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Personzentrierte Beratung & Therapie; Band 15

series titleHerausgegeben von der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung e.V., Köln

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Ulrike Hollick, Dipl.-Psych., Weimar (Lahn), ist Psychologische Psychotherapeutin in freier Praxis und Dozentin an der Universität Marburg sowie Supervisorin und Ausbilderin u. a. für Personzentrierte Familientherapie und -beratung.

Maria Lieb, Personzentrierte Beratung (Counselling), Sozialpädagogin (B. A.), Oberhausen, Ausbilderin für Personzentrierte Familientherapie (GwG), Systemische Familientherapeutin, Supervisorin, Traumapädagogin/traumazentrierte Fachberaterin (DeGPT/ BAG-TP), ist in eigener Praxis tätig.

Andreas Renger, Dipl.-Psych., Bonn, ist Psychologischer Psychotherapeut in freier Praxis, Leiter einer Familien- und Lebensberatungsstelle, Supervisor, Lehrtherapeut für Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung.

Dr. phil. Torsten Ziebertz, Oberhausen, Erziehungswissenschaftler, Ausbilder für Personzentrierte Beratung und Familientherapie (GwG), Systemischer Familientherapeut, Supervisor, führt ein Institut für Weiterbildung , Supervision und Organisationentwicklung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02788-0 (Print)
ISBN 978-3-497-61037-2 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61051-8 (EPUB)
ISSN 1860-5486

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU
Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Hohenschäftlarn
Covermotiv: © bittedankeschön/Fotolia.com
Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de • E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Geleitwort von Charles O’Leary

Vorwort und Dank

1 Einleitung

2 Begriffsbestimmung: Personzentrierte Familientherapie und -beratung

3 Wurzeln der Personzentrierten Familientherapie

3.1 Carl R. Rogers

3.2 Virginia Satir

3.3 Stefan Schmidtchen

3.4 Ned Gaylin

3.5 Charles O’Leary

4 Theorie der Personzentrierten Familientherapie und -beratung

4.1 Allgemeine Familientheorien

4.2 Das Familiäre Rückkopplungsmodell

4.3 Personzentrierte Grundannahmen von Familie

4.4 Modelle der Fortentwicklung der Personzentrierten Familientherapie und -beratung

5 Praxis der Personzentrierten Familientherapie und -beratung

5.1 Rahmenbedingungen

5.2 Methodik

5.3 Prozesshaftes Vorgehen

5.4 Charakteristika

5.5 Die Rolle des Therapeuten in der Familientherapie

5.6 Diagnostik

5.7 Qualitätssicherung

6 Praxisfelder

6.1 Das Paar in der Personzentrierten Familientherapie und -beratung

6.2 Besonderheiten in der Beratung mit Eltern

6.3 Familien mit Säuglingen und Kleinkindern

6.4 Beziehungsgestaltung mit Kindern

6.5 Beziehungsgestaltung mit Jugendlichen

6.6 Personzentrierte Familientherapie und -beratung mit der ganzen Familie

6.7 Familien in unterschiedlichen Lebensphasen

7 Fazit und Ausblick

8 Literatur

Kontaktdaten der Autoren

Sachregister

Geleitwort von Charles O’Leary

Ich freue mich, dieses erste deutschsprachige Lehrbuch zur Personzentrierten Paar- und Familientherapie willkommen zu heißen.

Meiner Erfahrung nach sind die Grundprinzipien des Personzentrierten Ansatzes besonders hilfreich, um Veränderungen in einer Familie oder bei einem Paar, das sich in Schwierigkeiten befindet, anzustoßen. Personzentrierte Therapeuten begegnen jeder Person mit Akzeptanz und versuchen sie in ihrem einzigartigen Erleben zu verstehen. Familien- und Paartherapeuten schaffen eine sichere Atmosphäre, die es den Klienten erlaubt, offen über ihre Entwicklungsprobleme (ein Kind wird geboren, wächst auf, hat spezielle Bedürfnisse) zu sprechen. Sie helfen Klienten dabei, sich in Lebenssituationen, die von Erkrankungen, von unterschiedlichem Erleben an Selbstwirksamkeit und Selbstwertschätzung, von finanziellen Belastungen, beruflichen Anforderungen, von widersprüchlichen Erwartungen und den Anforderungen von Herkunftsfamilien mit unterschiedlicher kultureller Erfahrung geprägt sind, zurechtzufinden. Einem erfahrenen Familientherapeuten gelingt es, Familienmitgliedern zu helfen, einander zu verstehen, auch wenn sie sich in ihrem Bedürfnis nach Stabilität und Kontrolle bedroht fühlen.

Die Autoren sind erfahrene Praktiker auf dem Gebiet der Familientherapie: Sie bieten umfangreiche Überlegungen zu den zentralen Ansätzen in der Arbeit mit Klienten an und arbeiten mit Menschen in sehr unterschiedlichen Settings und Bedingungsfeldern. Sie lernen ihre Klienten als Individuen kennen, denen sie aber auch in komplexen Gruppenkonstellationen begegnen müssen.

Die Autoren kennen Kinder jeden Alters: Jedes Kind wird individuell als Person gewürdigt und wertgeschätzt, während gleichzeitig die Eltern in ihrer Notlage verstanden und akzeptiert werden.

Die Autoren vergessen niemals die Einzelperson, auch wenn sie versuchen, die Gesamtsituation, in der die Person lebt und die sie selber mit geschaffen hat, zu verstehen. In der Sprache des Personzentrierten Ansatzes heißt das: Sie versuchen das Ringen jeder einzelnen Person mit dem eigenen Selbstkonzept sowie mit dem Konzept der Familie, in der sie lebt, zu verstehen. Ich kenne die Verfasser und die Menschlichkeit, die sie in diese Arbeit einbringen.

In den letzten Jahren sind drei maßgebliche Artikel im American Journal of Maritial and Family Therapy (keine Personzentrierte Zeitschrift) erschienen. Ein Artikel fasste die Ergebnisse von 49 Studien über die Resonanz von Klienten zur Paar- und Familientherapie zusammen. Alle Ergebnisse bestätigten das Bedürfnis von Klienten nach Therapeuten mit einer personzentrierten Orientierung.

Klienten beschrieben die Therapien als einen „sicheren Hafen von Trost und Hoffnung“. Gute Therapeuten wurden als unterstützend, unparteiisch, nicht wertend und warm erlebt. Die Klienten fühlten sich angenommen.

Die Klienten hatten das Gefühl, die Therapeuten hörten ihnen zu, und sie waren daher bereit, Vorschläge der Therapeuten zu bedenken, und auf diese Weise konnte sich ein dialektischer Veränderungsprozess entwickeln.

Therapeuten überwanden die traditionellen Rollenmuster von Therapeut und Klient. Das hieß vor allem: Sie lernten von ihren Klienten! (Chenail et. al. 2012)

Klienten schätzten direkte, nicht-kritisierende Fragen zu persönlichen Dingen. Die Therapeuten erkundigten sich nach Gefühlen, wie es die Klienten untereinander nicht taten.

Ein weiterer Artikel (Fife et al. 2014) stellt Familientherapie als eine Art Pyramide dar, deren Basis ein „Way of Beeing“, also eine Haltung des Therapeuten den Klienten gegenüber ist: Die Beschaffenheit unserer Herzen und unsere Fähigkeit, Klienten als einzigartige menschliche Wesen anzusehen. Diese Art zu sein ist das Fundament, auf dem alle andere Hilfe gegründet ist.

Ein dritter Artikel (Sparks 2015) gibt die Ergebnisse einer der umfangreichsten Studien zur Paartherapie wieder und betont die zentrale Bedeutung von “Wärme, Freundlichkeit und der Fähigkeit zuzuhören” als den Kern von erfolgreichen Arbeitsbündnissen mit Klienten in belasteten Beziehungen.

Diese Artikel (zwei von ihnen gewannen Preise als wichtigste Artikel des Jahres) unterstützen die in diesem Buch beschriebene Integration von Fertigkeiten und persönlichen Fähigkeiten. Therapeuten und Berater, die dieses Buch lesen, erhalten eine Orientierung über zahlreiche Studien zu Therapeuten und Klienten innerhalb des Personzentrierten Ansatzes. Zudem werden sie zum Gebrauch dieser Fertigkeiten, die Veränderung und Kontakt in Familien und zwischen Paaren ermöglichen, angeleitet.

Denver, Sommer 2018 Charles J. O’Leary, PhD

Literatur

Chenail, R. J., St. George, S., Wulf, D., Duffy, M., Scott, K.W., Tomm, K. (2012): Clients’ Relational Conceptions of Conjoint Couple and Family Therapy Quality: A Grounded Formal Theory. Journal of Marital and Family Therapy 38 (1)

Fife, S. T., Whiting, J. B., Bradford, K., Davis, S. (2014) The Therapeutic Pyramid: A Common Factors Synthesis of Techniques, Alliance and Way of Being. Journal of Marital and Family Therapy 40 (1)

Sparks, J. A. (2015): The Norway Couple Project: Lesseons Learned. Journal of Martial and Family Therapy 41 (4), 481–494

(Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Renger.)

Vorwort und Dank

So unterschiedlich Menschen sind, und so verschieden die Konstellationen der Familien und Bezugssysteme, in denen sie aufgewachsen sind, so haben sie doch eines gemeinsam: Jeder Mensch wird durch seine individuellen Erfahrungen mit seiner Herkunftsfamilie oder den Hauptbezugspersonen geprägt und dies kann auch im späteren Leben eine wichtige Rolle spielen.

Haben wir nun im beruflichen beraterischen oder therapeutischen Kontext mit Familien zu tun, fließen sowohl unsere eigene Erfahrung als auch der Hintergrund der jeweiligen Familie mit in diese Begegnung ein.

Was aber trägt dazu bei, dass die Erfahrungen innerhalb der Familie einen Menschen positiv begleiten und die Beziehungen als gelingend, akzeptierend, wertvoll und hilfreich erlebt werden?

Mit diesem Buch möchten wir einen Beitrag dazu leisten, dass in der Begegnung mit Familien Erfahrungen ermöglicht werden, die diese in ihrer Entwicklung unterstützen und Bedingungen schaffen, in denen sich auch die einzelnen Familienmitglieder weiterentwickeln können.

Hintergrund ist dafür der Personzentrierte Ansatz nach Carl R. Rogers.

Auf der Grundlage seines humanistischen Menschenbildes können Kinder und Jugendliche, Paare, Eltern und ganze Familien entwicklungsförderlich begleitet und unterstützt werden, um auch miteinander zunehmend verstehend und wertschätzend umzugehen und belastende Situationen zu meistern.

Das vorliegende Buch ist eine Einführung in die Personzentrierte Familientherapie und –beratung (PZFT / PZFB) in Theorie und Praxis.

Im ersten Teil wird dargestellt, auf welche Wurzeln die PZFT zurückgeht und zugleich beschrieben, inwiefern sie sich von anderen Verfahren, v.a. dem Systemischen Ansatz, unterscheidet.

Daran anschließend folgt eine Darstellung der theoretischen Grundlagen der PZFT und PZFB unter Berücksichtigung unterschiedlicher Foki, denen in der Umsetzung und Weiterentwicklung des Ansatzes eine große Bedeutung zukommt.

Schließlich beschäftigt sich das Buch damit, welche Aspekte in der Praxis der PZFT / PZFB zu berücksichtigen sind und wie die Umsetzung des Personzentrierten Ansatzes in der Arbeit mit Familien konkret möglich ist.

Abgerundet wird das Buch durch eine Auswahl unterschiedlicher Kontexte, in denen die PZFT / PZFB ihre Anwendung findet, sowie durch einen Ausblick auf die Möglichkeit, sich in diesem Ansatz weiterzubilden.

Beim Schreiben haben wir bewusst auf die Genderschreibweise verzichtet, um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen, selbstverständlich sind immer alle Menschen gemeint.

Das Buch kann diesem Aufbau folgend im Ganzen gelesen werden. Je nach Vorerfahrung oder individuellen Interessensschwerpunkten kann aber auch das jeweils relevante Kapitel einzeln für sich stehen bzw. das Buch bei konkreten Fragen als Nachschlagwerk dienen.

Unser Dank gilt unseren eigenen Eltern und Herkunftsfamilien, unseren Partnern und Kindern, unseren Freunden und Kollegen, die uns unterstützt und mit ihren Anregungen bereichert haben.

Auch danken wir den vielen Familien, denen wir in unserer Arbeit begegnen, die uns immer wieder dazu anregen, das was wir tun, zu hinterfragen und weiterzuentwickeln und die uns beschenken mit den Einblicken in ihre jeweiligen Entwicklungsprozesse.

Ebenso sind wir dankbar für die Begegnungen mit Charles O`Leary, der mit seinem Verständnis von Personzentrierter Familientherapie einen großen Einfluss auf die Entwicklung unseres Ansatzes hatte und uns auch menschlich und fachlich ermutigt hat.

Ein herzliches Dankeschön an die GwG – Gesellschaft für Personzentrierte Beratung und Psychotherapie e.V. bzw. die Menschen, die diesen Verband ausmachen und ihn mitgestalten, v.a. Michael Barg. Durch ihn ist dieses Buch in dieser Form erst möglich geworden.

Danken möchten wir auch dem Ernst Reinhardt Verlag, v.a. Frau Landersdorfer und Herrn Poßin für die gute Zusammenarbeit.

Wir wünschen uns, dass die PZFT / PZFB eine weite Verbreitung findet und hoffen, mit dem vorliegenden Buch Menschen, die mit Familien zu tun haben, in ihrer Arbeit zu unterstützen, und so einen Beitrag zu einem gelingenden Miteinander zu leisten.

Weimar (Lahn), Oberhausen und Bonn im Juni 2018

Ulrike Hollick

Maria Lieb

Andreas Renger

Torsten Ziebertz

1 Einleitung

Torsten Ziebertz

Der vorliegende Band stellt im deutschsprachigen Raum ein Novum dar. Zum ersten Mal wird eine umfangreiche theoretische und praxisbezogene Darstellung der Personzentrierten Familientherapie und –beratung präsentiert, die eine Erweiterung der Personzentrierten Beratung und Psychotherapie von Carl R. Rogers auf den Bereich der Familientherapie bildet.

Personzentrierte Berater und Therapeuten sind von ihrem originären Ansatz her für ein dyadisches Setting ausgebildet worden: Ein Klient spricht mit einem Berater. Eine beträchtliche Zahl personzentrierter Berater und Beraterinnen arbeiten aber heute in der Familienberatung (Ziebertz 2012), also in einem Bereich, in dem ihnen nicht nur ein Mensch gegenübersitzt, sondern eine Familie.

Eine Studie von Ziebertz (2012) machte deutlich, dass es in Theorie und Praxis der Personzentrierten Familientherapie noch viele Lücken zu füllen galt. Diese Lücken bezogen sich nach der Wahrnehmung der Therapeuten und Berater im Wesentlichen auf die folgenden Punkte:

personzentrierte Theorien der Familie;

personzentrierte Theorien zu Paaren, Intimität und Sexualität (Lieb 2015);

praktische Methoden der Paar- und Familientherapie, die sich verfahrenskohärent aus den Theorien ableiten;

Methoden und Konzepte zum Einbezug von Kindern und Jugendlichen;

Fort- und Weiterbildungen in Personzentrierter Familientherapie.

Eine Folge dieser Lücken war, dass die Berater, wenn auch mit großem Unbehagen, auf andere familientherapeutische Ansätze zurückgegriffen haben, was zu einem nicht kohärenten Gemisch verschiedener Grundhaltungen, Erklärungsansätze und praktischer Vorgehensweisen geführt hat.

Die Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (GwG) bietet eine Weiterbildung in „Personzentrierter Familientherapie und –beratung“ mit den Autoren dieses Bandes als Dozenten an (www.gwg-ev.org/weiterbildung/personzentrierte-familientherapie-und-beratung). Ebenso ist es Ziel dieses Buches, einen Beitrag dazu zu leisten, diese Lücken (weitestgehend) zu füllen. Dabei wünschen wir unserer personzentrierten, wie auch bislang verfahrensfremden Leserschaft viel Freude, kreative Anregungen und Mut zum Ausprobieren.

2 Begriffsbestimmung: Personzentrierte Familientherapie und -beratung

Torsten Ziebertz

Was ist damit gemeint, wenn in diesem Band von Personzentrierter Familientherapie und Personzentrierter Familienberatung gesprochen wird?

Beides steht für die psychosoziale Arbeit mit Familien basierend auf der Personzentrierten Beratung und Psychotherapie von Carl R. Rogers. Zunächst einmal sei eine Abgrenzung der beiden Begriffe voneinander dargestellt:

Beratung: Personzentrierte Familienberatung meint für uns jegliche Form von unterstützenden Gesprächen mit Familien oder Familienmitgliedern. Diese Gespräche können in einem Beratungsraum, im Zuhause der Familie oder auch an Orten des familiären Alltages stattfinden. Sie können sowohl die Beziehungen der Familienmitglieder zum Inhalt haben als auch ihre materielle oder soziale Lebenswelt. Sie können den Klienten zur Information und Orientierung, Deutung und Klärung, oder auch zur Unterstützung von Handlung und Bewältigung dienen (Sander / Ziebertz 2010). Die Personzentrierte Familienberatung kann in der Sozialpädagogischen Familienhilfe, Kindertagesstätten, Schulen, Erziehungsberatungsstellen, Jugendämtern, Frühförderstellen, Tagesgruppen etc. umgesetzt werden.

Therapie: Die Personzentrierte Familientherapie meint für uns den Ausschnitt der Familienberatung, der sich explizit mit der Veränderung von inkongruenten Kommunikations- und Interaktionsmustern (Kap. 4.4.3) und den zugrunde liegenden inkongruenten Selbstkonzepten der Individuen beschäftigt. Diese Familientherapie bewegt sich dabei zwischen den individuellen Selbstkonzepten der einzelnen Familienmitglieder und der Kommunikation bzw. den Interaktionen in den gemeinsamen Familienkonzepten hin und her.

Typischerweise findet diese Form der Familientherapie meist in Familienberatungsstellen oder Praxen für Familientherapie statt. Daraus resultierend gelangen wir zu folgender Definition:

DEFINITION

Personzentrierte Familientherapie ist die Anwendung der Personzentrierten Psychotherapie nach Carl R. Rogers auf Familien, die durch Inkongruenzen (d. h. das Leiden einer Person an einer Nicht-Übereinstimmung zwischen ihrem Selbstkonzept und ihren gemachten Erfahrungen) auf der Ebene des Selbst und der Ebene der Beziehungen belastet sind. Durch das definierte Beziehungsangebot des Personzentrierten Familientherapeuten können die Familienmitglieder in einem Prozess, welcher sich wechselseitig mit dem jeweiligen Individuum und der Familie als Ganzem beschäftigt, ihre Beziehungen klären und zu einem befriedigenden Miteinander gelangen und weiterentwickeln.

Sofern nicht anders angegeben, ist in diesem Buch immer beides – Familienberatung und Familientherapie – gemeint. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit verwenden wir die Abkürzung PZFT (Personzentrierte Familientherapie) die aber eher als Oberbegriff zu sehen ist.

Obwohl es, wie in Kapitel 3 beschrieben, eine hohe Affinität zur Systemtheorie gibt und eine Familie auch aus personzentrierter Sicht nicht ohne systemtheoretische Implikationen betrachtet werden kann, geht der PZFT–Ansatz über diese Annahmen hinaus. Neben der interpersonellen Ebene hat die intrapersonelle Ebene mit all dem subjektiven Erleben des Individuums den zentralen Stellenwert. Es geht um die Bedeutung subjektiven Erlebens, um die Bildung innerer Repräsentanzen des eigenen Selbst und des anderen. Bei der PZFT geht es um ein Konzept, das davon ausgeht, dass das Verstehen des anderen und das Verstanden-Werden und damit das Symbolisieren von Erleben in der Begegnung eine Veränderung bewirkt, jenseits einer einseitigen Fokussierung auf spezifische Interventionen zum Auflösen von destruktiven Interaktionsmustern.

Kurz: Es gibt eine gemeinsame Schnittmenge im ganzheitlichen Verstehen einer Familiendynamik, es gibt aber auch Unterschiede. Verstehen im Personzentrierten Ansatz ist immer als ein annehmendes Verstehen gemeint, das über das kognitive Verstehen und über positive Konnotierung hinausgeht. Letzten Endes geht es um die Unterscheidung, ob die Herstellung einer wertschätzenden und von Empathie getragenen Beziehung die zwischenmenschliche Grundlage von Vertrauen schaffen soll, damit hilfreiche Interventionen auch angenommen werden können, oder ob diese Haltung bereits selbst die Intervention darstellt.

3 Wurzeln der Personzentrierten Familientherapie

Torsten Ziebertz

In diesem Kapitel werden einige Ansätze aus dem amerikanischen wie auch deutschen Raum vorgestellt, die sich mit Personzentrierter Familientherapie beschäftigt haben.

Begonnen wird dabei mit Carl R. Rogers, der, wenn er auch keine expliziten Schriften zu einer Personzentrierten Familientherapie hinterlassen hat, doch einige theoretische Überlegungen zum Thema „Familie“ formulierte.

Es folgt eine Übersicht über den Ansatz von Virgina Satir, einer der Pionierinnen der Familientherapie überhaupt, der sicherlich einer humanistischen Richtung zuzuordnen ist.

Stefan Schmidtchen hat in seinem Ansatz die Personzentrierte Spieltherapie durch eine Familientherapie ergänzt.

Die beiden Amerikaner Ned Gaylin und Charles O’Leary entwickelten jeweils Ansätze, die sich theoretisch nah an Rogers‘ Arbeiten anlehnen, dabei aber eigene methodische Erweiterungen liefern.

Weitere Ansätze in der personzentrierten Arbeit mit Familien, die hier nicht weiter ausgeführt werden können, stammen z. B. von Franz Kemper (1997), Thomas Gordon (2012) und Michael Behr (2012).

3.1 Carl R. Rogers

Maria Lieb

„Das Individuum verfügt potentiell über unerhörte Möglichkeiten, um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte, seine Grundeinstellungen und sein selbstgesteuertes Verhalten zu verändern. Dieses Potential kann erschlossen werden, wenn es gelingt, ein klar definierbares Klima förderlicher psychologischer Einstellungen herzustellen“ (Rogers 1997, 66).

Carl R. Rogers (1902-1987) war der Begründer der Personzentrierten Psychotherapie und Beratung. Er wurde 1902 in Oak Park, in den USA, geboren. Er war das vierte von sechs Kindern und wuchs in einem strengen, religiösen Elternhaus auf.

Aufgrund der Erfahrungen in seiner Kindheit (dem Leben auf einer Farm) begann er ein Studium im Fachbereich der Agrarwissenschaft (Groddeck 2002).

Die religiöse Erziehung, aber vor allem die Erfahrungen in einer religiösen Studentengruppe, ließen ihn zum Fach Theologie wechseln. Er besuchte 1924 das Union Theological Seminary, um sich auf die spätere Kirchenarbeit vorzubereiten.

Während des dortigen Studiums merkte er, dass ihn die theologischen Fragen durchaus interessierten, er aber nicht in diesem Bereich arbeiten wollte. Ihm war es wichtig, einen Bereich zu finden, der ihm die Freiheit der Gedanken beließ. Dies war der Grund, weshalb Rogers am Teacher’s College der Columbia Universität begann, Psychologie zu studieren, und mit dem Doktorgrad abschloss.

Am Ende seines Studiums bekam er eine Stelle in Rochester, New York, in der entwicklungspsychologischen Abteilung der „Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern“. Es war seine Aufgabe, Beratungsgespräche mit Eltern zu führen. In diesem praktischen psychologischen Dienst ging er vollkommen auf und gewann neue Einsichten über das Wesen therapeutischer Gespräche, die schließlich den Grundstein für den klientenzentrierten Ansatz legten (Groddeck 2002, 33ff.).

1940 nahm Rogers eine Professur an der Ohio State Universität an. Während dieser Lehrtätigkeit wurde ihm klar, dass er einen ausgeprägten eigenen Standpunkt über das Führen therapeutischer Gespräche entwickelt hatte.

Später übernahm Rogers Professuren an den Universitäten von Chicago und Wisconsin. Ab 1963 arbeitete er in La Jolla, Kalifornien, am „Center for Studies Of the Person“.

Die letzten zehn Jahre widmete er sich hauptsächlich der Friedensarbeit. Ganz kurz vor seinem Tod wurde Rogers für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Carl R. Rogers starb 1987 in New York (Groddek 2002).

Der Fokus von Carl R. Rogers‘ Arbeit lag auf der Beratung und Therapie von Einzelpersonen. Bei dem von Rogers entwickelten Konzept der klientenzentrierten Psychotherapie steht nicht das technische Wissen und Können des Therapeuten im Vordergrund, sondern die therapeutische Beziehung zwischen Therapeut und Klient. Wie diese beschaffen sein muss, hat Rogers zuerst 1957 (Deutsch: Rogers 1998a) in einem Aufsatz beschrieben und dazu sechs Bedingungen definiert,die als „notwendig und hinreichend“ für konstruktive Persönlichkeitsveränderung im Rahmen von Psychotherapie gekennzeichnet sind.

1. Zwei Menschen – ein Therapeut und ein Klient – befinden sich in einem psychologischen Kontakt.
Sie beginnen, eine Beziehung zueinander aufzubauen, nehmen sich gegenseitig wahr, reagieren aufeinander und sind zumindest ansatzweise in der Lage, ein Gespräch zu führen.

2. Der Klient befindet sich in einem Zustand von Inkongruenz.
Der Klient fühlt sich ängstlich, unsicher, uneins mit sich selbst. Er spürt, dass es etwas gibt, was nicht stimmig ist mit ihm, oder in ihm. Diese Gefühle erzeugen einen gewissen Leidensdruck beim Klienten.

3. Der Therapeut hingegen ist kongruent.
Der Therapeut ist im Kontakt zum Klienten mit sich selbst eins und integriert. Er kann in dieser Beziehung echt und er selbst sein. Sein Erleben stimmt mit seinem erwarteten Selbstbild überein. Der Therapeut kann sein ganzes Erleben in der Beziehung zum Klienten bewusst werden lassen. Dies bedeutet nicht, dass er dieses dem Klienten dauernd mitteilt, aber das bewusste Erleben muss da sein.

4. Der Therapeut erlebt sich als dem Klienten unbedingt zugewandt.
Der Therapeut kann den Klienten wertschätzen und akzeptieren und diese Wertschätzung ist nicht an bestimmte Bedingungen (z. B. Verhaltensweisen) gebunden, die der Klient erfüllen muss.

5. Der Therapeut kann sich durch ein einfühlendes Verstehen in den inneren Bezugsrahmen des Klienten einfühlen.
Der Therapeut fühlt sich in den Klienten und sein Erleben, und wie der Klient sich und sein Erleben bewertet, ein. Er teilt dem Klienten seine Erfahrungen der Empathie mit, also was er als Therapeut vom inneren Erleben des Klienten verstanden hat.

6. Beim Klienten muss zumindest in Ansätzen die Mitteilung des Therapeuten von dem, was dieser verstanden hat und bedingungslos annehmen kann, ankommen (Rogers 1998a, 165ff.).

In den weiteren Jahren der Entwicklung der therapeutischen Beziehung kristallisierten sich die o.g. Bedingungen drei, vier und fünf als die Kernbedingungen des therapeutischen Beziehungsangebotes heraus und wurden von Rogers explizit beschrieben.

Arbeitete Rogers im Mehrpersonensetting, dann handelte es sich meist um Gruppen und nicht um Familiensysteme.

Dennoch hatte Carl R. Rogers in der Arbeit mit einzelnen Personen eines Familiensystems, sei es in der Arbeit im klinischen Kontext mit schwer belasteten Kindern oder in der Einzelberatung von Elternteilen, immer das ganze Familiensystem im Blick (Rogers 1998b; 2016).

So ging es nie nur um den vor ihm sitzenden Klienten, sondern immer auch darum, was das Thema, z. B. Probleme der Mutter in der Beziehung zu ihrem Kind, für das Kind bedeuten könnte. Rogers sah somit das Individuum immer in seinem sozialen Umfeld und nie davon losgelöst.

Was Rogers letzten Endes davon abgehalten hat, auch mit ganzen Familiensystemen zu arbeiten, wird in seinen Schriften nicht deutlich und kann nur vermutet werden.

In seinem Buch „Theorie der Psychotherapie“ (Rogers 2016) beschreibt er die theoretischen Implikationen des Familienlebens: Hier geht er auf die bedingungslose Wertschätzung ein. Je mehr die Eltern ihrem Kind bedingungslos wertschätzend gegenübertreten, desto weniger ausgeprägt sind die „Bewertungsbedingungen“ des Kindes.

Bewertungsbedingungen meint hier, dass ein Kind die an Bedingungen geknüpfte Wertschätzung einer Bezugsperson in sein Selbstkonzept übernimmt und im Weiteren seine Erfahrungen (auch) nach den übernommenen Bewertungsbedingungen und nicht ausschließlich nach der Förderlichkeit für seinen Organismus bewerten wird (Rogers 2016, 42f.).

Es ist aufgrund dieser Erfahrung und der sich dadurch entwickelnden Fähigkeiten mehr dazu in der Lage, nach seinem Organismischen Wertungssystem zu leben.

DEFINITION

Nach Rogers bildet sich durch eine Vielzahl eigener positiver und negativer Erfahrungen in der Kindheit ein System von Wertvorstellungen, mit welchem wir äußere Einflüsse und Situationen bewerten. Er nennt dieses System das Organismische Wertungssystem. Dieses Organismische Wertungssystem wird aber nicht nur von eigenen Erfahrungen genährt, sondern auch von äußeren Erfahrungen. Das Organismische Wertungssystem stellt für die Person eine Steuerungsinstanz dar, die ihr Rückmeldung darüber gibt, wie die Erfahrungen zur Erhöhung und Entfaltung des Organismus zu bewerten sind. Der Grad der psychischen Ausgeglichenheit wächst (Zieberts 2012, 30).

Ein Elternteil kann diese bedingungslose Wertschätzung nur in dem Umfang geben, wie er sich selbst gegenüber bedingungslos wertschätzend sein kann. Abhängig vom Ausmaß der bedingungslosen Selbstachtung eines Elternteils ist auch das Maß, wie kongruent er in der Beziehung zu anderen (also auch zu seinem Kind und Partner) sein kann. Dies beinhaltet auch die Echtheit und Kongruenz im Ausdruck der eigenen Gefühle.

Sind diese Gegebenheiten gewährleistet, ist es dem Elternteil möglich, den inneren Bezugsrahmen empathisch und realistisch zu verstehen, was eine bedingungslose Wertschätzung für das Kind erlaubt (Rogers 2016).

Rogers verweist hier zum besseren Verständnis auf den „Prozess des Zusammenbruchs und der Desorganisation“, der die Verhaltensweisen eines Individuums mit einem hohen Maß an Inkongruenz erklärt (Rogers 2016, 64), wenn also die gerade eben beschriebenen Gegebenheiten nicht zutreffen.

In „Der neue Mensch“ (1997) beschäftigt sich Rogers mit dem Thema Erziehung. Hier geht er jedoch auf die anstehenden Herausforderungen des Bildungssystems und nicht auf die Kindererziehung durch die Eltern ein.

Die klientenzentrierte Haltung von Rogers wurde von Lehrern und Therapeuten noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts als eher bedrohlich angesehen, da sie in der überwiegend konservativen und hierarchisch orientierten Zeit die politische Macht eingeschränkt und Lehrer oder Therapeuten aufgrund dieser Haltung ihrer Macht über andere Menschen beraubt hätte (Rogers 1997, 137ff.).

Interessant ist, diese Folgerung bezogen auf Eltern und ihre Haltung gegenüber den Kindern, weg von der Autorität, hin zu einer Personzentrierung weiterzudenken. Dieses Erziehungsthema war aber, wie schon genannt, nicht der Fokus von Rogers, es ging hier ausschließlich um das Bildungssystem Schule.

In seinem Buch „Die Kraft des Guten“ schreibt Rogers über die „alte“ Familie und wie eine „neue“ Familie gestaltet werden könnte (Rogers 1978, 42). Rogers entwickelte folgendes Bild eines personzentrierten Familienlebens:

Mit der „Politik der Familienbeziehungen und der Ehe oder Partnerbeziehungen“ meinte er, dass jedes Individuum versucht, sein Leben im personzentrierten Sinne zu leben (Rogers 1978, 42).

Rogers hat sich aufgrund der Reaktionen auf seinen Ansatz sehr mit dem Thema Politik im Sinne von Machtausübung auseinandergesetzt. Das Ausmaß der Gegenwehr war für ihn schwer nachzuvollziehen, da es ihm nie um Macht ging. „Es geht nicht darum, daß dieser Ansatz der Person Macht verleiht, er nimmt sie ihr niemals weg“ (Rogers 1978, 8), so seine Aussage. Diese Grundhaltung führte jedoch dazu, dass er den bestehenden Charakter der Psychotherapie, der Ehe, der Pädagogik von Grund auf änderte (Rogers 1978, 9), was zur damaligen Zeit revolutionär war. Diese Reaktionen veranlassten Rogers, sich bewusster damit auseinanderzusetzen, was der damals von ihm so genannte klientenzentrierte Ansatz für die Frage der Macht bedeutete. Sein Ziel war es, mit dem Ansatz eine größere Unabhängigkeit beim Klienten zu erreichen (Rogers 1978, 16). Wie das Kind in diesem Sinne verstanden werden kann, beschreibt er folgendermaßen:

„Das Kind wird als unverwechselbares, achtenswertes Individuum betrachtet, welches das Recht hat, sein Erleben auf seine persönliche Weise zu bewerten und dem umfassende, autonome Entscheidungsbefugnisse eingeräumt werden“ (Rogers 1978,42).

Jeder Elternteil respektiert sich selbst und verfügt über Rechte, die durch das Kind nicht außer Kraft gesetzt werden können. Probleme in der Partnerschaft oder Ehe werden so offen behandelt, wie es beiden möglich ist. Ebenso hat jeder Partner auch die Freiheit, seinem eigenen Leben eine Richtung zu geben, eigene Entscheidungen zu treffen und seinen beruflichen oder anderen Interessen nachzugehen (Rogers 1997).

Es ist schon erstaunlich, wie weit diese Aussagen auch auf die heutige Zeit übertragen werden können und dem Zeitgeist der gegenwärtigen Generation entsprechen, bspw. in Bezug auf die Gleichstellung von Mann und Frau oder eine wertschätzende, positive Beziehung dem Kind gegenüber.

Rogers fokussiert die Gestaltung der Beziehung der Eltern dem Kind gegenüber. Hier verweist er auf Eltern, welche er kennt und die diese personzentrierte Vorgehensweise mit ihren Kindern praktizieren. Er spricht von einer neuen Art des Umgangs der Eltern mit ihrem Kind, bei welchem die kleinsten Anzeichen des Ausdrucks, wie bspw. Weinen oder Lachen, wahrgenommen und respektiert werden (Rogers 1997, 43). Dieses Einfühlen und Erkennen könnte sicherlich mit dem „Konzept der Feinfühligkeit“ weitergedacht werden (Grossmann 1977).

Er benennt die Entscheidungs- und Wahlfreiheit des Kindes, sofern es dazu schon in der Lage ist und die dadurch entstehenden möglichen Konsequenzen tragen kann. Entsprechend dem Maß seiner Entwicklung wird dem Kind und später dem Jugendlichen ein wachsendes Maß an Autonomie zugestanden.

Um zu verhindern, dass es sich um eine völlig kindbezogene Haltung handelt, betont Rogers, dass die Eltern ebenso Gefühle und Einstellungen haben, welche sie dem Kind gegenüber auf eine Art mitteilen, sodass diese vom Kind verstanden werden können.

Es wird deutlich, wie bedeutsam diese Form des Miteinanders für Rogers war und welche Chance er darin sah, wenn Kinder diese Erfahrung machen können. Sie lernen dadurch, sich ständig ihrer eigenen und der Gefühle ihrer Eltern bewusst zu sein, was zu „höchst sozialen Wesen“ (Rogers 1978, 43) führt. Er umschreibt dies folgendermaßen:

„Sie sind anderen Menschen gegenüber aufgeschlossen, drücken ihre Gefühle offen aus, lehnen es ab, herablassend behandelt zu werden, und erweisen sich in ihren Unternehmungen als kreativ und unabhängig. Sie haben ein Gespür für die Gefühle, die ihnen andere entgegenbringen, und obwohl sie nicht vor Konfrontationen zurückscheuen, versuchen sie nur gelegentlich, einander bewusst weh zu tun“ (Rogers 1978, 43).

So gibt es im Leben der Eltern zwei Arten von Disziplin, nämlich die „Selbstdisziplin“, die mit der „verantwortungsbewussten Autonomie“ zu übersetzen ist, und die „flexiblen Grenzen“, was die Disziplin meint, welche von den Gefühlen der Menschen in ihrem Umfeld gesetzt wird (Rogers 1978, 43). Natürlich gibt es auch Reibungen und Schwierigkeiten, welche miteinander besprochen und bearbeitet werden. Grundlegend befinden sich die Familienmitglieder jedoch in einem „kontinuierlichen Beziehungsprozeß“, in welchem sie sich miteinander verändern, was zu Ergebnissen führt, die nicht vorhersehbar sind. Um dies zu erzielen, ist das Miteinander täglich von vielen Entscheidungen und Handlungen beeinflusst. So prägt Rogers den Begriff der „Politik des Beziehungsprozesses zwischen nicht austauschbaren Individuen“ (Rogers 1978, 44).

BEISPIEL

Rogers nennt anhand eines Beispiels, was geschieht, wenn Partner diesen Prozess praktizieren. Er beschreibt eine Patchworkfamilie, in welcher von beiden Seiten Kinder aus erster Ehe mitgebracht werden. Die Mutter war in dem Sinne im Veränderungsprozess, indem sie in ihrer ersten Ehe ihre Kinder vorwiegend nach autoritären Grundsätzen erzog. Durch ihren neuen Ehemann, der eher einer personzentrierten Erziehung nachging, bemerkte sie, dass sie sich aufgrund dieser Erfahrungen veränderte. Es entstanden viele neue Beziehungen, die sich durch ein größeres oder auch geringeres Maß an Vertrauen und Kommunikation auszeichneten. Das Beobachten der aktuellen Gegebenheiten führte bei den Eltern dazu, Familienkonferenzen mit allen Familienmitgliedern abzuhalten. Jeder hatte in diesem Rahmen das Recht, seine Gefühle, Beschwerden, Zufriedenheiten etc. den anderen Familienmitgliedern gegenüber auszudrücken. Ziel der Familie war es, dass „die Intimität und das Teilen und Ausdrücken von Gefühlen“ zu einem festen Bestandteil im Umgang miteinander wurden (Rogers 1978, 48ff.).

Diese Beschreibung der Vorgehensweise in einer Familie gibt erste Ideen davon, wie für Rogers ein personzentriertes Zusammenleben in einer Familie vorstellbar und umsetzbar gewesen ist.

Ziel dieses Buches ist es, aus diesen von Rogers initiierten Grundlagen eine Theorie und Praxis der Personzentrierten Familientherapie und Beratung zu entwickeln.

In dem Buch „Entwicklung der Persönlichkeit“ wird in der Beschreibung seiner Arbeit Rogers‘ „systemische“ Sichtweise deutlich (Rogers 1998b, 56ff.). So berichtet er von Erfahrungen in der Arbeit mit einer Mutter, bei welcher der Fokus sowohl auf ihr selbst, als auch auf der Beziehung zwischen ihr und ihrem Kind lag. Er sprach von Erkenntnissen, welche hilfreich für die Mutter und für das Kind waren (Rogers 1998b, 27).

Im klinischen Kontext machte er die Erfahrung, dass es wenig hilfreich ist, Klienten eine bestimmte Sichtweise oder Lösung vorzugeben. Dies würde vielmehr dazu führen, dass die Beziehung an der Oberfläche bliebe (Rogers 1998b).

Es wird deutlich, dass es immer das Bemühen von Rogers gewesen ist, effektive Wege für Menschen in Not zu entdecken (Rogers 1998b, 46). So stellte er sich immer die Frage, wie sich Beziehungen herstellen lassen, die Menschen für ihre eigene Persönlichkeitsentfaltung nutzen können. Er betont hier, dass diese Erfahrungen und Erkenntnisse auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen übertragbar sind (Rogers 1998b), somit auch auf die Arbeit mit Familien. Es wird deutlich, dass Rogers zwar überwiegend mit einzelnen Klienten gearbeitet hat, aber immer davon ausging, dass dies auch auf andere Personen / Personengruppen übertragen werden könne und zu ähnlichen Ergebnissen führe. So vertrat er die Auffassung, dass eine gewisse Art von Beziehung im Gegenüber dazu führen würde, sich selbst zu entdecken und zu entfalten. Entscheidend sei die von Wertschätzung, Empathie und Kongruenz geprägte Beziehung, die auf unterschiedliche Zielgruppen angewendet werden könne und wirksam sei (Rogers 1998b, 47).

Bezogen auf Familien geht er davon aus, dass ein Kind selbständiger, sozial angepasster und reifer wird, wenn die Eltern in der Lage sind, ein psychosoziales Klima herzustellen, welches beispielsweise die Basisvariablen Empathie, Akzeptanz und unbedingte Wertschätzung berücksichtigt (Rogers 1998b, 51).

Ganz im Interesse von Rogers ist es unser Anliegen, genau da anzusetzen, wo die Ausführungen von Rogers bezogen auf die Arbeit mit Familien endeten. Wie Rogers den Begriff prägte, dass die Erfahrung das wichtigste Gut sei, ist es unser Anliegen in diesem Buch, die Brücke zu schlagen hin zur personzentrierten Arbeit mit Familien.

3.2 Virginia Satir

Ulrike Hollick

„Das größte Geschenk,
das ich geben kann, ist, den anderen
zu sehen, zu hören,

Satir 2001