie ein Mädchen!
Zur selben Zeit spielte ich mit einer kleinen Göre aus der Nachbarschaft Heiraten. Wir gingen auf die Dachterrasse und malten mit Kreide die Umrisse einer Küche, einer Schlafkammer und eines Wohnzimmers.
Dann zogen wir unsere Sachen aus und legten uns zwischen die Kreidewände der Schlafkammer.
Eben untersuchte ich mit kindlichem Eifer den Eingang zur Welt der Wunder, da ertappte uns mein Vater.
An diesem Tag schlug er mir ein Loch in den Kopf, von dem ich bis heute eine Narbe zurückbehalten habe. Danach klärte er mich auf: Wenn ein Mann eine Frau küsst, wird sie schwanger. Man schneidet ihr den Bauch auf und holt das Kind heraus.
Am folgenden Tag hörte ich, wie er auf der Treppe mit unserer Nachbarin schimpfte. Sie solle gefälligst ihre Tochter von mir fernhalten, brüllte er, am Ende werde sie mich gar noch verderben.
Aber mit fünfzehn kam ich dahinter, wie der Hase läuft.
Ich war ein schüchterner, sehr empfindsamer Junge. Eines Tages verliebte ich mich in ein gleichaltriges Mädchen, das ich an einem kleinen, von der glühenden Augustsonne versengten Strand entdeckt hatte Sie lag in einem rotwollenen Badeanzug ausgestreckt im Sand. Ich stand da und verschlang sie aus der Ferne mit Blicken voll würgender, unaussprechlicher Leidenschaft.
Nach einigen Tagen wurde sie meine Freundin. Nachmittags hatten wir den kleinen Strand für uns allein. Doch auf die Dauer vermochten die verlegenen, ungelenken Berührungen, mit denen wir einander verstohlen streichelten, unseren Durst nicht zu stillen.
Irgendwann forderte sie mich auf, sie zu küssen.
»Und was machen wir mit dem Kind?« fragte ich ehrlich erschrocken.
Die Kleine im roten Badeanzug lachte über soviel Dummheit. Dann nahm sie mich bei der Hand und führte mich zu einem Rohbau am Ende des Strandes. Ich sollte mich neben sie hinlegen, sie wolle mir das Spiel beibringen. In diesem Bau, umgeben von Brettern, Ziegeln und menschlichen Exkrementen, habe ich innerhalb von zwei Stunden das Spiel gelernt, und es gefiel mir.
Wir liebten das unverputzte Gemäuer und beschlossen, ihm einen Namen zu geben. Mein Mädchen las damals gerade einen Kriminalroman, und so schlug sie vor, unser Versteck das »Schlupfloch« zu nennen.
Von nun an trafen wir uns dort jeden Tag zur gleichen Stunde, kurz bevor die Sonne im Meer versank.
Schweigend und eng aneinandergeschmiegt spazierten wir vom Anfang bis zum Ende des Strandes.
Zwei magere Schatten von fünfzehn Jahren.
Wenn die Arbeiter schliesslich verschwunden waren, schlichen wir in unser »Schlupfloch«.
Zwei Monate später ging der Sommer zu Ende. Meine Liebste reiste ab.
Im nächsten Sommer erschien sie nicht wieder mit ihrer Familie am Strand.
Ich erfuhr, dass sie geheiratet hatte.
Ich kam mir vor wie ein Märtyrer, betrogen und tief verletzt in meinem Stolz. Gar nicht zu reden von meinen enttäuschten Gefühlen!
Die Traurigkeit trieb mich, unser »Schlupfloch« aufzusuchen,
den unfertigen Bau,
die unverputzten Mauern,
unser Nest,
meine Schule …
Doch was fand ich vor? Eine Moschee, in der die Gläubigen beteten.
Da wurde mir klar, dass ein Mädchen das Spiel mit einem Mann treiben und trotzdem einen anderen heiraten kann.
Und dass aus einem »Schlupfloch« manchmal eine Moschee wird.
Nichts ist wahrhaft, dauerhaft und beständig.
Alles verändert sich nach bestimmten Regeln, ohne dass man es merkt.
Immerhin hatte ich jetzt ein Abenteuer auf Lager, mit dem ich vor meinen Freunden angeben konnte. So vergass ich meinen Kummer.
Doch die Traurigkeit, das winzige Samenkorn, war schon in mein kleines Männerherz gefallen. Im Keimen ertastete es den Weg zum anderen Geschlecht.
Tiefer und tiefer schlug das Samenkörnchen seine Wurzeln in dieses Herz, das meine Adern mit dem Mischblut dreier Völker speiste.
Es reckte seine Wurzeln und gedieh in einem Zeitraum von siebzehn Jahren
zu einem grossen, üppigen Baum,
einem Schattenbaum der Traurigkeit.