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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Einführung in die Theorie und die Feldstrukturen

1.1 Einleitung

Am Anfang war die Niederlage. Auf die nationale Niederlage im Ersten Weltkrieg folgte eine Reihe historischer Ereignisse, die für verschiedene gesellschaftliche und politische Fraktionen in Deutschland ebenfalls als Niederlagen wahrgenommen wurden: das Scheitern der Revolution, der Abschluss des Versailler Vertrages, Kapp- und Hitlerputsch, das Verbot der Freikorps, die Ruhrbesetzung.

1929 erschien dann Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Ausgehend von diesem Werk entwickelte sich eine heftige literarische und publizistische Debatte. Es kann als Auslöser einer Reihe nationalistisch-militaristischer Kriegsromane bezeichnet werden, in denen das Kriegserlebnis dezidiert als Verpflichtung auf ein nationalistisches Engagement benannt wird: Der real erlebte Kampf in den Schützengräben und Freikorps war in einen Kampf um gesellschaftliche Sinnstiftung überführt worden.

Mit der literarischen Darstellung des Weltkriegs fand eine doppelte Übertragung statt: Zum einen wurde das Weltkriegserlebnis nunmehr in der Imagination wiederholt und bearbeitet; zum anderen wurde auf diesen imaginierten Schlachtfeldern um die Besetzung von Ästhetiken, Metaphern und Semantiken gekämpft. Mit jeder Publikation wurde Stellung bezogen für den Krieg oder gegen ihn, für die Helden oder die Opfer, für den Triumph oder das Leiden. Da die Niederlage im Ersten Weltkrieg aber gesellschaftlich weithin nicht akzeptiert worden war, wird sie in den Texten zumeist nicht als historischpolitisches Ereignis angesprochen; sie hat keinen konkreten Ort innerhalb der Erzählungen. Dennoch ist sie stets implizit enthalten, sei es in einer Darstellung wie der von Remarque, dessen Buch eine ganze Generation als von Krieg, Tod und Niederlage gezeichnet zeigt, oder in nationalistischen Entwürfen, die der Schmach der Niederlage die Werte Ehre, Kampfeslust und Opferbereitschaft entgegenstellen und in denen die Niederlage als Keim des Aufbruchs eines neuen Deutschland gewertet wurde.

Die vorliegende Studie verfolgt zwei Leitfragen: Zum einen gilt es, das Materialkorpus auf seine narrativen, ästhetischen und semantischen Muster zu untersuchen, diese in Zusammenhang mit politischen und sozialen Indizes zu setzen und so eine Strukturbeschreibung der Kriegsliteratur in der Weimarer Republik zu erstellen. Um die Vielzahl der Texte miteinander vergleichbar zu machen, wird zum anderen einer inhaltlichen Leitfrage nachgegangen, nämlich den Positionierungen hinsichtlich der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Anders als eine Untersuchung etwa der Schauplätze des Krieges (West- und Ostfront, Krieg in den Kolonien, Schilderungen der Geschehnisse in der Heimat oder in Kriegsgefangenenlagern) oder der erzählten Zeitausschnitte und Themen (Gaskrieg, Verhältnis Mensch – Maschine) bietet die Niederlage und ihre Folgen einen Fokus, unter dem die Texte gemeinsam perspektiviert werden können. Dabei wurde der Blick auf erzählende Prosa zum Ersten Weltkrieg gerichtet; im Vordergrund stehen damit Darstellungen, die Schicksale von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen wiedergeben.1 Regimentsgeschichten, historische Romane, Pamphlete und Traktate, Beiträge zur Kriegsschulddebatte oder zu militärtechnischen Fragen wurden nicht beachtet. Kriegsliteratur wird in der vorliegenden Studie in einem weiten Sinn verstanden. So werden nicht nur Darstellungen berücksichtigt, die auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs ihren Schauplatz haben, sondern auch solche, die in der Heimat oder im „Nachkrieg“, d.h. den Freikorpskämpfen und Bürgerkriegssituationen angesiedelt sind. Darüber hinaus werden mit Hermann Löns’ „Wehrwolf“ und Wilhelm Lamszus’ „Menschenschlachthaus“ auch zwei Texte in den Blick genommen, die bereits vor dem Weltkrieg publiziert wurden, aber bereits wichtige Darstellungsmodi enthalten.

Eine nicht unbeträchtliche Schwierigkeit für die Untersuchung stellte die schier unüberschaubare Masse an literarischen Werken zum Weltkrieg dar. War zu Beginn der Studie davon ausgegangen worden, dass die Anzahl der zu untersuchenden Bücher den Wert von 200 nicht überschreiten würde,2 so ergab die Konsultation von Bibliographien, die den zeitgenössischen Buchhändlern zur Verfügung gestellt wurden,3 die Auswertung des Zettelkastens der Kriegssammlung in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin sowie Sekundärliteratur aus dem Zeitraum zwischen 1930 und 19344 eine Gesamtzahl von über 670 untersuchungsrelevanten Titeln.

Aus diesem Korpus wurden dann anhand von Bestsellerlisten,5 der „Schwarzen Liste“ verbotener und verbrannter Bücher,6 aufgrund von Sekundärliteratur zu einzelnen Spezialgebieten wie den Darstellungstraditionen nationalsozialistischer Literatur und der Kolonialliteratur7 oder schlicht nach dem Titel rund 170 Werke ausgewählt, deren einleitende und abschließende Abschnitte einer Begutachtung unterzogen wurden, da davon ausgegangen werden konnte, dass dort programmatische, motivationale und/oder politischmoralische, wertende Begriffe und Darstellungsformen verwandt werden, die für den jeweiligen Gesamttext bedeutsam sind. Nach dieser Voruntersuchung wurden die als relevant erscheinenden Titel dann vollständig rezipiert und analysiert.

1.2 Einführung in die Theorie

Methodischer Ansatz dieser Studie ist die von Pierre Bourdieu entwickelte literatursoziologische Theorie.8 Sie ermöglicht es, nicht nur die einzelnen Werke aufeinander zu beziehen, sondern diese auch in Korrelation zur sozialen Position des Autors bzw. zur aktuellen politischen Situation zu setzen. Kunst und Literatur werden hier als soziale Fakten betrachtet. Gegenstand der Analyse ist mit dem „Sozialsystem Literatur“ – als konstitutivem Teilsystem der Gesellschaft – ein sozialer Raum mit relativ autonomen, eigengesetzlich organisierten „Feldern“. Bourdieu fordert ein, sowohl die Werke in ihrer Beziehung zu anderen Werksorten als auch die Produzenten in ihrer Relation zu den anderen Autoren bzw. zu anderen Feldern im Auge zu behalten. Grundlegend ist dabei die „Hypothese von strukturellen und funktionellen Homologien zwischen einzelnen Feldern“;9 diese Homologien sind

le produit de la rencontre quasi miraculeuse entre deux systèmes d’intérêts […] ou, plus exactement, de l’homologie structurale et fonctionelle entre la position d’un écrivain ou d’un artiste déterminé dans le champ de production et la position de son public dans le champ des classes et de fractions de classe. […] C’est la logique des homologies qui fait que les pratiques et les œuvres des agents d’un champ de production spécialisé et relativement autonome sont nécessairement surdétermineés, que les fonctions qu’elles remplissent dans les luttes internes se doublent inévitablement de fonctions externes, celles qu’elles reçoivent dans les luttes symboliques entre les fractions de la classe dominante et, à terme au moins, entre les classes.10

Angesichts des hohen Politisierungsgrades der Kriegsliteratur – gerade in der Endphase der Weimarer Republik ist er evident – wird diese These im vorliegenden Fall besonders plastisch. So ermöglichen diese Homologien auch, über eine Analyse der Struktur des politischen Feldes neue Einsichten zur Struktur des literarischen Feldes zu gewinnen und die ästhetischen Darstellungsmodi in Bezug zu den ideologischen Positionsnahmen des Macht-Feldes zu setzen.

Neben der Homologiethese ist es vor allem das Anliegen einer Beschreibung sozialer Konflikte, das den Bourdieuschen Ansatz vor anderen auszeichnet. Bei Bourdieu werden die Positionen im Feld konfligierend aufeinander bezogen, es liegt das Paradigma des sozialen Kampfes zugrunde und damit jene Orientierung an Werten wie „Ehre“ und Prestige, die für die Kriegsliteraturdebatte besonders relevant ist. Mit dem Begriff des „Kampfes“ ist der Begriff des „Feldes“ eng verbunden: „Dass die Geschichte des Feldes die Geschichte des Kampfes um das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien ist: diese Aussage ist noch unzureichend; es ist vielmehr der Kampf selbst, der die Geschichte des Feldes ausmacht; durch den Kampf tritt es in die Zeit ein.“11 Die Verwendung des Begriffes „Feld“ resultiert aber nicht (nur) aus der Betrachtung der direkten Interaktionen, vielmehr werden damit die Relationen zwischen den Positionen und ein „typisches“ Handeln der Beteiligten, das sich auch ohne wirkliche Interaktionen einstellt, objektiviert.12 So lassen sich die Strukturen im literarischen Feld beschreiben als objektive Relationen zwischen „denjenigen, die Epoche gemacht haben und ums Überdauern kämpfen, und denjenigen, die ihrerseits nur Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran haben, die Zeit anzuhalten, den gegenwärtigen Zustand zu verewigen“.13 Die Geschichte des Feldes entsteht also durch die Abfolge einer Reihe von Oppositionen, d.h. den Gegensätzen „zwischen den an einer Kapitalart Reicheren und Ärmeren, zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, den Arrivierten und ihren Herausforderern, den Alteingesessenen und den Neulingen, realem und angemaßtem Rang, Orthodoxie und Häresie, Arrieregarde und Avantgarde, etablierter Ordnung und Fortschritt“.14

Wie an obigem Zitat ablesbar, können die verschiedenen Bezeichnungen der unterschiedlichen Gruppen von ,Arrivierten‘ und ,Herausforderern‘ usw. variiert werden; da Bourdieu in der Genese seiner Theoriebildung seine Begriffe an der Betrachtung des religiösen Feldes gewonnen hat und sie von dort auf die anderen Felder symbolischer Produktion – wie Kunst, Literatur oder auch Sprache – übertragen hat, sollen in der vorliegenden Studie die Termini ,Orthodoxe‘ und ,Häretiker‘ verwendet werden. Damit lässt sich die Geschichte der Kriegsliteratur in der Weimarer Republik wesentlich als Abfolge zweier Gegensätze beschreiben: Dies ist zum einen der Gegensatz zwischen den Eliten des Kaiserreichs und den kriegskritischen Intellektuellen und Künstlern, wie er sich bereits während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg ausbildet (aufgrund der Zensur durften viele antimilitaristische Texte vor 1918 nur in der neutralen Schweiz erscheinen), zum anderen bildet sich gegen Ende der Weimarer Republik der Gegensatz zwischen antimilitaristischen (hier ist insbesondere an Remarques „Im Westen nichts Neues“ zu denken) bzw. sozialistischen Positionen und den „radikal-nationalistischen“ Texten aus. Die Abfolge dieser Gegensätze in der Zeit bildet die Geschichte des Feldes: „c’est inséparablement faire exister une nouvelle position au-delà des positions occupées, en avant de ces positions, en avant-garde. Introduire la différence, c’est produite de temps.“15

,Orthodoxe‘ und ,häretische‘ Positionen unterscheiden sich voneinander weniger durch inhaltliche Kriterien, sondern bestimmen sich vorwiegend negativ, in Beziehung auf die anderen Positionen; alle konkurrieren miteinander um die legitimen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien der gesellschaftlichen Welt und definieren sich durch ihren je unterschiedlichen Bezug zur Doxa, „d.h. wenn die Koinzidenz zwischen objektiver Ordnung und den subjektiven Organisationsprinzipien gleichsam vollkommen ist (wie in den archaischen Gesellschaften), erscheint die natürliche und soziale Welt schließlich als selbstverständlich vorgegebene. Diese Erfahrung wollen wir Doxa nennen“.16 Erst wenn dieser Status der sozialen Welt als natürliche Gegebenheit in Frage gestellt wird, „erst dann wird auch die bewußte Systematisierung und explizite Rationalisierung, die beide den Übergang von der Doxa zur Orthodoxie kennzeichnen, eine Frage der Notwendigkeit. […] Orthodoxie bestimmt sich als ein System von Euphemismen, von schicklichen Weisen, die natürliche wie soziale Welt zu denken und in Worte zu fassen“.17 Zu dieser ,Orthodoxie‘ setzen sich die ,häretischen‘ Positionen durch die Markierung eines Bruchs ab:

Der häretische Bruch mit der bestehenden Ordnung und den Dispositionen und Vorstellungen, die sie bei den von ihren Strukturen geprägten sozialen Akteuren erzeugt, setzt jedoch selber voraus, daß ein kritischer Diskurs und eine objektive Krise zusammentreffen, um die unmittelbare Entsprechung zwischen den inkorporierten Strukturen und den objektiven Strukturen, aus denen sie hervorgegangen sind, aufbrechen [sic!] und eine Art praktischer épochè, eine Suspendierung der ursprünglichen Bejahung der bestehenden Ordnung, einleiten zu können.18

Aufgrund dieses Zäsurcharakters tendieren die Stellungnahmen der Herausforderer „zur Kritik an bestehenden Formen, zum Sturz der geltenden Vorbilder und zur Rückkehr zu ursprünglicher Reinheit“.19 Die Proklamation einer ,Rückkehr zu den Quellen‘ kommt häufig einem Angriff auf das ,Heilige‘ gleich und schließt daher die Figur der Überschreitung mit ein:

Mais la contestation des hiérarchies artistiques établies et le déplacement hérétique de la limite socialement admise […] ne peut exercer un effet proprement artistique de subversion que si elle reconnaît tacitement le fait et la légitimité de cette délimitation en faisant du déplacement de cette limite un acte artistique et en revendiquant ainsi pour l’artiste le monopole de la transgression légitime de la limite entre le sacré et le profane, donc des révolutions des systèmes de classement artistiques.20

Der Wandel im Feld ist das Produkt des Kampfes zwischen diesen unterschiedlichen Positionen. Entkoppelt von diesem Wandel ist freilich das Schicksal der neuen, ,häretischen‘ Stellungnahmen. Da die Durchsetzung einer neuen Position von der Stärke der von ihr mobilisierten Gruppe innerhalb des sozialen oder politischen Felds abhängt, d.h. von externen Faktoren, kann es Vorkommen, dass eine ,häretische‘ Position – im vorliegenden Fall die kriegskritische Sicht (im folgenden mit ,Häretiker I‘ bezeichnet) – sich nicht etablieren kann. Gelingt dies aber, kommt es – wie im Fall der „radikalnationalistischen“21 Texte (im folgenden mit ,Häretiker II‘ bezeichnet) – zu einem Umschlag von ,Häresie‘ in eine „neue […] Orthodoxie“.22

Indes wirft die Analyse des gewählten Materialkorpus „Kriegsliteratur in der Weimarer Republik“ eine Reihe von Problemen und neuen Fragen auf. Das erste Problem ergibt sich daraus, dass die Kriegsliteratur in der Weimarer Republik lediglich einen Ausschnitt des gesamten literarischen Feldes darstellt. Bourdieu konzeptionalisiert das literarische Feld als einen Raum, in dem die Produkte durch ihre unterschiedlichen literarischen Qualitäten positioniert sind. Mit „Kriegsliteratur“ ist aber nur ein geringer Teil der Produkte dieses Raums angesprochen; diese Teilmenge bildet mitnichten ein zusammenhängendes Ganzes, so dass es, streng genommen, auch nicht korrekt ist, von einem eigenständigen kriegsliterarischen ,Subfeld‘ oder einem ,Segment‘ zu sprechen. Die einzelnen Texte haben zwar einen gemeinsamen Bezugspunkt, und sie positionieren sich auch in Relation zueinander, aber dies muss nicht für jede der möglichen Untersuchungsvariablen gelten. Während also die Texte in ihrem thematischen Bezug auf den Ersten Weltkrieg ihren gemeinsamen Nenner und entsprechend auch die geringste Schnittmenge mit den anderen Texten des literarischen Feldes zwischen 1918 und 1933 haben, sind sie hinsichtlich ihrer Formeigenschaften am wenigsten von diesem vorgängigen Ereignis bestimmt und haben dort ihre größte Schnittmenge mit dem restlichen Feld. Diese Beobachtung erklärt, warum die Erzähltechniken einzelner Texte (z.B. Arnold Bronnens Montageroman „O.S.“ von 1929 oder Edlef Köppens 1930 erschienener „Heeresbericht“ sind Beispiele für avancierte Techniken, die der „Neuen Sachlichkeit“ zuzuordnen sind) nicht auf ihre erzähltechnischen Besonderheiten hin untersucht wurden.

Andererseits erscheint es aber nicht angemessen, den Feldbegriff für die Kriegsliteratur der Weimarer Republik vollständig fallen zu lassen. So haben sich – neben dem Thema Weltkrieg – als relevante Untersuchungsvariablen Erzählmuster (präziser: erzählte Handlungsmuster), Metaphern, spezifische Semantiken und Ästhetiken erwiesen, anhand derer die Texte gültig aufeinander bezogen werden können. Gerade hier wird die Existenz synchroner Gegensätze anschaulich, die das Feld der Produkte strukturiert; so bestätigt sich

le fait que les structures objectives du champ de production sont au principe des catégories de perception et l’appréciation qui structurent la perception et l’appréciation de ses produits. C’est ainsi que des couples antithétiques […] peuvent fonctionner comme des schèmes classificatoires, qui n’existent et ne signifient que dans leurs relations mutuelles et qui permettent de repérer et de se repérer.23

Neben diesen binären Codes, z.B. die Gegensätze Held – Opfer, Zerstörung – Kreation, Heimat – Verrat, Lust – Horror,24 rechtfertigt auch die schlüssige Einteilung der Autoren und ihrer Texte in Orthodoxe und Häretiker, von einer Felduntersuchung zu sprechen. Gerade der eben angedeutete Verweischarakter erlaubt es, die Variationen des Formenbaus als direktes Produkt der Problematisierung des Erzählens und seiner Instanz zu begreifen und unter der Perspektive einer zunehmenden Aufweichung der Grenze zwischen „Fiktion“ und „Historie“ zu analysieren.

Die oben erörterten Beobachtungen zur Feldstruktur, d.h. die Gegensätze zwischen Orthodoxen und Häretikern I zu Ende des Weltkriegs und zwischen Häretikern I und Häretikern II zu Beginn der dreißiger Jahre werfen das Problem der Periodisierung der kriegsliterarischen Entwicklung auf. Überraschend klar kann dabei ein Einschnitt in der Mitte der Zwanziger Jahre markiert werden: Mit der Publikation von Hitlers „Mein Kampf“ – dem ersten Text, der explizit die Niederlage im Weltkrieg kommentiert – und Albert Daudistels „Das Opfer“ 1925 bildet sich ein neuer Gegensatz von nationalsozialistischen bzw. sozialistischen Positionen aus; beide Texte führen erstmals religiöse Semantiken in die Kriegsliteratur ein, in der Folge bildet sich ein semantischer Kampf zwischen Texten von Vertretern der beiden politischen Extreme aus.25 Nimmt man nun noch die Beobachtung einer Ausdifferenzierung der Erzähltechniken sowie den extensivierten Einsatz einer Ästhetik des Horrors ab Mitte der Zwanziger Jahre hinzu, so darf von einer steigenden Autoreferenzialität innerhalb der Kriegsliteratur ab 1925 gesprochen werden: „Die Entwicklung des Feldes der kulturellen Produktion in Richtung auf größere Autonomie geht mit der in Richtung auf erhöhte Reflexivität einher […]. Die Geschichte des Feldes ist tatsächlich unumkehrbar; und die aus dieser relativ autonomen Geschichte hervorgegangenen Produkte tragen kumulative Züge.“26

Diese Veränderungen im literarischen Feld können mit dem Macht-Feld korreliert werden; so ergibt sich die These von einer Überführung des Bürgerkrieges der frühen Weimarer Republik in einen Kampf im literarischen Feld ab 1925. War schon die literarische Produktion während des Krieges abhängig von den zu schildernden und zu interpretierenden Ereignissen, so konnten erst nach Beendigung aller militärisch-politischen Auseinandersetzungen die Deutungskämpfe beginnen. Daher bestätigt sich auch für das Thema Krieg, dass erst „die Abgeschlossenheit des Produktionsfeldes die Voraussetzungen für eine fast vollständige Zirkularität und Umkehrbarkeit in den Beziehungen zwischen Produktion und Konsumtion schafft. Die stilistischen Prinzipien werden Hauptgegenstand von Positionsbestimmungen und Konfrontationen zwischen den Produzenten […].“27 Wie zu zeigen ist, kann der Überführungsprozess auf mehreren Ebenen ausgemacht werden: Er ist am sozialen Wandel ebenso ablesbar wie an der ab 1925 sich beschleunigenden erzähltechnischen Ausdifferenzierung sowie an der Dichte der Verweise durch die eingesetzten Metaphern und Ästhetiken. Diese These löst die gängigen Periodisierungen auf bzw. spitzt sie zu, denn bislang wurde die kriegsliterarische Entwicklung nach folgendem Schema eingeteilt: 1918 – 23 Rechtfertigungsliteratur und pazifistische Titel; 1923 – 27 Flaute; 1928 – 33 Boom.28 Diese Dreiteilung ist sehr stark an der politischen Entwicklung der Weimarer Republik orientiert und wurde rein quantitativ zu belegen versucht. Qualitative Argumente wie die oben genannten wurden dagegen nur am Rande herangezogen, da bisher nicht auf einer entsprechend großen Vergleichsbasis gearbeitet wurde, wie sie die Grundlage für eine Studie wie die vorliegende bildete.


1Dass das Interesse der Zeitgenossen vor allem auf solche Texte konzentriert war, hat schon Modris Eksteins festgehalten, wenngleich hier seine Gegenüberstellung von individueller und kollektiver Deutung nicht untersuchungsleitend ist: „Keines der erfolgreichen Kriegsbücher erzählte seine Geschichte von der Warte einer gesellschaftlichen Einheit oder gar der ganzen Nation aus, sondern ausschließlich vom Standpunkt des Individuums. [...] Allein auf dieser Ebene, der Ebene individuellen, persönlichen Leids, konnte der Krieg irgendeine Bedeutung haben. Der Krieg war weit mehr Sache des individuellen Erlebens als der kollektiven Interpretation. Und damit fiel er nicht mehr in den Bereich der Geschichtsschreibung, sondern in den der Kunst. [...] Es war also die Belletristik, nicht die Geschichtsschreibung, die Ende der zwanziger Jahre ein intensives Nachdenken über den Sinn des Krieges in die Wege leitete.“ Modris Eksteins, Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Hamburg 1990, S.431 und 432.

2Diese Schätzung beruhte auf einer Bibliographie, die den Anhang einer Promotion von 1936 bildet: Dr. Günther Lutz, Die Frontgemeinschaft. Das Gemeinschafts-Erlebnis in der Kriegsliteratur, Greifswald 1936. Die Bibliographie ist um jene Titel bereinigt, die auf der nationalsozialistischen „Schwarzen Liste“ standen.

3Kriegsromane der Nachkriegszeit, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 98 (1931), Nr. 97 vom 28.04. 1931, S.431–432. Der Weltkrieg in Erinnerung und Dichtung, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 98 (1931), Nr. 261 vom 10. 11. 1931, S.980–981. Der Weltkrieg in Erinnerung und Dichtung, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 98 (1931), Nr. 272 vom 24. 11. 1931, S.1019–1020.

4Wahrgenommen wurden: Cyril Falls, War books. A critical guide, London 1930. Herbert Cysarz, Zur Geistesgeschichte des Weltkriegs. Die dichterischen Wandlungen des deutschen Kriegsbilds 1910–1930, Halle/Saale 1931. Ewald Geissler, Nationale Freiheit und Dichtung (= Pädagogisches Magazin, Heft 1343, Schriften zur politischen Bildung), Langensalza 1931. Heinz Grothe, Das Fronterlebnis. Eine Analyse, gestaltet aus dem Nacherleben, Berlin 1932. Werner Mahrholz, Deutsche Literatur der Gegenwart, Berlin 1932. Herbert Böhme, Rufe in das Reich. Die heldische Dichtung von Langemarck bis zur Gegenwart (= Die Bücher der Jungen Generation, hrsg. v. August Friedrich Velmede), Berlin 1934. Angelo Cesana, Das Gesicht des Weltkrieges in der Literatur, Basel 1934. Hermann Pongs, Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Gegenwart, Stuttgart 1934.

5Donald Ray Richards, The German Bestseller in the 20th Century. A Complete Bibliography and Analysis 1915 – 1940, Bern 1968. Helmut Müssener (Hrsg.), Anti-Kriegsliteratur zwischen den Kriegen (1919–1939) in Deutschland und Schweden (= Acta Universitatis Stockholmiensis / Stockholmer Germanistische Forschungen Bd. 35), Stockholm 1987.

6Eine unvollständige Liste dieser Titel findet sich in: Verboten, Verbrannt, Vergessen. Literaturhinweise zum 50.Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1983, hrsg. v. d. Stadt-und Landesbibliothek Dortmund, Dortmund 1983. Auf weitere Werke verweist: Juliane Krummsdorf, Ingrid Werner (Hrsg.), Verbrannt, verboten, verbannt. Vergessen? Zur Erinnerung an die Bücherverbrennung 1933. Bibliographie zur Schwarzen Liste / Schöne Literatur, 3. überarb. u. erw. Auflage Dresden 1996.

7Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen, Traditionen, Wirkungen, hrsg. v. Horst Denkler und Karl Prümm, Stuttgart 1976. Sybille Benninghoff-Lühl, Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang (= Veröffentlichungen aus dem Übersee-Museum Reihe F, Bd.16), Bremen 1983. Joachim Warmbold, Germania in Africa. Germany’s Colonial Literature (= Studies in Modern German Literature, Vol.22), New York / Berlin / Frankfurt am Main / Paris 1989.

8Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992. Zitiert wird hier nach der deutschen Übersetzung: Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 1999.

9Bourdieus Theorie wird konzise erläutert bei Joseph Jurt, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995, S.71–109, Zitat S.83. Vgl. Bourdieu, Regeln, S.259f. und 398.

10Pierre Bourdieu, La production de la croyance: contribution à une économie des biens symboliques, in: Actes de la recherche en sciences sociales 13, Februar 1977, S.3–43, Zitat S.19–21.

11Bourdieu, Regeln, S.253. Hervorhebung im Original.

12Dies ist einer der entscheidenden Punkte, mit denen sich der frühe Bourdieu von Max Weber absetzt: „Faute d’établir la distinction entre les interactions directes et la structure des relations qui s’établissent objectivement, en l’absence de toute interaction directe, entre les instances religieuses et qui commandent la forme que peuvent prendre les interactions (et les représentations que les agents peuvent s’en faire), Max Weber réduit la légitimité aux répresentations de légitimité.“ Pierre Bourdieu, Une interprétation de la théorie de la religion de Max Weber, in: Archives européennes de sociologie Jg.12 (1971), S.3–21, Zitat S.11/12; Hervorhebung im Original. In einem nachfolgenden Aufsatz führt Bourdieu dann den Feldbegriff ein: Pierre Bourdieu, Genèse et structure du champ religieux, in: Revue française de sociologie jg.12 (1971), S.295–334.

13Bourdieu, Regeln, S.253.

14Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987, S.365/366.

15Pierre Bourdieu, Production, S.39.

16Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976, S.325.

17Bourdieu, Entwurf, S.332. Anderenorts verweist er hierzu auf „la loi qui veut que l’on ne prêche que des convertis“; Bourdieu, Production, S.22.

18Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, S.104. Vgl. auch Bourdieu, Unterschiede, S.362–367.

19Bourdieu, Regeln, S.329.

20Bourdieu, Production, S.30. Die schärfste – und daher aufschlußreichste – Formulierung zur ,Überschreitung‘ findet sich freilich im Aufsatz zum religiösen Feld: „La force dont dispose le prophète, entrepreneur indépendant de salut, prétendant produire et distribuer des biens de salut d’un type nouveau et propres à dévaluer les anciens, en l’absence de tout capital initial et de toute caution ou garantie autre que sa ,personne‘, dépend d’aptitude de son discours et de sa pratique à mobiliser les intérêts religieux virtuellement hérétiques de groupes ou classes déterminés de laïcs grâce à l’effet de consécration qu’exerce le seul fait de la symbolisation et de l’explicitation et à contribuer à la subversion de l’ordre symbolique établi (i.e. sacerdotal) et à la mise en ordre symbolique de la subversion de cet ordre, i.e. à la désacralisation du sacré (i.e. de l’arbitraire ,naturalisé‘) et à la sacralisation du sacrilège (i.e. de la transgression révolutionnaire).“ Bourdieu, Genèse, S.321.

21Die von Hans-Ulrich Wehler am prägnantesten bestimmte Bezeichnung „radikalnationalistisch“ wird in der gesamten Untersuchung verwendet, um eine spezifische Form des übersteigerten Nationalismus’ zu bezeichnen, der sich nach der Niederlage ausbildete und die liberal-demokratische Staatsform radikal ablehnte. Da anhand der literarischen Darstellungen die Vielzahl nationalistischer Positionen nicht auf ihren ideologisch-politischen Ort in der Weimarer Republik zurückgeführt werden kann und soll, wurde diese Sammelbezeichnung gewählt, um eine Vielzahl von Standpunkten innerhalb des extrem zersplitterten rechten Lagers – etwa die diversen Vertreter der Konservativen Revolution, der paramilitärischen Verbände, der völkischen Bewegung und des Nationalsozialismus’ – abdecken zu können. Wehler nennt als Kennzeichen des Radikalnationalismus nach 1918 u.a.: die Angstvorstellung einer allgemeinen Desintegration; Integrationshoffnungen, die an eine welthistorische Volksvision, einen Mythos der nationalen Renaissance oder eine völkische Wiedergeburt geknüpft waren; die Proklamation eines ,Willens der Nation‘ als politische Legitimationsbasis; die rassische Fundierung der Volksgemeinschaft; ein Endzeitbewusstsein, das im Ruf nach einem deutschen Heiland, in der Sehnsucht nach einem charismatischen Führer oder in der Hoffnung auf eine Zeitenwende zum Ausdruck kam. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Radikalnationalismus und Nationalsozialismus, in: Jörg Echternkamp, Sven Oliver Müller (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd.56), S.203–217. Auch Schivelbusch verwendet in seiner kulturhistorischen Studie den Begriff in globalem Sinne: Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 – Frankreich 1871 – Deutschland 1918, Berlin 2001, S.251ff.

22Bourdieu, Regeln, S.253. Vgl. auch dort S.207/208. Die Einteilung in ,Orthodoxe‘, ,Häretiker I‘ und ,Häretiker II‘ greift die gängige Einteilung der Texte in kriegsaffirmative und kriegskritische Texte auf und differenziert diese: Während von den ,orthodoxen‘ Heldengeschichten ein tremendum fascinans ausgeht, heben die Erzählungen der ,Häretiker II‘ den Aspekt des tremendum horrendum hervor. Auch der große Erfolg, der Remarques „Im Westen nichts Neues“ beschieden war, widerspricht dieser schematisierenden Interpretation nicht, da hier Konjunkturen beschrieben werden. So diente die durch die Bücherverbrennung 1933 vollzogene Unterdrückung des ,häretischen‘ Propheten Remarque der Durchsetzung der ,neuen Orthodoxie‘ der mit der nationalsozialistischen Weltsicht kompatiblen Texte; diese währte, vom Feld der Literatur her betrachtet, auch nur bis 1945. Nach dem Ende des Dritten Reiches wurde Remarques Buch – in anderen Nationalliteraturen galt er schon bald nach seinem Erscheinen als antimilitaristischer „Klassiker“ – im Nachkriegsdeutschland kanonisiert; es sollte der einzige Text bleiben, der als Erbe kriegskritisch-häretischer Positionen in der Weimarer Republik angesehen wurde.

23Bourdieu, Production, S.22.

24Bourdieu fordert hinsichtlich der binären Oppositionen auch eine Analyse der „generativen Grammatik“: Pierre Bourdieu, Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, 6. Aufl. Frankfurt am Main 1997, S.125–159, Zitat S.150.

25Ausführlich dazu die Teilkapitel 3.4 Krieg dem Kriege oder: Die Revolution siegt. Texte sozialistischer Autoren, S.148–170 und 4.1 „Rebellen um Ehre“. Zur Genese der Deutung des Kriegsendes, S.172–204

26Bourdieu, Regeln, S.384. Hervorhebungen im Original.

27Bourdieu, Regeln, S.470.

28So übereinstimmend Müller, Krieg, S.296ff.; Gollbach, Wiederkehr, S.2ff und Harro Grabolle u.a., British and German prose works of the First World War: A preliminary comparative survey, in: Notes and Queries 29 (1982), S.329–335 und 30 (1983), S.326–329.

Kapitel 2

Die Orthodoxen: Krieg als Abenteuer

2.1 Einführung

Aus der kaum überschaubaren Menge der während des Ersten Weltkriegs publizierten Texte treten einige wenige hervor, die während des Krieges selbst, aber auch in der Nachkriegszeit enorm hohe Auflagen erreichten und Helden präsentieren. Ihre Protagonisten sind oft hohe Offiziere zumeist adeliger Abstammung, die im Krieg an exponierter Stelle eingesetzt waren, sich so aus der Masse der Soldaten heraushoben und für ,Hagiographien‘ geeignet schienen: Kampfflieger, Admiräle, U-Bootskommandanten. Neben der Affirmierung des Krieges und der Leitbild- und Orientierungsfunktion der Protagonisten kommt diesen Texten unverkennbar auch die Funktion einer Legitimation des Machtanspruchs der Eliten des Kaiserreichs zu. Diese Texte sollen daher im folgenden der Gruppe der Orthodoxen zugerechnet werden, das heißt, ihre Aufgabe ist die Absicherung der dominanten zeitgenössischen doxa. Als ihr Gegenpol fungieren die wegen der Zensur erst ab 1918 publizierten kriegskritischen Texte (die Häretiker I). Gemeinsam bilden beide Gruppen von Texten den für die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit spezifischen Gegensatz; dieser ist „homolog den Gegensätzen, die das Feld der gesellschaftlichen Klassen (nach Herrschenden und Beherrschten) und das Feld der herrschenden Klasse (nach dominanter und dominierter Fraktion) strukturieren.“29 Dementsprechend entstammen die Autoren der orthodoxen Texte häufig den politischen Eliten des Kaiserreichs;30 daraus ergibt sich eine Nähe von im Krieg publizierten Heldengeschichten und unmittelbar nach dem Krieg veröffentlichten Rechtfertigungsschriften hoher Entscheidungsträger, die nach dem politischen Umsturz ihre vormalige Position verteidigten, indem sie tradierte Darstellungsmuster heroischen Einsatzes aufboten – insbesondere die Selbstdarstellung als Technokrat wird hier kultiviert.31

In diesem Kapitel wird der Fokus jedoch nicht auf die genannten Apologien, sondern auf die Konstruktion von Heldenbildern gelegt werden, wie sie beispielsweise in den populären ,Groschenromanen‘ der Verlage Ullstein und Scherl zu finden sind. Die Dynamik der Feldentwicklung wird aus binären Oppositionen der Darstellungen wie Held – Opfer, Gemeinschaft – Individuum, Kreation – Zerstörung, Ehre – Würde,32 Sieg – Niederlage generiert. Anhand der im folgenden erörterten Texte soll die Figur des „abenteuerlichen Kämpfers“33 konturiert werden. In den Abenteuern, die dieser Held durchlebt, wird einerseits die „triumphale Geburt von Subjektivität“ inszeniert; andererseits ist der Protagonist aber auch repräsentativ für eine „kollektive Identität“.34 Das heroische Individuum bildet den Gegensatz zur „Masse“,35 ihm kommt hinsichtlich des Kollektivs Vorbildfunktion zu; in der Sprache der Zeitgenossen formuliert: „Ohne Helden und Heldenverehrung geht ein Volk zu Grunde“.36 Der Heros dient ebenso als Vorbild für die Jugend wie als Instrument zur Befestigung hegemonialer Rollenmuster: „Die Herrschaft der Starken über die Schwachen- und der Schutz der Schwachen durch die Starken ist ein Legitimationsmuster autoritärer politischer Systeme, dessen geschlechtliche Kodierung leicht zu erkennen ist.“37 Dem impliziten Leser wird eine Position unterhalb des Protagonisten zugedacht, von der aus er in aufblickender Verherrlichung dessen Heldentaten miterleben kann, denn vom Helden geht ein tremendum fascinosum aus.38

2.1.1 Ein Heldenleben

Im Ersten Weltkrieg als dem ersten durchweg maschinisierten und industrialisierten Krieg, in dem „[s]elbst der Mensch […] als Material gewertet“39 wurde, klafft die Diskrepanz zwischen der Wirkmacht einer Einzelperson und dem gigantischen Kriegsgeschehen deutlich auf. Wie Omer Bartov ausgeführt hat, ist es just diese Entwertung des Einzelnen, die das Bedürfnis nach Leitfiguren erzeugt: „one might almost say that modern war’s depersonalizing effect […] had only enhanced the need for an heroic image of war. […] the focus of every such ideal has always been the individual warrior’s potential of heroically rising above the mass and leaving his personal imprint upon human history. The harder this became in reality, the more men yearned for it.“40 Im Moment seiner drohenden Erosion muss das Heldenbild also qua Literatur neu befestigt werden, und mit ihm tradierte Werte wie „Ritterlichkeit“, „Singularität“ oder „Mut, Tatkraft, Entschlossenheit“.

Es stellt eine charakteristische Eigenart der im folgenden untersuchten Texte dar, dass die Protagonisten zwar durchweg historische Persönlichkeiten sind, der Leser jedoch kein individuelles Persönlichkeitsprofil des Helden aus der Lektüre entnehmen kann; durchgängig ist die Zeichnung der Protagonisten durch vorgängige Heldenideale strukturiert. Wo die Texte als Ich-Erzählungen gegeben sind, entsteht so gut wie nie eine Reibungsfläche zwischen der in den Text einfließenden subjektiven Erfahrung und Identität und dem vom Diskurs vorgefertigten „Heldenideal“. Dieses Verhältnis ist offensichtlich nicht nur als literarische Konvention aufzufassen, sondern liegt der Funktion der Heldenfigur als Projektionsfläche kollektiver Phantasmen zugrunde:

Helden sind, natürlich, keine wirklichen Menschen, sondern soziale Konstruktionen besonderer Gemeinschaften, kulturelle Vorstellungen überlegener Individualität, kollektive Projektionen souveräner Subjektivität. Als solche müssen sie auf Distanz gehalten werden. Kein Held hält den Blick aus der Nähe aus. Wer genauer hinschauen kann und will, sieht menschliche Schwächen, elende Augenblicke und kleinliche Interessen.41

Für die orthodoxen Texte freilich gilt, dass sie eine mögliche Niederlage im Weltkrieg nicht perspektivieren, mithin wenig ergiebig sind für unsere thematische Leitfrage; es wird dort lediglich die Alternative „Sieg oder Untergang“ angesprochen:

Ein Schicksal ist uns allen beschieden.

Wir siegen oder sterben vereint,

Drum laßt uns treu einander lieben

Solang der Stern des Glücks noch scheint.42

Erst im zweiten Teilkapitel43 wird dann auf die Korrekturen in der Heldenkonstruktion nach 1918 eingegangen; hier gilt es die Umgestaltungen aufzuzeigen, die in Konkurrenz zu den radikalnationalistischen Texte vorgenommen wurden und die insbesondere das Moment des Leidens und die Heroisierung des Opfers betonten.

2.1.2 Reise und Verwandlung: Die Geburt des Helden

Bei allen während des Ersten Weltkriegs publizierten Texten, die im Rahmen unserer Untersuchung analysiert wurden, fällt an der Erzählerkonstruktion die Problematik auf, dass einerseits die Authentizität des Erlebten und Gezeigten bestätigt werden soll, andererseits aber auch deutlich wird, dass die dargelegten authentischen Ereignisse entweder aus verschiedenen Quellen kompiliert wurden oder einer starken Bearbeitung bzw. Überformung unterlagen; so erläutert Freiherr von Spiegel in seinem Vorwort von 1916 seine Publikationsstrategie mit den Worten:

Natürlich, warum sollte ich nicht mein Tagebuch dazu benutzen. Doch muß ich gleich hier betonen, daß ich nicht nur mein eigenes, sondern an manchen Stellen auch die Tagebücher anderer U-Boote benutzt habe, um diese oder jene Episode zu bringen, die wert ist, bekannt zu werden. […] Das ist die einzige dichterische Freiheit, die ich mir erlaube. Tagebuchstil ist schön einfach, und Tagebücher werden gern gekauft. Das sind die beiden Hauptsachen.

Der Verfasser.44

Kapitänleutnant von Mücke greift in seinem Bericht über die Kampftätigkeit und schließliche Versenkung des Kreuzers „Emden“ Interpretationsangebote und Stilisierungen ausgerechnet der britischen Propagandapresse auf und bedient sich aus dem reichen Zitatenschatz der Nibelungen- und Fliegenden Holländer-Sagen, um eine Nähe zu tradierten Heldenbildern herzustellen:

Der Umstand, daß es trotzdem dem Gegner nicht gelang, uns zu fassen, und die Tatsache, daß „Emden“ blitzartig bald hier, bald da auftauchte, führte in den englisch-indischen Zeitungen zu der Annahme, daß es sich um mehrere deutsche Schiffe handelte, die sich alle nur denselben Namen beigelegt hatten, um zu täuschen.

Bald wurden wir auch gar nicht mehr „Emden“ genannt, sondern „Der fliegende Holländer.“45

Bei den z.T. mehrfach neu aufgelegten Büchern über Fliegerhelden werden Nachbearbeitungen offensichtlich; so konstatiert der ,Autor‘ Manfred von Richthofen zwar noch „Was ich selbst erlebte, steht in diesem Buch“, aber bereits die Neuausgabe von 1920 wird als Kompilation präsentiert, die „Hinterlassene Papiere“, „Aus den Briefen an die Mutter“, einen Bericht über „Manfred von Richthofens Tod“ usf. vereint, ohne dass offengelegt wird, wer der Kompilator denn gewesen sei.46 Auch Max Immelmanns Biographie, vorgeblich „selbsterlebt und selbsterzählt“, wird in Form einer Sammlung von Briefen an die Mutter präsentiert; der unpersönliche, allgemein gehaltene Stil aber, in dem die Briefe gehalten sind, und insbesondere die ausführliche Beschreibung von Kampfszenen, die, sollten sie an die Mutter gerichtet gewesen sein, auf diese wenig beruhigend gewirkt haben dürften, unterminieren die Plausibilität der als authentisch gegebenen Schilderung.47 Wahrscheinlich, wenn auch am Text selbst nicht zu belegen, ist daher im Falle der Fliegerbiographien die Tätigkeit von Ghostwritern, die die Briefe als Quellengrundlage für die Publikation benutzt haben.48 Somit ist diesen Texten eine Differenz zwischen dem repräsentativen ,Helden‘-Subjekt und dem ,Autor‘ eingeschrieben. In den geglätteten Darstellungen wird die Identität von Protagonist und Autor zugleich suggeriert wie unterminiert, die Kluft zwischen dem Heros und dem Verfasser scheint zugleich auf und wird verwischt. Das ist insofern erheblich, als die Spannung zwischen der historischen Person des Protagonisten und der Autorschaft auf der Produktionsebene wiederholt wird auf der Ebene der Erzählung selbst: Der ,Held‘ ist, wie weiter unten noch auszuführen ist, nicht der ,Autor‘ seiner Taten, er bestimmt nicht die Umstände und Bedingungen seiner Abenteuer, sondern unterliegt den Kontingenzen der Ereignisse und den Einflüssen der weiteren handelnden Personen. Diese Spannung kann daher als konstitutives Charakteristikum der orthodoxen Texte angesehen werden.

In den untersuchten Texten49 gibt es eine Korrespondenz von topographischer Bewegung, die durch die geschilderten Abenteuer und die erzählte Reise veranschaulicht wird, und dem Aufstieg des Protagonisten innerhalb der Militärhierarchie; die Texte erzählen somit, wie sich das Individuum aus der Masse heraushebt und über ihr als Held und Leitbild installiert wird. Wo Spiegel und Mücke die Weltmeere durchkreuzen, die Fliegerhelden sich über die statische Westfront, über die taktische Pattsituation in die Luft erheben und im heroischen Kampf Mann gegen Mann ein Gegenbild zum Ermattungskrieg am Boden darstellen, wo Plüschow die Flucht von der deutschen Kolonie Tsingtau über die USA und England nach Deutschland gelingt, da enden die Abenteuer stets mit militärischen Beförderungen und der Auszeichnung mit Orden und Ehrenzeichen. So scheint es unter den Kampffliegern einen Konkurrenzkampf darum gegeben zu haben, nach wievielen Feindabschüssen der Pour le Mérite verliehen wurde:

Boelcke und Immelmann hatten mit dem Achten den Pour le Mérite bekommen. Ich hatte das Doppelte. Was wird sich nun ereignen?

[…] da kommt das Telegramm aus dem Hauptquartier, daß Majestät die Gnade hatte, mir den Pour le Mérite zu verleihen. Da war die Freude natürlich groß.50

Besonders betont wird die Möglichkeit zu sozialer Mobilität, wenn der Protagonist ein Bürgerlicher ist. Immelmann, der Sohn eines Fabrikbesitzers, notiert dazu: „Nun bin ich schon ,Ober‘ und mit einem Schlage ein ,älterer‘ Kamerad. Nein! ist das schnell gegangen. Ich glaube meine militärische Laufbahn ist beispiellos.“51 Auch bei Ernst Jünger, dem Sohn eines Apothekers, ist die militärische Karriere an den Orden und Ehrenzeichen ablesbar; sein „Tagebuch“, dessen exponierteste Textstellen den Stoßtruppführer zeigen, der in die feindlichen Gräben eindringt, erzählt die Kriegserlebnisse als eine Reihe von Ordensverleihungen, die die Etappen seiner individuellen Entwicklung markieren. Die Kriegsbiographie Jüngers, die so den Charakter eines cursus honorum erhält, endet in der finalen Anerkennung seiner Verdienste durch die damals höchste Autorität:

Am 22. September 1918 erhielt ich folgendes Telegramm:

„Seine Majestät der Kaiser hat Ihnen den Orden Pour le Mérite verliehen. Ich beglückwünsche Sie im Namen der ganzen Division.

General von Busse.“52

Anders als in den zahllosen Texten, die den industrialisierten Stellungskrieg an der Westfront schildern, wird hier über das Bewegungs-Paradigma die Möglichkeit zur Überschreitung der Standesgrenzen und den Anschluss an das elitäre, adelig dominierte Offizierskorps eröffnet, wobei der Erwerb des Pour le Mérite eine Feudalisierung der Aufsteiger bedeutete. Für die kleinbürgerliche Leserschaft erfüllte sich damit ihre Erwartung an soziale Mobilität qua militärischer Laufbahn.

Darüber hinaus werden in den Heldenerzählungen überkommene Ehrbegriffe und Ideale der Ritterlichkeit mit dem zivilisatorisch-technischen Fortschritt verquickt. Der durch die Maschine gepanzerte und mobilisierte Körper des Helden steckt im Flugzeug, im U-Boot oder im leistungsfähigen, wendigen Seekreuzer; als neues Leitbild wird die Mensch-Maschine-Fusion entworfen: „Ach, herrlichstes Gefühl eines Unterwasserangriffes! Herrlichstes Zusammenwirken von Boot und Besatzung, von totem Material und regem Menschengeist! Ineinanderfließen von Stahl und Nerv und Geist von tausend Dingen und der ganzen Besatzung zu einem einheitlichen Wesen.“53 Innerhalb dieser Maschinerie kommt dem Protagonisten die Funktion eines Kontrollorgans zu, das die Aktivitäten überwacht und lenkt, Pläne ausarbeitet und durchführt:

Der Kommandant brachte den größten Teil seiner Zeit auf der Brücke zu. […] In stundenlangen, mühsamen Ausarbeitungen entstanden hier die Pläne, die zu erfolgreichen Tätigkeit der „Emden“ führten. Rührend war die Anhänglichkeit der Besatzung an den Kommandanten. Die Leute wußten ganz genau, was sie an ihrem Führer hatten. Und waren stolz auf ihr Schiff, das er so erfolgreich führte.54

So wird bereits im Weltkrieg das Bild eines Souveräns entworfen, der sich im Ausnahmezustand durch die Fähigkeit zur Entscheidung und zur Kommandoerteilung auszeichnet: „Im richtigen Augenblick den richtigen Entschluß zu fassen, das ist das ganze Alphabet der U-Bootswissenschaft. Ein Blick muß genügen, um Herr der Lage zu sein, in ebenderselben Sekunde muß der Entschluß gefaßt, der Befehl gegeben sein. Jedes Zögern wird zum Verhängnis.“55 Während das Moment von Kontrolle bzw. Selbstkontrolle vom Individuum (zumeist einem Offizier) auf die gesamte Maschine ausgeweitet wird, erzählen die Geschichten zugleich von der Unmöglichkeit, diese Kontrolle auch auf den Raum auszudehnen.56 Im Gegenteil, wie in der Odyssee stellt der Raum eine Herausforderung für die sich durch seine Bewältigung erst konstituierende Identität des Helden dar: „Die Irrfahrt […] ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen.“57 Der Held behauptet sich in einer „Welt von Feinden“,58 der Ausgang des Abenteuers ist abhängig vom „Schicksal“, „Glück“ oder vom „guten Stern“. So finden sich beispielsweise beim U-Bootskommandanten Freiherr von Spiegel folgende Bemerkungen:

Glückstrahlend verständigte ich die Zentrale von der ungeahnt glücklichen Wendung, die unser Schicksal in letzter Stunde erfahren hatte. […] Wir hielten nur immer nach Schätzung die Mitte des Fahrwassers und vertrauten unserem guten Stern, daß er uns richtig leitete. […] Ja, Dusel war es gewesen, daß wir gerade noch zur rechten Zeit auf größere Tiefe gegangen waren.59

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