Text, Satz und Gestaltung: Torge Braemer, M.A.
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
1. Auflage: © Torge Braemer 2015
ISBN 978-3-73928-371-5
Diese Arbeit ist ein wissenschaftlicher Beitrag zur Fachdidaktik Musik, wobei ich Didaktik hier als die theoretische und soziale Erforschung von organisierten Lehr- und Lernprozessen betrachte.1 Folgende Schwerpunkte bilden den Anspruch und die Ziele meiner Arbeit:
Zum empirischen Teil gehören Protokolle, Erfahrungsberichte und Interviews.3 Die gewonnenen Daten betrachte ich als subjektive Wirklichkeitsausschnitte von Spezialisten und Nutzern der Methoden in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen. Das gesamte Forschungsmaterial wird im Anhang vorgestellt und vorher unter den Aspekten „Gebrauch der Stimme“, „Körperbewegungen“ und „Disziplin“ erörtert. Meine Schlussgedanken setzen sich mit den Bildungs- und den Erziehungsbeiträgen der traditionell-geistigen Herangehensweise des Solfeo und der experimentell-körperlichen Herangehensweise des TaKeTiNa auseinander. TaKeTiNa und Solfeo sollen als neue Praxisfelder der Musikpädagogik aufgehellt werden, Interaktionismus symbolisch begriffen und die Ergebnisse für neues pädagogisches Handeln in Schule und Unterricht zur Verfügung gestellt werden. Diese Arbeit richtet sich also an alle, die sich für eine Kombination unterschiedlicher Methoden in der Musikausbildung interessieren und dabei das Aufeinandertreffen von Gegensätzlichkeiten als fruchtbar empfinden. Leser dieser Arbeit, die sich vor allem für das Phänomen Rhythmus interessiert, werden vielleicht ent - täuscht werden, wenn sie von dieser Arbeit die Darstellung und Reflexion zweier Rhythmusmethoden erwarten, deren einziges pädagogisches Ziel es ist, nur allgemein Rhythmus zu lernen oder zu erfahren. Natürlicherweise ist Rhythmus ein Phänomen, das in Verbindung von Musik nur als ein Teil auftritt. Es handelt sich bei Solfeo und TaKeTiNa also um zwei Methoden, deren musikpädagogisches Ziel über die Rhythmusausbildung hinausgeht.
In den Musikschulen, die im Verband deutscher Musikschulen zusammengeschlossen sind, sollen zwei verschiedene Wege des Musikunterrichts eingeschlagen werden, die in den Präambeln so formuliert sind:
„Für die Gestaltung des Anfangsunterrichts bieten sich zunächst zwei Möglichkeiten an. Erstens der traditionelle Weg: Ausgehend von glatten, möglichst sauberen und geräuscharmen Haltetönen führt er über kleine diatonische Tonfolgen zu Liedern, kleineren Vortrags- und Übungsstücken usw. unter Verwendung entsprechender Schulwerke und Literatur. Zweitens der experimentelle Weg: Hierbei werden auf experimentell improvisatorische Weise die Möglichkeiten der Klangerzeugung des Instruments erkundet und zugleich die Sinne und speziell die Ohren für musikalische Strukturen und Prozesse geschult. Von frei definierten, eventuell auch graphisch notierbaren Vorgängen ausgehend, werden schrittweise auch die Töne unseres diatonisch-chromatischen Systems und deren – auch rhythmische – Notierung sowie entsprechende Musik und Übungsstücke einbezogen.“4
Dieser Vorschlag eines experimentellen Weges der Musikausbildung beruht auf freier Improvisation mit dem Instrument und schrittweiser Heranführung an „unser“ westliches „diatonisch-chromatischen System“ sowie deren „rhythmische Notierung“. Die oben beschriebenen Wege der Musikausbildung erscheinen dem Verband deutscher Musikschulen e. V. kombiniert am wirksamsten und werden so als dritter Weg den Musiklehrkräften der Grundstufe empfohlen. Für diesen „Kombiweg“ aus traditionellen und neuen Werten wird besonders hervorgehoben: „Kinder sehen die Notwendigkeit technischer Übungen zunächst nicht ein. Für Kinder ist das Instrument lediglich Mittler einer musikalischen Darstellung im besten Sinne des Wortes.“5 Häufig wird auch der Kombiweg von Lehrern mit harten Pflastern aus der „Erarbeitung gewisser Übungen“ verschult.6 Dabei werden die Möglichkeiten der freien musikalischen Entwicklung des Kindes aufgegeben. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen eines experimentellen und eines traditionellen Weges widersprechen sich also so sehr, dass der „Kombiweg“ nur schwer vorstellbar ist Die Streiter der Musikpädagogik bewegen sich zwischen zwei Fronten. Es ist die starke Mauer des „fachlich Musikalischen“ und die hoffnungsvolle „Nebelwand“7 des „Musischen“. Während Adorno (1991)8 die Trennung „musikalischer Subjektivität der Schüler“ und „Objektivität musikalischer Wahrheit“ mit „Geist“ verbinden möchte, versuchen hingegen Scheller, Meyer und Stroh9 mit schulpraktischem szenischen Spiel unsere „gestaltenden Kräfte zu wecken“.10 Peter Mraz sammelte und ordnete in seiner Dissertation leitende Lehrziele und suchte nach Möglichkeiten ihrer Legitimation. Dazu analysierte er auch aktuelle Lehrpläne. Er stieß dabei ebenfalls auf zwei grundsätzliche Ausrichtungen: „Die Auseinandersetzung mit der musikalischen Objektwelt und Beeinflussung des Lerners in Richtung Musik, sogenannte ‚Erziehung zur Musik‘ und die Auseinandersetzung mit der übrigen Objektwelt, Beeinflussung des Lerners in Hinblick auf außermusikalische Anwendungsmöglichkeiten, sogenannte ‚Erziehung durch Musik‘.11 Ein experimenteller Weg in der Musikausbildung sollte meiner Meinung nach von ganzheitlichen Methoden und einer sozial-gesellschaftlichen Basis ausgehen. So können Schüler Interesse für die Musik entwickeln und die Wirkung der Musik empfinden lernen. Eine freie Erfahrung der Musik hat keine institutionellen Zwänge. Sie braucht Möglichkeiten, die Grundelemente der Musik, vor allem Rhythmus, hautnah zu erfahren. Ansprüche des Lehrers, Ratschläge der Eltern, Sanktionsmöglichkeiten des Schulsystems stören dabei. Ein traditioneller Weg zeichnet sich, wie zum Beispiel beim spanischen Solfeo, durch eine ordentliche Musikausbildung mit formulierten Lehrzielen, mit einfachen Übungsmethoden und mit Disziplinierung der Schüler aus. Auserwählte Schüler sollen im traditionellen Sinne zu Musikern erzogen werden. Besonders deutlich veranschaulicht das auch der Strukturplan des Verbandes der deutschen Musikschulen: Musikbegabte sollen schon ab dem viertem Lebensjahr aufgespürt werden und können, wenn sie wollen, eine Karriere zum Laienmusiker oder zum Berufsmusiker durchlaufen.12
Ein Ziel meiner Magisterarbeit sehe ich folglich darin, die Vorteile einer experimentellen und einer traditionellen Rhythmusmethode wiederzufinden und gegenüberzustellen. Lehrkräfte können sich so über diese Methoden vielseitig informieren und TaKeTiNa als einen neuen experimentellen, erprobten Weg zum Rhythmus und Solfeo als eine traditionsreiche Herangehensweise der Musikerziehung kennenlernen.
Durch mein Auslandsstudium in Spanien hatte ich die glückliche Gelegenheit, die Unterschiede beider Methoden selbst zu erfahren. Durch mein Solfeostudium am Konservatorium in Palencia wurde ich mit einer rigorosen, harten Weise des Rhythmusunterrichts konfrontiert. Kurz nach dem Auslandsstudium machte ich dann in der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg eine eindrucksvolle Erfahrung mit Flatischlers TaKeTiNa, ein für mich experimenteller Weg, Rhythmus und Musik zu erfahren. Die „alte Schule“ des Solfierens vermischte sich mit Flatischlers „experimenteller“ Herangehensweise. Ich merkte, wie mir mein durch Solfeo erlerntes Wissen half, die rhythmischen Bewegungen von Beinen, Füßen, Händen und Stimme beim TaKeTiNa zu koordinieren. Die vielen Klangeindrücke der Trommeln und Rasseln, des Stampfen der Füße, des Klatschens und der Stimmen, öffneten mein Bewusstsein. Rhythmische Bewegungsabläufe, die mir vorher nie gelangen, was ich immer auf mangelnde Musikalität zurückführte, liefen nun mit und ohne gedanklicher Reflexion. Ich durchschaute die rhythmischen Bewegungen, ich konnte mich in den Kreis einfügen und das Angenehmste war, dass ich viele Fehler erkennen konnte, ohne mich darüber aufzuregen. Die Verbindung eines traditionellen und eines experimentellen Weges, wie es auch die Präambel der Musikschulen empfiehlt, verhalf mir zu einer realistischeren Selbsteinschätzung meiner musikalischen Fähigkeiten. Sie vergrößerte die Leichtigkeit aller rhythmischen Bewegungen und damit den musikalische Genuss. Auch mein Gitarrespiel wurde rhythmisch genauer. Ich konnte, ohne mit dem Instrument zu üben, im Bassschlüssel vom Blatt spielen, und es gelang mir viel besser als vorher, im Ensemble Musik zu machen. Musizieren hatte für mich durch beide Erfahrungen eine viel größere Bedeutung, mehr Lebensfreude bekommen.
1 Kron 1991: Didaktik oder die Reflexion von Lehren und Lernen.
2 Der Einfluss der Gesellschaft auf den Unterricht wird in den 70er Jahren hervorgehoben. Dazu beispielsweise: Paradigmenwechsel vom didaktischen Dreieck „Lehrer - Schüler - Fach“ (Peterßen 1963) zum didaktischen Viereck im Sinne Schwabs „Gesellschaft - Lehrer - Schüler - Fach“ (Schwab 1973). Vergleiche zum Thema Gesellschaft und Musikunterricht auch die Untersuchungen von Renate Müller. Sie stellt tatsächlich die gesell - schaftlichen Erfahrungen der Schüler bewusst mit in den Mittelpunkt des Musikunterrichts (Kaiser 1992).
3 Alle spanischen Interviews und die zitierten spanischen Texte habe ich ins Deutsche übersetzt.
4 Verband deutscher Musikschulen e. V.: „Präambel zum Lehrplanwerk“ 1976, S. 3f.
5 Verband deutscher Musikschulen e. V.: „Präambel zum Lehrplanwerk“ 1976, S. 4.
6 Ebenda.
7 Als „Nebel“ bezeichnet zum Beispiel der Musiktherapeut John Beaulieu eine zu entdeckende Welt, aus der alle möglichen Formen entstehen können. Eine optische Vorstellung, die keine Einschränkungen macht und Platz für das Absurde gibt. (John Beaulieu 1989, S. 60f.) Auf akustischer Ebene ist es vielleicht kein nebeliger Gedanke, sondern der Klang eines Gonges, in dem alle möglichen Töne verschmelzen.
8 Adorno 1991, S. 102ff.
9 Scheller 1981, Meyer 1987, Stroh 1985.
10 Vgl. auch Günther (1993): „Adorno und die Folgen, Schlaglichter auf die musikpädagogische Szene der Gegenwart“.
11 Peter Mraz: „Zur Lernzielbegründung des Faches Musik“. In: ZfMP 30 (1985), S. 43ff.
12 Verband deutscher Musikschulen e. V.: „Präambel zum Lehrplanwerk“ 1976, S. 7.
Solfeo:
Stühle, Tische und Buchseiten, bedruckt mit traditioneller Notenschrift. Ein Lehrer und etwa 12 Schülerinnen und Schüler im Alter von etwa 13 bis 27 Jahren sitzen in einem Raum mit hellem Neonlicht. Wir sind in einem Musikkonservatorium des spanischen staatlichen Bildungsapparates. Eintönig rasend schnell gesprochene Silben bilden Wörter einer eigenartigen Sprache, deren Logik einem Morsealphabet zu gleichen scheint. Die von einer Schülerin gesprochenen, höchst komplizierten Rhythmuslinien, passen sich ihren eigenen Armbewegungen und dem Klopfen eines Stiftes einer Lehrerin an. Bewegungen und Klänge erwecken so geradlinige optische und akustische Formen, die ich von meinem Platz aus in einer sehr gespannten Atmosphäre beobachten kann. Die Köpfe aller im Raum Sitzenden scheinen sich auf die Schrift ihrer Bücher zu konzentrieren, getragen von ihren gerade sitzenden Körpern. Schon nach einer Viertelstunde wird sich einem anderen Thema zugewendet.
TaKeTiNa:
Etwa 20 Frauen und Männer bewegen sich mit gleichen Schritten in einem Kreis um zwei Personen herum, eine mit einer großen Trommel, eine andere mit einem Berimbau (Musikbogen). Die Aufmerksamkeit der Augen und Ohren der Teilnehmer ist mal zur Kreismitte gerichtet und mal zu sich selbst, nach Innen konzentriert. Vereinzelt sehe ich Unsicherheit in den Bewegungen, sonst aber genaue Gleichmäßigkeit und das über eine Dauer von mehr als 90 Minuten. Die Stimmen der Teilnehmer imitieren gemeinsam rhythmisch gesungene Silben einer Leiterin. Die Klänge der großen Trommel, des Berimbaus, des Stampfens der Füße, des Klirrens der Schellringe und des Klatschens der Hände erfüllen zusätzlich den Raum. Jeder Teilnehmer ist eingehüllt in diesem pulsierenden atmosphärischen Klang. Selbst die auf dem Fußboden ruhenden Tänzer und Sänger, scheinen den Klang und die Bewegungen, die vom Kreis ausgehen, aufzunehmen.
Tabelle 1: Auffallende Gegensätzlichkeiten der Unterrichtssituationen
Solfeo | TaKeTiNa | ||
• | sitzen still auf Stühlen, an Tischen | • | schreiten im Kreis und klatschen |
• | gespannte Atmosphäre | • | pulsierender atmosphärischer Klang |
• | Konzentration nur vom Kopf aus | • | Konzentration schließt Bewegungen des Körpers mit ein |
• | Konzentration auf Noten gerichtet | • | Konzentration zur Kreismitte gerichtet |
• | lesen Noten | • | imitieren Stimme und Bewegungen |
• | kurze Zeit | • | lange Zeit |
Lehrerin für Musiklehreunterricht im Conservatorio de Música in Palencia:
„Solfeo ist Messen und Intonieren, was die Notenschrift ausdrückt.“13
Musikprofessor des Conservatorio Superior de Música in Madrid:
„Solfeo ist das Fundament. Es ist eine Sprache. Und es ist das Lernen einer Sprache. Ich kann niemanden verstehen, der diese Sprache nicht lernt. Und es ist ein Mittel, eine Methode. Nur gab es Zeiten, da erschien Solfeo als das Ende der Musik, dabei ist es nur eine Methode. Aber eine Methode, die mir sehr viel gibt. [...] Und es muss mit großer Strenge gemacht werden.“14
Grundschullehrer und Schüler des Conservatorio de Música in Valladolid:
„Solfeo ist die Art Musik zu verstehen. Es werden im Kopf viele Dinge gebraucht, die nur durch Solfeo erlangt werden.“15
Reinhard Flatischler, der Entwickler der TaKeTiNa Methode:
„Ein Kreis – zwei Felder: ein stabilisierendes Feld, getragen von der Basstrommel, des Surdo, verbunden mit dem Grundschritt aller Teilnehmer und ein destabilisierendes Feld mit Gesang und Klatsch – auch begleitet vom Musikbogen Berimbau. TaKeTiNa verbindet das Individuum und das Kollektiv, Bewusstes und Unbewusstes.“16
Karin Dittmer, eine professionell ausgebildete TaKeTiNa Leiterin:
„TaKeTiNa ist eine von Reinhard Flatischler entwickelte Methode, Rhythmus als kreative und körperlich heilsame Kraft, direkt zu erfahren. Der Körper wird zum Instrument. Ein Kreis von Menschen bewegt sich zum Klang der Trommel, eine Stimme führt, Hände klatschen. Alles steht miteinander in Beziehung. Auf diese Weise können rhythmische Zusammenhänge und Strukturen direkt körperlich nachempfunden werden. Phänomene wie ‚Pulsation‘, ‚Zwischenraum‘, ‚Zyklus‘, ‚Offbeat‘ und ‚polyrhythmische Verhältnisse‘ existieren als Urbilder in uns. Dieses innere Wissen taucht auf, wenn wir uns dem rhythmischen Feld anvertrauen. Der ständige Wechsel zwischen dem ‚Rein- und Rausfallen‘, das Zulassen von Chaos, lässt eine Neuorientierung und ein Lernen zu, das unabhängig ist von ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Auf spielerische und lustvolle Weise können tiefgreifende Rhythmuserfahrungen gemacht werden, wobei nicht nur rhythmische Kompetenz und musikalische Kreativität wachsen können, sondern auch innere Wachstumsprozesse angeregt werden. TaKeTiNa verbindet musikalische Rhythmen mit dem Rhythmus des Körpers und den Pulsationen des Lebens. Aus archetypischen rhythmischen Strukturen entsteht Percussionsmusik, gespielt mit dem Instrument unseres Körpers, unterstützt durch die große Trommel Surdo in der Mitte und getragen vom Rhythmuskreis.“17
Tabelle 2: Auffallende Unterschiede der Methoden aus der Sicht von Lehrern
Solfeo | TaKeTiNa | ||
• | Messen und Intonieren der Notenschrift | • | Grundschritt und destabilisierendes Feld |
• | eine Sprache | • | kreative, körperlich heilsame Kraft |
• | das Erlernen einer Sprache | • | verbindet das Individuum und das Kollektiv |
• | ein Mittel, das einem Musiker viel gibt | • | Urbilder als inneres Wissen tauchen auf |
• | die Art Musik zu verstehen | • | Bewusstes und Unbewusstes |
• | es muss mit Strenge gemacht werden | • | Lernen ohne „richtig“ oder „falsch“ |
Um dem Leser eine geschichtliche und inhaltliche Orientierung über die bekanntesten Tonwortlehren zu geben, habe ich zu Beginn einige Informationen über Musikpädagogen, deren Wirkstätten und Zeiten und einige besondere Merkmale ihres Tonwortunterrichts beispielhaft in einer kurzen Übersicht zusammengestellt:
Guido von Arezzo (ca. 992-1050), Italien:
Seine Hymne „Ut queant laxis“ enthält in den Anfangssilben der Verse die sechs Töne der Solmisation: ut, re, mi, fa, sol und la.
Mostard (1598-1631), Amsterdam:
Seine „Bobisation“ hatte als eine der ersten Tonwortlehren ein siebenstufiges System mit den Silben: bo, ce, di, ga, lo, ma und ni.
Daniel Hitzler (1576-1635), Stuttgart:
Der Propst entwickelte ein ebenfalls siebenstufiges System aus den Silben la, be, ce, de, mi, fe, ge, das „Bebisation“ genannt wird.
Carl Heinrich Graun (1701-1759), Preußen:18
Als Kapellmeister Friedrichs des Großen benutzte er ein siebenstufiges System mit den Tonsilben da, me, ni, po, tu, la, be.
John Spencer Curwen (1816-1880), England:
Er verbesserte die Lernerfolge der Laiensänger durch Einführung von Handzeichen und Buchstaben.
Glover (1812) und Hullah (1880):
Sie verwendeten ein System mit ebenfalls sieben Silben.
Rudolf J. Weber (um 1850), Schweiz:
Als Lehrer im schulischen Gesangsunterricht benutzte er eine absolute Solmisationsmethode, die die Versetzung von do als Bezugston kannte.
Émile-Joseph-Maurice Chevé (1804-1864), Frankreich:
Verwendete nicht nur Notennamen, sondern auch Zahlen zur Stufenbezeichnung (Gemeinschaftsarbeit von Galin-Paris-Cheve).
Agnes Hundoegger (1897), Deutschland:
Führt die Tonika-Do-Lehre mit beweglichem do ohne Violinschlüssel und Curwens Handzeichen ein (Angleichung der Methode Curwens).19
Im ungarischen Musikerziehungssystem, das von Kódaly geprägt wurde, entwickelte sich die Solmisationsmethode Ende der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts zu neuen weiteren Formen der Tonwortlehren. Erzsébet Szőnyi (1973) und Sandor (1981) haben historische Quellen der ungarischen Musikerziehung aufgearbeitet und vollziehen diese Entwicklung anhand der Erklärung der Grundaspekte Kódalys nach: Durch Zoltán Kódalys wissenschaftliche Beiträge wurde die ungarische Musikerziehung inhaltlich und formal strukturiert. Die Methode der Solmisation, das Singen nach Noten und die Veröffentlichung seiner „Schulliedersammlung“ ungarischer Folklore trugen besonders dazu bei. Sein größtes Ziel war es, etwas gegen das musikalische Analphabetentum zu tun und die Musik für alle zugänglich zu machen.20 Er wollte, dass die Musikerziehung in Ungarn, ebenso wie die Musikerziehung der Griechen im Altertum, eine zentrale Rolle im ganzen Erziehungssystem einnimmt. Er setzte sich deswegen für ein Unterrichtssystem ein, das das „Singen als Grundlage der tieferen musikalischen Bildung hat“.21 Seine Idee war es, „das allgemeine Musikverständnis der ganzen ungarischen Bevölkerung über Lesen und Schreiben von Musik zu vergrößern“.22 Das ist wohl ein Grund, warum bis zum Ende der vierziger Jahre nur Solmisationsmethoden für die Gesangsausbildung und die Gehörbildung erschienen. Die erste ungarische Tonwortlehre brachte Antal Molnár (1928) in Budapest heraus. Es war ein dreibändiges Werk, bestehend aus einer Liedersammlung. Die Methoden, die auch heute noch in der ungarischen Musikausbildung aktuell sind, erschienen in den 40er Jahren: György Kerényi und Benjámin Rajeczky veröffentlichten 1938 das Buch „Das ABC des Singens“ („Magyar Kórus“) und 1940, als Fortsetzung, eine Sammlung von Liedbeispielen und Liedtexten unter dem Titel „Gesangsschule“. In beiden Büchern wird zum Erlernen der Stücke die Methode der relativen Solmisation vorgeschlagen. Jenö Ádám brachte 1944 in Turul (Budapest) das Buch „Die systematische Ausbildung des Gesangs“ heraus. Dort erscheinen die Prinzipien der Relativen Solmisation, die für die Erarbeitung der „Schulliedersammlung“ von Zoltán Kódaly (Budapest, 1943) grundlegend sind. Einige Jahre später wurden die Lehrziele der Solmisation von der Gesangsausbildung auch auf den Bereich des Instrumentalunterrichts ausgedehnt. Es erschienen zwei Methoden der Tonwortlehre, deren Lehrziele über die Gesangsausbildung mit Solmisation hinausgehen und die mit der Methode des Tonwortunterrichts auch neue Wege zur Erarbeitung der Musiktheorie zeigen: Vera J. Irsai brachte dazu 1947 die Methode mit dem Titel „Einführungskursus in die Musik“ (Cserépfalvi, Budapest 1947) heraus und Erzsébet Szönyi (Zenemükiado, Budapest 1953) eine Methode mit Leseübungen.23 Nach den vierziger Jahren kam es also in Ungarn zu einer Verbreiterung der Anwendung der Tonwortlehren. Es wurden mehr Lehrmaterialien veröffentlicht, die nicht als erstes Ziel die Gesangsausbildung mit Volksmusik hatten, sondern sich speziell der Weiterentwicklung der Solmisation widmeten. Tonwortlehren mit neuem Material, mit reinen Übungsaufgaben und neuer Musik entstanden. Spezielle Tonwortlehren wurden auch für den Instrumentalunterricht entwickelt.24
Diese Entwicklung der Ausdifferenzierung der Tonwortlehren hat auch in Frankreich und Spanien stattgefunden. Es wird von französischen und spanischen Verlagen reichlich aktuelles Unterrichtsmaterial für Tonwortlehren als Gesangsmethoden und zur Erarbeitung von Musiktheorie und für die Rhythmusausbildung angeboten. Der Gebrauch der Tonwortlehren reicht bis in den Instrumentalunterricht. Eine vollständige Bibliographie aller Tonwortlehren in Spanien und Frankreich kann ich an dieser Stelle nicht geben.25 Wichtig ist mir aber, die Spannbreite der Tonwortlehren darzustellen und einige wichtige Neuerungen zu nennen, um sie dann mit Rhythmussolfeo26 in einen Zusammenhang bringen zu können. Eine Erneuerung der traditionellen Solmisation ist das zeitgenössische Solfège der fünfziger Jahre, mit neuen Werken von verschiedenen Komponisten, wie Robert Bariller, Robert Clerisse und anderen. Albert Beaucamp, der Direktor des Conservatorio Nacional de Reuen, fasste diese Übungen 1957 mit bis zu sieben kombinierten Schlüsseln in fünf Bänden zusammen. Der spanische Verlag Real Musical veröffentlichte dieses fünfbändige Werk unter dem Titel Solfeo Contemporaneo27. Für die Weiterentwicklung von Lehrmaterialien für den Musikunterricht hat sich in Spanien Encarnación López de Arenosa Díaz eingesetzt. Sie wird für ihre pädagogische Arbeit in spanischen Konservatorien sehr geehrt. Sie studierte Klavier, Harmonielehre, Kontrapunkt, Fugenlehre und Komposition. Sie ist die einzige Professorin für Solfeo und Musiktheorie am Real Conservatorio Superior de Música de Madrid.28 Im Vergleich zu anderen Musikpädagogen bietet sie die meisten Solfeo Musiktheoriewerke an. Im Verlag Real Musical Madrid sind unter anderem ein vierhändiges Solfeoschulwerk (Lenguaje Musical) in Zusammenarbeit mit Joaquín Oliver und Angel Pildaín und sechs Bände mit Melodiediktaten erschienen. Außerdem veröffentlichte sie 1982 ein Solfeo-Liederbuch (Solfeo en Canciones), das auf spanischer Volksmusik aufbaut.
Der Ursprung des TaKeTiNa scheint in einer persönlichen Krise Flatischlers, einer schweren Krankheit und in seiner Heilungsgeschichte zu liegen. Flatischler ließ in völliger Wehrlosigkeit eine schamanische Zeremonie über sich ergehen. Er berichtet:
„Tosend setzte die Musik ein und schnitt mit dem schrillen Klang der Instrumente meine Gedanken auseinander. Ich fiel in einen Zustand, in dem ich nicht mehr denken konnte. Ich nahm meine Umgebung wahr und doch befand ich mich in einer völlig anderen Welt. Es war eine Welt voller Gefühle, die ich zuvor noch nie erlebt hatte. Ich spürte, wie sich Teile meines Körpers verschoben, auseinanderfielen und sich wieder zusammensetzten. Ich sah wie mein Körper verschiedene Farben annahm, und jede dieser Farben löste ein ganz bestimmtes Körpergefühl in mir aus. Zusehends kam ich immer tiefer in einen Zustand, an dem mein Wachbewusstsein keine Erinnerung mehr hat.“29
Auf einer Konzertreise in Korea traf er auf Kim Sok Chul, einen der wenigen noch lebenden Schamanen. Als er an Ruhr erkrankte, bereitete Kim ihm eine Zeremonie. Für dieses Erlebnis fand Flatischler diese bilderreiche Sprache. Kim Sok Chul besaß traditionsreiches Wissen über Rhythmus und Musik, das er mit Erfolg zur Heilung einsetzte. Flatischler gesundete und begann, sich seine Erfahrung zu Nutze zu machen: Er lernte ein profundes „Nein“ zum Leben kennen, das seit seiner Kindheit aufgrund verschiedener Erfahrungen gewachsen und Quelle unerklärlicher Angst, ständiger Zweifel und angeschlagener Gesundheit war und verwandelte es zu einem kräftigem „Ja“ in seinem Leben. Er beschreibt einen Zugang zur Musik über die Heilung der Psyche. Rhythmus wird nicht getrennt von körperlichem Empfinden, sondern als zentrale Kraft unseres Daseins dargestellt:
„Da entstand in mir das Wissen, dass Rhythmus tiefe Schichten meines Bewusstseins erreichen kann und dass Rhythmus ein Weg zu Selbstvertrauen, Liebe und Vitalität ist“.30
Tabelle 3: Gegenüberstellung der Unterschiede in den Entstehungsgeschichten
Solfeo | TaKeTiNa | ||
• | Musiker werden zu Musikpädagogen, um Bedürfnisse der Kirche und des Staates nach Musik zu stillen. | • | Musiker werden zu Musikpädagogen aufgrund persönlicher und gesellschaftlicher Bedürfnisse. |
Die musikpädagogische Idee des Solfeos lässt sich mit der musikpädagogischen Idee der traditionellen Tonwortlehre vergleichen, die vor etwa hundert Jahren mit Carl Eitz und danach mit Bennedik und Strube (1926) in Deutschland einen Aufschwung erlebte. Sie baute auf den Eigenschaften von „Tonnamen“ auf, die als „Laute“ und „Begriffe“ benutzt wurden und als „Grundlage logischen Denkens und Handelns in der Musik“ dienten. „Singt auf Tonnamen!“ So propagierten Bennedik und Strube einen „Elementar-Musikunterricht“ in den Schulen. Die Tonnamen wurden in den Mittelpunkt des Gesangsunterrichts gestellt, um der musikalischen Bildung zu dienen. Ihre musikpädagogische Idee, mit Tonnamen lernen und lehren zu können, beschrieben sie anhand eines Beispiels über kindliche Lernweise:31
„Sieht ein kleines Kind einen Gegenstand, für den es auf seine Frage ‚Was ist das?‘ die Antwort ‚Ein Apfel‘ erhält, so dauert es gar nicht lange, bis dieses Wort geistiges Eigentum des Kindes geworden ist, mit dem es geschickt zu arbeiten versteht. Das Wort verbindet sich nicht nur sehr schnell mit dem Gegenstand, um schon bald zum Beispiel als Äußerungsmittel etwaiger Vorstellungen zu dienen, sondern es beginnt auch sofort eine logische Arbeit, die dem Kinde völlig unbewusst, aber trotzdem von größter Bedeutung ist. Der Name dient als Mittel, Ordnung in den geistigen Besitz zu bringen. Als Apfel bezeichnet das Kind zunächst vielleicht alle Gegenstände, die dieselben äußeren Merkmale haben, also etwa eine Zitrone, Apfelsine, Holzkugel, einen Ball usw. Allmählich gelangt dann das Kind durch weitere Erfahrung zur festen Abgrenzung des Begriffsinhaltes [...] ist das Kind erst im Auffassen der Worte geübt, so vollzieht sich die Einverleibung weiterer Begriffe des alltäglichen Lebens in unmerklich kleiner Zeit.“32
Bennedik und Strube zitieren Eitz 33, der „die Bedeutung der Namen für unser geistiges Leben“ so umschreibt:
„Die Namen sind die Haken, mit denen wir die Bedeutungsvorstellungen festhalten; sie sind die Hebel, mit denen wir die Vorstellungen aus dem Schatz unserer Erinnerungen wieder in das Licht des Bewusstseins erheben; sie sind die Hände, mittels derer wir Vorstellungen zu Gruppen verbinden oder aus Gruppen lösen“.34
Sie fügen hinzu, dass die Namen nicht bloß Fantasielaute sein dürften. Es sei „natürlich erforderlich und vorausgesetzt“, dass „die Namen in ihrer Gesamtheit eine sinnvolle Sprache ergeben“.35 Die Grenzen der Methode liegen folglich vermutlich nicht in den Operationalisierungsmöglichkeiten der Tonwörter, sondern eher im Versuch, subjektive Erfahrungen, wie Geschmack oder Gefühle, mit bloßem Namen zu erfassen. Das erkennen auch Bennedik und Strube, doch ihnen nützt auch hier die Benennung mit Tonwörtern:
„Mit Hilfe der Namen können wir auch Empfindungen und Vorstellungen unserem Verstande untertan machen, die wir begriffsmäßig nicht definieren können; man denke zum Beispiel an solche Qualitäten wie süß, bitter, herb, Schmerz, Freude usw. Es wird nicht gelingen, für diese Qualitäten eine Definition zu geben, trotzdem aber können wir geistig mit ihnen arbeiten“36
Für Bennedik und Strube sind „der geübte Umgang mit Tonnamen“ und „die Kenntnis der Beziehungen der Namen untereinander für einen musikalisch bildenden Gesangsunterricht wichtiger als der Versuch, musikalische „Qualitäten“ aufzuspüren, die „logisch sowieso nicht zu definieren“ seien. Sie schreiben:
„Um logisch nicht definierbare Qualitäten handelt es sich auch in der Musik. Wollen wir geistig mit ihnen arbeiten, wird es daher eines sprachlichen Ausdrucks- und Denkmittels bedürfen. Bei ganz primitivem Musizieren kann man Tonnamen allerdings entbehren. Auf sie verzichtet zum Beispiel die Schule bei der Anwendung der Methode, die im wesentlichen aus Vorgeigen und Nachsingen besteht. Die nicht gerade kleine Schar der Lehrer, die nach ihr unterrichten, werden zugeben, dass bei ihr höchstens etwas für den sattsam bekannten Schatz geistlicher und weltlicher Lieder herausgewirtschaftet wird, ein musikalisch bildender Unterricht jedoch ausgeschlossen ist“.37
Für das Wissen, das mit Solfeo als Sprache erlangt werden kann, findet Max Rindler, der als Musiklehrer in Österreich von der ungarischen Musikerziehung beeinflusst wurde und mit Solmisation in seiner Schule über lange Zeit Erfahrungen sammeln konnte, den Begriff „Tongewissen“. Er schreibt im Vorwort seiner „Schule der Solmisation“: „Im Laufe der Jahre kam ich zur Erkenntnis, dass die Solmisation der geeignetste Weg ist, im Schüler ein Tongewissen aufzubauen, ohne instrumentale Griffvorstellung.“38
Die unter 2.2.1 aufgelisteten Musikpädagogen nennen einen „Ton“ beim Namen, indem sie ihn auf dem jeweiligen Namen ihrer Tonwortlehre stimmlich intonieren, stimmlich rhythmisch messen und eventuell im Notenbild wiedergeben. Heute werden im Musikunterricht statt der Tonnamen nur noch die Notennamen benutzt. Sie können zum Erklären oder auch zum Ermahnen gebraucht werden, zum Beispiel: „Du musst aber ein c' spielen!“ Dabei wird die Tonhöhe stimmlich nicht wiedergegeben und auch der Rhythmus nicht definiert. Die Tonbezeichnung ist im Musikunterricht so nur noch ein Begriff mit theoretischem Gehalt über die Tonhöhe oder über die Tasten des Instruments. Die vorteilhaften Eigenschaften der Tonnamen, die die Tonhöhe und den Rhythmus stimmlich und den theoretischen Gehalt der Namen zeitgleich wiedergeben, ohne erklären zu müssen, werden nur noch selten, wie im Falle von Ballesteros, benutzt.39 1926 beschrieben auch Frank Bennedik und Adolf Strube in ihren „Handbuch für den Tonwortunterricht“ den unterschiedlichen Gebrauch von Notennamen als Klang und Tonwort oder als bloße Bezeichnung für Noten und Tasten: „Als Tonnamen sind in Deutschland seit alters her die Buchstaben a bis h des Alphabets gebräuchlich. Sie dienten von Anfang an fast nur der äußerlichen Bezeichnung der Töne, nicht der Lautierung der gesungenen Töne, die man Solmisation nennt. Unter dem Einfluss der Instrumentalmusik sind diese Namen allmählich immer weniger Ton-, sondern vielmehr Tasten- und Notennamen geworden“. 40
Der Nutzen vom Klang der Stimme, durch den Gebrauch von Rhythmussilben in Verbindung mit Körperarbeit, hatte bisher in der Musikpädagogik wenig Bedeutung. In der Musiktherapie hingegen haben sich verschiedene Methoden der „rhythmischen Erziehung“ nach Emile Jaques-Dalcroze (1865-1950) „rhythmischer Gymnastik“ weiterentwickelt. Jaques-Dalcrozes rhythmische Gymnastik stützt sich zwar ebenfalls auf das Phänomen Rhythmus als „formbildende Kraft“ in der Musik, nutzt aber nicht die Stimme, sondern vorwiegend die „schöpferische und natürliche Bewegung des Körpers“.41 Für Flatischler ist der Umgang mit Tonsilben als „sprachliches Ausdrucks- und Denkmittel“ für die Erfahrung von Rhythmus nicht wichtig.42 Er erklärt, dass „der Klang unserer Stimme, die Dynamik und Artikulation unseres Sprechens ein „wesentlicher Bestandteil“ dessen sei, „was wir mit unseren Worten kommunizieren wollen“. Der logische Sinnzusammenhang von Wörtern ist für Flatischler nicht unumstößlich. Mit einem einfachen Beispiel macht er klar, dass es sogar leicht sei, eine „logische Bedeutung eines Wortes aufzulösen“. Man müsse es nur „für lange Zeit auf der Basis einer Pulsation immer wieder sprechen“. Der theoretische Gehalt von Wörtern ist für ihn in Bezug auf das Lernen also nicht so wesentlich, wie es Bennedik und Strube darstellen. Flatischler sagt: Wir „offenbaren uns mit der Art und Weise, wie wir sprechen“. Die Art unseres Sprechens sei „wie die Gehbewegungen, die vieles über unsere Persönlichkeit aussagen“, ein „Ausdruck unseres Innern“, mit dem „eine zweite Kommunikationsebene“ entstehe, die den „Sinn unserer Worte unterstreicht oder ihm widerspricht“. Er weist darauf hin, dass „in der Sprachentwicklung der Menschheit Inhalt, Klang und Rhythmus eines Wortes ursprünglich eine Einheit waren“. In dieser Form sei ein Wort nun „mittelbare Wirklichkeit“.43 Während Bennedik und Strube das „Begriffsdenken“ als eine auf die Musik übertragbare Form kindlichen Lernverhaltens erkennen, distanziert sich Flatischler von solchem Gebrauch des Geistes in der Musik. Er erklärt, dass Kleinkinder über „Nachahmung“ lernen. Die sich entwickelnde Sprache erforschten Kinder „ungehindert vom Intellekt“. Sie experimentierten mit den Klängen von Sprache. Durch das Nachahmen von dem, was das Kleinkind höre, forme es den Klang seiner Stimme. Wobei mit Klang, im Gegensatz zum theoretischen Gehalt eines Wortes, für Flatischler eine eigene „Kommunikation“ stattfinde.44
Für Flatischler bekommt eine Tonsilbe einen Wert nicht durch die Formulierung zu einem Wort mit „theoretischem Gehalt“. Er misst den Wert einer Tonsilbe anhand seiner „Energie“. Dabei gebe es gewisse „Abfolgen“ von Silben, die so festgelegt seien, dass ihre „Klänge auf verschiedene Körperregionen wirken“.45 Die Vibrationen der Stimme erreichten so unterschiedliche Körperregionen, wie zum Beispiel das Nervensystem und die verschiedenen Teile unseres Gehirns. Flatischler weist auch auf ein überregionales Vorkommen der Energiewörter hin. Er behauptet, dass diese in allen Kulturkreisen entstanden seien. In der indischen Tradition würden sie „Mantras“ genannt werden. „Man“ bedeute „Bewusstsein“ und „tra“ „Werkzeug“. Ein Mantra sollte also ein Werkzeug für das Bewusstsein sein. Ta Ki, Ga Ma La und Ta Ke Ti Na bezeichnet er deswegen als „Rhythmusmantras“, mit denen das „rhythmische Bewusstsein“ nach „längerem Sprechen“ entwickelt werden könne.46 Durch die Verbindung einzelner Energiewörter mit den Händen und den Füßen würde eine Gegenwirkung von Körperbewegungen und der Stimme erzeugt. Es werden zum Beispiel die gesprochenen Rhythmusmantras auf Schritte übertragen47 oder mit dem Klatschen der Hände verbunden.48 Durch das Zusammenwirken der drei Ebenen „Stimme“, „Hände“ und „Füße“ werde eine „ganzkörperliche Erfahrung von Zyklen“ möglich. Die Entwicklung des rhythmischen Bewusstseins mit Hilfe der „Energie der Rhythmusmantras“ sei die Verbindung des „Bewusstseins“ und des „Unterbewussten“. Dadurch würden „tiefere Schichten unseres Bewusstseins“ beteiligt, wodurch „der Rhythmus wie von selbst“ gehe. Das „Wachbewusstsein“ sei dann „frei für kreatives Gestalten“.49
Tabelle 4: Gegenüberstellung wesentlicher Unterschiede musikpädagogischer Ideen
Solfeo | TaKeTiNa | ||
• | Klang als Träger von theoretischem Gehalt in Form des „Tonwortes“ | • | Klang als „Energiewort“ in Form von „Rhythmusmantras“ |
• | sinnvolle „Sprache“ mit Begriffen | • | „Art des Sprechens“ mit Klang |
• | musikalische Qualitäten dem Verstand untertan machen | • | musikalische Qualitäten ungehindert vom Intellekt erforschen |
• | musikalische Bildung: Aufbau eines „Tongewissens“ | • | Entwicklung eines „rhythmischen Bewusstseins“ |
• | „geistige Arbeit“ mit Tonwort als „Ausdruck“ und „Denkmittel“ | • | „ganzkörperliche Erfahrung von Zyklen“ |
Die spanischen Notennamen Do Re Mi Fa Sol La Si50 dienen der absoluten Lautierung gesungener Töne, die im Spanischen „solfeo“ genannt wird. In neuen Unterrichtsmethoden51 werden die Notennamen aber nicht mehr nur zum Gesangsunterricht, sondern nun auch speziell zum Erlernen von Rhythmus und zur Notenlektüre verwendet. Die Tonsilben werden nicht mehr intoniert, sondern nur noch rhythmisch gesprochen, dazu wird der Arm gleichmäßig im Takt bewegt.52 Dieses Vorgehen, das meine Interviewpartner als „solfeo rítmico“ bezeichnen, stützt sich auf zahlreiches, in den 80er Jahren neu erschienenes Lehrmaterial. Das in Spanien wichtigste Lehrwerk ist wahrscheinlich „ritmo y lectura“, eine vierbändige Rhythmus- und Notenlektüre von Encarnación López de Arenosa.53 Es ist ein von spanischen Musiklehrern gern benutztes Werk, das Übungsmaterial für sämtliche Klassenstufen der Musikkonservatorien bietet. Es kommt dem neuen Bedürfnis der Lehrer des Faches lenguaje musical nach systematisch aufgebauten Rhythmusleseübungen entgegen.54 Ein Unterschied in der Ausführung des künstlerischen Dirigierens und des Zeitmessens ist die Gleichmäßigkeit und die Geradlinigkeit der Bewegungen.
Abbildung 1: Markierung von Zweier-, Dreier- und Vierertaktarten („Se marca así.“55)
Unterrichtsziele
Im ersten Band ihrer Rhythmuslektüre formuliert López de Arenosa vor allem ein Ziel, das sie während ihrer musikpädagogischen Arbeit in Madrid entwickelte:56
„Natürlicherweise beginnt dieses Lehrwerk bei Null. Sein erstes Ziel ist es, die periodischen Teile, die absolute Regelmäßigkeit des musikalischen Pulses zu erreichen. Wenn diese einmal gespürt werden, wird es die Basis für alle weiteren folgenden Etappen sein, so schwierig sie auch sein mögen.“57
Das Ziel des ersten Bandes, die absolute Regelmäßigkeit des musikalischen Pulses zu erreichen, wird, den Berichten von Ballesteros zu Folge, häufig nicht erreicht.58 Im zweiten Band werden über das Ergreifen des Pulses hinaus einige rhythmische Schwierigkeiten angesteuert:59
„So wird das zweite große Gebiet dieser zweiten Stufe sein, die zusammengestellten Vierertakte (oder auch die Dreiertakte) fließend und ohne Unterteilung zu interpretieren, sobald die Achtelnoten, die im ersten Lehrwerk innerhalb der Vierertakte vermieden wurden, präsentiert wurden.“60
Im dritten Band wird die Schwierigkeit der Lektüre vor allem dadurch vergrößert, dass alle Schlüssel benutzt werden sollen.61 Das Notenbild wird auch durch die Verwendung weiterer Vorzeichen komplizierter. Taktwechsel, binäre und ternäre Notenwerte sowie Akzentsetzungen sind weitere Lehrziele dieses Buches. Die Autorin hebt hervor, dass auf dieser Stufe des Solfierens mit musikalischem Ausdruck und Expressivität gesprochen werden soll und einige der Übungen auch gesungen werden können:
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