Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Hinweis
  7. Widmung
  8. Vik-ló
  9. Prolog
  10. 1. Kapitel
  11. 2. Kapitel
  12. 3. Kapitel
  13. 4. Kapitel
  14. 5. Kapitel
  15. 6. Kapitel
  16. 7. Kapitel
  17. 8. Kapitel
  18. 9. Kapitel
  19. 10. Kapitel
  20. 11. Kapitel
  21. 12. Kapitel
  22. 13. Kapitel
  23. 14. Kapitel
  24. 15. Kapitel
  25. 16. Kapitel
  26. 17. Kapitel
  27. 18. Kapitel
  28. 19. Kapitel
  29. 20. Kapitel
  30. 21. Kapitel
  31. 22. Kapitel
  32. 23. Kapitel
  33. 24. Kapitel
  34. 25. Kapitel
  35. 26. Kapitel
  36. 27. Kapitel
  37. 28. Kapitel
  38. 29. Kapitel
  39. 30. Kapitel
  40. 31. Kapitel
  41. 32. Kapitel
  42. 33. Kapitel
  43. 34. Kapitel
  44. 35. Kapitel
  45. 36. Kapitel
  46. 37. Kapitel
  47. 38. Kapitel
  48. Epilog
  49. Glossar
  50. Danksagungen

ÜBER DAS BUCH

Nach einem schweren Sturm stranden die tapferen Wikinger um Thorgrim Nachtwolf im Hafen von Vík-ló. Ihr Schiff ist ramponiert, die Weiterfahrt nach Norwegen ausgeschlossen. Ihr einziger Trost: das Wissen, bei Grimmar dem Riesen unter Freunden zu sein. Wie selbstverständlich stehen sie ihm bei, als die Iren mitten in der Nacht Vík-ló angreifen. Sie sichern sogar zu, ihm bei der Bergung eines Schatzes zu helfen. Doch kurz bevor sie wieder in See stechen, muss Thorgrim erkennen, dass Grimmar in Wahrheit ein gefährlicher Feind ist …

ÜBER DEN AUTOR

Bevor er begann, über das Segeln zu schreiben, lebte und arbeitete James L. Nelson sechs Jahre lang an Bord traditioneller Segelschiffe. Seine zahlreichen Sachbücher und Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit Preisen der American Library Association. Nelson liest in ganz Amerika aus seinen Büchern und tritt regelmäßig im Fernsehen auf. Er lebt mit seiner Frau Lisa und den gemeinsamen Kindern in Harpswell, Maine.

James L. Nelson

DIE WIKINGER

Die Rache des Kriegers

HISTORISCHER ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch von
Alexander Lohmann

BASTEI ENTERTAINMENT

Der vorliegende Roman ist frei erfunden. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse sind entweder vom Autor ausgedacht oder werden ausschließlich fiktional verwendet. Jede Übereinstimmung mit tatsächlichen Geschehnissen, Schauplätzen, Organisationen oder Personen, lebend oder bereits verstorben, ist rein zufällig und weder vom Autor noch vom Verlag beabsichtigt.

Für Jonathan Bonaventure Nelson,
Künstler, Träumer – mein geliebter Sohn

Vik-ló – ein Ortsname der Wikinger, der so viel wie »saftige Wiese an der Bucht« bedeutet. An diesem Ort steht heute die irische Stadt Wicklow.

(Weitere Begriffe finden Sie im Glossar ab Seite 505)

Prolog

Die Saga von Thorgrim Ulfsson

Einst lebte ein Mann mit dem Namen Thorgrim, der Sohn des Ulf Haraldson, dem ein Bauernhof in Ost-Agder in Vik im Lande Norwegen gehörte. Er war nicht größer als andere Männer, aber sehr stark, und er war ein erfahrener Krieger. Das stellte er oft unter Beweis, als er dem Jarl Ornolf Hrafnsson, der auch als Ornolf der Rastlose bekannt war, als Hirdman diente und mit ihm auf Wikingerfahrt ging.

Gemeinsam mit Ornolf plünderte er viele Sommer lang und gewann dabei großen Reichtum. Damit kaufte er mehr Land und Vieh und Sklaven, und mit dem Segen des Jarls heiratete er Ornolfs Tochter Hallbera. Thorgrim gab Ornolf fünfzig Silbermünzen als Brautpreis, und Ornolf überließ Thorgrim einen Hof im Norden Ost-Agders, den Thorgrim Jahre darauf an seinen ältesten Sohn Odd übergab. Thorgrim und Hallbera hatten drei Kinder: Odd, Harald und Hild.

Thorgrim hatte sich als Krieger einen Ruf erworben, aber er war auch ein kluger Bauer und geschickt im Umgang mit Holz. Viele suchten seinen Rat, und obwohl er wenig redete, half er doch stets gerne, wenn es ihm möglich war, und sein Wort war hochgeachtet. Es gab nur eine Sache, die seinen Nachbarn Unbehagen bereitete: An bestimmten Tagen wurde Thorgrim reizbar, sobald die Sonne unterging, und er war dann so aufbrausend, dass niemand sich ihm zu nähern wagte. Manch einer glaubte, dass er ein Gestaltwandler sei und bei Nacht die Form eines Wolfes annähme. Und so wurde er als Thorgrim Nachtwolf bekannt.

Als Thorgrims Tochter Hild zehn Jahre alt war, wurde Hallbera noch einmal schwanger. Sie gebar eine Tochter, die Thorgrim Hallbera nannte, nach seiner Frau, die bei der Geburt starb. Als das geschehen war, wollte Thorgrim nicht länger auf seinem Hof bleiben, und er folgte seinem Schwiegervater Ornolf, der erneut im Westen auf Wikingerfahrt ging. Dieses Mal nahm er seinen zweiten Sohn Harald mit auf die Reise. Der war fünfzehn Jahre alt und so kräftig gebaut, dass er sich bald den Beinamen »Starkarm« erwarb.

Ornolfs Schiff war der Rote Drache, und er segelte damit zu einem Longphort an der Küste Irlands, der von den Iren Dubh-Linn genannt wurde. Ornolf hatte eine solche Vorliebe für das Essen und Trinken, dass meist Thorgrim Schiff und Männer führte. Auf ihrem Weg nach Dubh-Linn überfielen sie ein irisches Boot und raubten dabei eine wundervolle Krone, die bei den Iren als »Krone der Drei Königreiche« bekannt und hochgeachtet war. Das zog zahlreiche Abenteuer nach sich, welche die Wikinger unter den Iren bestehen mussten. Denn die Krone verlieh dem König, der sie trug, eine große Befehlsgewalt im Land, und so gab es viele Männer, die sie besitzen wollten.

Während die Iren untereinander kämpften, plünderten Thorgrim und seine Begleiter die Kirche an einem Ort namens Tara, der als der Sitz der Hochkönige von Irland galt, auch wenn nur wenige die Autorität eines einzelnen Königs über Irland anerkannten und jeder Teil des Landes lieber seinem eigenen König folgte. Die Wikinger gewannen große Reichtümer auf Tara, aber Thorgrim wurde durch den Verrat eines verbündeten Jarls schwer verwundet, obwohl er geholfen hatte, diesen Mann aus den Händen der Iren zu befreien. Dies geschah im Jahr 852 nach dem christlichen Kalender, neunundfünfzig Jahre, nachdem die ersten Nordmänner westwärts gesegelt waren und das Kloster bei Lindisfarne geplündert hatten.

Zu dieser Zeit war Thorgrim des Plünderns müde geworden und wünschte sich nichts sehnlicher, als zu seinem Hof in Ost-Agder heimzukehren. Sein Sohn Harald war nicht so begierig darauf, wieder nach Hause zu fahren, aber er war ein guter Sohn und tat, was sein Vater ihm auftrug. Während seiner Abenteuer in Irland war Thorgrim in Besitz eines Schiffes gelangt, das er die Weitfahrer nannte. Sobald Thorgrim halbwegs von seiner Wunde genesen war, war er fest entschlossen, nach Norwegen zurückzusegeln. Also sammelte er mehr als fünfzig Männer für seine Mannschaft und belud die Weitfahrer mit Vorräten und Handelsgütern und mit der Beute, die er in Irland gemacht hatte. Daraufhin stach er in See, heimwärts nach Vik.

Und davon erzählt die folgende Geschichte …

1. Kapitel

Zum ersten Mal plünderten die Heiden im Süden von
Brega … und sie schleppten viele Gefangene fort, und sie
erschlugen viele und führten sehr viele in die Sklaverei.

DIE ANNALEN VON ULSTER

Sie hörten die Geräusche der Schlacht, bevor sie etwas davon sehen konnten.

Die Küste von Irland lag weniger als eine Meile entfernt an der Backbordseite. Das Langschiff Adlerschwinge folgte ihrem Verlauf auf unstetem Kurs in Richtung Nordosten. Der Wind blies in Böen. Manchmal drückte er das lange, schnittige Schiff auf die Seite und trieb es voran, dann wieder sank er zu einem bloßen Hauch herab. Dann richtete sich das Schiff auf und bewegte sich kaum von der Stelle, während Segel und Takelage flappten und knallten und der Rumpf in der Dünung schaukelte.

Am Heck, halb auf die Ruderpinne gestützt, stand Grimarr Knutson, ein Däne aus Haithabu. Man nannte ihn auch Grimarr den Riesen, und das aus gutem Grund: Obwohl er nicht wirklich ein Riese war, konnte man leicht glauben, dass zumindest sein Vater dieser Rasse angehört hatte, selbst wenn seine Mutter ein Mensch gewesen war. Grimarr war mindestens einen Kopf größer als jeder der sechzig Krieger an Bord und so breit wie zwei von ihnen. Keiner wusste, wie stark er war, weil niemand den Mut aufbrachte, seine Kraft auf die Probe zu stellen.

Unmittelbar vor Grimarr saß auf der Steuerbordseite sein Sohn Sandarr auf einer kleinen Truhe. Er hielt sein Bein vor sich ausgestreckt – vor mehr als einem Jahr war es in einem Kampf verletzt worden und seitdem nie ganz verheilt. Sandarr war Grimarrs ältester Sohn und inzwischen auch sein einziger. Er hatte ein wenig von der Größe des Vaters geerbt, jedoch nicht die dazu gehörige Stärke. Das hieß nicht, dass Sandarr ein Schwächling war oder sich nicht im Kampf bewährt hätte. Aber er war nun einmal nicht der Mann, der sein Vater war, und das wusste jeder, auch wenn niemand es auszusprechen wagte.

Dafür war Sandarr schlauer als sein Vater, viel schlauer. Das war gleichfalls eine Tatsache, die nie jemand erwähnte, zumindest nicht in Grimarrs Gegenwart.

Eine Bö traf die Adlerschwinge. Der heftige Windstoß drückte das Schiff tief hinab auf die Backbordseite und stieß es zugleich abrupt nach vorne. Grimarr verschob die Ruderpinne ein wenig und drehte das Schiff härter in den Wind. An Backbord erhob sich eine große Landspitze vor dem Bug, das Wasser schäumte weiß um den Fuß der beeindruckenden Klippe, die Grimarr an die atemberaubenden Fjorde seiner Heimat erinnerte. Die Adlerschwinge musste zunächst um diese Landzunge herum und dann ein gutes Stück nordwärts segeln, bevor sie den Heimathafen erreichte. Ihren irischen Heimathafen, den Longphort von Vík-ló.

Segel und Takelage spannten sich unter der Brise, das Flattern und Knallen verstummte. Obwohl der Wind nur mäßig blies, war das Segel gerefft, um den Druck auf die gebrochene und notdürftig reparierte Planke achtern vom Mast zu mindern. Dennoch waren das Glucksen des am Kiel entlangströmenden Wassers und das leise Knarren von Mast und Wanten nicht zu überhören. Grimarr sah, wie die Männer nach Luv blickten, die Richtung, aus der der Wind wehte. Gewiss hofften sie, dass die Brise hielt.

Vermutlich wäre die Adlerschwinge bei diesem unsteten Wind unter Rudern schneller vorangekommen als mit dem Segel. Aber sie waren nicht in Eile, und Grimarr gönnte seiner Besatzung lieber eine Rast, statt jedes Quäntchen Geschwindigkeit aus dem Schiff zu pressen. Die Bequemlichkeit der Männer spielte bei dieser Rechnung allerdings kaum eine Rolle.

Stattdessen dachte Grimarr daran, wie viel Leistung er wohl von erschöpften Kriegern erwarten konnte, wenn sie plötzlich in einen blutigen Kampf gerieten. Diese Möglichkeit durfte er nie aus dem Auge verlieren: Wie man in einer Schlacht gern eine Reserve zurückbehielt, so musste stets auch ein Teil der Kräfte seiner Männer für den Fall erhalten bleiben, dass der Adlerschwinge Gefahr drohte. Und solange das Schiff nicht sicher im Longphort von Vík-ló lag, drohte immer Gefahr!

Die Wikinger waren noch ausgelaugt von einem Überfall, der jetzt knapp zwei Wochen zurücklag. Das Ziel ihres Raubzugs war ein Kloster gewesen, das in der Nähe einer Stadt lag, die bei den Iren Fearna hieß. Fearna war keine Küstenstadt, sondern lag Meilen im Landesinneren. Sie hatten erst einen Fluss namens Slaney hinauffahren müssen und dann einen weiteren, den die Menschen hier Bann nannten. Die Adlerschwinge und ein zweites Langschiff, die Wogenreiter, waren Meile um Meile stromauf gekrochen. Das Vorankommen hatte sich als schwerer erwiesen, als Grimarr oder Fasti Magnisson – der Besitzer der Wogenreiter – erwartet hatten. Die Strömung ging schnell. Sandbänke erhoben sich an Stellen, wo niemand mit ihnen rechnete, und sie griffen nach dem Bug der Schiffe, so flach diese auch gebaut waren. Mitunter mussten die mehr als hundert Krieger, die an dem Raubzug beteiligt waren, über die Bordwand in den kalten Fluss steigen und die Fahrzeuge wieder freiziehen. Dazu hatte es die ganze Zeit geregnet, ein andauernd prasselnder Schauer; doch das war kaum ungewöhnlich in diesem Land, wie Grimarr inzwischen erkannt hatte.

Die Reise war höllisch gewesen, der Überfall hingegen ein großer Erfolg. Seit mittlerweile zwei Generationen hatten Wikinger die Klöster und alle wohlhabenden Orte an der Küste geplündert und leer geräumt, aber nun waren sie zum ersten Mal ins Inland vorgedrungen, hatten die reichen Flüsse Irlands genutzt, um weit vom Meer entfernt zuzuschlagen. Die Bewohner von Fearna hatten nichts von der Bedrohung geahnt. Das Kloster dort brachte einen üppigen Hort Silber ein, etwas Gold und einige Edelsteine. Die Nordmänner nahmen zudem so viele Sklaven mit, wie sie nur an Bord der beiden Schiffe unterbringen konnten, auch wenn das tatsächlich nicht sehr viele waren.

Aber der Rückweg zur See war noch schlimmer gewesen als der mühsame Weg landeinwärts. Die dahinschießende Strömung trug sie voran, doch stieß sie die Schiffe auch in die Schlammbänke hinein und drückte sie immer wieder gegen die hohen Ufer. So geschickt die Nordmänner auch ruderten, es war hart, die Boote im tiefen Wasser zu halten, und wenn das misslang, erwies es sich jedes Mal als Albtraum, sie wieder freizubekommen.

Ihr Rumpf lag auf der Rückreise tiefer im Wasser, voll mit der Beute und den Sklaven aus Fearna, und das machte alles noch schwieriger. Doch endlich erreichten die Wikinger die Mündung des Flusses, und die Ufer rückten vor ihnen auseinander, als wollten sie sie freigeben, während das Meer sich als weiter Bogen vor dem Bug erstreckte.

Jetzt, nachdem sie dem Fluss entkommen waren und die schroffe Küste neben ihnen vorüberzog, wollte Grimarr der Riese nur noch zurück nach Vík-ló – so wenig der Longphort auch hermachte – und die Adlerschwinge erst mal eine Weile hinter sich lassen. Die Bö, die das Schiff so auf die Seite drückte, schob es außerdem fünfzig Bootslängen voran. Ein langer, weißer Streifen Kielwasser blieb zurück, und jeder Mann an Bord hoffte bereits, dass der Wind nun halten und sie geradewegs um die hoch aufragenden, felsigen Klippen an Backbord herumtragen würde.

Und genau da legte sich die Brise wieder und erstarb. Grimarr spürte, wie eine Welle der Enttäuschung durch die Mannschaft lief. Und dann, über die schlagende Takelage und das leise Flappen des geölten Wollstoffs, aus dem das Segel bestand, hinweg, vernahm er einen anderen Laut, weit entfernt, jedoch vertraut, ein Geräusch, das er unter jedem anderen herausgehört hätte. Obwohl es kaum hörbar war, klang es für ihn doch so eindringlich wie ein Alarmruf aufs Meer hinaus.

Das Klingen von Stahl auf Stahl. Von Waffe auf Waffe.

Grimarr richtete sich aus seiner zusammengesackten Haltung über der Ruderpinne auf und lauschte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Niemand sonst an Bord schien es bemerkt zu haben; die leisen Gespräche an Deck stockten keinen Augenblick.

»Ruhe!«, brüllte Grimarr, und die Männer verstummten so plötzlich und endgültig, wie eine Kerze erlischt, wenn sie ausgeblasen wird. Die Adlerschwinge machte kaum noch Fahrt in der schwachen Brise, das Wasser verursachte kaum einen Laut auf der Bootshülle, und die Segel flatterten sanft. Die Männer saßen in absoluter Stille da, und nun lauschte jeder. Das Geräusch, das Grimarr vernommen hatte, wiederholte sich, deutlicher jetzt, und gedämpfte Schreie mischten sich darunter. Ein Gefecht, ganz ohne Frage. Jeder Mann an Bord hatte diesen Klang wieder und wieder gehört, und alle erkannten es sofort.

»Bei Odins süßem Arsch!«, rief Grimarr. Wer immer dort kämpfte, er befand sich auf der abgewandten Seite der Landzunge, und die massiven Steilwände dämpften alle Laute, die sie sonst viel früher wahrgenommen hätten. Wenn auf der Nordseite der Landspitze gekämpft wurde, wusste Grimarr genau, wer da kämpfte – zumindest auf einer Seite. Einer der Kämpfer musste Fasti Magnisson an Bord der Wogenreiter sein. Grimarr hatte auch eine Ahnung, wer der andere sein mochte.

»Ihr Hurensöhne!«, schrie er seine Männer an, die weiterhin an den Ruderbänken saßen. »Holt das Segel runter! Raus mit den Rudern! Bewegt euch, verdammt noch mal, sonst reiß ich euch die Lungen raus!«

Grimarr hatte die Drohung nicht einmal ausgesprochen, da hatte sich schon jeder seiner Leute in Bewegung gesetzt. Sie lösten Fall und Brassen, schwangen die Rah in Längsrichtung, während sie den Mast herabglitt, und verschnürten das Segel daran; sie hoben die Ruder aus den Halterungen und reichten sie über das Deck. Sandarr schob sich auf die Füße, humpelte zur Steuerbordbrasse und nahm sie auf. Es war nicht die Furcht vor Grimarr, die sie antrieb, nicht dieses Mal, und Grimarr wusste es. Genau wie für ihren Anführer stand für sie alle ein Vermögen auf dem Spiel, wenn ihre schlimmsten Befürchtungen sich als wahr erwiesen.

In der obersten Reihe der Schiffsplanken gab es Öffnungen für die Ruder. Jede einzelne war verschlossen, damit kein Wasser dort eindrang, wenn die Adlerschwinge im Wind krängte und ihre Flanken ins Meer tauchte. Jetzt schoben die Nordmänner diese Verschlüsse zur Seite und stießen die Ruder durch die Riemenpforten – Ruder von unterschiedlicher Länge, um an jedem Platz die unterschiedliche Breite des Rumpfes auszugleichen.

So kompliziert und potenziell chaotisch dieser Vorgang auch sein mochte: Die Männer brauchten keine Minute, um das sich träge im unruhigen Wind dahinwälzende Segelschiff in ein flinkes Ruderboot zu verwandeln, das wie ein Pfeil dahinschoss; angetrieben von jahrelanger Übung und enormer Motivation.

Das Pech, das ihre Fahrt verfolgte, hatte nicht nachgelassen, nachdem die Adlerschwinge und die Wogenreiter den Slaney hinter sich ließen. Den Rest des Tages hatten sie auf ihrem Weg die Küste entlang noch einiges gutgemacht, bevor sie die Nacht auf einem Kiesstrand verbrachten. Am folgenden Morgen hatten sie die Langschiffe zurück ins Meer getragen, bei einer steten und günstigen Brise die Segel gesetzt und sich weiter die Küste hinauf nach Norden bewegt.

Es war bald Mittag, als Grimarr bemerkte, wie das Wasser über die Decksplanken stieg. Zwischen Deck und Rahmen und dem Schiffsboden darunter, an dem beides befestigt war, gab es nur einen winzigen Zwischenraum. Es war normal, dass Wasser darin schwappte – entweder, weil es über das Dollbord gekommen war, wenn eine Bö den Bootsrand hinabdrückte, oder weil ein Wolkenbruch das offene Schiff wie einen Trog volllaufen ließ. Die Männer waren daran gewöhnt, es über Bord zu schöpfen, sobald es in ihre Reichweite kam, und das taten sie auch jetzt. Doch Grimarr bemerkte, dass sie dieses Mal viel häufiger schöpfen mussten.

»Wo bei allen Göttern kommt das verfluchte Wasser her?«, wollte er wissen. Ein paar der Decksplanken lagen nur lose auf, um einfacher schöpfen zu können, aus Lagerungszwecken und um an den Rumpf zu gelangen. Diese wurden nun angehoben und die Planken darunter überprüft, ohne dass man einen Schaden entdeckte. Daraufhin wurden weitere Bretter gelöst, und gleich hinter dem Fuß des Mastes, genau dort, wo die Auflage des Mastes eine große Hebelkraft auf den Rumpf entfaltete, fanden sie eine der Rumpfplanken sauber durchgebrochen. Es war ein hässlicher Riss von mehreren Fuß Länge, durch den bei jedem Schaukeln des Schiffes ein neuer Schwung Wasser eindrang.

Einen Augenblick lang hatten Grimarr und die anderen nur dagestanden und auf den verwundeten Plankengang gestarrt, aus dem das Meerwasser einblutete. Und dann rollte der Rumpf der Adlerschwinge erneut, und das Holz krachte vernehmlich, und das Wasser sprudelte noch schneller herein.

»Oh, soll Odin doch diesen verfluchten morschen Schweinetrog holen!«, verschaffte Grimarr seinem Ärger Luft. Er blickte nach Westen, entdecke eine Stelle, wo die zumeist felsige und ungastliche irische Küste sich anscheinend zu einem Strand abflachte und wo sie das Schiff auf Grund setzen konnten. Sie mussten es versuchen. Wenn sie nicht irgendwie eine Reparatur zuwege brachten, würde die Adlerschwinge nicht viel länger über Wasser bleiben. Ganz gewiss würde sie es in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht bis Vík-ló schaffen.

»Holt das Segel ein. Lasst die Ruder zu Wasser. Wir gehen da drüben an Land«, befahl Grimarr mürrisch. Er wurde lauter und rief die Wogenreiter an, die einige hundert Ellen weiter seewärts segelte. Er ließ sie wissen, dass er auf die Küste zusteuerte, ohne sich die Mühe zu machen, die Gründe dafür zu erläutern.

Eine Stunde vor Sonnenuntergang lagen beide Schiffe auf dem Strand. Wachen standen in weitem Bogen um das Lager und schützten sie vor Überraschungen. Nach Grimarrs und Fastis Einschätzung mussten sie nun tief in dem Landstrich stecken, der von dem Iren Lorcan mac Fáeláin beherrscht wurde. Die Nordmänner mochten ihren Heimathafen als Vík-ló bezeichnen, aber für die Iren hieß der Ort Cill Mhantáin und gehörte zu Lorcans Land. Grimarr hatte im Laufe der Zeit mitbekommen, dass in Irland jede erbärmliche Kuhweide und jede schäbige Anhäufung von Hütten einen eigenen König hatte, der von den Iren als Rí Túaithe bezeichnet wurde. Die meisten davon hatten so viel von einem König oder einem Krieger an sich wie die Bauern, über die sie herrschten.

Doch das galt nicht für Lorcan mac Fáeláin. Lorcan war ganz und gar ein König, selbst wenn das Gebiet, über das er herrschte, kaum groß genug war, um als Königreich zu gelten. Grimarr zweifelte nicht daran, dass Lorcan dieses Reich gerne vergrößert hätte – und er besaß die Männer und den Mut, um das zu schaffen. Seine Herrschaft auszudehnen bedeutete unter anderem, die Dubh Gall zurück ins Meer zu treiben.

Grimarr fürchtete sich nicht vor Lorcan – er fürchtete sich vor niemandem. Aber er betrachtete den Iren als ernsthaften Gegner und als eine Bedrohung, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte; das war der größtmögliche Respekt, den Grimarr irgendjemandem zollen konnte.

Die Schiffe auf den Strand gezogen, so verwundbar wie gestrandete Wale, erwogen die Wikinger ihre Möglichkeiten. Wenn Lorcan sie hier angriff, würde er es mit einer überwältigenden Übermacht tun; das Beste, worauf sie in diesem Fall hoffen konnten, war eine erfolgreiche Flucht. Also befanden sie, dass sie sich genau darauf vorbereiten sollten. Sie schoben die Wogenreiter ins Wasser zurück und machten sie mit einem langen Seil aus Walrosshaut an einem Baum am Ufer fest. Dann verluden sie die ganze Beute aus Fearna auf das unversehrte Schiff. Wenn die Iren nun über sie herfielen, konnten die Nordmänner an Bord der Wogenreiter entkommen und all ihre Reichtümer mit sich nehmen.

Sie verbrachten zwei Tage an dem Strand, legten die Adlerschwinge auf die Seite und kümmerten sich so gut sie konnten um die geborstene Planke. Zwei Tage, während derer Lorcan von ihrer Gegenwart erfahren haben musste. Als die Reparatur fast abgeschlossen war, waren Fastis Männer begierig darauf, wieder aufzubrechen, und von den Iren war noch immer keine Spur zu sehen. So wurde vereinbart, dass die Wogenreiter wieder in See stechen sollte. Niemand würde Ruhe finden, solange die Beute aus Fearna nicht sicher innerhalb der Wälle von Vík-ló ruhte.

Grimarr und die Mannschaft der Adlerschwinge würden höchstens mit einem halben Tag Abstand folgen und am Longphort zu den anderen stoßen. Nur wenigen Männern auf der Welt hätte Grimarr erlaubt, mit einem Schatz davonzusegeln, der zur Hälfte ihm gehörte. Fasti war einer davon.

Die Wogenreiter war fast schon am nördlichen Horizont verschwunden, als sie die Adlerschwinge zu Wasser ließen und feststellten, dass die ausgebesserte Planke nicht hielt und das Schiff immer noch leckte. Also zogen sie es wieder zurück und legten es erneut auf die Seite. Ein weiteres Stück Holz, dick mit Pech bestrichen, wurde als zusätzlicher Flicken über die gebrochene Planke genagelt, und das schien endlich auszureichen. Bis sie damit fertig waren, wurde es dunkel, und so schoben die Männer das Schiff ins seichte Wasser und machten es an demselben Baum fest, der schon die Wogenreiter gehalten hatte. Auf diese Weise verbrachten sie die Nacht. Sie brachen auf, sobald die Morgendämmerung sich am Horizont zeigte, und folgten der Wogenreiter auf ihrem Weg entlang der Küste.

Das war nun zwei Tage her, und jetzt legte sich die Besatzung der Adlerschwinge mit aller Gewalt in die Riemen. Die Männer holten auch noch das Letzte an Fahrt aus dem Schiff heraus und versuchten verzweifelt, um die Landspitze herum und zu dem Kampf dahinter zu gelangen. Genau wie Grimarr war jedem an Bord klar, dass es Fasti Magnisson und seine Leute waren, die dort in ein Gefecht verwickelt waren.

So musste es sein. Die Iren waren keine Seefahrer, sie schlugen keine Seeschlachten. Jeder Kampf auf dem Wasser musste Nordmänner einschließen, und die Wogenreiter war das einzige Wikingerschiff, von dem Grimarr sicher wusste, dass es hier in der Gegend unterwegs war.

Sie hätte längst zurück in Vík-ló sein sollen und in Sicherheit; Grimarr hatte keine Ahnung, warum das nicht so war; aber das änderte nichts an seiner Überzeugung, dass es Fasti war, der dort kämpfte. Fasti, sein Freund. Fasti, der Grimarrs Anteil am Schatz von Fearna an Bord seines Schiffes transportierte.