Copyright Text © Marcvs Caracalla 2015

Alle Rechte Vorbehalten.

Copyright Coverbild © Mosaics from Pompeii in the Museo Archeologico Nazionale in Naples, Wikicommons, Sailko 2013

ISBN 978-3-7392-5441-8

Books on Demand GmbH Norderstedt

Inhalt

androgeos

I

Die vielen Jahre.

Sie hatten einen reichen Schatz an Erinnerungen in ihm geboren. Gleich einer Brandung im Rhythmus seiner Atemzüge hatte jenes Leben, das vielleicht ihm gehörte, eine riesenhafte Menge an Erlebnissen ohne besondere Ordnung an die Strände seines Gedächtnisses gespült. Und er hatte - aus einer gewissen Verlegenheit heraus - all dieses Treibgut geborgen und so gut er es verstand sortiert. Angefüllt die verwinkelten und weitläufigen Kammern seines Geistes mit jenem sonderbaren Vorrat von Bildern, der ihm zugefallen.

(Er rechtfertigte die mühevolle Arbeit des Erinnerns so: Dass keine Leere in mir sei, wenn ich vom Licht scheide. Dass ich nicht eines Tages geöffnet würde und man unter meinen Rippen nichts anderes fände, als ein wenig Fleisch und Blut.)

Die Trümmer des Gewesenen waren sorgfältig von ihm gesichtet worden. Er hatte sie auf Ähnlichkeiten und Unterschiede untersucht. Sie kategorisiert, katalogisiert. Sie geteilt und versammelt, angeordnet und wieder verworfen. Es war dies das unbewusste Tun seines Verstandes, der, einem Reflex folgend, kaute und verdaute, was man ihm eingab. Mühevoll, langwierig. Langsam, sehr langsam, über all die Jahre hinweg, entstand aus den ungezählten Partikeln seines Erinnerns das Mosaik eines Lebens, das vielleicht ihm gehörte, und das er jetzt, am Ende seiner Tage, mit Verwunderung und Ehrfurcht betrachtete wie einen Tempel oder ein wohlgeformtes Götterbild.

Wie bei allen Sterblichen war sein Haar irgendwann grau und später weiß geworden. Seine Zähne waren ausgefallen. Seine Muskeln verschwunden. Eines Tages hatte er festgestellt, dass ein Geflecht tiefer Furchen die lehmfarbige Haut seinesGesichts überzog. Es fiel ihm schwer, sein Gesicht wieder zuerkennen, wenn er, gleich einem greisen Narziss, in die stille Oberfläche eines Teichs blickte. Ihm kamen Zweifel an sich selbst. Er fand es beängstigend plötzlich im Ungewissen über sich selbst zu sein.

Doch das Alter hatte ihn auch Gleichmut gelehrt. Gleichgültigkeit. Die Furchtlosigkeit eines Menschen, der um die enge Bemessenheit seiner Zeit weiß. Um die Vagheit aller Begriffe. Um die Dürftigkeit aller Weisheit.

Er murmelte: All die vielen Jahre... Ich bin verwirrt. Ich habe mich verlaufen. Ach, es ist nichts.

Er lächelte.

Ich verliere den Verstand. Ich sterbe. Zuerst mein Geist, dann meine Seele und am Ende das Fleisch. Mir bleibt ein Schemen zu werden. Ich glaubte die Stunden zu trinken, dabei tranken mich die Jahre. Bald ist es vorbei. Schön. Ach, es ist doch nichts.

Mit Genugtuung dachte er an den Fluss Lethe, der die Unterwelt durch schnitt. Die Schatten erquickte. Ein Trank aus diesem Strom spendete gütiges Vergessen. Es mochte sein, dass er unwissentlich bereits ein Schlückchen dieses Wasser gekostet. Oder zwei. Immerhin verlief Lethe unter dem Palast des Minos, seines Gebieters. Und das Labyrinth, so hieß es, reiche bis an ihre Gestade hinab. Es war also durchaus möglich, dass einige Tröpfchen auf verschlungenen Pfaden den Weg nach oben gefunden hatten. Bis in seinen Becher. Bis in seine Kehle.

So werde ich vor meiner Zeit zu einem Totenschatten, einem Bewohner von Hades wüsten Landen.

Der Alte zuckte die Schultern lachte ein zahnloses, blödsinniges Lachen.

Wer kann es wissen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts! Es ist nichts gewesen.

Er war alleine. Barfuß tappte er entlang des Strandes. Feuchter Sand kitzelte seine Sohlen. Der Saum seines langen, bunten Gewands war schwer von Nässe. Und so grau lag die Welt vor ihm, so dumpf und still. Es war die Stunde des Dazwischen.

Zwischen Tag und Nacht, zwischen Nacht und Tag. Noch nicht, nicht mehr. Die Dinge zeigten sich bereits in einer gewissen Klarheit, doch umgab sie noch eine Ahnung von Zwielicht, das ihre Konturen verzerrte.

In der Unterwelt, murmelte er, um wenigstens an seiner gebrochenen Stimme eine Art Gesellschaft in dieser Ödnis zu haben, herrscht immer diese milchig-graue Licht. Ist immer die Zeit des Dazwischen. Nicht mehr, noch nicht. Und die Schatten wandern umher, so einsam und verloren und selbstvergessen wie ich jetzt.

Er empfand Mitleid mit sich. Gerne hätte er in seinem warmen Bett gelegen, an der Seite seiner fetten Sklavin, in deren herben, tierischem Duft er so tief und friedlich schlummern konnte. Er seufzte. Es war nicht recht, dass man ihn in seinem Alter noch mit solchen Aufträgen betraute. Ausschauhalten nach einen Schiff. Als ob nicht ein Paar jüngerer Augen das Meer umso leichter abgesucht hätten!

Als Helios flammende Rosse endlich am Horizont aufstiegen, und das Gleißen eines neuen Tages den Dämmer zerstieb, ließ er etwas Wasser, während er blinzelnd in das Schauspiel aus Licht und Farbe stierte.

Dann setzte er seinen Weg fort. Hastiger als vordem. Denn er fürchtete die Hitze, die bald über dem Land brennen würde.

Sein Ziel, ein steiler, hellbrauner Fels, lag bereits in Sicht.

Doch führte nur ein langer, verschlungener Pfad zu seiner Spitze, der die Illusion von Nähe Lügen strafte. Er würde den größten Teil des Vormittags für den Aufstieg benötigen. Oben befand sich die Ruine eines Turmes. Lediglich das mannshohe Fundament aus Feldsteinen stand noch, der Rest war vor Zeiten eingestürzt.

Keuchend schleppte er sich voran. Sein Denken war sehr still geworden. Das Knirschen, erst des Sandes, dann des Staubes eines gewundenen Pfades, der gleich einer Schlange den Hügel umarmte, erfüllte sein Bewusstsein. Schweiß rann ihm über die Stirn. Ergoss sich in die feinen Krater seiner Wangen, verschwand schließlich irgendwo im Gekräusel des würdigen Bartes. Er schmeckte salzig wie die See.

Als er endlich die Spitze der Anhöhe erreicht hatte und auf die Knie gestützt, schwer atmend, inne hielt, dachte es in ihm: Man wird hineingestellt. Einfach so. In eine Landschaft, in eine Zeit. In ein Leben. In ein Schicksal. Es ereignet sich an einem. Man hat keinen Einfluss darauf. Man versteht es kaum.

Man ist geformter Lehm, der im Regen zerfließt. Das Werk eines spielenden Kindes. An einem Morgen geschaffen, am nächsten bereits vergangen. Spurlos.

Er ließ sich im Schatten der Ruine nieder. Hier wuchs etwas weiches Moos auf dem Boden, ein wenig Gras auch, genährt vom feuchten Hauch des Meeres, das sich uferlos unter seinen Blicken erstreckte. Er zog einen Wasserschlauch und ein Stück harten Käse hervor, von dem er kleine Stücke abbrach und sie so lange im Mund behielt, bis sie zu Brei geworden waren, den er mit einem großen Schluck hinunter spülte.

Nektar und Ambrosia. Jedem das seine.

Als er satt er war, überfiel ihn Müdigkeit. Er streckte die dürren, knochigen Beine aus, legte die Hände in den Schoß und bettete sein Kinn auf die flache Brust.

Die vielen Jahre hatten ihn sehr erschöpft.

II

Er blieb nicht einsam.

Als er die Augen öffnete, stand ein Junge vor ihm.

Schwarzhaarig, gebräunt, bis auf einen Schurz von grobem Leder unbekleidet. Die Gliedmaßen von herrlicher Symmetrie.

Die Augen grau, die Züge von vollendeter Zärtlichkeit.

Bist du das Kind menschlicher Eltern oder einer aus der Rasse der Satyrn? fragte der Alte blinzelnd.

Der Knabe antwortete nicht. Er stand nur da. Säule geworden. Bildnis geworden. Den Rücken gegen das Meer, das Licht, den Horizont gewandt. Und musterte den Greis in seinem bunten Aufzug.

Unten, wo die Brandung an diesen Felsen anschlägt, gibt es Grotten, meinte jener. Darin leben Nymphen. Du musst ihr Sohn sein. Auch meine ich, dich zu kennen...

Der Alte sprach mehr zu sich selbst als zu seinem schweigsamen Gast.

Dann zog er ein gefaltetes Tuch von blendend weißem Linnen aus seinem Mantel. Achtsam legte er es zwischen sich und den Knaben. Dessen Augen begannen sogleich, neugierig zu leuchten. Er setzte sich auf die Knie und beobachtete aufmerksam wie die knorrige Fingern den Stoff vorsichtig öffneten. Da sprang plötzlich ein winziges Fohlen heraus.

Knabendaumennagelgroß. Von ebenhölzernem Fleisch.

Zuerst schien es ein wenig unsicher. Als wäre es jäh aus einem tiefem Schlaf erwacht. Blickte sich um. Trabte bald hierhin, bald dorthin. Überschritt dabei nie den Rand des Tuches, seiner Koppel. Als es sich seiner Freiheit sicher wähnte, wieherte es jubelnd und warf die schwarz schimmernde Mähne voller Ungestüm in die Luft. Vollführte wilde Sprünge. Warf seine winzigen Hufe gen Himmel.

Der Knabe lächelte, während er dem kleinen Tier bei seinem Spiel zusah.

Das hat einmal einem Jungen in deinem Alter und von deiner Schönheit gehört, meinte der Greis nachdenklich. Tatsächlich war er dir sehr ähnlich. Ihr könntet Brüder sein. Zwillinge sogar. Ach, aber das ist lange her. Er hieß Androgeos und war der Sohn unseres Königs Minos. Sag mir, Freund, welchen Namen trägst du?

Der Junge blickte ihn mit seinen grauen, stechenden Augen lange an. Sein Blick war durchdringend, voll eines tiefen und erschütternden Wissens.

Dann antwortete er: Ich bin Androgeos.

Der Buntgemantelte richtete sich auf, rieb sich die Augen.

Er murmelte unschlüssig: Androgeos starb vor vielen Jahren in Athen. Du kannst es nicht sein.

Du traust deinen Augen nicht, sagte der Knabe ruhig. Ein schlechter Späher bist du! Oder hast du mich schon vergessen.

Träumtest du niemals von mir? In alle den Jahren?

Doch, entgegnete der Alte. Ich träumte von Androgeos. Und träume noch immer häufig von ihm. Aber erscheint er mir im Schlaf nicht als Kind, sondern als Jüngling. Ich erinnere seine letzte Gestalt; jene, die er nunmehr in Hades Landen trägt.

Du liebstest ihn, stellte der Knabe tonlos fest. Auch er liebte dich. Sieh her!

Er legte seine geöffnete Hand auf die Erde neben das Tuch. Ohne zu zögern sprang das kleine Ross hinein. Es erkannte seinen Herrn sofort. Und rieb wollüstig die Nüstern an seiner Haut.

Der Alte rief aus: Nur Androgeos kann dieses Pferdchen berühren. Allen anderen flieht es. Du bist es! Du bist es wirklich!

Der Junge lächelte matt, versonnen, abwesend. Das ebenhölzerne Spielzeug rief Erinnerungen in ihm wach.

Daidalos schenkte es mir, sagte er. Seine Stimme klang sonderbar fern. Sie verschwamm im Rauschen des Meeres und dem leisen Dröhnen des Windes zu einem fremdartigem Wispern.

Der Greis hockte sich nun seinerseits auf die Fersen. Seine Augen liefen über vor Tränen. Ein Zittern, halb Freude, halb Trauer schüttelte ihn.

Die Götter versagten mir eigene Kinder, murmelte er. So musste ich dich lieben, dessen Erzieher ich auf Wunsch des Königs gewesen bin. Es ist ein Unglück, Androgeos, wenn die Alten die Jungen überdauern. Ich vermisse dich.

Es war mir bestimmt, in der Blüte meiner Jahre zu sterben, meinte der Knabe, ohne den Blick von seinem ebehölzernen Spielgefährten zu heben.

Ein Unglück, sagte der alte Mann erbittert. Ein Unrecht! Du zürnst?

Nein, das tue ich nicht. Wem zürnen? Den Morai, die uns Sterblichen das Schicksal weben? Nein, nein. Wer begreift ihre Kunst? Wer weiß, welches Gewebe sie aus den ungezählten Fäden am Ende zusammensetzen? Welches Kleid sie sticken? Wessen Gestalt es einmal verhüllen wird? Ich maße mir nicht an, die Schicksalsgöttinnen zu hinterfragen. Oh, nein. Ich nehme an, was man mir zugeteilt. Doch nenne ich das Unrecht beim Namen. Ich erfinde keine Lüge, die es tarnt. Dass du sterben musstest, versetzte uns allen... deinem Vater, deiner Mutter, mir... uns allen... dem Land...

Das erinnerte Leid erstickte jetzt vollends die Rede des Menschen. Zwischen seinem Schluchzen erklangen nurmehr die Bruchstücke von Worten. Voller Verzweiflung hieb er auf den gleichgültigen Boden ein, rang die Hände einem düsteren Himmel zu, denn das qualvolle Gedächtnis hatte ihn geblendet.

Als er sich nach einer langen Weile beruhigt hatte, war der Knabe spurlos verschwunden. Das kleine Pferdchen lag unbeweglich auf dem Tuch. Zur Seite gestützt. Ein Stück lebloses Holz, mit starren Gliedern, unbeweglich. Die abgegriffenen Flanken schimmerten weißlich.

Der Greis faltete das Linnen sorgfältig zusammen und verbarg das Bündel wieder in seinem Mantel. Ächzend erhob er sich, sah sich lange in jede Richtung um, umrundete schließlich die Ruine. Nirgends ein Zeichen eines anderen Wesens. Er war alleine.

Er blieb einsam.

In seinen Träumen gefangen.

III

Es sprach zu ihm das Spiegelbild einer Erinnerung: Minos erstgezeugter Sohn ward Androgeos genannt. Mann von Lehm. Mensch. Mensch aller Menschen. Inbegriff der Sterblichen. Erde, den Göttern ähnlich. Ein herrlicher Jüngling. Kunstvoll in Fleisch gegossene Schönheit. Im rechten Maß eines großen Künstlers gestaltet. Mit edlen Zügen versehen. In aller Erscheinung wohl proportioniert. Ein wendiger Verstand und hoher Mut vollendete sein Bildnis.

Ach, und sein Lachen klang hell und tönend. Der König liebte ihn. Und tat dies umso mehr, als sein Weib, einige Jahre früher, dem Scheusal das Leben geschenkt. Dem Minotaurus.

Groteskes Gemenge von Mensch und Tier. Ein Irrtum, eine Unmöglichkeit. Der schrecklich Bewohner des dädalischen Labyrinths. Spiegel seines Halbbruders. Dessen verzerrtes Abbild. Zur Hässlichkeit entfremdete Form.

Eine dunkle Wolke hing seit der Geburt des Stierköpfigen über Minos. Verschattete seine Seele und lähmte alle Tatkraft. Hart traf ihn die Strafe der Götter in der Unzucht seines Weibes.

Eben jenes Weib aber, das ihm so viel Kummer bereitet, gebar dem Minos nun Androgeos. Und mit ihm kehrten Licht und Glück in sein wundes Herz zurück.

Die Nacht verblutete im Morgenrot.

Das Ungeheuer verbarg sich tief unter den Fliesen des Palastes, während man den Liebling mit aller Pracht umgab. Ach, wie liebte Minos ihn… Auf seinen Armen trug er den Säugling durch die tausend Zimmer. Stundenlang. Selig versunken ins schöne Antlitz des Kindes, das dem seinen ganz wunderbar glich.

Die besten Ammen stillten Androgeos. Die schönsten Sklavinnen warteten dem Erben Kretas auf. Sein Bett war von feinstem Linnen, das Kissen mit lichtestem Flaum befüllt – kein schlechter Traum sollte das Kind bedrücken. An seinem Lager wachten allezeit sieben Pflegerinnen. Wunderbare Spielzeuge aus Bernstein und Holz schenkte man ihm. Von der Meisterhand des Daidalos selbst gestaltet. Kleine Tiere. Jedes ein erstaunliches Zeugnis schier übermenschlicher Kunstfertigkeit. Wie lebendig, wie echt sie wirkten!

Alles Glück ballte sich über der Stirn dieses Kindes.

So wuchs Androgeos zu einem prächtigen Knaben heran. Und der Knabe reifte zum Mann. Und der Mann gierte danach seine Kräfte an der Welt zu erproben. Ein Held wollte er sein und Heldentaten vollbringen. Menschenruhm erwerben! Es verlangte Androgeos nach Wagnissen fern der Heimat. Und beginnen wollte er damit im attischen Land.

Doch Minos, ängstlich besorgt, verweigert dem Sohn die Reise. Dunkle Vorahnungen suchen ihn heim. Böse Träume plagen ihn. Das Schicksal seines Lieblings scheint von einem namenlosen Fluch bedroht, den nur er selbst kennt.

Ach, aber die Jugend lässt sich nicht bändigen. Sie verlacht Flüche und leugnet die unüberwindliche Macht des Schicksals. Der Sohn bestürmt also den Vater. Verlangt sein Recht. Droht mithin, auf eigene Faust zu unternehmen, was man ihm zu Unrecht verweigert. Was haben ihn die Unsterblichen schön und kräftig gebildet, wenn er das Werkzeug seines Leibes nicht nutzen darf? Warum hat man ihm Mut und Kühnheit ins Herz gegossen, wenn er nicht Mutiges und Kühnes wagen darf? Endlich gelingt es Androgeos den Vater zu überzeugen.

Der aber lässt keine Vorsichtsmaßnahme ungeschehen. Er rüstet ein starkes Schiff aus und stellt dem Abenteuerlustigen eine vortreffliche Begleitung zur Seite.

Auch ich war darunter.

Ich, sein Erzieher, sein Lehrer.

Ich teilte mit ihm Mühsal und Gefahr. Mein Auge war´s, das, ach, das verruchte Wild im Geäst jenes Haines, den schrecklichen Erinnyen geweiht, erspähte; das war in der Nähe des Dorfs Kolonos unweit von Athen. Es dämmerte bereits als wir unwissend den heiligen Hort betraten und den Zorn der Rachegöttinnen auf uns zogen. Wir schlugen unser Lager auf. Tranken Wein, aßen, verrichteten unsere Notdurft, lachten.

Plötzlich erblickte ich einen weißen Hirsch im Dickicht. Mir stockte der Atem. Nie zuvor, noch jemals danach sah ich ein Tier von vergleichbarer Schönheit. Er war in allem vollkommen und erinnerte mich auf eine sonderbare Art an unseren Herrn Androgeos. Stammelnd, um klare Worte verlegen, bedeutete ich ihm die Beute.

Sogleich erglüht sein Auge, die Muskeln zucken, der Atem bricht stoßweiße aus ihm hervor. Blitzschnell fasst er den Speer. Schon hat er sich auf sein Ross geschwungen, schon tanzt dessen Mähne im Wind, zerpflügt der Huf den weichen Waldboden. Durchs dichteste Unterholz prescht er voran, seinem Hengst die Flanken blutig schlagend, als wären ihm die Eigner jenes Hains, die grässlichen Töchter der Nacht, selbst auf den Fersen.

Das alles geschah innerhalb weniger Atemzüge. Als wir die Fassung wieder gewonnen, stürzten wir ihm nach. Doch zwecklos. Leicht hängte uns der Herrliche uns ab. Er flog durchs verzweigteste Dickicht, während unser Weg von Ast und Stamm verstellt zu werden schien, wohin wir uns auch wendeten. Bald verloren wir ihn in der einbrechenden Dämmerung aus den Augen, bald verstummte auch sein Jagdruf in ungewisser Ferne. Wir suchten seiner Spur zu folgen. Doch die Dunkelheit verbarg den Abdruck der jagenden Hufe. Schließlich verirrten wir uns selbst heillos in dem fremden Forst und gaben die Verfolgung auf...

Der Alte schloss die Augen, als forsche er in seinem Gedächtnis nach einem ganz bestimmten Bild, das seiner Seele tief eingeprägt. Als es ihn fand, stöhnte er kläglich auf. Dann setzte jene Stimme, die vielleicht seinen eigene war, die Erinnerung fort: Am nächsten Morgen gelang es uns ganz ohne Mühe den verfluchten Ort zu verlassen, der uns noch Tags zuvor mit aller Gewalt festgehalten hatte. Wir trafen ein paar Bauern und beschrieben ihnen unseren Herrn. Sie berichteten, Aigeos, der König dieses Landes, habe ihn gefangen genommen. Er sei mit seinen Männern in dieser Gegend gewesen, um einer Räuberbande das Handwerk zu legen, die seit Wochen das Land unsicher machte. Der bewaffnete Reiter, der wie aus dem Nichts vor ihnen aufgetaucht sei, habe sich geweigert, seinen Namen zu offenbaren. Da sei er umstellt und abgeführt worden. Er leistete keine Gegenwehr.

Sogleich wandten wir uns nach Athen, um unseren Herrn aus der schmählichen Gefangenschaft auszulösen. Sicher waren wir, man würde dem Prinzen Kretas kein Haar krümmen.

Indes hatte das Verhängnis bereits seinen Lauf genommen. Die aufgebrachte Bevölkerung hatte Androgeos, unwissend, wessen Spross er war, zu Tode gebracht. Aigeos zwar hatte die Menge um Zurückhaltung angesucht. Doch vermochte er nicht dem gerechten Zorn der Athener Einhalt zu gebieten, die nach dem Blut eines blutbesudelten Räubers schrien.

Hätten sie nur geahnt, ein Unschuldiger, ein Prinz, der herrliche Androgeos von Kreta selbst, war ihnen anstelle eines Mörders ins Netz gegangen, sie hätten ihn geehrt und gepriesen, anstatt ihn grausig abzuschlachten.

Nur ein Wort von ihm und der Ablauf des Schicksals wäre ein anderer geworden. Selbst wenn man ihm nicht geglaubt hätte, wäre doch ein Aufschub erwirkt worden, bis wir, seine Gefolgschaft in Athen eingetroffen wären.

Doch schwieg Androgeos. Kein Wort kam über seine Lippen. Keine Silbe.

Man band den Schöngebildeten zwischen zwei Ölbäume.

Einen Stier, gereizt durch Peitschenhieb und Geschrei, trieb man durch die lebens spendenden Pfähle. Arme und Beine brachen aus dem Leib des Androgeos, als das wutschnaubende Tier ihn mit tödlicher Wucht traf. Unter den Hufen zerbarst das Gewölbe der Rippen und die Höhlung des Schädels, das innere nach außen entlassend. Was an Resten übrig, das trat die johlenden Menge in den Kot oder warf es den Hunden zum Fraß vor. Als wir eintrafen, war nichts mehr da, das man hätte bestatten können.

Ja, unbestattet verendete er. Und muss nun ewig an den Gestaden des Styx umherwandern, ohne Hoffnung, das Totenreich je zu erreichen und vom schwarzen Wasser der Lethe, das vergessen lässt, kosten zu dürfen. Ewig muss er sein kurzes Leben und seinen furchtbaren Tod betrauern. Ewig und ewig. Dabei hätte nur ein einziges, kleines Wort genügt, ihm das Leben zu retten.

Doch er schwieg....

Dem einen, dem Geliebten, waren viele andere gefolgt. Der Vater hatte den Sohn gerächt. Die Griechenstämme mit Tod und Zerstörung heimgesucht. Ihre Städte verbrannt, ihre Schiffe versenkt. Endlos die Ströme der Seelen, die in jener Zeit an Androgeos vorüberzogen. Ihn stumm zu grüßen: Deinetwegen kommen wir. Du bist der Erste. Du wirst auch der Letzte sein, Unglücklicher.

Der alte Charon setzte sie alle über den Styx. So blieb der Erste alleine. Einsam an den Gestaden wandernd, verloren. Der letzte Mensch.

IV

Der Greis erwachte auch aus diesem Tagtraum. Noch Träume träumend. Noch umgeben von dem unwirklichen Ruch jener anderen Welt. (Die Schatten träumen nicht mehr, werden selbst zu Träumen, werden zu Alpträumen der Lebenden.) Ein duftendes Gedächtnis blieb. Nur langsam, ohne Eile trat er zurück von den Mosaiken seines Erinnerns, in die sein Geist so innig verwoben gewesen.

Er murmelte: Das alles hat mein Leben angehäuft. Steinchen um Steinchen. Und jeder Teil ist eingefügt in dieses Bild, hat darin Platz und Bestimmung.

Er war zufrieden. Das Bildnis schien schlüssig. Der Ablauf der Ereignisse sinnhaft. Es gab ein Davor und Danach. Pasiphaes Kinder zum Beispiel, dem Alter nach geordnet: Minotaurus, Androgeos, Akakallis, Ariadne, Pasiphae, Glaukos. Und wieder war die Scherben frau trächtig. Sie würde den vorangegangenen Namen noch einen weiteren hinzufügen. Da war eine Ordnung in diesem Gebären wie eine schwere Kette, die, unzerreißbar, sie alle miteinander verband. Perlen auf einen seidigen Faden gereiht.

An diesem könnte man in den Götterhimmel klettern, sann er. Immer eine Perle nach der anderen ersteigen. Eine Generation folgt auf die andere. Ein Leichenberg so hoch getürmt, dass seine Spitze den Olymp berührt.

Er lachte bei der Vorstellung auf.

Nicht nach oben, sondern nach unten steigen sie. Kein Entkommen für die Kinder der Pasiphae. Unglücklich, die ein Schicksals besitzen, unglücklich die, die keines haben.

Trotz aller Genugtuung, die ihm aus der offenbaren Ordnung der Vergangenheit entgegenschlug, blieb ein galliger Rest von Ungewissheit. Etwas Rätselhaftes, Unauflösbares. Wie der Gestank eines Kadavers, der, verborgen unter dem Fußboden, verwest. Denn so klar das Erinnerte auch in allen Feinheiten und Schattierungen vor ihm stand, so unbegreiflich schien ihm der Sinn des Ganzen.

Warum das alles?

Er bemühte sich zu verstehen. Fand, die einzelnen Geschehnisse hingen voneinander ab. Es gab Ursachen und Wirkungen. Eine Frau empfing und und gebar. Ein Mann erschlug einen anderen, der von nun an keine Rolle mehr in den Handlungsketten spielte. Das alles konnte benannt werden. Da war kein Geheimnis. Jeder Partikel des Gesamtbildes, jedes Steinchen seines Erinnerns besaß Form und Farbe. Doch das Gesamtbild blieb dennoch unverständlich. Es war, als blicke er von hoch oben auf die unendlich verworrenen Pfade eines Irrgartens, der weder Eingang noch Ausgang besaß. Nur ein Inneres, ein vermeintliches Zentrum, auf das alles hinlief oder von dem es ausging. Von dem ausging ein Geflecht von Schicksalen, die untrennbar ineinander verwoben. Die einander ergaben, einander bedingten, die Platz und Sinn im großen Weltgefüge besaßen, und die dennoch fast bedeutungslos in der Unermesslichkeit des Labyrinths verschwammen. Die nirgendwo ankamen. Die nirgendwo hinführten.

In diesem Gespinst sich zu verlieren, murmelte der Greis, kann kein gutes Schicksal sein. Die armen Kinder Pasiphaes! Was konnten sie dafür, geboren zu werden? Und warum mehren sie das Leid aneinander? Welcher Wahnsinn treibt sie an, sich gegenseitig zu zerfleischen? Wo bleibt der Held, die Kette zu zerhauen und die Gefangenen zu befreien? Vielleicht kommt er auf diesem Schiff...

Der Strom seines Denkens brach jäh ab. Ein dunkler Punkt amHorizont hatte seine Aufmerksamkeit gebannt. Er stand auf, trat an den Rand des Felsen, beschirmte die Augen vor der nachmittäglichen Sonne. Wartete, Wartete, bis aus dem Flimmern deutlich das quadratische Segel eines Schiffs sich herausschälte. Geblähtes Tuch von schwarzes Farbe.

Das ist es, rief er aus und klatschte in die Hände. Das Schiff, das den Tribut bringt. Die unberührten Opfertiere. Die lebendige Rachegabe. Ob sie Androgeos in der Unterwelt Gesellschaft leisten? Wer weiß es? Nicht ich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts.

Er raffte seinen Mantel und lief, so schnell es sein an Jahren träge und unwillig gewordener Leib es noch zuließ, zurück nach Knossos, um König Minos die Kunde zu bringen.

ariadne

I

Das Klirren der Scherben ließ die Nacht erzittern. Die schwarzen Gewebe, in die Ariadne das kindliche Nichts ihrer Träume gehüllt, zerrissen. Das Kind (sie war ja noch ein Kind, worauf sie hinzuweisen, man nicht müde wurde) stürzte in ein von Mondschein überspültes Zimmer. Fiel in einen Zustand schmerzlicher Wachheit. Tauchte das Haupt aus den Gewässern der Lethe, worin sie düster schlummernd gebadet.

(Skyllas Augen waren fest geschlossen, ihr Mund weit geöffnet - ein kreisrunder Schlund umgeben von fahlen, dünnen, ehemals roten, glühenden, feuchten Fleischwulsten. Als sie ihr Antlitz das letzte Mal der Sonne zeigte, sagte man, war's eine Maske ungestillter Leidenschaft und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ihre Nägel hatten unter der Haut gewühlt, das Geschöpf sich selbst zerfleischt.)

Irgendwo in ihr hallte noch ein Traum nach – jetzt ohne Gestalt, formlos, nur mehr ein Geschmack auf ihrer Zunge, die Ahnung einer fernen Harmonie im Ohrgewinde.

Eine wortlose Melodie auf gespitzten Lippen.

Sie richtete das kleine Körperlein auf, das sie war. Ihr Eigentum, ihr Besitz. Knochen, Haut, Fleisch, Muskeln. Eine Geste ihr so selbstverständlich wie der Puppe des Daidalos. Erinnerte sich, wie manchen Abend der Baumeister in der Festhalle des Vaters an silbrigen Schnüren gezupft, die an den starren Gliedern des Spielzeugs hingen. Handgelenk, Ellenbogen, Hinterkopf, Steiß, Kniegelenk, Fußgelenk. Machte sie tanzen. Bewegung. Immerhin. Ungelenk, abgehackt. Grotesk. (Ihr fiel ein: stotternd). Und doch ein Schauspiel, hinreichend, die Versammelten zu belustigen. Ihr aber graute es vor der hölzernen Kreatur, deren bizarres Herumgespringe so ganz im Gegensatz zur ausdruckslosen Miene stand, die sie immer trug. Man nötigte ihr - Ariadne spürte das ganz deutlich – etwas sehr Schlimmes ab. Man vollbrachte das Ungebührliche. Man stellte eine gewisse Ordnung auf den Kopf. Erzeugte eine Abnormität, die die Zuschauer sehr hätte beschämen müssen. Was sie allerdings nicht tat. (Die Versammelten lachten und klatschten.)

Eine Weile herrschte Stille. Dann setzte das Klirren erneut ein. Aufrecht sitzend lauschte die jetzt vollends Erwachte dem Klang des Glases. (Sie wusste: Glas und Scherben tönerner Krüge.) Vom Flur her, hinter der dicken, schön geschnitzten Türe ihres Zimmers, tönte es. Fern erst, dann, langsam, sich anpirschend, dringlicher werdend, nahend, bedrohlich.

Plötzlich wieder Stille.

Sie wartet vor meiner Türe, dachte Ariadne.

Das Mädchen schälte sich aus den schlafwarmen Decken. Stemmte die nackten Füßchen auf den kalten Boden. Stand steif. (Inwendig lachend). Die Schenkel berührten einander. Der Oberkörper war kerzengerade aufgerichtet. Die Arme mutwillig an die Flanken gelegt. Augen und Lippen verpresst. Stirn und Wange entspannt. Ein Holzmensch. Ein Menschenholz.

(Inwendig lachend).

Daidalos würde sie gescholten haben, hätte er sie so gesehen. Ihre Pose stellte etwas vor, das er zutiefst verachtete, das ihn beleidigte, ihn mit einer quälenden Unruhe erfüllte. Ein Versagen seinerseits bloßstellte. Ihr Finger würde in einer eitrigen Wunde zwischen seinen Rippen bohren. Sie, eine Lebende, miemte die Abnormität menschenähnlichen Holzes. Stellte der Unordnung des Puppentanzes den Widersinn der Fleischmarionette entgegen. Paradox gegen Paradox. Ein Fehler tilgte den anderen aus. Wäre sie sein Geschöpf gewesen, hätte er Macht über sie besessen, zweifellos wäre sie seinem Hass zum Opfer gefallen. Er hätte das aufmüpfige Spielzeug zerbrochen. Vielleicht gar ins Feuer geworfen.

Warum nur? fragte sie sich.

Einen Teil der Antwort kannte sie aus Daidalos eigenen Worten. Die Alten pflegten ihre Statuen so zu machen: Gliedmaße und Leib eins; das Gesicht ausdruckslos, die Augen geschlossen. Mumienhaft. Kokonartig. Karikatur des Belebten. Daidalos hasste die Werke der Alten nicht, weil sie ästhetisch unvollkommen. Er hatte andere Gründe dafür. Nein, er hatte einen einzigen Grund. Sein Unvermögen das Tote lebendig zu machen. Das Kalte zu erwärmen. Sie kannte die Hintergründe nicht. Ahnte aber. Sicherlich lagen sie irgendwo im Irrgarten seines Gedächtnisses verborgen. Man konnte sie dort aufstöbern. Die Leichen ausgraben. Die nicht vergessen waren. Sicherlich nicht. Die irgendwo an den Gliedern zusammengebunden und wohl konserviert hockten und darauf warteten, dass einer zu ihnen käme, ihnen die Riemen zu zerschneiden.

Sie zu zerbrechen!

Ins Feuer!

Da ist ein Schmerz in ihm. Und ich bohre meinen Finger tief hinein!

Sie würde ihn mit ihrer hölzernen Geste daran erinnert haben und das Erinnern wäre ihm qualvoll. (Sie empfand Freude bei dem Gedanken, Daidalos Leid zuzufügen).

Einmal hatte der Baumeister gemeint, man müsse die Gliedmaßen gewaltsam vom Rumpf trennen und die Augen öffnen. Das Sehen erzwingen; Wachheit erzwingen. Das Starre rühren. Der Grad der Beweglichkeit schied nämlich zwischen Leben und Tod. Leben sei Schönheit, Schönheit reines, potentes Leben. Leben sei Bewegung, Wandel. Der Grad der Beweglichkeit definierte die ästhetische Qualität. Ästhetik beruhe auf vollkommenen Harmonien und Formen. In jeder Gestalt klang eine Melodie. (Auf gespitzen Lippen.) Jede Melodie war in Bewegung zu übersetzen. Überhaupt war alles Stoffliche in Tönen auszudrücken und umgekehrt konnte jeder Klang in einer Bewegung manifestiert werden. (Tanz, Herumgespringe, an Fäden zuckende Glieder.) Das Hässliche sei graduell dissonant, hatte er gesagt und sie damit tödlich beleidigt. Das Tote (Vergottung aller Hässlichkeit) sei stumm, formlos, ohne Bewegung.

Das war, wie sie wusste, eine Lüge.

Sie bestrafte diese Lüge, indem sie zwischen seinen Rippen bohrte. Den Finger in die warme Masse seiner Eingeweide steckte. Dort Leichen aufzustöbern.

Sie zog an den Fäden, die seinen Geist erinnern machten. (Erinnere dich!)

Denn er wollte nicht erinnert werden. An die gebundenen Kadaver, an seine Unfähigkeit, dem hölzernen Wesen echte Lebendigkeit einzuhauchen. Seine Worte waren nur Täuschungsmanöver, ihre Zuhörer in die Irre zu führen. Einmal würde sie sein Geheimnis erkunden, seinen Schmerz bis ins Letzte ergründen. Und dann ihn tanzen machen.

Plötzlich zerfloss sie in Bewegung (lebte auf, lachte). Beschrieb eine Drehung. Sprang über den milchweißen Mondsee hinweg der Türe zu. Ließ die Hände eine anmutige Figur vor ihrer knospenden Brust beschreiben. Sie spürte Kühle an Wangen und Lippen.

Allumfließendes Licht. Lautloser Tanz. Nur die Nachtgöttin (Mutter der Erinnyen) sah zu.

Könnte nur der Bruder mich sehen, dachte sie. Der geliebte Bruder in seinem Haus aus Schweigen.

Gefangen zwischen feuchten Mauern.

Unbeweglich im toten Herz des Labyrinths.

Ihr Tanz erlahmte so abrupt, wie er begonnen. Nahm wieder den hölzernen Gestus an, ihr so selbstverständlich und unmittelbar wie der hölzernen Freundin das Daidalos. Deren Arme und Beine zwar vom Rumpf gelöst, deren Augen geöffnet, deren Lippen gekrümmt – doch fehlte der innere Antrieb, wie sie wusste. Die Eigenbewegung, das Merkmal echter Lebendigkeit. Sie war nur etwas zwischen tot und lebendig. Der Möglichkeit nach lebend, hätte Daidalos es genannt. Ariadne fand: kalte Leiche. Etwas dazwischen. Unvollendet, halbfertig.

Lachhaft.

Sie hob die im Ellbogen festgestellten Arme, setzte (sie dachte: stotternd) ein Füßchen vors andere, bog die Knie, achtsam nur die mit Fäden bestückten Gelenke in ihren Grenzen rührend.

Ihr Lächeln gefror.

Ihr Blick erstarrte.

Schlaff fielen die Gliedmaßen herab, der Kopf sank kraftlos in den Nacken, die Hüfte knickte etwas ein. Sie sank in die Knie.

Jetzt war das einzig Lebendige an ihr etwas dem Tod Gestohlenes: Ihr schimmerndes Kleidchen vielleicht. Gefertigt aus feinen Linnen, bauschte es sich in einer unspürbaren Brise auf.

Die Mutter hatte es aus Androgeos Bettzeug genäht.

Hineingewoben waren ihre stillen Tränen.

Androgeos ist zerrissen, zerstampft. Tot. Kein Faden hebt mehr seinen Arm empor, dachte sie trotzig, ohne den Grund für diese Aufwallung zu kennen.

Es ist dein Erbteil, Ariadne, dein Vermächtnis, hatte die Mutter gesagt. Und ihr das weiße Bündel in die Arme gelegt.

Dem Bruder zum Angedenken.

Aber der Bruder war tot! (Rührte sich nicht mehr. Zerstampft.) Ich will es nicht. Ich verdiene es nicht. Ich habe Androgeos nicht geliebt. Er stahl mir des Vaters Liebe und deine, Mutter, deine Liebe stahl er mir auch. Es geschah ohne Vorsatz. Es war ihm bestimmt, geliebt zu werden. Er war dazu verflucht. Darum verurteile ich ihn nicht. Man musste ihn lieben, Mutter! Er glänzte wie die Sonne! Man muss die Sonne lieben! In seinem Glanz musste ich zu Schatten werden. Verachteter Schatten. Es war mir bestimmt, verachtet zu werden, solange sein Licht loderte. Verbannt in die Finsternis wie… Ich habe ihn gehasst. Ich verdiene nicht seine Erbin zu sein.

Die Mutter hatte ihr sinnlos lächelnd den Finger auf die Lippen gelegt. Ganz selbstverständlich und unmittelbar waren Ariadnes Worte versiegt. Und mit ihnen die aufrührerischen Gedanken. Staunend beobachtete sie sich in jenem Moment. Wie puppenhaft sie sich gebärdete und wie natürlich ihr das Zuwiderhandeln gegen die eigene Empfindung (Hass, Ekel) fiel. Auch sie war etwas zwischen tot und lebendig.

Dein Erbteil, Kind, nimm es.

Sie nahm.

Sie nahm ein Kissen, ein Nachtkleid, einen Schal, einen Schleier, eine Decke. Der tote Bruder haftete von nun an an ihr. Bedeckte ihren Schlaf. Barg ihr Köpfchen. Schmeichelte ihre Wangen, liebkoste ihre zarte Haut. Er würde haften bleiben, bis ein Mann ihr den Schleier lüftete, die Decke von der Brust zog, das Kleidchen über die Hüfte schob und ihr Haupt in die Hände nahm.

Das war ihre Bestimmung, ihre Zukunft.

Sie war fünfzehn und verstand an ihrer Mutter Schicksal, das eigene abzulesen.

Ein Mann wird kommen und an meinen Fäden ziehen. Mich tanzen lassen. Die Männer lassen die Frauen tanzen. Sie töten und machen lebendig. Sie sperren uns im Dazwischen ein. Meiner Mutter Gebärde (Augen und Mund verpresst, Wangen und Stirn erschlafft – tot) steht im Gegensatz zu ihrer Bewegung (Arme und Beine schaukeln auf und nieder – lebend). Meine Gebärde wird im Gegensatz zu meiner Bewegung stehen. Die Mutter lächelt, weil ihr der Sohn geschlachtet wurde; als sie vor meinem Vater tanzte, standen ihr die Tränen in den Augen, weil sie schwanger war. Mir werden die Tränen in den Augen stehen, wenn ein Mann kommt, an meinen Fäden zu zupfen.

Ariadne entschloss sich, die Türe zu öffnen. Das Licht strömte, ihrem stummen Befehl gehorchend, in den schmalen Flur hinaus. Kroch an einer geisterhaften Gestalt empor, die dort auf sie wartete. Deren Gestalt im Zwielicht unvollendet schien, konturlos. Das war die Mutter. Das Gestaltlose war ihre Mutter. Ihre Mutter besaß keine Gestalt. Ihre Mutter hatte kein Schicksal mehr. Minos hatte sie gezwungen vor ihr zu tanzen. Ihr standen die Tränen in den Augen, weil sie schwanger war, weil ihr Bauch sich bereits stark vorwölbte.

Auch ich werde tanzen. Mein Tanz wird anmutig und erregend sein. Mit Tränen in den Augen werde ich die Füßchen und Ärmchen rühren. Ich werde ein gestaltloses Wesen ohne Schicksal sein.

Pasiphae trug ein rotes Kleid mit einem breiten Gürtel, dessen Schallen eine sich selbst verzehrende Schlange darstellte. Typhon angeblich. Aber es hätte auch Kadmos Drache sein können. Oder Heras Nattern. Wer weiß. An den Säumen des Gewands baumelten jene kleinen, bunten Scherben, die jeden ihrer Schritte wie ein vielstimmiger Chor begleiteten und… sie verrieten.

Nämlich den Wachen und dem Gesinde im Palast, wenn sich die Königin auf ihren nächtlichen Streifzügen ihnen näherte. Zur Warnung. Dass sie nicht etwa, vom starren Blick und dem gefrorenen Lächeln geschreckt, etwas Unüberlegtes, Voreiliges täten. (Sie dachte: Zerbrechen. Ins Feuer werfen!). Dass nicht die Totenstille des schlafenden Palastes durch Schrei und Wehklagen, durch Hohn und Gelächter gestört würde. Man hatte vor ihr die Türen zu verschließen, ihr aus dem Weg zu gehen. Ihr Gang sollte ungestört geschehen.

Ariadne als einzige brach das Gebot.

Die Mutter wandte sich dem Kinde zu. Streckte ihre Hand entgegen. Hölzerne Gebärde. Faden im Gelenk. Etwas zwischen tot und lebendig. Die Tochter stellte sich einen Moment vor, dass die Frau sie wirklich ansähe, und dass sie selbst die Ursache ihres Lächelns sei. Aber sie wusste, Pasiphae starrte durch sie hindurch und ihr Lächeln war nichts als die Maske, hinter der sich ein reißender Schmerz verbarg. Die Liebe ihrer Mutter würde immer nur eine honigsüße Lüge bleiben.

Stumm ergriff sie die Hand der Scherbenbekleideten und folgte ihr auf ziellosen Pfaden durch den nächtlichen Palast.

II

Nur zwei Menschen kannten den Weg hinab: Daidalos und sie selbst.

Damals, als der Architekt des Labyrinths den Bruder an seinen traurigen Wohnsitz führte, war sie ihnen heimlich gefolgt.

Dem Mann und dem Tier.

Der Mann hatte eine Fackel getragen.

Dem Tier waren die Augen verbunden.

Ein einziger Gang hatte ihr genügt, um sich jede Abzweigung, jede Kurve genau einzuprägen. Instinktiv gewahrte sie eine Ordnung im Gewirr. Eine Notwendigkeit im Chaos. Eine sonderbare, unaussprechliche Logik. Danach fand sie den Weg ganz alleine. Oder der Weg fand sie. Das Innere zog sie an. Wie eine Blatt folgte sie dem Willen des Windes. Man fiel. Ließ sich fallen. Treiben. Die Kunst war, die Augen geschlossen zu halten. Obwohl in den meisten Abschnitten des Labyrinths ohnehin Finsternis herrschte, mussten die Lider dennoch versiegelt bleiben. Dies zu tun, war erforderlich, um nicht vom schwächsten aller Sinne betrogen zu werden. Allein die Augen nämlich erzeugten die Irre. Nicht das Ohr, nicht die Nase, nicht das Kitzeln an den Fingerspritzen. Auch nicht die Angst am Grund der Seele. Auch nicht die scheinbar willkürliche Anordnung der Mauern, Gänge, Flure, Treppen, Fluchten. Nur die eigenen Augen hatte der Wanderer zu fürchten. Nicht die Nacht, nicht das Rascheln im Unterholz, nicht den Schrei der Eule, das Heulen des Wolfs, die Ungewissheit des Herzens. Nur die Augen. Ihnen misstrauen, sie verleugnen – das war die Lösung des Rätsels, der Weg hinab. Man musste sich auf einen urtümlichen Instinkt verlassen. Sich dem zunächst kaum spürbaren, doch mit der Zeit an Stärke und Intensität zunehmenden Sog hingeben, der vom Innersten der Anlage aus auf ihre äußeren Gliedmaßen wirkte. (Ariadne begriff: Das Labyrinth besaß ein Eigenleben; Seele, Leib; es bewegte sich; es flüsterte; es sang; oh, wie es sang; der stille Malstrom war Beweis für einen inwendigen Antrieb; einen Atem; einen nicht unverständigen Willen; Logik im Chaos – Daidalos hatte unwissend sein Meisterwerk erschaffen. Nein. Es war durch ihn geschaffen worden. Ein sich selbst bewegendes Geschöpf mit abgespreizten Gliedern und einem Willen. Fleisch aus Felsgestein. Seele aus dumpfer Schwärze. Begehrlichkeit. Ariadne war Gegenstand einer Leidenschaft.) Man schritt nicht durch das Geflecht aus Irrwegen und Sackgassen, planvoll einen Weg suchend, sondern wirbelte dem Zentrum zu. Man ertrank in ihm. Man ersoff in einem lautlosen Rhythmus, der alles durchdrang.

Versiegelte Augen.

Ich sehe nicht, doch bin ich erkannt.

Man musste bereit sein zu geben, um ins Unten vorgelassen zu werden. Etwas von sich geben. Alles geben. Sich selbst in seiner Gänze darbietend. Nimm. Sich opfern. Sich verleugnen. Nimm. (Ariadne ahnte: Das Labyrinth fraß alles und verdaute nichts.)

Nimm, ich biete mich dir dar.

Man musste sich dem widerwärtigen Vieh preisgeben, um ins Unten vorgelassen zu werden.

In die kleine Herzkammer, wo ihr Bruder im blakenden Licht einer Kerze wartete.

Minotaurus. Bestie. Scheusal. Wille und Verstand und Leidenschaft des Irrgartens.

Ariadnes Freund und Vertrauter. Ihr Bruder. Ihr Geliebter.

Jede Faser des Körpers musste von der ungeheuerlichen Architektur durchdrungen sein. Die Sinne hatten sich zu entäußern. Nimm. (Das Unten brach höhnend das Diktat des Wahrnehmens, wie der Traum die Regeln der Vernunft auf den Kopf stellt.). Selbst der Atem musste sich der fremden Ordnung ergeben. Ja, man musste in einer sehr bestimmten Weise Luft holen.

(Sie dachte: Seine Hände um meinen Hals.)

Der Weg nach Unten. Ariadne siegelte die Lider. Ihre Brust hob und senkte sich siebentausendmal. Dann öffnete sie die Augen wieder.

Am Ende des Flurs der Schimmer einer schwachen Kerze. (Herzensbruder, dachte sie.).

Der Bewohner der Tiefe blickte nicht auf, als sie seine Wohnung betrat. Sie war die einzige, die ihn je besuchte, die ihn je hätte besuchen können. (Der Weg kannte sie.) Sie war ihm keine Überraschung. Ihr Kommen war eine Notwendigkeit, ein Teil in der Ordnung der Dinge, wie man sagte.

Das erste Mal, als sie ihn besuchte, hatte sie sehr unbedacht verlauten lassen: Ich bin deine letzte Verbindung nach oben. Ich trage die Erinnerung an das Frühere zu dir.

Da war er zornig geworden. (Hände um ihren Hals.) Nie zuvor hatte sie ihn so erlebt: Rasend. Schnaubend. Er schrie: Nicht du trägst zu mir, sondern ich sende durch dich die Dunkelheit hinauf. Du bist kein Teil des Oben, der sich nach Unten vor wagt, sondern ein Teil des Unten, der nach Oben greift.

(Sie begriff: sie war Gegenstand einer Begehrlichkeit geworden.)

Sie hatte ihn maßlos erbittert. Unwissend. Er strafte sie. Es war gerecht. Das Geschehen fand ihren Beifall. Sie bedauerte seine Wut nicht. Sie fand das Feuer in ihm passend. Angemessen. Lodernd. Brennend. Wunderschön. Sie warf das eigene Fleisch in die Flammen. Die Bestie akzeptierte ihr Opfer.

Es war ein Anfang, ein Schritt, der zu weiteren Schritte führen musste. Es war ein Weg. Ein Weg hinab, ein Weg hinauf.

Siebentausend Atemzüge.

Ariadne nahm auf seinem Lager Platz. Zwischen modernden Kissen und stinkenden Decken. Die mit kunstvollen Reliefs versehenen Wände starrten sie an. Das flirrende Zwielicht belebte Szenen aus dem Alltag einfacher Menschen. Bauern, Handwerker, Händler, Seeleute. Die banale Welt der Sterblichen dem Bewohner des Labyrinths als Linderung oder Folter zugedacht – das Erinnern vermochte beides. Er war dieser Welt entfremdet worden. Weil er kein Mensch, sondern Tier. Eine Monstrosität. Man hatte ihn entfernt, weil sein Dasein das Leben der Anderen (sie dachte: das andere Leben) widerlegte. Weil es an gewissen stillschweigend getroffenen Übereinkünften rührte, wenn ein Weib (Königin) ein Tier (ihn) gebar. Ein Tier, das zu sprechen vermochte. Empfindungen besaß. Das sich einer sehr klaren Vernunft zu bedienen verstand. Ariadne trieb die Blasphemie noch weiter: Unterstellte dem Bruder Seele und Willen. Inkarnierte ihn in das Labyrinth, vergottete ihn dadurch.

(Du, mein Herr. Nimm mich.)

Was liest du? fragte sie.

Er antwortete nicht. Rollte aber die Schriftrolle, die seine Aufmerksamkeit seit ihrem Eintreffen gebannt hielt, sorgfältig zusammen.

Eine Geschichte von den Göttern? hackte sie nach.

Von Menschen, antwortete er, die Worte mühsam und undeutlich aus dem lippenlosen Schlund hervorstoßend, der die Stelle eines Menschenmunds einnahm. Jede Silbe glitt glucksend an einem der vielen Speichelfäden herunter, die sich an der Spitze seines Kinns zu einem silbrig schimmernden Bart versammelten, dem taubenetzten Spinnweb im Morgengrauen ähnlich.

Ariadne starrte ins zersetzte Antlitz des Tiers. (Gott.) Brandnarben, rot und eiternd, mäanderten um den entgrenzten Nasenkrater. Wülste von wucherndem, schwärzlichem Fleisch bedeckten Wangen und Stirn. Das linke Auge war bis auf einen dünnen, leuchtend roten Faden zugewachsen.

Ich las von den Tantaliden. Dem verfluchten Geschlecht, meinte der Bruder.

Ariadne fiel ihm ins Wort: Von denen stammen wir nicht ab. Du suchst Ähnlichkeiten, wo keine bestehen. Kein Fluch liegt auf unserem Haus.

Gelächter des Bruders. Wie wässriger Husten.

Ariadne listig: Meinst du etwa, du seist verflucht, weil du der schönste aller Männer bist? So schön, dass, um den Neid der Götter zu entgehen, unser Vater dich wie einen Schatz in diesem tiefen Gewölbe verbirgt? Verflucht nicht, sondern gesegnt, ja maßlos begünstigt sind wir. Ich nenne dir Beispiele: Denk nur an unseren Bruder, Androgeos. Der starb den Heldentod in Attika, um, dessen bin ich gewiss, nun einen Ehrenplatz an der Tafel der Unsterblichen einzunehmen. Ja, vielleicht starb er gar nicht, sondern wurde sogleich in die himmlischen Gefilde des Olymps entrückt, weswegen man auch keinen Leichnam fand, an dem man die Bestattungsriten hätte vollziehen können! Oder die gute Pasiphae! Wie könntest du behaupten, unsere liebe Mutter sei verflucht? Nichts könnte unrichtiger sein. Ein unbedarftes Mädchen, das die Liebe eines Prinzen entzündet, der sie zu seiner Königin macht. Die herrliche Söhne und Töchter ihm gebiert. Und die endlich mit elysischem Gleichmut gesegnet wird, schon zu Lebzeiten sich aller Sorge entledigend, ein göttliches Lächeln auf den roten Lippen tragend zum Beweis ihrer Glückseligkeit. Oder unser Vater, denk´ nur! Als Schiffbrüchiger kam er in dieses Land. Ihn treibt Poseidons liebende Fürsorge an Kretas Küste. Ihn und seine Brüder und seine Mutter. Asterios, in jenen Tagen Herrscher dieses Landes, nimmt die Fremden freundlich auf, ehelicht das Weib, adoptiert, da er selbst kinderlos, unseren Vater und dessen Brüder Rhadamanthys und Sarpedon, ernennt sie zu seinen Erben. So wurde aus einem heimatlosen Jüngling ein König. Und aus seinem Königreich nach langem harten Krieg gegen die Griechen eine Großmacht. Kreta beherrscht das Meer und Minos beherrscht Kreta. Du siehst also, Bruder, unser Stamm ist nicht verflucht, sondern in besonderer Weise von den Göttern bevorzugt. Ja, Auserwählte sind wir, Sonnenkinder!

Die beiden lachten. Gehässig. Übermütig. In der Finsternis. Im lichtleeren Unten. Wo es kalt und feucht. (Glut in unseren Herzen, denkt Ariadne, Kinder sind wir.) Wo einem die Kleider auf der Haut moderten.

Oben, jauchzte die Schwester, in den herrlich gezierten Zimmern des Palastes, da verzweifeln sie an sich selbst. Und wir hier unten feixen und dürfen fröhlich sein.

Der Bruder fasste sich. Weil das Gelächter schmerzte. Zwang sich Fassung ab. Fass dich. Wegen dem Schmerz, der von der Wunde ausging, die sein Gesicht war. Fass dich. Ruhig. Atme. Er litt nicht gerne Schmerzen. Er war ein Tier. Er musste ein Tier sein, denn einen Menschen hätte man nicht im Labyrinth eingeschlossen. Das wäre unmenschlich gewesen. Also ein Tier. Und Tiere fliehen dem Schmerz. Es ist ihr Schicksal, Flüchtlinge zu sein. Sie fliehen. Doch sind sie gefasst. Immer gefasst. Die Fassung negiert den Schmerz. Man kann sie bedrohen und misshandeln, ja, sogar töten, ohne dass sie klagen. Sie behalten die Fassung, verleugnen ihr Tiersein nicht. Viele bleiben selbst in äußerster Verzweiflung stumm. Sie sehen wie ihre Jungen verderben und schweigen dazu. Ihr Schweigen beweist die Fassung, die Schmerzlosigkeit.

Oben sind sie fassungslos, meinte der Bruder. In Anbetracht von Glück und Unglück fassungslos. Schmerz und Freude treffen auf blank liegende Nerven.

Die Schwester ergänzte: Ihr Lachen ist nicht rein. Es ist fassungsloses, schmerzhaftes Lachen, das ihre Gesichter zu Grimassen verzerrt.

Der Bewohner des Unten kehrte es um: Ihr Schmerz ist nicht rein. Es ist ein fassungsloses, lächerliches Leiden, das ihre Gesichter ins Maskenhafte entgleiten lässt.