ÜBER DIESES BUCH

»Eine unglaublich eindrucksvolle Lektüre. Gowars Gespür für anschauliche und sinnliche Details ist erstaunlich.« The Bookseller

Ein Wunder, raunen die einen. Betrug, rufen die anderen. Für den Kaufmann Jonah Hancock zählt nur eines: Die Meerjungfrau, die sein Kapitän aus Übersee mitgebracht hat, versetzt ganz London in Staunen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde in den Kaffeehäusern, Salons und Bordellen der Stadt. Jonah steigt in die obersten Kreise der Gesellschaft auf und verkauft seine Meerjungfrau schließlich für eine schwindelerre-gende Summe. Nur die Gunst der Edelkurtisane Angelica Neal bleibt unerschwinglich für ihn, denn als Beweis seiner Liebe fordert Angelica eine eigene Meerjungfrau. Jonah setzt alles daran, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Doch Wunder haben einen hohen Preis. Ein preisgekröntes Romandebüt über Menschen, Meerjungfrauen und das ewige Streben nach mehr. Imogen Hermes Gowar erweckt das London des 18. Jahrhunderts zum Leben – schillernd, faszinierend und facettenreich.

ÜBER DIE AUTORIN

Imogen Hermes Gowar hat Archäologie, Anthropologie und Kunstgeschichte studiert und anschließend in verschiedenen Museen gearbeitet. Inspiriert von den Ausstellungsstücken hat sie erste fiktionale Texte geschrieben und 2013 ein Stipendium bekommen, um an der Universität von East Anglia Kreatives Schreiben zu studieren. Für ihre Dissertation, aus der der Roman Die letzte Reise der Meerjungfrau entstanden ist, wurde sie mit dem Curtis-Brown-Preis ausgezeichnet. Imogen Hermes Gowar lebt und arbeitet im Südosten von London – eine Gegend, deren Geschichte sie besonders interessiert.

Die letzte Reise

der

Meerjungfrau

oder

wie Jonah Hancock über Nacht
zum reichen Mann wurde

von

IMOGEN HERMES GOWAR

Eine Erzählung in drei Bänden

Aus dem Englischen von Angela Koonen

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BASTEI ENTERTAINMENT

B A N D  I

EINS

September 1785

Jonah Hancocks Bureau ist keilförmig geschnitten und hat eine Kassettendecke, wie sie in Kajüten gebräuchlich ist, sowie weiß getünchte Wände und schwarze, passgenau aneinandergenagelte Fußleisten. Der Wind heult durch die Union Street, Regentropfen prasseln gegen die Fensterscheibe, und Mr. Hancock sitzt nach vorn gebeugt da, die Stirn in die Hände gestützt. Als er sich über die Kopfhaut reibt, entdeckt er einen Streifen Stoppeln, die der Barbier übersehen hat, und betastet sie mit milder Neugier, aber nicht verärgert. Privat ist Mr. Hancock um seine Erscheinung wenig besorgt; in der Öffentlichkeit trägt er eine Perücke.

Er ist ein korpulenter Herr von fünfundvierzig Jahren, gekleidet in Kammgarn, Barchent und Leinen, lauter biedere, altbewährte Gewebe, die zu seinem spärlich bewachsenen Schädel, dem grauen Flaum an den Hängebacken und den rauen, fleckigen Fingerspitzen passen. Er ist kein schöner Mann und war es auch nie – wie er da auf seinem Hocker sitzt, erinnert er mit dem großen Bauch und den dünnen Beinen an eine Ratte auf einem Pfosten –, aber sein fleischiges Gesicht ist liebenswert, und seine kleinen Augen mit den hellen Wimpern blicken klar und arglos. Er ist ein Mann wie geschaffen für seinen Platz in der Welt: ein Kaufmann, Sohn eines Kaufmannssohns und ein Sohn Deptfords, dem es nicht zukommt, angesichts der seltenen Dinge, die durch seine Hände gehen, Überraschung oder Entzücken zu äußern, sondern der vielmehr ihren Wert bemisst, Name und Anzahl niederschreibt und sie weitersendet in die lebhafte Stadt auf der anderen Seite der Themse. Die Schiffe, die er hinausschickt – die Eagle, die Calliope, die Lorenzo –, kreuzen auf dem ganzen Globus, er selbst aber, der ruhigste Mann überhaupt, schläft jede Nacht in dem Zimmer, in welchem er seinen ersten Atemzug tat.

Das Licht im Bureau hat etwas Düsteres, als zöge darin ein Sturm auf. Draußen geht der Regen in Schleiern nieder. Mr. Hancocks Geschäftsbücher, in denen es von fliegenbeinigen Buchstaben und Ziffern wimmelt, liegen aufgeschlagen vor ihm, doch seine Gedanken gelten nicht der Arbeit, und so ist er dankbar für die Ablenkung, als es vor seinem Bureau raschelt.

Ah, denkt er, das wird Henry sein. Als er sich jedoch am Schreibtisch umdreht, sieht er nur die Katze. Sie steht fast senkrecht am Fuß der Treppe, das Hinterteil in die Höhe gereckt und die Hinterpfoten auf der untersten Stufe gespreizt, während sie mit den vorderen Tatzen eine zappelnde Maus an die Bodendiele drückt. Ihr kleines Maul steht offen, die Zähne blitzen triumphierend, aber ihre Körperhaltung ist prekär. Um von der Treppe zu steigen, muss sie ihre Beute wohl loslassen, schätzt Mr. Hancock.

»Husch! Fort mit dir!«, sagt er.

Die Katze packt die Maus mit den Zähnen und stolziert damit durch den Flur. Sie ist außer Sicht, aber er hört ihre tänzelnden Schritte und den gedämpften Aufprall des Mäuseleibs, den sie immer wieder in die Luft schleudert. Er hat sie bei diesem Spiel schon oft beobachtet und empfindet ihren erwartungsvollen, mit offenem Rachen ausgestoßenen Schrei als unangenehm menschlich.

Kopfschüttelnd wendet er sich wieder dem Schreibtisch zu. Er hätte schwören können, es sei Henry dort auf der Treppe. Vor seinem geistigen Auge hat die Szene schon stattgefunden: sein großer, dünner Sohn mit den weißen Strümpfen und braunen Locken bleibt stehen, um ins Bureau zu grinsen, derweil rings um ihn die Sonnenstäubchen flimmern. Solche Visionen kommen ihm nicht sehr oft, aber wenn, dann bringen sie ihn durcheinander, denn Henry Hancock starb bei seiner Geburt.

Mr. Hancock ist kein wunderlicher Mensch, hat aber nie die Vorstellung abschütteln können, dass sein Leben vom rechten Kurs abgekommen ist, als seine Frau im Kindbett den Kopf aufs Kissen sinken ließ und ihren letzten, jammervollen Atemzug tat. Es kommt ihm vor, als wäre das Leben, das er hätte führen sollen, in nächster Nähe weitergegangen, nur durch ein bisschen Luft und Zufall von ihm getrennt, und er würde ab und zu wie durch einen wehenden Vorhang einen Blick darauf erhaschen. Im ersten Jahr seines Witwerdaseins zum Beispiel fühlte er einmal während eines Kartenspiels einen warmen Leib an seinem Knie und schaute liebevoll nach unten, in Erwartung, ein kleines stämmiges Kind zu sehen, das sich neben seinem Stuhl an ihm hochzog. Warum war er so erschüttert, als er feststellte, dass es nur Moll Rennie war, die die Hand seinen Oberschenkel hinaufschob? Ein andermal sprang ihm auf einem Jahrmarkt eine bunte Spielzeugtrommel ins Auge, und er befand sich damit schon auf dem Heimweg, als ihm bewusst wurde, dass es den kleinen Jungen, der beschenkt werden sollte, gar nicht gab. Fünfzehn Jahre sind nun vergangen, aber manchmal, wenn er nicht achtsam ist, hört Mr. Hancock eine Stimme von der Straße oder spürt ein Zupfen an seiner Kleidung, und sofort denkt er: Henry!, so als hätte er die ganze Zeit über einen Sohn gehabt.

Seine Frau Mary besucht ihn nie auf diese Weise, obwohl sie für ihn ein Segen war. Sie starb mit dreiunddreißig Jahren, eine friedliche Frau, die viel von dieser Welt gesehen hatte und auf die nächste umfassend vorbereitet war. Mr. Hancock hegt keine Zweifel, wohin sie gegangen ist oder dass er dort eines Tages zu ihr stoßen wird, und das genügt ihm. Er betrauert nur sein Kind, das so rasch nach der Geburt den Tod fand, gewissermaßen aus der einen Bewusstlosigkeit in die andere hinüberglitt wie ein Schlafender, der beim Umdrehen kurz wach wird.

Von oben hört Mr. Hancock die Stimme seiner Schwester Hester Lippard, die jeden ersten Donnerstag vorbeikommt und in seiner Speisekammer und Waschküche und im Wäscheschrank herumstöbert, um über das zu schimpfen, was sie dort entdeckt. Ein verwitweter Bruder ist ein beschwerliches Erbe, aber auch eines, von dem ihre Tochter eines Tages profitieren könnte: Wenn Mrs. Lippard ihm die Güte erwiesen hat, ihre Jüngste von der Schule zu nehmen, um sie ihm als Haushälterin zur Verfügung zu stellen, so geschah das in Erwartung einer angemessenen Gegenleistung.

»Da siehst du es: Die Laken haben Stockflecke bekommen«, sagt Mrs. Lippard gerade. »Hättest du sie meinem Rat entsprechend aufbewahrt … Hast du dir alles ins Notizbuch geschrieben?«

Die Antwort ist ein kaum hörbares Murmeln.

»Nun, hast du? Das ist zu deinem Nutzen, Susanna, nicht zu meinem.«

Ein Schweigen, bei dem sich Mr. Hancock die arme Sukie mit hängendem Kopf und bleichen Wangen vorstellt.

»Das darf doch nicht wahr sein! Immerzu muss ich mich über dich ärgern! Also, wo ist dein rotes Band? Wo? Schon wieder verloren? Und wer, glaubst du, bezahlt das nächste?«

Seufzend kratzt Mr. Hancock sich am Kopf. Wo ist die gedeihliche Familie, um sein Haus zu füllen? Das Haus, das sein Großvater erbaute und sein Vater verschönerte? Die Toten sind anwesend, zweifellos. Er spürt sie überall, in den verpichten Bodendielen und den Holmen des Treppengeländers, im Klang der Glocken von St. Paul an der Vordertür und von St. Nicholas an der Hintertür. In den langen gebogenen Deckenbalken, die an den Rumpf großer Schiffe erinnern, sind die Hände der Schiffbauer noch lebendig, und die Türstürze mit den geschnitzten Vögeln und Blüten, Engeln und Schwertern zeugen auf ewig von der Arbeit und den Visionen längst verstorbener Männer.

Doch kein Kind von Jonah Hancocks Fleisch und Blut wird eines Tages das Können der Deptforder Holzschnitzer bewundern, das in der Welt seinesgleichen sucht, und mit dem Rhythmus der Schiffe aufwachsen, die den Hafen glänzend und voll beladen verlassen, um ramponiert und mit zerrissenen Segeln zurückzukehren. Jonah Hancocks Kinder wüssten wie Jonah Hancock selbst, was es heißt, sein Vertrauen und Glück auf ein Schiff zu setzen und es ins Ungewisse zu schicken. Sie wüssten, dass ein Mann, der auf ein Schiff wartet wie Mr. Hancock jetzt, am Tage abgelenkt ist und in der Nacht wach liegt, sich mit einem bitteren Geschmack im Rachen in seinem Bett wälzt. Mit seiner Familie spricht ein solcher Mann entweder gereizt oder überaus rührselig. Er sitzt über seinen Schreibtisch gebeugt und streicht ein und dieselbe Berechnung immer wieder durch. Er kaut an den Nägeln.

Was nützt all das Wissen, wenn es mit Jonah Hancock stirbt? Wozu Freuden und Kümmernisse, wenn niemand da ist, um sie mit ihm zu teilen? Welchen Sinn haben Gesicht und Stimme, wenn nur das Grab darauf wartet? Welchen Wert hat sein Vermögen, wenn es an den Weinstöcken verdorrt und von keinem Sohn geerntet wird?

Und doch ist da manchmal etwas mehr.

Alle Reisen beginnen auf die gleiche Art, wenn Männer sich in Kaffeehäusern versammeln, sich am Kinn kratzen und Risiko gegen Pflicht abwägen.

»Ich bin dabei«, sagt einer.

»Ich auch.«

»Ich auch.«

Denn in dieser Welt erreicht man nichts auf sich allein gestellt. Man teilt sein Los und den Geldbeutel. Und darum macht ein besonnener Mann keine Geschäfte mit Betrunkenen, Lebemännern, Spielern und Dieben oder irgendeinem, der von Gott eine harte Strafe verdient hätte. Er würde sonst dessen Los und Sünde teilen. Wie leicht zerschellt ein kleines Schiff an den Klippen. Wie leicht versinkt die Fracht fünf Faden tief in der Dunkelheit. Mögen die Lungen des Seemanns auch eingesalzen, seine Finger gepökelt sein – was ihn schützt, ist einzig und allein Gottes gewölbte Hand.

Was sagt Gott zu Mr. Hancock? Wo ist die Calliope, deren Kapitän in achtzehn Monaten keine Nachricht sandte? Der Sommer zieht dahin. Jeden Tag sinkt das Quecksilber ein wenig mehr. Wenn das Schiff nicht bald zurückkehrt, wird es gar nicht mehr kommen, und die Schuld mag durchaus bei ihm liegen. Was hat er getan, um eine solche Strafe zu verdienen? Wer wird sein Los mit ihm teilen, wenn man ihn für einen Mann hält, auf dem das Verhängnis lastet?

Irgendwo wechseln die Gezeiten. Dort, wo kein Land zu sehen ist, wo sich von Horizont zu Horizont nur schwankendes, glitzerndes, treuloses Wasser erstreckt, erhebt sich eine Welle, kippt mit einem Seufzer und sendet ihr salziges Gewisper an Mr. Hancocks Ohr.

Diese Reise ist eine besondere, sagt das Flüstern, begleitet von einem eigentümlichen Flattern in seinem Herzen.

Sie wird alles verändern.

Und ganz plötzlich wird dieser verblühte Mann in seinem stillen Bureau, der die Stirn in die Hände stützt, von einer großen kindlichen Vorfreude ergriffen.

Der Regen lässt nach. Die Katze kaut auf dem Schädel der Maus herum. Und als sie sich die Schnauze leckt, gestattet sich Mr. Hancock, eine Hoffnung zu nähren.

ZWEI

Der unablässige Regen macht es unwahrscheinlich, dass viele Vögel draußen umherfliegen, aber vielleicht ist gerade eine Krähe unter den Dachsparren von Mr. Hancocks Haus hervorgekrochen, spreizt nun ihre dichten, weichen Federn und neigt den Kopf zur Seite, um die Welt mit einem hellen, verdrießlichen Auge zu betrachten. Wenn sie die Flügel ausbreitet, werden sie sich mit dem noch feuchten Wind füllen, der von den Straßen in Böen heraufweht, mitsamt dem Gestank von heißem Teer, Flussschlamm und dem Ammoniak der Färberei. Und wenn sie vom Sims hüpft und über die Dächer der Union Street aufsteigt, wird sie schnell zum Hafen gelangen, zu den Wiegen künftiger Schiffe, die schon in früher Bauphase die Häuser überragen. Manche warten fertig poliert und geteert, mit flatternden Flaggen und zwinkernder Galionsfigur darauf, vom Stapel gelassen zu werden. Andere liegen mit bloßen Rippen aus frisch entrindetem Holz, zwischen denen nur Luft ist, groß und blass und nackt da wie Walskelette im Trockendock.

Wenn die Krähe von dort der Biegung des Flusses folgend nach Nordwesten steuert und sechs Meilen ohne Pause fliegt … Nun ja, ist bei einer Krähe damit zu rechnen? Was sind ihre Gewohnheiten? Wie groß ist ihr Territorium? … Wenn sie es aber täte, durch den Himmel glitte, während sich die Wolken verziehen, würde sie sich London nähern, wo das Ufer des Flusses an beiden Seiten mit großen und kleinen Kais befestigt ist, einige aus gelben Quadern, andere aus durchhängenden schwarzen Planken.

Die Kais und Brücken pferchen das Wasser ein, aber nach dem Sturm schwappt und wogt es. Die weißen Segler müssen sich anstrengen, und die Bootsführer haben all ihren Mut zusammengerafft, um ihre kleinen Boote vom Ufer wegzusteuern und durch die Strömung zu rasen. Als die Sonne hervorkommt, fliegt besagte Krähe über das blinkende Glas der Melonenfarmen von Southwark, über das Zollhaus, den gestuften Spitzturm von St. Bride und das Gewimmel auf dem Seven Dials und gelangt schließlich nach Soho. Als sie auf einer Dachrinne in der Dean Street landet, streift ihr Schatten das im ersten Stock gelegene Fenster eines bestimmten Hauses und stiehlt dem Raum das Tageslicht, sodass Angelica Neals Gesicht für einen Augenblick im Dunkeln liegt.

Kühl und duftend wie eine Eiercreme mit Rosenwasser sitzt sie an ihrem Frisiertisch und bedient sich hin und wieder an einer Schale mit Treibhausfrüchten, während ihre Freundin, Mrs. Eliza Frost, ihr das letzte versengte Lockenpapier aus den Haaren zupft. Sie ist wieder in ihr Mieder geschnürt und halb in einen Pudermantel gehüllt, aber ihre Wangen sind noch vom Schlaf gerötet, und ihr Spiegelbild zieht ihren Blick so unwiderstehlich an wie das Gesicht eines Geliebten. Ein Kanarienvogel hüpft und pfeift in seinem Käfig, Spiegel funkeln überall, und der Tisch ist übersät mit Bändern und Ohrringen und Glasfläschchen. Diesen Tisch tragen sie jeden Nachmittag aus dem dunklen Ankleidezimmer in den sonnigen Salon, um Kerzen zu sparen.

»Aber das wird bald nicht mehr nötig sein«, sagt Angelica, während sie ein kleiner Sturm aus Haarpuder umweht. »Wenn die Saison beginnt und man sich an mehr Plätzen sehen lassen, von mehr Leuten gesehen werden kann, wird unser Leben viel leichter werden.«

Am Boden liegen die zerdrückten Dreiecke des Lockenpapiers, dicht bedruckt mit Moralpredigten der Wesleyaner, da sie aus frommen Traktaten zurechtgeschnitten wurden, die täglich an die Huren der Dean Street verteilt werden.

»Hm.« Mrs. Frost, die gerade einen Strang blonder Haare ergreift und auf dem Scheitel eifrig zu einem großen weichen Gebilde toupiert, muss erst die Nadeln entfernen, die sie zwischen ihre Lippen geklemmt hat, bevor sie richtig antworten kann. »Ich hoffe, du hast recht.«

Seit vierzehn Tagen wohnen sie in diesen Räumen und begleichen die Miete aus einem Bündel Banknoten, das zusehends dünner wird, auch wenn Mrs. Frost es noch so eifersüchtig hütet.

»Wie besorgt du wieder bist«, sagt Angelica.

»Mir gefällt das nicht. Das Geld tröpfelt nur herein. Wir halten uns kaum über Wasser …«

»Das ist nicht meine Schuld.« Angelica reißt empört die Augen auf, und ihr Hemd rutscht um einen Zoll den Busen hinab. Es ist wirklich nicht ihre Schuld, denn bis vor einem Monat wurde sie von einem Herzog ausgehalten, der sie während ihrer drei gemeinsamen Jahre abgöttisch liebte, aber in seinem Testament vergaß.

»… und du musstest jedem Mann erlauben, sich dir gegenüber Freiheiten herauszunehmen«, fährt Mrs. Frost fort. Der Bürstenrücken blinkt in der Sonne. Eliza Frost ist groß und schmal, ihr Gesicht ungeschminkt und sehr glatt und straff wie Ziegenleder. Ihr Alter zu schätzen ist schwierig, denn sie ist wie ihr Kleid: gepflegt und unscheinbar, allabendlich mit einem Schwamm gereinigt, sorgfältig von der Welt ferngehalten.

»Jedem, der es sich leisten kann, was die Anzahl gering hält. Hör zu, mein Täubchen, ich kenne deine Meinung, aber da ich dich bezahle, muss ich sie mir nicht anhören.«

»Du kompromittierst dich.«

»Wie soll ich uns anders über die Runden bringen? Sag mir das, die du so gewissenhaft Buch führst. Und hol nur nicht tief Luft, denn ich weiß, was du sagen wirst. Du würdest mir wegen meiner Extravaganz eine Strafpredigt halten. Aber kein Mann bezahlt fünf Guineen pro Nacht für eine Dirne, die aussieht, als ob ein Sixpence-Stück sie zufriedenstellt. Ich muss auf mein Äußeres achten.«

»Du hast mit der Buchführung nichts zu tun«, erwidert Mrs. Frost. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie kompliziert sie mein Leben macht.«

Ein kleiner Blitz zuckt durch Angelicas Körper. Sie packt die Armlehnen ihres Stuhls und stampft mit den Füßen auf, sodass die Lockenpapierchen hüpfen und ihre bedruckten Flügel einziehen. »Mein Leben ist bei Weitem komplizierter, Eliza!«

»Zügle dein Temperament!« Noch eine kräftige Puderwolke.

»Hör auf damit!« Angelica wedelt mit den Händen über ihrem Kopf. »Bald ist nichts mehr von der Farbe zu sehen.«

Sie achtet sehr auf ihr üppiges goldblondes Haar, denn es hat sie einst zu dem gemacht, was sie ist. In zartester Jugend wurde sie Gehilfin und Modell eines italienischen Friseurs, und bei ihm, so geht die Legende, erlernte die kleine mollige Angelica nicht nur die Kunst des Frisierens, sondern auch die der Liebe.

Die Frauen schweigen. Wenn sie bei einem Streit in eine Sackgasse geraten, sind sie nicht so dumm, ihn weiter auszutragen, sondern ziehen sich grollend zurück wie Boxer in ihre Ecke des Rings. Mrs. Frost wirft einen Armvoll Papier ins Feuer, und Angelica wendet sich wieder der Obstschale zu, zupft eine Weinbeere nach der anderen ab und sammelt sie in der Faust. Sie leckt den Saft vom Handballen. Der schräg einfallende Sonnenschein wärmt den Flaum auf ihrer Wange. Sie ist siebenundzwanzig und noch immer schön, was teils dem Glück, teils den Umständen, teils der praktischen Vernunft geschuldet ist. Ihre strahlend blauen Augen und ihr sinnliches Lächeln sind ein Geschenk der Natur, ihr Körper und ihr Geist sind nicht gezeichnet von den Mühen einer Ehe, ihre Haut ist klar, ihr Schoß duftet verführerisch, und ihre Nase ist frei von nässenden Pusteln, dank der Überzieher aus Schafdarm, die sie in ihrem Schrank aufbewahrt und sorgfältig nach jedem Gebrauch auswäscht.

»Sterben war das Beste, was er tun konnte«, sagt sie zu Mrs. Frost. Ein Friedensangebot. »Und das kurz vor Saisonbeginn.«

Ihre Gefährtin bleibt still.

Angelica lässt sich davon nicht beirren. »Ich bin jetzt völlig unabhängig.«

»Gerade das macht mir Sorgen.« Mrs. Frost ist noch zugeknöpft, wendet sich aber wieder Angelicas Frisur zu.

»Wie viel Spaß ich haben werde«, ruft diese, »niemandem verpflichtet!«

»Von niemandem unterstützt.«

»Ach, Eliza.« Angelica fühlt die kalten Finger ihrer Freundin am Scheitel. Sie zieht den Kopf weg und dreht sich im Stuhl zu ihr um. »Drei Jahre lang habe ich niemanden gesehen! Es gab keine Gesellschaft, keine Einladungen, keinen Spaß. Ich war praktisch eingesperrt in seinem langweiligen kleinen Salon.«

»Er war sehr großzügig zu dir.«

»Ich bin ihm durchaus dankbar. Aber ich habe Opfer gebracht, wie du weißt: der Künstler, der mein Bild in der Akademie ausgestellt hat. Er hätte mich hundert Mal gemalt, wenn der Herzog es ihm nicht verboten hätte. Darf ich da jetzt nicht ein bisschen meine Freiheit genießen?«

»Halt still, sonst werde ich nie fertig.«

Angelica lehnt sich zurück. »Ich war schon in prekäreren Situationen. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr bin ich ganz allein auf der Welt.«

»Ja, ja.« Mrs. Frost hat – bevor sie Mrs. Frost war – die Kaminroste in Dr. James Grahams gefeiertem Tempel der Gesundheit gefegt, während Angelica Neal – bevor sie Angelica Neal war – als Nackttänzerin gearbeitet hat.

»Also, was folgt daraus? Wenn sich ein Mann für mich entscheiden konnte, können es auch andere. Aber jetzt ist es Zeit, mich der Gesellschaft zu präsentieren. Ich muss mich in den richtigen Kreisen etablieren, mein Gesicht überall zeigen, bis es wieder jeder in der Stadt kennt. Das ist nämlich entscheidend. Keine der wirklich großen Kurtisanen ist besonders schön, weißt du, jedenfalls nicht viele. Aber ich bin schön, nicht wahr?«

»Das bist du.«

»Nun denn«, sagt Angelica. »Ich werde ein Erfolg.« Sie versenkt die Zähne in einen Pfirsich und lehnt sich zurück, um sich beim Kauen und Schlucken im Spiegel zu betrachten.

»Ich frage mich nur …«, sagt Mrs. Frost.

»Ich bin überzeugt, die Männer finden mich anziehender denn je«, fällt Angelica ihr ins Wort. »Ich muss keine Söldnerin sein, die jeden bauchpinselt, der sie haben will. Ich bin in einer Position, in der ich selbst wählen kann.«

»Aber wirst du nicht …«

»Ich denke, wir nehmen das blaue Band für die Haare.«

Von der Straße hört man aufgeregte Stimmen. Über das Kopfsteinpflaster schaukelt ein himmelblauer Landauer, an den Seiten geschmückt mit einer barbrüstigen, goldenen Sphinx.

Angelica springt auf. »Sie ist hier! Nimm die Schürze ab. Nein, binde sie wieder um. Man darf dich nicht für eine Dame der Gesellschaft halten.« Sie eilt zum Fenster und entledigt sich dabei des Pudermantels.

Die untergehende Sonne überzieht die Straße mit einem honiggelben Dunst. In dem Landauer sitzt, umringt von drei jungen Damen in weißem Musselin, Mrs. Chappell höchstpersönlich. Die Äbtissin von King’s Place ist gebaut wie ein Lehnstuhl, mehr gepolstert als bekleidet, ihr mächtiger Busen hebt und senkt sich unter cremefarbenem Taft und Goldlitze. Als der Landauer anhält, erhebt sie sich schwankend mit ausgestreckten Armen. Die Ringe an ihren Händen funkeln. Zwei Schwarze in himmelblauer Livree hüpfen vom Trittbrett und beeilen sich, ihr beim Aussteigen zu helfen. Jeder fasst sie an einem Ellbogen, während die jungen Damen die gerüschten Volants anheben, die die gewaltige Rückseite der Äbtissin schmücken. Der Landauer ist bemerkenswert gut gefedert, und Mrs. Chappell taumelt auf das Pflaster hinab, wobei gestärkte Spitze aufblitzt und mehrere Hündchen hervorspringen. Die jungen Damen folgen hinterdrein und tollen mit den Vierbeinern über die Straße, eine Parade federgeschmückter Schwänze und Hüte.

Eine Wäscherin mit einem Bündel auf dem Rücken zischt verächtlich durch die Zähne, ihr Lehrmädchen dagegen steht reglos da und gafft. Vier Knaben brechen in Jubelrufe aus, und Männer lüpfen den Hut oder stützen sich grinsend auf die Griffe ihrer Schubkarren. Die jungen Damen lächeln liebreizend, rascheln mit ihren Röcken hierhin und dorthin, die Fächer in ständiger Bewegung, drehen die Hälse und zeigen ihre weißen Unterarme.

Angelica öffnet das Fenster, beschattet die Augen mit der Hand und lehnt sich hinaus. »Meine liebe Mrs. Chappell!«, ruft sie, worauf die jungen Damen noch lebhafter flattern und sich alle Blicke auf das Fenster richten. Angelicas Haar leuchtet in der Sonne. »Wie freundlich von Ihnen, mir einen Besuch abzustatten!«

»Polly!«, bellt Mrs. Chappell. »Kitty! Elinor!« Die Mächen stehen stramm, wedeln mit ihren Fächern und strahlen.

»Eliza«, zischt Angelica, »wir müssen den Tisch wegrücken.« Mrs. Frost beginnt Bänder und Schmuck darauf zu häufen.

»Ein Blitzbesuch«, ruft Mrs. Chappell und drückt die Hand an den Busen in dem Bemühen, ihrer Stimme Volumen zu verleihen.

»Kommen Sie herauf, kommen Sie!«, ruft Angelica, während die Aufmerksamkeit der ganzen Straße auf sie gerichtet ist. »Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir.« Sie zieht sich vom Fenster zurück. »Himmel, Eliza! Haben wir überhaupt Tee?«

Mrs. Frost zieht aus ihrem Busen ein Knäuel rosa Papier. »Wir haben immer Tee.«

»Ach, du bist ein Engel, ein Schatz. Was würde ich nur ohne dich tun?«

Jede von ihnen fasst den Tisch an einem Ende, und gemeinsam tragen sie ihn aus dem Raum, mit winzigen Schritten, damit der Haufen Tand nicht herunterfällt. Die Früchte in der Schale wackeln, und der Spiegel klappert in seinem Ständer.

»Du weißt, weshalb sie kommt«, keucht Angelica. »Und, sind wir uns einig?«

»Ich habe meine Meinung deutlich von mir gegeben.« Mrs. Frost gibt sich geziert, während sie mit dem beladenen Frisiertisch rückwärtsgeht und dabei immer wieder über die Schulter blicken muss, um nicht gegen die Wand zu prallen.

»Mit der Zeit werde ich dir die Sorge schon nehmen.«

Im Ankleidezimmer manövrieren sie den Frisiertisch um Mrs. Frosts harte, schmale Bettstelle herum.

»Schnell, schnell! Setz ihn ab. Wir haben genügend Zeit zum Aufräumen, wenn sie wieder fort sind. Nun lauf, lauf und lass sie herein. Vergiss nicht, die Tassen auszuwischen, bevor du sie austeilst, Maria wischt allzu schlampig Staub.«

Mrs. Frost verschwindet flink wie ein Irrlicht, aber Angelica verweilt in dem dämmrigen Ankleidezimmer, um sich im Spiegel zu mustern. Von Weitem sieht sie gut aus – klein und elegant –, und so tritt sie näher heran, stützt sich auf die Tischplatte und beugt sich vor. Das Glas ist kalt, und ihr Atem überzieht ihr Spiegelbild mit einem feinen Nebel, der aufwölkt und dann vergeht. Sie sieht ihre Pupillen größer und kleiner werden und mustert die Ränder ihrer Lippen, die von der Arbeit am Nachmittag gerötet sind. Die Haut um die Augen ist so weiß und glatt wie ein Ei, über die Wangen aber zieht sich eine winzige Falte wie von einem Fingernagel und auch eine zwischen den Augenbrauen, die sich vertieft, wenn sie missbilligend darauf blickt. Aus dem Flur unten hört sie das Gekicher der jungen Damen und Mrs. Chappells Ermahnungen.

»Was für ein Übermut! Diese Ausgelassenheit auf der Straße! Habe ich euch solches Benehmen beigebracht?«

»Nein, Mrs. Chappell.«

Angelica lässt ihre Knöchel knacken. Sie begibt sich in den Salon, wählt einen Sessel aus, um sich darauf zurückzulehnen und die Röcke sorgfältig auszubreiten.

»Und würdet ihr stolz auf euch sein, wenn irgendein pfiffiger Kerl das in die Zeitung setzt? Wenn in Town and Country geschrieben steht, dass Mrs. Chappells Nonnen, die besten Mädchen Englands, auf der Straße Bocksprünge machen wie ein Haufen Bierbrauertöchter? Nun, ich gewiss nicht, ich gewiss nicht. Komm, Nell, du musst mich stützen. Diese Treppe geht heute über meine Kräfte.«

Röchelnd betritt sie Angelicas Wohnung, gestützt auf die rothaarige Elinor Bewlay.

»Ach, liebe Mrs. Chappell!«, ruft Angelica aus. »Wie glücklich ich bin. Welche Freude, Sie zu sehen.«

Daran ist durchaus etwas Wahres: Mrs. Chappell ist für sie fast so etwas wie eine Mutter, und die Gewerbe der beiden Frauen mindern keineswegs ihre gegenseitige Zuneigung. Bordellwirtinnen sind schließlich nicht die einzigen Mütter, die von ihren Töchtern profitieren.

»Setzt mich hin, Mädchen, setzt mich hin«, schnauft Mrs. Chappell und schleppt sich zu einem winzigen lackverzierten Stuhl, während Angelica und Miss Bewlay sie an den Armen gepackt halten wie ein Zelt bei Sturm.

»Nicht auf diesen!«, keucht Mrs. Frost, deren Blick entsetzt zwischen den spindeldürren Stuhlbeinen und Mrs. Chappells Körpermasse hin und her huscht.

»Hierher!«, quiekt Polly, die Mulattin, zieht einen Lehnsessel aus der Ecke und schiebt ihn im letzten Moment Mrs. Chappell in den Weg.

Die ohnehin beleibte Bordellwirtin betont ihre Körperfülle noch durch ein großes Korkhinterteil unter ihren Röcken, das eine Staubwolke und einen dumpfen Laut von sich gibt, als es auf der Sitzfläche landet. Mit einem langen Seufzer lässt sie sich in den Sessel zurücksinken und deutet erschöpft auf ihren linken Fuß, woraufhin Polly ihn behutsam auf einen Schemel hebt.

»Meine Liebe«, schnauft Mrs. Chappell, als sie zu Atem gekommen ist. Ihre Lippen sind bläulich. »Meine Angelica. Wir sind gerade aus Bath zurückgekehrt. Ich habe unseren kurzen Aufenthalt abgebrochen – ich musste mich vergewissern, ob du hier gut untergekommen bist. Vor Sorge habe ich kaum geschlafen, ist es nicht so, ihr Mädchen? Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es mich bekümmerte zu hören, was für Zimmer du genommen hast.«

»Für eine sehr kurze Zeit«, erklärt Angelica. »Es gab ein finanzielles Missverständnis.« Sie schaut zu den Mädchen, die nebeneinander auf dem Sofa sitzen und der Konversation mit schräg gelegten Köpfen folgen. Ihr Teint ist frei von Makeln, desgleichen ihre zierlichen Körper unter den schlichten, fleckenlosen Perdita-Kleidern, die sie durch hauchdünnen weißen Musselin und dünne Zugbänder von der Nacktheit erlösen.

»Ich habe dir meine Kitty noch nicht vorgestellt«, sagt Mrs. Chappell. Sie deutet mit ausgestreckter Hand auf die Kleinste. »Los, steh auf.«

Kitty vollführt einen einstudierten Knicks. Sie ist ein dürres Geschöpf mit langem Hals und großen hellen Augen, die graublau sind wie entrahmte Milch am Rand eines Kruges. Ihre Brauen sind ein wenig zu dunkel gefärbt.

»Dünn«, sagt Angelica.

»Aber ein eleganter Körper«, erwidert Mrs. Chappell. »Wir päppeln sie auf. Ich habe sie am Billingsgate entdeckt, voller Fischschuppen, und sie stank wie Uferschlamm bei Ebbe, stimmt’s, Mädchen? Dreh dich mal um. Lass dich von Mrs. Neal anschauen.«

Kittys Röcke rascheln leise, aus den Falten steigt der Geruch von grünen Pomeranzen. Sie bewegt sich langsam und mit Bedacht. In der Ecke schenkt Mrs. Frost den Tee in einem harmonischen Bogen ein, und Polly und Elinor teilen die Tassen aus, während ihre Äbtissin angestrengt redet. Sie atmet, als sänge sie eine Opernarie. Jeder Satz ist ein Ausatmen, dann holt sie mühsam Luft und bringt weitere Worte hervor.

»Sie haben mir gesagt, sie hätte die Pocken gehabt. Das müssen aber sehr kleine Pocken gewesen sein, hab ich gesagt, da sind keine Narben an ihr zu sehen. Erste Güte, das Mädchen. Schau nur, wie sie sich hält. Ich hab ihr das nicht beigebracht, das ist ihre natürliche Haltung. Zeig ihr deine Fesseln, Kitty.«

Kitty hebt den Saum an. Ihre Füße sind klein und schmal und stecken in silbernen Pantoffeln.

»Spricht sie auch?«, fragt Angelica.

»Das ist unsere nächste Aufgabe«, brummt Mrs. Chappell. »Sie redet wie ein verlauster Hafenarbeiter. Sie wird den Mund nicht mehr aufmachen, bis ich es ihr erlaube.«

Nach dieser Bewertung des Kindes verstummen sie, oder zumindest stellen sie das Sprechen ein, denn Mrs. Chappells Atem pfeift wie ein Dudelsack, sogar wenn sie schweigt.

»Sie wird Sie eine Menge Mühe kosten«, bemerkt Angelica schließlich.

»Ich mag das so. Die Mittelklasse-Mädchen sind es, mit denen ich mich abplagen muss. Sind zur Schule gegangen, können Klavier spielen und haben ihre eigenen Vorstellungen von feinen Manieren. Gossenkinder sind mir allemal lieber als Handwerkertöchter. Da muss ich nicht erst die Arbeit von jemand anderem rückgängig machen.«

»Ich war eine Handwerkertochter.«

»Und sieh dich an! Weder Fisch noch Fleisch. Du folgst jedem Einfall, der dir kommt. Ich kann es kaum ertragen, Woche für Woche zu hören, was aus dir geworden ist. Ob du dir in den Kopf gesetzt hast, zu heiraten, oder dir ein paar gute Besucher hältst. Oder ob du als Straßendirne arbeiten musst …« Mrs. Chappell geht die Luft aus, und sie fixiert Angelica ernst mit einem schlaffen nassen Auge. »Wofür ich dich nicht ausgebildet habe.«

»Das habe ich noch nie getan«, protestiert Angelica.

»Was ich gehört hab, hab ich gehört.«

»Ich bin vielleicht mal eine Straße entlanggeschlendert. Aber wer von uns war nicht schon mal dazu gezwungen?«

»Meine Mädchen. Bedenkst du auch, wie dein Ruf auf mich zurückfällt?« Mrs. Chappell räuspert sich und kommt zur Sache. »Also, Angelica, ich weiß, dass du dein Unglück nicht verschuldet hast und dass viele deiner besten Herren gut von dir denken. Seit deinem Verlust fragen sie mich nach dir. ›Wo ist unser Lieblingsblondchen?‹, wollen sie wissen. ›Wo ist unsere entzückende Gespielin mit der schönen Stimme?‹ Was soll ich ihnen sagen?« Sie drückt Angelicas Hand an ihren gekreppten Busen.

»Sie können ihnen meine Adresse nennen«, antwortet Angelica. »Sie sehen, ich wohne gut. Und so nah am Platz, schrecklich vornehm.«

»Ach, Angelica, aber du bist doch allein! Es quält mich, dich ungeschützt zu sehen. Mein liebes Mädchen, wir haben Platz für dich im Kloster, werden wir immer haben. Willst du dir nicht überlegen, zu uns zurückzukehren?«

Polly, Elinor und Kitty sind einer unvergleichlich rigorosen und exklusiven Ausbildung unterzogen worden, aber wenn sie sich unbeobachtet fühlen, fallen sie zurück ins Kindliche, und jetzt hüpfen sie sacht auf dem Sofa auf und ab, jede ermuntert von der Zappelei der anderen. Sie sind beeindruckt von Angelicas glanzvoller Ausstrahlung und möchten sie als ältere Schwester haben, damit sie mit ihnen im Duett singt und ihnen neue Frisuren beibringt. Spät in der Nacht, wenn die Männer endlich lustlos sind, schenkt sie ihnen vielleicht eine Tasse heiße Schokolade ein und erzählt ihnen von ihrer skandalösen Kindheit. Sie sehen zu, wie Mrs. Chappell sich vorbeugt und eine Hand auf Angelicas legt.

»Mir würde ein Stein vom Herzen fallen, dich wieder unter meinem Dach zu wissen.«

»Und viele Münzen in Ihren Geldbeutel, wenn Sie meine Dienste anbieten«, erwidert Angelica mit ihrem schönsten Lächeln.

Mrs. Chappell versteht sich ausgezeichnet auf freimütige Konversation, allerdings nur nach ihren Regeln. »Ganz gewiss nicht«, stottert sie. »Das ist bestimmt nicht mein vorderstes Anliegen. Aber wenn schon? Immerhin biete ich dir Schutz an. Denk darüber nach, Liebes. Ein hingebungsvoller Arzt, ein steter Zufluss der richtigen Art von Männern, da den falschen gar nicht erst Eintritt gewährt wird. Keine Rechnungen, keine Gerichtsvollzieher.« Sie beobachtet Angelica aufmerksam, gespannt wie eine Katze bei der Jagd. »Wir leben in einer gefährlichen Stadt.« Sie tätschelt Angelicas Hand noch einmal und fährt leutselig fort. »Und wenn du einen neuen Beschützer gefunden hast – ja, schon gut –, dann wirst du auf der Stelle aus meinem Dienst entlassen.«

In der Ecke bietet Mrs. Frost ein Bild der Verzweiflung. Sie versucht, Angelicas Blick aufzufangen, aber diese bringt es nicht fertig, sie anzusehen.

Ich bin nicht so jung wie diese Mädchen, denkt Angelica. Mir bleiben nur noch wenige Jahre blühender Schönheit. »Ich wusste, Sie würden mich fragen, ob ich zurückkommen möchte«, sagt sie schließlich. »Und, Madam, ich bin dankbar, dass Sie sich an mich erinnert haben. Sie sind eine wahre Freundin.«

»Ich möchte dir nur helfen, mein Liebling.«

Angelica schluckt. »Dann darf ich Ihre Hilfsbereitschaft vielleicht dorthin lenken, wo sie am meisten benötigt wird?«

Das ist eine Bitte, für die nicht viele Mütter empfänglich sind. Mrs. Chappell räuspert sich.

»Als besonnene Geschäftsfrau«, sagt Angelica, »haben Sie sicherlich bedacht, wo mein Wert liegt. Liegt er in meiner ständigen Anwesenheit in Ihrem Hause? Oder in meinem Aufstieg in der Welt?«

Sie hält inne. Sie sieht unter Mrs. Chappells Hängebacken eine Ader pochen. Die Mädchen schauen zu. Sie sehen zufrieden aus, wohlgenährt und gut gekleidet. Mrs. Frost hat ihren Platz auf dem kleinen Hocker neben der Tür eingenommen. Nun sieht Angelica, wie sie die Hand auf ihren Busen legt, genauer gesagt, auf die verborgene Tasche in ihrem Brusttuch, wo sie das schwindende Bündel Banknoten verwahrt.

»Ich schlage einen Mittelweg vor«, sagt Angelica. Mrs. Chappell schweigt und sieht sie an. Niemand spricht. Der nächste Schritt ist für Angelica ein großer, und sie wartet drei, vier Sekunden, um dann langsam fortzufahren. »Ich habe die Absicht, auf eigenen Füßen zu stehen. Es ist der rechte Zeitpunkt für mich, das verstehen Sie gewiss.«

Mrs. Chappell überlegt. Kurz schnellt ihre Zunge – überraschend rosa und überraschend nass – über ihre bläulichen Lippen. Sie schweigt.

»Als Freundin«, fährt Angelica fort, »will ich Ihnen den Gefallen tun und in Ihrem Hause erscheinen. Sie dürfen bekannt machen, dass Sie eine Sänfte zu mir schicken können, wann immer es die Gäste wünschen, aber dafür möchte ich meine Freiheit. Ich baue darauf, dass die nächsten paar Jahre für mich sehr ertragreich werden, denn ich habe mich als gute Mätresse erwiesen, und für den richtigen Gentleman kann ich das wieder sein, wenn ich die Freiheit habe, ihn zu empfangen.«

»Du denkst, du kannst deinen Weg allein gehen?«

»Nicht ganz allein, Madam. Ich werde Ihre Hilfe benötigen. Aber Sie haben mich in diese Welt eingeführt. Möchten Sie da nicht, dass ich vorankomme? Und wem hätte ich meinen Erfolg zu verdanken, wenn nicht Ihnen und Ihren Methoden?«

Das Lächeln der Äbtissin entfaltet sich langsam, aber wenn sie einmal damit beginnt, dann strahlt sie geradezu. Ihr Zahnfleisch ist blass, wie man deutlich sieht, ihre Zähne sind gelb und alle gleich lang wie die Tasten eines Cembalos.

»Ich habe dich gut ausgebildet«, brüstet sie sich. »Du bist keine bloße Hure, du bist, was meine Mädchen hoffentlich auch eines Tages sein werden: eine Frau von Wert, eine so hübsche kleine Fregatte, wie ich sie je in London vom Stapel gelassen habe. Kitty, Elinor, Polly – besonders du, Polly –, merkt euch das. Ihr habt die Gelegenheit, weit zu kommen, Mädchen, und das müsst ihr auch. Ambitioniert! Immer ambitioniert! Aus meinen Töchtern werden keine Straßendirnen.«

Angelica klopft das Herz unter dem Mieder. Für einen Moment verschwimmt die Welt. Sie hat noch nie gewagt, Mrs. Chappell zu widersprechen. Nachdem sie und ihre Mädchen gegangen sind, winkend und mit zärtlichen Abschiedsworten, wirft sie sich jauchzend auf das Sofa.

»Das beweist es«, sagt sie zu Mrs. Frost, die mit gesenktem Kopf und flinken, eckigen Bewegungen das Teegeschirr wegräumt. »Sie kann es sich nicht leisten, mich zu ihrer Feindin zu machen. Sie lässt mir meinen Willen.«

»Du hättest sie nicht abweisen sollen«, sagt Mrs. Frost. Ihre Lippen sind schmal, ihre Worte knapp.

»Eliza?« Angelica richtet sich auf. Sie versucht, ihrer Freundin ins Gesicht zu sehen, aber vergeblich. »Ach, Eliza, du bist verärgert.«

»Du hättest an unsere Sicherheit denken können«, faucht Mrs. Frost.

»Wir sind sicher. Oder wir werden es sein. Wenn ich das bisher nicht geglaubt habe, so jetzt. Mother Chappell hat einen Instinkt für Erfolg.« Ihr gefällt der kalte, zurückgehaltene Zorn ihrer Freundin nicht. Sie folgt ihr durch das Zimmer.

»Mein Schatz, mein Täubchen, bitte setz dich zu mir. Komm, komm doch.« Sie nimmt Mrs. Frost bei den Schultern und will sie zum Sofa schieben, doch die ist steif wie eine Holzpuppe unter ihrem Kleid aus Baumwolle und Kalmank. »Ich schwöre dir, ich werde uns schützen. Wir sind auf dem aufsteigenden Ast, wir beide.«

Es ist, als wäre sie ein Geist. Ihre Stimme bleibt ungehört, ihre Berührung wirkungslos, während Mrs. Frost sich die Schürze enger bindet. Sie nimmt das Tablett mit den Teeresten der Huren und geht hinaus.

»Oh nein, nein!«, ruft Angelica ihr hinterher. »Lass mich nicht so stehen. Hab Mitleid.«

Sie hört die Freundin ohne das kleinste Zögern weitergehen. Sie genießt das wohl, dass ich sie anflehe, denkt sie. Welch ein Unsinn.

»Wie du willst!«, faucht sie, und dann geht sie zur Treppe. »Du bist eine törichte, sture Frau! Ja, das bist du«, ruft sie.

Aber Mrs. Frost ist längst fort.