„Es kommt nicht darauf an, wie viel wir geben.

Es kommt darauf an, wie viel Liebe wir

in dieses Geben legen.“

(Mutter Teresa in Maasburg, 2016, S. 80)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Sabine und Wolfgang Wöger

Illustration: Sabine und Wolfgang Wöger

Veröffentlichung: Wolfgang Wöger

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7526-3810-3

Inhalt

  1. ERLEBTES
  2. WISSENSWERTES RUND UM DAS ERLEBTE
  3. UNSERE NACHGEHENDEN GEDANKEN

I ERLEBTES

Auf der Suche nach unserer Berufung

Mutter Teresa, 1910–1997, in Gestalt einer Handpuppe; von Sabine Wöger aus Holzmehl gefertigt.

Sabine:

Zu meinem 12. Geburtstag bekam ich zu Weihnachten ein ersehntes Buch über Mutter Teresa geschenkt. Ich kann nicht genau sagen, ab wann mir die 1910 geborene Frau von kleiner Statur aus Albanien und ihr unermüdlicher Einsatz für die Armen, Ausgestoßenen und Sterbenden zu Herzen ging. Ich war glücklich, als sie 1979 den Friedensnobelpreis bekam, und tieftraurig, als sie 1997 hochbetagt und nach drei Herzinfarkten in Kalkutta starb. Würde ihr tiefes Verständnis für in bitterer Armut lebende Menschen, Kranke und Sterbende und ihr ehrlicher, von Selbstherrlichkeit losgelöster Einsatz für sie ihren Tod überdauern, um das (sinnlose) Leid in der Welt zu lindern?, fragte ich mich. Die Nonne Agnes Gonxha Bojaxhiu hatte um 1950 entschieden, die katholische Ordenstracht abzulegen und den weißblauen Sari anzuziehen, um sich in Kalkutta um Einsame, Sterbende und Leprakranke zu kümmern, fern von politischen und weltanschaulichen Einflüssen. Ich erwog, Ordensfrau in der von ihr gegründeten katholischen Kongregation der „Missionarinnen der Nächstenliebe“ zu werden, um mich der Nöte und Bedürfnisse Sterbender in armen Ländern anzunehmen. Ein Foto in dem Buch, das ich geschenkt bekommen hatte, beeinflusste maßgeblich die Entwicklung meiner Lebensphilosophie, die sich später im Rahmen der Palliativpflege und Logotherapie tief greifender ausbilden sollte. Sie ist von der Demut vor dem leidenden Menschen und von der Wertschätzung gegenüber allem Lebendigen geprägt. Das Foto zeigte eine Missionarin der Nächstenliebe. Sie kniete vor einem ausgezehrten, geschwächten und spärlich bekleideten Mann, der vor ihr auf dem Rücken auf einem Steinboden lag. Die Nonne wusch den Mann. An der Wand hinter ihr hing ein Bild von Jesus Christus. Darunter standen die Worte „I thirst“ geschrieben. Je länger ich das Bild auf mich wirken ließ, desto mehr trat die Pflegemaßnahme, das Waschen des Mannes, in den Hintergrund. Hingegen war eine Gesinnung der Liebe, des Respekts und der Achtsamkeit spürbar, welche die Ordensfrau dem sterbenden Mann entgegenbrachte. Zu sehen war, wie sie mit ihren Händen behutsam seinen Leib berührte. Mit allem, was sie ausmachte, schien sie bei ihm zu sein, dabei ganz in sich ruhend. Der Mann wirkte körperlich entspannt, seine Glieder lagen ausgestreckt auf dem Boden. Er erweckte den Anschein, keine Schmerzen zu verspüren, obwohl die Knochenvorsprünge des Beckens und der Schultern auf dem harten kalten Stein blank auflagen. Mit geschlossen Augen empfing er die Berührungen der Nonne, als wären sie Teil einer Salbung. Zwei Menschenseelen begegneten einander andächtig und in stiller Harmonie. Ich hielt es für wahrscheinlich, dass die geistliche Schwester den Mann berührte, als liege der geschundene Leib von Jesus Christus vor ihr. Der herankommende Tod vermochte die Heiligkeit der Begegnung nicht mit Wehmut zu überschatten. Der Weltenschmerz verlor an Macht in dieser Szenerie. Ich fühlte mich ein wenig beschämt, war ich doch durch das Betrachten des Fotos stille Beobachterin einer intimen spirituellen Begegnung zweier Menschen am Übergang vom Leben zum Tod. Ich fühlte mich beseelt von dem Auftrag, Gott zu dienen. Seitdem beschäftigt mich die Frage: Wonach dürstet Gott, und wie kann ich zur Linderung des dürstenden Menschen in meiner Welt beitragen?

Wolfgang:

Viele Jahre lang versuchte ich, meinem Leben eine Wende in Richtung einer Sinn- und Werteverwirklichung zu geben. Authentisch leben, statt des Wandelns am Burn-out, dem Herzen und der Seele im täglichen Tun nachspüren, statt des beruflichen Engpasses und der Anpassung im Übermaß, Dienst am Menschen tun, statt eines vermeintlich schönen Lebens in der persönlichen Sackgasse. Das bis dahin nahezu gänzlich ignorierte, weil mit vielen Ängsten behaftete Thema der Endlichkeit alles Irdischen rückte in den Vordergrund, wurde zu einer der Triebfedern für Veränderungen. Ich beendete nach 28 Jahren meine Karriere als Projektleiter im Bauwesen und startete einen neuen Bildungsweg. Zunächst absolvierte ich die Ausbildung zum diplomierten Lebens- und Sozialberater, dann den Basislehrgang in Palliative Care. Fremde ferne Kulturen interessierten mich im Besonderen in der Unterschiedlichkeit ihres Umganges mit dem Sterben als Bestandteil des täglichen Lebens, deren Begleitung oder Nichtbegleitung Sterbender, der Umgang mit Schmerz und Leid, die Rituale im Sterbeprozess. Der Wunsch reifte, von Anfang an meines bewussten Eintauchens in diese Materie ein umfassenderes Bild zu entwickeln, als es der eingeschränkte Blickwinkel unserer westlichen Kultur mit ihren zahlreichen lindernden Möglichkeiten in Bezug auf Krankheit und Sterben zuließ. Im Juni 2012 erzählte mir Sabine erstmals von ihrem Lebenstraum, von dem Vorhaben, in einem der Sterbehäuser von Mutter Teresa in Kalkutta zu arbeiten. Ich spürte sofort, wie sehr mich dies berührte und dass ich, wenn irgendwie möglich, Sabine begleiten wollte.

Wir gemeinsam:

Nachdem wir einander 2012 kennengelernt und zueinander eine tiefe Seelenliebe verspürt hatten, kam es auch zu einer Veränderung der Beziehungen, die unser beider bisherige Leben geprägt hatten. Unser Leben, auch das unserer früheren Partner, erfuhren eine massive Erschütterung.

Wir entschieden, nach Kalkutta zu reisen, um dort als Volontäre tätig zu sein, wissend, dass die Hinwendung zu einer sinnvollen Aufgabe bei der Bewältigung von Lebenskrisen hilfreich sein kann. Wir hofften, mehr Klarheit über unsere gemeinsame Berufung zu erfahren. Wir dienten in dem ersten von Mutter Teresa 1952 gegründeten Sterbehaus „Nirmal Hriday“ in Kalighat und in der Krankenambulanz von Nirmala Shishu Bhavan, das ist ein Kinderheim in Kalkutta, das heutige Kolkota.

Beide fühlten wir, dass unserer Begegnung auch ein Auftrag innewohnte, der unsere eigenen Bedürfnisse überstieg. Beim Nachdenken über zentrale Lebenswerte, den Auftragscharakter des Lebens an uns, und über konkrete Wege sinnstiftenden Wirkens in unserer Gesellschaft wollten wir die Situation von in bitterer Armut lebenden Menschen keinesfalls ignorieren. Wir wollten unsere eigenen Einstellungen, Gewohnheiten und Annehmlichkeiten kritisch beleuchten, weshalb wir die Konfrontation mit einem Leben jenseits des unsrigen suchten und hierfür die Großstadt am Fluss Hugli bald näher ins Auge fassten. Auch das Bewusstsein über die Brüchigkeit unserer Existenz und der Endlichkeit des Lebens nährte die uns schicksalhaft verbindende und gemeinsame Sehnsucht, die nicht irgendwann, sondern so früh wie möglich gestillt werden sollte.

Künftig wollten wir verstärkt dazu beitragen, das Leben der Menschen durch Liebe, Vertrauen und durch zwischenmenschlichen Zusammenhalt zu bereichern. Wichtig war uns beispielsweise die Botschaft, dass all der Wohlstand, die Sicherheit und die beruflichen Möglichkeiten niemals selbstverständlich sind. Ein bewusster Verzicht würde dem Menschen nicht etwas wegnehmen, sondern das Leben bereichern und aufwerten. So könnte der bewusste Verzicht auf Fleisch zur Reduzierung des Tierleids beitragen und das Gefühl hervorrufen, selbst sinnstiftend und Leid vermeidend in die Welt hineinzuwirken. Unsere Begabungen, all die beruflichen und privaten Erfahrungen beabsichtigten wir zu bündeln, um sie treu unserer Intuition zur Linderung der von Leid, Trauer und unfassbarem Schicksalsschmerz geprägten Weltenseele zu entfalten. Der gemeinsamen Vision galt es, einen realen Boden zu geben.

Vorbehaltlos entschieden wir, uns den leidenden Menschen in Indien zuzuwenden, wissend ob der Risiken, die eine Reise nach Kalkutta mit sich brachte. Die Berichte über die Fülle an Gefahren in dieser Stadt nahmen wir wahr und ernst. Dennoch entschieden wir, den Ängsten, etwa jenen vor gewaltvollen Übergriffen oder vor Krankheiten, zu trotzen. Es dauerte mehrere Jahre, bis es uns möglich war, die Vielfalt an überwältigenden, berührenden und nachdenklich stimmenden Eindrücken vom Leben der Menschen und Tiere in Kalkutta, der Hauptstadt von Westbengalen im Nordosten Indiens, in Buchform zu erfassen.

Dieses Buch gliedert sich in drei Kapitel. Im ersten Kapitel, „Erlebtes“, berichten wir von den Erfahrungen unserer Reise. Wissenswerte Informationen rund um das Erlebte haben wir im zweiten Kapitel zusammengetragen, um schließlich im dritten Kapitel einige nachgehende Gedanken darzulegen. Obwohl die Stadtbezeichnung „Kalkutta“ 2001 offiziell abgeschafft wurde und seither „Kolkata“ lautet, verwenden wir in diesem Buch noch die alte Bezeichnung, einfach deswegen, weil sie uns vertrauter ist.

Wir beide am Flughafen in Dubai.

Nachthimmel über Bagdad

Sabine:

Nie zuvor erblickte ich gleichartig Schönes und es drängte mich, das Erleben des Sonnenuntergangs auf dem Flug von Wien nach Bagdad niederzuschreiben, um es für später zu bergen. Es ist 20:45 Uhr. Wolfgang holt für mich das Notebook aus dem Handgepäck. Ich beginne zu schreiben: Entlang des sich verdunkelnden Horizonts erstrahlt klar und friedlich die kreisrunde Sonne. Sie ist im Untergehen begriffen. Ich kann sie direkt anblicken, trotz ihrer Helligkeit. Wenige Minuten später. Die Stimmung am Himmel verändert sich eindrücklich. Der grelle orange leuchtende Himmelskörper beginnt, in den Horizont hinabzusinken und erweckt zunehmend den Anschein, in das dunkle Schwarz des darunterliegenden Horizonts hinabzustürzen. Die zuvor beruhigende Himmelsstimmung wandelt sich binnen kurzer Zeit in ein bedrohliches Geschehen. Ich nehme die Stimmung am Firmament mit wachen Sinnen wahr. Weil ich mich auf das grelle Rot des äußeren Randes der Sonne konzentriere, die ohne Eile unablässig versinkt, wissend ob ihrer Schickung, bleibe ich von der Dunkelheit des darunterliegenden Horizonts unbeeindruckt. Bald wird sie versinken. Am Horizont breitet sich ein Farbenwunder aus: stetig greller werdendes Orange, übergehend in Pastellviolett, das sich in einem sanften, warmen Gelb auszubreiten beginnt. Die Tragflächen des Flugzeugs schwingen sanft und deren dunkle scharfe Konturen heben sich vom Farbenspiel klar ab. Seit einer Stunde begleitet uns das grelle Weiß eines Sterns. Beim Blick aus dem Fenster und nach unten hin erschrecke ich, weil Lichter zu sehen sind. Ich vermutete ein viel zu nahes Flugzeug. Wolfgang beruhigt mich. Es sind die Lichter Bagdads, die aus weiter Ferne leuchten. Im Irak gehört die Gewalt zum Alltag der Menschen, vor allem jene zwischen den religiösen Gruppierungen. Wenige Tage zuvor riss eine Autobombe viele Menschen in den Tod. Hoffentlich geraten wir nicht in das Visier von Militärs oder Rebellen und werden versehentlich abgeschossen, denke ich. Dann schwinden meine dunklen Gedanken und Ängste und ich überlasse mich wieder vertrauensvoll den Wahrnehmungen hier oben. Der Horizont schimmert im Moment in prächtigem Orange, warmem Gelb und grellfarbigem Pink. Letztere Farben entfalten sich über den gesamten weiten Himmel. Ich lehne mich an Wolfgang und gemeinsam beobachten wir das letzte Ringen der Farben mit der Dunkelheit. Jeder Augenblick entfaltet ein neues Farbenspektrum. Nichts bleibt, wie es gerade ist. Während des Vergehens entstehen neue Wunder. Ich versuche, den tiefen Sinngehalt des einprägsamen Farbenspiels am Nachthimmel über Bagdad für mein Leben zu erfassen. Das satte Orange bringt mich in Kontakt mit meiner inneren Kraft, die unermüdlich nach Entfaltung drängt. Mir kommen Aufgaben in den Sinn, in denen diese Kraft in mir der Intensität der Himmelsfarben gleicht, etwa die Lehrtätigkeit oder die Begleitung von Menschen im beratenden oder psychotherapeutischen Kontext. Das Pink steht für die tief gehende, unerschütterliche Liebe zu meinem Seelenpartner Wolfgang. Sie wird den unerbittlichen Tod überdauern und ewig währen. Der dunkle Horizont steht für die Trauer, die mich beim Gedanken an meinen Noch-Lebenspartner durchflutet. Ich fühle mich zum „Ja“ zu meinem Seelenpartner berufen. Die Berufung ist stark und durchdrungen von der Seelenliebe zu ihm. Der Preis dafür ist extrem hoch, weil ich das Leben mit meinem bisherigen Partner nicht fortführen kann und ihn das schmerzen wird. Noch fehlen die Worte, um vor ihm nachvollziehbar darlegen zu können, was in mir vorgeht. Beide befinden wir uns in einer lebenswendenden Krise. Das damit einhergehende Seelenweh ist kaum auszuhalten, es gleicht dem bedrohlichen Schwarz des Horizonts. Gleichermaßen eine Art Untergang, wie jener der Sonne, hoffentlich ein vorübergehender. Dennoch: Ich fühle mich gehalten. Das satte blaue Himmelszelt breitet sich schützend über uns aus. Für Wolfgang und mich ist das Fliegen unangenehm und beängstigend, weshalb die vielen Flugstunden nach Kalkutta uns Mut und Vertrauen abverlangen, vor allem, wenn das Flugzeug bei Turbulenzen ruckelt oder in ein Luftloch sackt.

Wolfgang:

Die satten Farben vergehen, alle, endgültig, ebenso alles Lebendige.

Sabine:

Bisweilen durchflutet es mich vor Liebe zu den Menschen. In solchen Augenblicken halte ich es für vorstellbar, die Welt zu umarmen. Ich weiß, dass geliebte Menschen eher Einstellungsmodulationen und positive Veränderungen in Gang setzen können, während jene, an die niemand glaubt, welche die bedingungslose Liebe nie erfahren, es in diesem Punkt besonders schwer haben. Wir überlassen uns dem Flug im Dunkeln. Sanfte Bewegungen des Flugzeuges sind spürbar. Immerfort begleitet ein weißer und hell leuchtender Stern den Flug.

Ankunft in Kalkutta und erste Taxifahrt

Mit einer halben Stunde Verspätung und einer Zeitverschiebung von 3 ½ Stunden erreichten wir gegen 08:45 Uhr Ortszeit Kalkutta. Am Check-out arbeiteten ausschließlich Männer mit tiefernsten Mienen. Nur ein Herr, er saß am Schalter, lächelte Sabine nach unserem Check-out zaghaft nach. Das Flughafengebäude war einzig den Reisenden vorbehalten, weshalb es auf dem Flughafengelände ruhig war. Erst nach dem Verlassen des Gebäudes sahen wir die vielen Menschen, die im Freien auf die Ankommenden warteten. Und von einem Moment auf den anderen war es ohrenbetäubend laut.

Bei der Suche nach einem Taxi kam ein Mann auf uns zu, um seinen Fahrdienst anzubieten. Sogleich nahm er Sabine den Koffer ab und marschierte vorneweg in ein Parkhaus, wo das offiziell nicht ausgewiesene Taxi bereitstand. Zuvor diskutierte er aggressiv und gestikulierend mit einem anderen „Taxifahrer“. Die beiden Männer handelten untereinander aus, wer uns chauffieren durfte. Währenddessen kam ein etwa sechsjähriger ärmlicher Junge auf uns zu und bat um Geld: „One Rupee, please!“ Letztendlich fuhren uns zwei andere Männer. Wir sollten an Ort und Stelle einen Betrag von 2.500 Rupien, das entsprach etwa 30 Euro, für eine knapp einstündige Autofahrt bezahlen. Aus Sorge, um unser Geld geprellt zu werden, bestanden wir darauf, erst am Ankunftsort zu bezahlen. Zu guter Letzt wurden wir von den zwei Männern in einem Hindustan-Ambassador-Taxi durch Kalkutta zu unserem Zielort gefahren.

Die erste Autofahrt war ein gewagtes Unterfangen. Im Auto gab es weder Gurte noch Kopfstützen. Sabines Sitz bewegte sich beim Bremsen einige Zentimeter nach vorne. Unserem europäisch geschulten Ermessen nach gab es keine Verkehrsregeln. Alle fuhren auf irgendeine Art und Weise, drei-, vier- und streckenweise fünfspurig. Es wurde unaufhörlich gehupt. Der Spurwechsel erfolgte jeweils nach wenigen Metern, also auf einer Strecke von 100 Metern etwa zehnmal, wobei das Auto ohne vorheriges Blinken ruckartig zur Seite gelenkt wurde. Jedes Fahrzeug nutzte jede Lücke, überholt wurde rechts, links, auf Gedeih und Verderb. Wenn es absolut brenzlig wurde, betätigten alle sekundenlang und gleichzeitig die Hupen. Hinweisschilder mit durchgestrichenen Hupen darauf deuteten an, dass in der Nähe ein Krankenhaus war. Dieses Hupverbot blieb durchweg unberücksichtigt.

Dazwischen wurden Rikschas, Mann-Kraft-Maschinen, von ausgemergelten Männern gezogen. Eine um das Handgelenk gebundene Glocke fungierte als Hupe. Kalkutta war die einzige Stadt Indiens, in der Rikschas noch von Hand gezogen wurden. Die Gefährte mit überdimensionalen Rädern sahen abgenutzt aus und beförderten drei oder vier Personen.

Auch menschenüberfüllte Tata-Busse prägten das Straßenbild. Busse, Motorräder und Fahrräder hielten inmitten des dichtesten Verkehrs, um die Buspassagiere ein- und aussteigen zu lassen.

Es wurde durchweg viel zu schnell gefahren. Besondere Beklemmung fühlten wir beim Fahren auf Straßen mit Gegenverkehr: Erst im letzten Moment wurde ausgewichen und es schien unklar, wer ausweicht und auf welche Seite. Das Durcheinander blieb zu unserem Erstaunen unfallfrei. Der Raum zwischen den fahrenden Fahrzeugen betrug wenige Zentimeter. Auf der Straße gab es keinen ungenutzten Raum. Wir passierten Kreuzungen mit Ampeln. Ein lächelnder Polizist stand inmitten des Gewirrs. Die Regelung des Verkehrs geschah durch beiläufig anmutende Armbewegungen.

Zwischen den Fahrzeugen wurde kein Sicherheitsabstand eingehalten. Hielt jemand den Ellbogen zu weit aus dem Fenster, wurde dieser von einem Auto gestreift. Einzig für den Ambulanzwagen wurde mehr Raum gelassen, sodass das Fahrzeug die Chance hatte, schneller voranzukommen. Auffallend war, dass weder geschimpft noch gestritten, aber auch nicht gelächelt wurde.

Unmittelbar vor uns bog aus einer eineinhalb Meter breiten Seitengasse ein Motorradfahrer mit einem Kind hinten drauf mit großem Tempo auf die Hauptstraße ein, ohne dabei seine Geschwindigkeit zu verringern.

Auf Fußgänger wurde keine Rücksicht genommen, aus unserer Sicht. Sie passierten die hochgefährlichen Straßen indes mit relativer Gelassenheit. Derart viele Fahrzeuge auf engem Raum hatten wir bislang noch nicht gesehen. Um Angst aufkommen zu lassen, blieb keine Zeit. Stattdessen bewältigten wir sie mit Galgenhumor und entschieden, uns dem gefährlichen Schicksal vertrauensvoll hinzugeben. Dennoch: Uns war mulmig zumute. Kein vergleichbarer Beruf in unserem Land kam uns in den Sinn, bei dem in einer Sekunde solch ein Risiko in Kauf genommen wurde, wie jenes von Verkehrsteilnehmenden in Kalkutta. Auffallend war, dass nur Männer Fahrzeuge lenkten.

Auf einem fahrenden Moped saß ein Mann mit einem Mädchen, vermutlich war es seine Tochter. Er trug den Helm, der Kopf des Kindes war ungeschützt. Was mag dies bei dem Mädchen auslösen?, fragten wir uns. Dass der Vater schützenswerter als das Kind ist? Würde der „Ernährer“ sterben, wäre dies für die Familie unbestritten die größere Tragödie. Am Straßenrand sahen wir vereinzelt Kinder, die Wäsche wuschen. Eine Hündin lief mit ihren drei Jungen nahe der für sie todbringenden Straße. Hauptsächlich waren japanische und koreanische Pkw unterwegs, ebenso unzählige der seit Jahrzehnten unverändert gebauten „Ambassadors“ aus heimischer Produktion. Das Regelwerk auf Indiens Straßen zeigte sich bald und deutlich: Stärke und größere Fahrzeuge hatten Vorrang. Alle anderen Verkehrsregeln schienen nach Gutdünken beachtet zu werden. Wir sahen einige wenige feudale Gebäude mit der Architektur aus der Zeit des britischen Empire, jedoch waren sie allesamt verfallen. Der Fahrer unseres Autos wirkte angespannt und hoch konzentriert. Er schien an die Situation gewöhnt zu sein und fühlte sich durch Wolfgangs Bezeichnung „Profi“ geschmeichelt. Wenn wir in unserem Land eine Taxifahrt unternehmen, können wir sie in der Regel entspannt erleben, vielleicht einen netten Small Talk mit dem Fahrer führen. Bei unserem Fahrer ging es um „alles“. Doch war er ja nur ein Fahrer, bei dem es um „alles“ ging. Zugleich waren Hunderte andere unterwegs. Ungeachtet dessen wurde dennoch „Alltäglichkeit“ in dieser Verkehrssituation vermittelt. Alle waren intensiv damit befasst, jede Möglichkeit, jede Sekunde zu nutzen, um eine Lücke im Fließverkehr zu schließen. Wir fragten uns: Wozu dieser Stress? In der Stadt war eine enorme Hektik spürbar. Es war klar, dass Unfälle nicht annähernd, wenn überhaupt, aufgenommen wurden wie in Europa. Bei einem Unfall würde das Verkehrschaos eskalieren, weil alle Fahrzeuge zum Stillstand kämen. Wir spekulierten, ob und wie die Fahrzeuge versichert waren. Fließ-, Gegen-, Querverkehr, alles gleichzeitig, ungeregelt und hektisch. Auf die Frage, ob es viele Unfälle gebe, erschien uns die beschwichtigende Antwort des Taxifahrers: „Very little“, unglaubwürdig.

Seltsam war, dass die vielen streunenden Hunde offenbar „no problem“ waren. Dass es genügend Touristen – so die Aussage des Fahrers – in der Stadt gebe, das bezweifelten wir, denn Touristen waren nicht zu sehen. Auf der Fahrt zum Hotel sahen wir bereits die entsetzliche Armut der Menschen. Die Luft war stickig, staubig und schwül. Im Hotel angekommen fielen wir in einen mehrstündigen Erholungsschlaf. Nachdem wir ein verspätetes Frühstück eingenommen hatten, „wagten“ wir uns auf die Straße, um Mineralwasser in einem Supermarkt zu kaufen. Die Vielfalt befremdlicher Eindrücke überwältigte uns, weshalb wir öfter stehen blieben, dadurch jedoch in Gefahr gerieten, von einem Vehikel überfahren zu werden.

Ein angegurteter Taxifahrer in einem Hindustan-Ambassador-Taxi – eine Ausnahme unter den Chauffeuren.