Eine Geschichte aus dem Harzgau
Auf einem Felsen hoch über der Stadt Quedlinburg im alten Harzgau steht eine Kaiserpfalz, die schaut rundum in das blühende, fruchtbare Land vom fernblauenden Hackelforst und vom Huywald im Norden bis zu dem langhingestreckten Kamme des Gebirges, der den Blick im Süden begrenzt.
Die ragende Burg ist die Schöpfung und zugleich das erinnerungsreiche Grabmal König Heinrichs des Städtegründers, des Vogelstellers und seiner Gemahlin Mathilde aus des alten Sachsenhäuptlings Wittekind Geschlecht. Wie sie beide dort oben gehaust, so ruhen sie auch beide dort in der schönen Krypta der Schlosskirche und mit ihnen ihre Enkelin Mathilde, des großen Ottos rühmliche Tochter.
Bedeutende Menschen und denkwürdige Tage hat dieses Schloss gesehen. Die Kaiser sächsischen und fränkischen Stammes und auch die Hohenstaufen nahmen hier oft langen Aufenthalt und hielten Reichstage und glänzende Hoftage. Mehr als einmal haben auch königliche Frauen von hier aus das Deutsche Reich regiert, so die Kaiserin Adelheid, ferner die geistvolle Theophano und endlich Mathilde, die als Reichsverweserin für ihren nach Italien gezogenen Neffen Otto III. im nahen Derenburg sogar einmal einen Reichstag hielt.
Die jüngere Mathilde, die dort oben in der Krypta schlummernde Tochter Kaiser Ottos I., war die erste Äbtissin des freiweltlichen Frauenstiftes, das König Heinrich hier errichtete und das er und seine Nachfolger mit einer Fülle von hoheitlichen Rechten ausstatteten, wie sie kein zweites geistliches oder weltliches Stift im Heiligen Römischen Reiche besessen hat. Für Töchter aus Herrscher- und vornehmen Adelsfamilien bestimmt und an keine Ordensregel gebunden, stand es unmittelbar unter dem Kaiser. Die aus der freien Wahl der Konventualinnen hervorgehende Äbtissin hatte den Rang eines Reichsfürsten, hatte Sitz und Stimme auf der rheinischen Prälatenbank des Reichstages zu Regensburg, und kein Herzog oder Graf hatte irgendwelche Gewalt in ihrem Gebiet, als einzig der von ihr eingesetzte Schirmvogt.
In dem Zeitraume von vier Jahrhunderten, die seit seiner Gründung vergangen waren, hatte das Stift an Land und Leuten stetig zugenommen, und als unter Kaiser Ludwig dem Bayer die fünfzehnte Äbtissin, Jutta von Kranichfeld aus Thüringischem Grafenhause, im Schlosse zu Quedlinburg den goldgefassten Krummstab führte, gebot sie über einen sehr ansehnlichen Besitz, zu dessen Schutz und Schirm sie eines starken männlichen Armes bedurfte.
Ein solcher fehlte ihr auch keineswegs. Seit zwei Menschenaltern waren Schutzvögte des Stiftes die Grafen von Regenstein, die schon eine fürstliche, auf eigenem Erbgut und beträchtlichen Lehen ruhende Macht besaßen und deren Stammsitz, eine gewaltige Bergfeste, sich fast im Mittelpunkte des großen Harzgaues erhob.
Innerhalb der Grenzen dieses Gaues, d. h. zwischen Oker und Bode im Westen und Osten und zwischen dem Kamme des Gebirges im Süden und der großen Niederung, die sich von Aschersleben bis Börßum zieht, im Norden, lag außer der Grafschaft Regenstein und dem Stifte Quedlinburg auch das von Karl dem Großen gegründete Bistum Halberstadt mit den ihm untergebenen Bezirken, ferner die Herrschaft der Grafen von Blankenburg, einer losgelösten Seitenlinie des Regenstein'schen Gesamthauses, das kleine Gebiet der Grafen von Wernigerode und endlich ein schmaler Streifen des Fürstentums Anhalt in der Gegend von Wegeleben.
Die Hauptmachthaber im Gau, der regierende Graf von Regenstein, die Äbtissin von Quedlinburg und der Bischof von Halberstadt, waren alle drei in ihren Ämtern und Würden noch ziemlich neu.
Graf Albrecht II. von Regenstein war als ein Mann Anfang der Dreißiger und als der älteste sechs noch lebender Brüder seinem Vater Ullrich erst vor ein paar Jahren in der Regierung gefolgt.
Nicht lange danach hatte die Gräfin Jutta von Kranichfeld den erledigten Stuhl der Äbtissin bestiegen, jedoch ohne den Wunsch, zeitlebens darauf sitzen zu bleiben.
Und um dieselbe Zeit war auch der Bischof gleichen Namens wie der Graf, Albrecht II., Bruder des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel, nach langen Streitigkeiten im Domkapitel gewählt, hatte auch das bischöfliche Regiment in seiner Diözese sofort übernommen, war aber von dem in Avignon residierenden Papst Johann XXII. nicht bestätigt, weil man sich dort nur einer geringen Fügsamkeit zu ihm versah.
Der herrschsüchtige Prälat wusste jedoch die Bischofsweihe auch ohne den päpstlichen Segen zu erlangen. Der Erzbischof Matthias von Mainz hatte sich endlich bereit erklärt, ihm dieselbe im Dome zu Halberstadt zu erteilen, und auf dem Schlosse Heinrichs des Voglers war ein Schreiben eingetroffen, welches die Äbtissin und das ganze Kapitel des weltlichen Gotteshauses zu Quedlinburg zur Inthronisation des Bischofs feierlich einlud.
Die Fürstin schwankte, ob sie die Einladung annehmen sollte oder nicht, denn manches sprach dafür und manches dagegen. Nicht allein die Pflicht der Höflichkeit, sondern auch Rücksichten der Staatskunst geboten der Äbtissin, der Konsekration mit ihren Dignitarien beizuwohnen, allein sie fürchtete ihrer reichsunmittelbaren Hoheit etwas zu vergeben, wenn sie zur Verherrlichung, gleichsam im Gefolge des trutzigen Nachbars erschien, der ohnehin schon nach einem ihm nicht zukommenden Übergewicht strebte. Schon aus früherer Zeit, wo sie beide Jahre lang an demselben Fürstenhofe gelebt hatten, kannte sie seinen hochfahrenden und begehrlichen Sinn, und diese Erinnerungen trugen sehr dazu bei, der Äbtissin die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung der Einladung zu erschweren. Die zwei, mit denen sie in ihrem Wohngemach darüber zu Rate saß, die Pröpstin Kunigunde von Woldenberg und der Stiftshauptmann Willekin von Herrkestorf, der als Kanzler ihren weltlichen Geschäften und Rechtssachen vorstand, waren beide für die Annahme.
»Bedenket wohl, gnädigste Frau,« sprach der Stiftshauptmann, ein untersetzter Herr mit ausdrucksvollem Gesicht und schon stark ergrautem Haar, »bedenket wohl, dass der hochwürdigste Bischof es übel vermerken würde, wenn Ihr nicht kämet! Ist er doch vor Jahr und Tag zu Euch gekommen, als Ihr das Kreuz mit der Reliquie des heiligen Servatius zum ersten Male vor versammeltem Volk auf öffentlichem Markte truget.«
Die Äbtissin sah den Stiftshauptmann mit großen Augen an und sagte: »Glaubt Ihr wirklich, der Bischof hätte uns nur geladen, um uns seine Lieb' und Freundschaft zu beweisen?«
»Welchen anderen Grund könnte er haben, Fürstin?«
»Denselben, Herr Stiftshauptmann, aus welchem er sich im vergangenen Jahre anmaßte, in unserem Stift eine oberhirtliche Visitation vornehmen zu wollen. Ihr erinnert Euch wohl, wie ich dieses hochmütige Ansinnen zurückwies. Und damit fing die Freundschaft an.«
»Nun, mit der Visitation war es wohl nicht so ernst gemeint,« erwiderte Herr Willekin. »Der ritterliche Bischof suchte wohl nur nach einer schicklichen Gelegenheit, Euch wiederzusehen und Euch seine große Verehrung zu bezeugen.«
Die Äbtissin schüttelte das Haupt; die Pröpstin aber nickte dem Stiftshauptmann verständnisvoll lächelnd zu und sagte: »So mein' ich auch, und jedenfalls haben wir alle Ursache, die Hand, die er uns aus eigener Bewegnis zur Versöhnung bietet, anzunehmen.«
»Versöhnung, Gräfin Kunigunde? Nein, nein! ich kenne ihn besser,« sprach die Äbtissin. »Sein Gemüt und Fürnehmen steht ganz wo anders hin. Unter der langen Regierung unserer in Gott ruhenden Vorgängerin Bertradis hat kein Bischof von Halberstadt versucht, sich in die Angelegenheiten unseres Kapitels zu mischen.«
»Lasst das vergessen sein, gnädige Frau!« begütigte der Stiftshauptmann. »Er wird den Versuch nicht wiederholen, und am Ende gebietet es die Klugheit, den geistlichen Nachbar bei gutem Frieden und Wohlmeinung zu erhalten. Dann könnten wir in schwierigen Fällen leicht Freundschaft, Hilf und Trost von ihm haben.«
»Was meint Ihr für schwierige Fälle?« frug die Äbtissin. »Ist in dem eisernen Kasten unserer Schwester Thesauraria wieder einmal Ebbe?«
Der Stiftshauptmann nickte nur.
»Freilich!« sagte die Pröpstin spitz, »wie soll der Schatz sich füllen, wenn man ans Sparen niemals denkt!«
Jutta warf ihr einen finsteren Blick zu, schwieg aber still.
»Das ist's auch nicht allein,« sprach der Kanzler, »und für unseren Stiftsschatz wüsste ich schon noch eine andre Quelle.«
Die Äbtissin sah ihn fragend an.
»Dort unten unsere gute Stadt,« fuhr er fort.
»Die Stadt?«
»Nun ja. Ihr wisst wohl, erlauchte Herrin, wohin des Rates Wünsche zielen.«
»Ihr meint die Lauenburg,« sprach die Äbtissin und zog die Brauen zusammen.
»Die Stadt würde Euch für die Belehnung damit einen guten Pfandschilling zahlen, einen besseren, als Euch die Grafen von Blankenburg dafür geboten haben.«
»Soll ich die Burg Heinrichs des Löwen dem Meistbietenden im Aufstrich geben?« erwiderte die Äbtissin unwillig. »Wahr ist's, die Blankenburger machen sich starke Hoffnung auf die Burg, aber so lange Leutfried lebt, der seligen Bertradis alter Getreuer, soll dort kein anderer hausen. Sagt das Euren wohlweisen Freunden im Rat!«
»Der Burgvogt ist mit vielen Jahren beladen, also dass er langen Lebens keine Hoffnung mehr hat; er liegt krank danieder und wird sich vom Siechbett schwerlich wieder erheben,« bemerkte Herr Willekin. »Die Burg ist fast schutzlos, gnädige Frau!«
»Schutzlos! Wenn Euch Graf Albrecht von Regenstein so reden hörte, Herr Willekin!« Die Äbtissin sprach das mit ihrer tiefen, klangvollen Stimme und im Tone eines ernsten Vorwurfs.
Aber der Stiftshauptmann erwiderte schnell: »Graf Albrecht von Regenstein! Das war es, was ich meinte, wenn ich von schwierigen Fällen sprach, derowegen wir uns zum hochwürdigsten Bischof von Halberstadt gut zu stellen hätten. Es könnte sein, dass wir einmal seines Schutzes auch gegen unseren edlen Schutzvogt bedürften.«
»Herr von Herrkestorf,« fuhr die Äbtissin auf, »da sprecht Ihr wieder einmal als Quedlinburger! Ich weiß, in der Stadt grollen sie dem Grafen, weil seine Knechte ihnen eine Schafherde oder ein paar Kühe oder dann und wann eine Wagenladung Frachtgut weggenommen haben.«
»Auch Bürger der Stadt, die er auf der Landstraße niedergeworfen, hat er eingelegt und will sie nicht freilassen,« eiferte der Stiftshauptmann.
»Dann wird er auch wissen warum, und solltet Ihr es nicht wissen?«
»Er raubt, wo er kann; darum heißt er der Raubgraf.«
»Wer nennt ihn so? Ihr Städter, sonst niemand. Und ich will das Wort nie wieder hören, Herr von Herrkestorf!« sprach Jutta sehr erregt und fasste mit rascher Bewegung nach dem großen silbernen Kreuz mit einem goldenen Kruzifixus darauf, das sie an einer Goldschnur um den bloßen Hals trug.
»Burgen und feste Häuser hat er ringsum zwischen Oker und Bode, als wäre ihm schon der ganze Harzgau Untertan, wonach er ja mit aller Gewalt strebt,« fuhr der Stiftshauptmann im Zorne fort. »Wir haben sichere Kunde, dass er mit dem Fürsten Bernhard von Ballenstedt auch um die Belehnung mit Burg und Gericht Gersdorf verhandelt.«
»Das ist mir lieb zu hören,« erwiderte die Äbtissin kurz.
»Höret mich nur weiter an, achtbare Fürstin!« sprach Herr Willekin. »Im ganzen Reiche treten die großen Herren heimlich oder offen zur Unterdrückung der Städte zusammen, die in hohem Ton und Aufgang begriffen sind und dem Adel Abbruch tun, wie die Herren meinen. Wenn sie aber erst die Städte bezwungen haben, dann kommt die Reihe an Euch, an die großen Stifter und die geistlichen Fürsten, nach deren Lehen sie trachten und denen sei ein Recht nach dem anderen nehmen werden.«
»Unnötige Sorge!« sprach die Äbtissin mit geringschätzigem Tone. »Das wird der Kaiser nicht dulden.«
»Der Kaiser! du lieber Himmel! als wenn der nicht schon genug mit sich selber zu schaffen hätte!« versetzte der Stiftshauptmann. »Ich beschwöre Euch, gnädige Frau, beleidigt den Bischof nicht mit einer Ablehnung! Er ist Euer nächster und natürlichster Bundesgenosse, der einzige, der Euch Farbe hält. Versaget ihm nicht die kleine Höflichkeit, die Euch doch so wenig kostet!«
»Domina!« mahnte auch die Pröpstin noch einmal, »Herr Willekin hat recht; lasst uns hinüber nach Halberstadt! das ist auch mein Rat. Ihr vergebt Euch ja nichts damit, könnt ja dem Bischof zeigen, dass Ihr hier im Stifte die Herrin seid, so gut wie er in seinem Bistum der Herr ist!«
Jutta erhob sich, trat an ein Fenster und blickte in die Landschaft hinaus nach dem westlichen Harze.
»Wann kommt der Erzbischof nach Halberstadt?« frug sie endlich, ohne sich umzuwenden.
»In zehn Tagen,« antwortete der Stiftshauptmann.
»Also haben wir noch Zeit zur Entscheidung.«
»Nicht lange, gnädige Frau! und nicht wahr? ich darf mit Eurer Erlaubnis das Domkapitel unter der Hand schon wissen lassen, dass Ihr kommen wollt.«
»In Gottes Namen, ja! wenn es denn sein muss,« erwiderte die Äbtissin.
»Schreibt nur, Herr Willekin!« sagte die Pröpstin. »Unsere schöne Domina wird sich in Halberstadt recht gern einmal im vollen Glanz und Schmuck ihrer fürstlichen Würde zeigen.«
»Herzog Albrecht sieht schöne Frauen gern,« bemerkte der Kanzler halblaut und mit einem bewundernden Blick auf den herrlichen Wuchs der Äbtissin, die ihm den Rücken zuwandte und in Gedanken versunken auf das weitere Gespräch der beiden nicht hörte.
Seit fast fünf Jahren nun war Jutta als Konventualin auf dem Schlosse zu Quedlinburg. Ihr Vater, ein kampflustiger Herr, dem es auf abenteuerlichen Fehdezügen im ganzen Reiche herum viel wohler war als in seinem stillen Burgfrieden zu Hause, hatte nach dem Tode seiner Gemahlin die einzige, damals kaum siebzehnjährige Tochter an den Hof des Landgrafen von Thüringen Friedrichs des Ernsthaften auf die Wartburg gebracht, wo sie drei Jahre lang als Edelfräulein blieb und in so hoher Gunst bei der Gemahlin des Landgrafen, einer Tochter Kaiser Ludwigs, stand, dass diese sie durchaus nicht von sich lassen wollte, als der etwas hitzköpfige Graf von Kranichfeld eines zwischen ihm und dem Landgrafen ausgebrochenen Streites wegen ihre Entfernung verlangte. Die stolze Kaisertochter bat umsonst; sie konnte der ungern scheidenden Jutta nur ihre dauernde Zuneigung und ihren Schutz in allen Schicksalsfällen geloben, aber nicht hindern, dass ihr Vater sie nach dem freiweltlichen Stifte Quedlinburg entführte.
Auch hier gewann das lebhafte, reichbegabte Mädchen schnell die Liebe aller Schlossbewohner, besonders die der Äbtissin Bertradis, so dass sie, als diese Würde neu zu vergeben war, Kanonissin wurde. Aber damit nicht genug. Bertradis, ihr Ende nahe fühlend, empfahl statt der ihr dem Range nach am nächsten stehenden Pröpstin Kunigunde und der dann folgenden Dekanissin Gertrud von Meinersen, die beide wenig beliebt im Stifte waren, den Kapitularinnen ihren Liebling, die Kanonissin zu ihrer Nachfolgerin.
Darauf wurde Gräfin Jutta von Kranichfeld trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre vom Kapitel gewählt, und als sie sich nach altem Brauche auf dem Markte zu Quedlinburg von Rat und Bürgerschaft öffentlich huldigen ließ, entfaltete sie vor den Augen des über ihre blendende Erscheinung entzückten Volkes eine Pracht, welche diejenige ihrer Vorgängerinnen bei derselben Gelegenheit noch überstrahlte. Sie erschien mit ihren Kapitularinnen und von ihrem Hofstaat umgeben, in kostbarem, goldschimmerndem Gewande, ein blitzendes Diadem auf dem Haupte, einen langwallenden Purpurmantel um die Schultern, alle Frauen und selbst viele Männer an Hoheit überragend. Der Bischof Albrecht von Halberstadt mit Domherren und Klerikern, der Schirmvogt des Stiftes, Graf Albrecht von Regenstein mit seinen Brüdern, die ritterlichen Inhaber der vier stiftischen Erbämter und viele Grafen und Edle aus den benachbarten Gauen waren mit stattlichem Gefolge herbeigekommen, der glänzenden Feierlichkeit beizuwohnen.
Die Erwählte mit ihren Damen sowie der gesamte Rat standen auf einer erhöhten Bühne; der erste Bürgermeister Herr Nikolaus von Bekheim verlas mit lauter Stimme den Treuschwur, die versammelten Bürger sprachen ihn nach, und alles jubelte und jauchzte der neuen Äbtissin begeistert zu.
Dann gab es auf dem Schlosse ein großes Festmahl, zu dem die edlen Gäste, der Rat und die vornehmsten Bürger der Stadt geladen waren, und bei dem Jutta wie eine Königin geehrt und gefeiert wurde. Die Augen der Männer hingen mit Bewunderung an ihrer voll entwickelten Schönheit, und vor allen war der nur wenige Jahre ältere Bischof von Halberstadt, der als Junker fürstlichen Standes ihr fröhlicher Genosse auf der Wartburg gewesen war, eifrig beflissen, ihr wieder wie damals die wärmsten und minniglichsten Huldigungen darzubringen.
Sie nahm alle die Ehren, alle das Werben um ihre Gunst lächelnd und verbindlich, aber mit einem gewissen gnädigen Stolze wie etwas ihr vollkommen Gebührendes hin und verstand es gleich von Anfang an, ihren hohen Rang mit Anmut und Würde zu tragen. Obwohl sich ihr Ehrgeiz manchmal schon in dieses Glück hineingeträumt hatte, erstaunte sie doch, als es ihr wirklich zuteilwurde, und suchte die durch ihre Zurücksetzung tief gekränkte Pröpstin damit zu entschädigen, dass sie sich in wichtigeren Angelegenheiten wenigstens scheinbar ihres Rates bediente, was zu beanspruchen jene durchaus kein Recht hatte.
Eine ihrer ersten Handlungen war, dass sie die große Krypta unter dem hohen Chore der herrlichen, im reinsten romanischen Stil erbauten Basilika mit einem wunderschönen, reich verzierten Portale schmücken ließ. Da in dieser Krypta nicht allein die Königsgräber waren, sondern es auch von dort zu der Gruft der Äbtissinnen hinabging, so rechnete man ihr diesen Bau als einen Ausdruck der Verehrung der dort Schlummernden an und lobte sie dafür. Manche aber legten es ihr als Stolz aus, als wäre sie nur bestrebt, die Fürstin zu zeigen, die ihr Andenken selbst durch Ausschmückung ihrer künftigen Ruhestätte sicheren wollte.
So ganz Unrecht hatten die Bedenklichen nicht, denn Jutta schien zum Herrschen geboren. In ihren Adern rollte das heiße Blut ihres Vaters, und ihre heftige, leidenschaftliche Natur trug ungern die Fesseln eines fremden Willens. Als sie mit der unumschränkten Gewalt im Stifte bekleidet war, trat sie sofort als gebietende Herrscherin auf, die ihren Winken und Befehlen überall Gehorsam zu verschaffen wusste.
Der einzige, bei dem ihr dies nicht immer gelang, war Graf Albrecht von Regenstein. In seiner freimütigen, zuweilen etwas derben Kraft und in seinem hellen, weitschauenden Geiste trat ihr etwas entgegen, das ihr überlegen war, dem sie mit aller Gewalt ihrer fürstlichen Stellung nichts anhaben konnte, und an dem ihre schnell wechselnden Launen machtlos abprallten. Dabei machte auch die äußere Erscheinung des in schöner, fester Männlichkeit erblühten Grafen und sein ritterliches Wesen einen Eindruck auf sie, dem sie auf keinerlei Weise zu wehren versuchte. Vielmehr strebten Herz und Sinne der jungfräulichen Äbtissin mit starken Gefühlen zu dem Helden hin, und ihre Gedanken beschäftigten sich viel mit ihrem noch unvermählten Edelvogte. Anwesend oder abwesend übte er auf ihre Entschließungen einen nicht geringen Einfluss, und auch in dem vorliegenden Falle, angesichts der bischöflichen Einladung, die zweifellos auch ihm zugegangen war, hätte sie gern seine Meinung gehört.
Darum schaute sie beinahe mit Sehnsucht, als könnte ihr Blick den tapferen Grafen herbeiziehen, in das Land hinaus nach Westen, wo sich der Regenstein mit seiner hohen, schroff abstürzenden Felswand klar und scharfkantig am Horizont zeigte.
Während die Pröpstin und der Stiftshauptmann sich in vertrautem Gespräch zueinander neigten und die Äbtissin träumerisch in die Ferne blickte, trat eine Kammerjungfrau ein, nahte sich der Fürstin und sprach nach einer halben Kniebeuge leise Worte zu ihr.
Eine freudige Überraschung strahlte aus Juttas Antlitz, und nachdem sich auf einen Wink die Kammerfrau wieder entfernt hatte, rief die Äbtissin schier jubelnd den anderen beiden zu: »Was meint ihr, welche Meldung ich soeben erhielt? – Graf Albrecht von Regenstein ist im Schlosshof vom Pferd gestiegen. Nun bin ich begierig zu hören, ob er nach Halberstadt zum Bischof reiten wird.«
»Da komm' ich schnurstracks her, gnädigste Domina!« klang es augenblicks von der offenen Tür, und auf der Schwelle erschien Graf Albrechts hohe Gestalt, von Kopf zu Fuß im Panzerhemd, das aus lauter kleinen Eisenringen geflochten war, und über welches sich ein kurzer, ärmelloser Waffenrock von dunkelroter Farbe schmiegte.
»Habt Ihr ihm zugesagt oder abgesagt?« frug die Äbtissin dem Eintretenden lebhaft entgegen.
»Keines von beidem war nach der Zwiesprache, die ich mit ihm hatte, noch vonnöten!« erwiderte der Graf.
»Hattet Ihr Streit mit dem Bischof?«
»Man könnte es fast so nennen!« lachte er, indem er auf eine Handbewegung der Äbtissin ihr gegenüber am Tische Platz nahm. »Denkt Euch, Domina, wie mir der Gesalbte des Herrn in die Wolle gegriffen hat! Vor etlichen Monden bietet er mir Burg Schwanebeck zum Tausch gegen Schloss Emersleben, weil jenes allernächst bei Halberstadt und dieses unserem Hause Crottorf bequemer liegt. Ich war es zufrieden, und wir wechseln die Handfesten darüber aus. Wie er mir die seinige schickt, sehe ich nur nach der Unterschrift des Bischofs und werfe das Ding ungelesen in den Kasten. Jetzt fordert er mich auf, als sein Lehensträger zur Inthronisation zu kommen. Lehensträger? denk' ich und reibe mir die Augen, du des Bischofs Lehensträger? Da fährt mir's wie ein Blitz durch den Kopf, ich hole die Schwanebecker Schrift hervor, und meiner Seele! es ist kein Kaufbrief, sondern nur ein Lehensbrief über die Burg. Ich springe in den Sattel, jage hinüber und stelle den Bischof zur Rede. Da antwortet er mir: er wäre nicht geständig, etwas Verbindliches Kaufs halber mit mir verhandelt zu haben; Kirchengut wäre ihm nicht feil, das könnte er nur zu Lehen geben; ich hätte es ja schwarz auf weiß. Solcher Untreue hatte ich mich nicht versehen, wollte den Tausch rückgängig machen und meine sechshundert Mark Wersilber heraus haben, die ich ihm noch darauf gegeben hatte. Aber der ehrsame Herr lachte mich aus, er hätte meinen gesiegelten Kaufbrief, und Schloss Emersleben wäre in guten Händen. – Was sagt Ihr zu dem Stücklein, Domina?«
»Ein Schelmenstück ist es!« erwiderte die Äbtissin.
»Nicht wahr? Nun ich habe ihm den Hafer ausgedroschen und mir den Handel ins Achtbuch geschrieben,« sagte der Graf in aufloderndem Zorne.
»Als Andenken daran, vergesst, habt Ihr ja nun auch Schwanebeck zu Lehen, Herr Graf,« spottete Kunigunde.
»Ich danke Euch für den Trost, gefühlvollste aller Pröpstinnen!« versetzte der Graf.
Die Äbtissin aber wandte sich zu ihrem Kanzler und sagte: »Nun, Herr Stiftshauptmann, heißt das Farbe halten?«
»Der hochwürdigste Bischof ist ein weltläufiger und gar geschwinder Herr,« erwiderte der also Gefragte. »Ihr habt ihn bei dem Tauschgeschäft wohl falsch verstanden, Herr Graf; denn er pflegt sonst vornehm und gering reinen Wein einzuschenken.«
»Hütet Euch, dass ein solcher Ehrentrunk nicht auch einmal an Euch gelangt, Herr Willekin!« warnte der Graf. »Ihr Herren Quedlinburger scheint zwar mit dem Bischof auf einem sehr guten Fuß zu stehen.«
»Warum sollten wir nicht? er hat uns nie ein Leids getan.«
»Aber er macht Euch Leute zu Feinden, die besser Eure Freunde wären!«
» Ad exemplum den edlen Grafen Albrecht von Regenstein. Ihr habt es uns merken lassen, Herr Graf!«
»Dass Euch das Wetter, Herr! Ihr sollt es noch anders merken!« brauste der Graf und stieß mit dem Schwert auf den Boden.
»Heia! was gibt es zwischen euch, ihr Herren?« frug die Äbtissin lachend.
»O ich habe noch einen anderen Span mit dem Bischof,« erwiderte der Graf finster. »Er ist meiner Gerichtsbarkeit ins Gehege gekommen, hat hier in der Stadt ohne mein Wissen und Willen ein geistlich Gericht bestellt, und der Rat scheint mit ihm unter einer Decke zu stecken, denn er lässt ihn gewähren und leistet ihm Vorschub mit seinem Aftergericht. Zwei Hintersassen waren vor meine Dingbank geladen, haben sich aber nicht gestellt, sondern hier in der Stadt vom Rektor an Sankt Ägidien Recht genommen. Da habe ich mir als Geiseln ein paar Quedlinburger gefangen und eingelegt.«
»Die aber ganz unschuldig sind«, warf der Stiftshauptmann ein.
»So liefert mir die Schuldigen aus, dass ich ihrem Beschulden nach mit ihnen verfahren kann. Bis dahin und so lange Ihr ein bischöflich Gericht in Euren Mauern duldet, will ich der Stadt Fein sein«, entgegnete der Graf mit großer Heftigkeit.
»Habt Ihr dem Bischof seinen Übergriff nicht vorgehalten?« frug die Äbtissin.
»Mit recht deutlichen Worten, gnädige Domina!« erwiderte der Graf und bewegte dabei zum größeren Nachdruck nickend das Haupt. »Wisst Ihr, was er mir darauf antwortete? – Geistlich Recht ginge vor weltlich Recht, sein Krummstab reichte weiter als mein Schwert!«
»Und Ihr?«
»Ich schlug mit der Faust auf den Tisch, dass er krachte, und schrie den Bischof an: Dann sehet zu, wie sich krumm und grade miteinander verträgt! Danach saß ich flugs auf, trabte hierher – und da bin ich!«
»Und dabei lasst Ihrs bewenden?«
»Dass ich ein Narr wäre!« lachte der Graf. »Ehe mein hinterlistiger Namensvetter auf seinem bischöflichen Throne sitzt, sitz' ich wieder in Schloss Emersleben, und wenn ich jeden einzelnen seiner eingenisteten Pfaffenknechte kopfüber von den Zingeln in den Graben werfen soll. Bin ich damit fertig, so kommen die Herren Quedlinburger an die Reihe. Ich will ihnen zeigen, wer hier Gerichtsherr ist, ich oder der Bischof!«
»Gräfin Kunigunde,« sprach die Äbtissin sich rasch erhebend, »wir gehen nicht nach Halberstadt!«
»Domina!!«
»Wir gehen nicht nach Halberstadt!« wiederholte sie herrisch befehlend.
»Jesus, mein Beistand! das kann Euer Ernst nicht sein!« jammerte Kunigunde, »es wäre nicht zu verantworten!«
»Ihr braucht es ja nicht zu verantworten, das tu' ich!« erwiderte Jutta.
Die Pröpstin seufzte und sandte einen verzweifelten Blick gen Himmel.
Der Stiftshauptmann rückte ärgerlich auf seinem Sessel und begann: »Aber unter welchem Vorwande, gnädigste Frau –«
»Vorwand?« sagte Graf Albrecht, der sich zugleich mit der Äbtissin erhoben hatte, »braucht es eines Vorwandes, wenn die Fürstin von Quedlinburg den Bischof von Halberstadt meiden will? Aber wenn Ihr darum verlegen seid, Herr Stiftshauptmann, so will ich Euch einen Vorwand sagen. Dem Bischof fehlt die Konfirmation des Heiligen Stuhles. Der Papst hat den Herzog Albrecht nicht bestätigt und wird ihn nie bestätigen.«
»Wie wollt Ihr das wissen, Herr Graf?« frug die Pröpstin herausfordernd dazwischen.
»Das schreibt, Herr Willekin!« gebot aber schnell die Äbtissin. »Schreibt dem Bischof, nächst des Kaisers Majestät wäre der Heilige Vater unser Oberherr; wir könnten uns daher an einer Weihe nicht beteiligen, die ohne den päpstlichen Segen in unseren Augen keine rechte Weihe wäre.«
»Gut, gut!« frohlockte der Graf.
Der Stiftshauptmann schüttelte den grauen Kopf und sagte: »So erlaubt wenigstens, gnädige Fürstin, dass ich nach Halberstadt reite und Eure Ablehnung beim hochwürdigsten Bischof mit allem Glimpf selber ausrichte.«
»Tut das, Herr Stiftshauptmann!« erwiderte die Äbtissin, »meinen Willen wisst Ihr.«
»Das soll nicht geschehen,« widersprach der Graf.
»Herr Willekin reitet nach Halberstadt,« befahl die Äbtissin erhobenen Hauptes. »Euer Einspruch ändert daran nichts, Herr Graf!«
Graf Albrecht lachte hell auf: »Meinetwegen, lasst ihn auf allen vieren zum Bischof kriechen, hochgebietende Fürstin und Domina!«
Der Äbtissin schoss das Blut in die Wangen; zürnend wandte sie sich ab.
Der Stiftshauptmann war beleidigt aufgefahren, zu einer raschen Erwiderung bereit, aber ein stolzer Blick des Grafen band ihm die Zunge. Mit einem gnädigen Nicken gab die Äbtissin ihm Urlaub; er verließ das Gemach und begab sich von der Burg hinab in die Stadt zu geheimer Unterredung mit dem Bürgermeister und einigen Ratsherren.
Gräfin Kunigunde freute sich über die dem Grafen erteilte Zurechtweisung ebenso sehr, wie sie der Äbtissin die darauf erfolgte Antwort desselben gönnte. Selber jedoch verstimmt, dass sie mit ihrem schon so oft erprobten Rate nicht durchgedrungen war und die Äbtissin unter dem Einflusse des übermütigen Grafen von Regenstein wieder einmal einen großen Fehler beging, zog auch sie sich nach einem sparsamen Gruße zurück und ließ die Äbtissin mit ihrem mächtigen Schutzvogt allein.
Graf Albrecht machte eine tiefe Verbeugung hinter der mürrisch Davonsegelnden her und sagte dann: »Die Gunst unserer holdseligen Pröpstin hab' ich einmal wieder verspielt und muss nun ihre Ungnade tragen.«
Die Äbtissin antwortete nicht; sie stand am Fenster und schmollte. Des Grafen höhnisches Lachen hatte sie sehr empfindlich berührt, und sie wartete nun auf ein versöhnendes Wort aus seinem Munde. Hatte er denn nicht gemerkt, was in ihrem Schwanken zwischen Annahme und Ablehnung der bischöflichen Einladung den Ausschlag gegeben hatte? Freilich, – seiner großen Erregtheit musste man etwas zugutehalten, und Jutta hatte ihn gereizt. Das tat ihr jetzt leid, und an ihr war es, nun wieder einzulenken. Er musste noch etwas Besonderes auf dem Herzen haben, dass er nicht ging. Sie wollte ihm zu Hilfe kommen.
Sich zu ihm wendend sprach sie ein wenig schüchtern: »Herr Graf, was glaubt Ihr, dass der Bischof tun wird, wenn wir beide nicht zu seiner Weihe kommen?«
Der Graf zuckte die Achseln und erwiderte: »Zunächst wird er sich gründlich darüber ärgern, und das gönn' ich ihm.«
»Wird er meine Bedenken wegen des Papstes gelten lassen?« frug die Äbtissin weiter.
»Schwerlich,« versetzte der Graf.
»Aber dann wird er nach einem anderen Grunde suchen, vielleicht wähnen, dass nach Eurem Streite –«
»Dass Ihr nur mir zu Liebe wegbliebet?« ergänzte der Graf. »Nun, lasst ihn doch in dem Irrtum, er hat ja keine Gewalt über Euch.«
Jutta schwieg und machte sinnend einige Schritte auf und ab. Endlich sagte sie: »Was meint Ihr, Herr Graf, wenn ich schon vorher zum Bischof ginge und versuchte, euch zwei miteinander zu befrieden?«
»Ich sage Euch so freundlichen Willens und Erbietens großen Dank, Domina!« erwiderte der Graf, »aber ich nehme das Opfer nicht an.«
»Das Opfer, Graf Albrecht, bring' ich Euch gern,« sprach Jutta, »Ihr habt mir schon mehr als eins gebracht.«
»Dafür bin ich Euer Schutzvogt, Domina!«
»So lasst mich auch einmal Euer Schutzvogt sein!« bar sie fast schmeichelnd.
»Nein, nein! Ihr dürft nicht nach Halberstadt, am allerwenigsten meinetwegen,« entschied der Graf. »Der Bischof will keinen Frieden mit mir. Und wenn Ihr darum selber zu ihm kämet und mit der Wärme, die ich an Euch kenne, meine Sache bei ihm führtet, so würde er denken –« Er vollendete nicht und presste die Lippen zusammen, als sollte das Wort nicht darüber hinaus.
»Nun? was denn? was würde er denken?«
»Ich bring' es kaum heraus,» sagte der Graf.
»Sprecht es nur aus, Graf Albrecht,« lächelte Jutta dicht vor ihm stehend mit leuchtendem Blick, und ihre Brust hob sich in raschem Atemgange.
»Ihr werdet mich auslachen.«
»Wartet das ab!« sprach sie leise, mit tiefem Erröten die Augen niederschlagend.
»Er würde denken, – dass ich mich vor ihm fürchte!« stieß der Graf heraus.
Die Äbtissin hatte etwas ganz anderes erwartet. Sie trat einen Schritt zurück. »Ja, ja, – ganz recht, – Ihr habt ganz recht, – was sollte er auch anders denken?« sprach sie vor sich hinstarrend. Plötzlich warf sie den Kopf hoch und sagte schnell: »Übrigens könnten wir Euch auch kaum verteidigen, Herr Graf; es kommen zu viele Klagen über Euch.«
»Die Verteidigung gegen meine Kläger führ' ich am liebsten selber, Domina!« erwiderte der Graf bestimmt.
»Wenig kümmert uns, was Ihr in Eurer Grafschaft tut, aber im Stiftsgebiet solltet Ihr billig Frieden halten,« sprach sie in verweisendem Tone.
»Ist Euer Frieden gestört, gnädige Frau?«
»Ihr umlauert unsere gute Stadt Quedlinburg und fangt ihre Bürger weg. Das ist Friedensbruch, Herr Graf! Aber das nicht allein. Die Mönche von Sankt Wipertihausen tun gar übel hier unter unseren Augen. Ihr wüstes Treiben ist ein Ärgernis für Rat und Bürgerschaft,« erwiderte die Äbtissin immer heftiger werdend.
»Und das soll meine Schuld sein?«
»Ihr haltet die Hand über sie, habt ihr Kloster befestigt wie einen Burgstall. Was soll das? Habt Ihr nicht genug an der Gunteckenburg hier dicht vor den Toren der Stadt?«
»Aha!« lachte der Graf, »da hängen die Glocken, die mir so liebliche Vesper läuten! Rat und Bürgerschaft schilt den unbequemen, allzu wachsamen Nachbar. Gnädigste Domina, lasst's Euch nur gefallen, wenn ich Eure gute Stadt Quedlinburg scharf im Auge behalte; es ist nicht für mich, sondern für Euch. Denen da unten schwillt der Kamm gewaltig, seit sie zum Hansabund gehören; jetzt sind sie mir widerhaarig, nächstens bedrohen sie Euch, wenn wir ihnen nicht fest auf dem Dache sitzen.«
Da blickte sie ihn wieder freundlich an und sagte: »Ist's so gemeint? in der Sorge um mich? Das hab' ich nicht gewusst, das hatt' ich nicht gedacht, Graf Albrecht!«
»Was soll ich viel Rühmens darum machen!« erwiderte er. »Aber eins wollt ich noch fragen, Domina. Ist's Euch bekannt, wie es auf der Lauenburg aussieht?«
Die Lauenburg! Also darum war er bei ihr geblieben. Ein rascher Gedanke kreiste hinter Juttas von dunklem Haar umwallter Stirn, und sie sagte bedächtig: »Ich weiß, Leutfried liegt schwer danieder; wir werden bald einen neuen Burgvogt einsetzen müssen.«
»Es ist ein wichtiger Platz, Domina! Die Lauenburg verlangt einen sicheren Mann,« bemerkte der Graf.
»Den ich seinerzeit zu finden hoffe,« gab sie lächelnd zur Antwort und fügte einer Erwiderung ihm zuvorkommend, mit beredtem Blick hinzu: »Habt Geduld wie ich; nicht hinter Eurem Rücken geb ich die Burg in andere Hände.«
»Dessen getröst' ich mich, Domina! Lebt wohl!«
»Auf Wiedersehen, Herr Graf!«
Sie reichte ihm die Hand, und Graf Albrecht ging.
Die Äbtissin stand mitten im Zimmer und blickte ihm nach. »Die Lauenburg!« lächelte sie und drohte mit dem Finger nach der geschlossenen Tür.
Der Graf ritt den steilen Weg vom Schlossberg vergnügten Sinnes hinab. Er hatte erreicht, weswegen er gekommen war: die Äbtissin fuhr so wenig zur Inthronisation wie er und seine Brüder. Er lachte sich ins Fäustchen, indem er dachte, wie der Bischof sich fuchsen würde, wenn die Ersten und Mächtigsten im Gau bei seiner Weihe fehlten. Mochten dann die lieben Vettern, die Grafen von Blankenburg, die ja den Regensteinern in allen Dingen das Widerspiel hielten, mitsamt den Wernigerödern sich dort breit machen und dem dünkelhaften Bischof Weihrauch streuen, so viel sie wollten. Ob die anderen Harzgrafen aus dem Schwabengau und Helmgau erscheinen würden, war immerhin sehr zweifelhaft; sicher nicht, wenn ihnen Albrecht eine abratende Botschaft sandte. Der Bischof sollte sich umsehen nach allen denen, die fehlten, und dem Grafen war es gerade recht, wenn jener von Willekin von Herrkestorf erfuhr, wie es nur sein, Albrechts Werk war, dass die Äbtissin von Quedlinburg mit ihren vornehmen Kapitularinnen ausblieb. Dann mochte der geistliche Herr nur an Schwanebeck denken und an seinen langen Krummstab, mit dem er dem Grafen von Regenstein zu drohen gewagt hatte.
Und was die Lauenburg betraf, die mit ihrem Gebiet teils an den Stadtforst der Quedlinburger, teils an die großen Harzforsten der Blankenburger Vettern grenzte, – nun, die Äbtissin hatte ihm ja versprochen, nicht ohne seinen Rat den neuen Burgvogt zu wählen. Das wäre da oben in den waldumrauschten Bergen so ein Horst für seinen herzlieben Siegfried, den jüngsten, blühendsten, blondesten der sechs Regensteiner Brüder. Und Jutta? Welchen Wunsch würde sie ihm nicht erfüllen? Hatte er doch heute wieder recht deutlich gesehen, wie sehr sie ihm gewogen war. Ja, er war überzeugt, dass die schönheitsstolze, sehnsuchtsdurchglühte Domina ihren reichsunmittelbaren Fürstenthron lieber heute als morgen mit einem andern, weniger einsamen Platze vertauschte, wenn –
»Ho! ho! ho! Brun! Brun! was ist denn?« sprach der Graf laut zu seinem Braunen und klopfte ihm den kräftigen Hals, um das scheuende Tier zu beruhigen. Es hatte, von einem Steinwurf getroffen, plötzlich ein paar heftige Sprünge gemacht, deren Ursache dem Reiter verborgen blieb, denn der Bube, der den Stein geschleudert hatte, der Sohn eines der vom Grafen gefangen gehaltenen Quedlinburger, hielt sich versteckt.
»Das kommt davon, wenn man sich mit eitlen Gedanken trägt, statt sein Rösslein am Zügel zu haben,« sagte der Graf im Weiterreiten zu sich selber. »Wenn die das gesehen hätte, an die ich in dem Augenblick dachte!«
Sie hatte es gesehen, auch den Steinwurf. Die Äbtissin folgte von ihrem Fenster aus dem langsam Dahinreitenden mit den Augen und hatte ihre Freude daran, wie sich die Sonnenstrahlen auf der blanken Eisenhaube des Ritters blitzend spiegelten. Als sie nun das kleine Abenteuer des im Sattel Träumenden gewahrte, rief sie empört: »O diese nichtswürdige Brut! Er hat ganz recht, dies Stadtvolk muss kurz gehalten werden, sonst schlägt es über die Stränge!«
Bald sah sie, wie der Graf vor dem Zugange zur Gunteckenburg hielt, die zwischen dem Münzenberge und dem Wipertikloster lag. Er ließ sich den Vogt herausrufen und sprach lange mit ihm ohne vom Pferde zu steigen. Dann trabte er dem Kloster zu, und in den Hof desselben einreitend, entschwand er ihren Blicken.
»Nun geht er doch wieder zu diesen argen ›Kindern unserer Liebe‹, – so pflegte die selige Bertradis die Mönche zu nennen, mit denen sie im steten Kampfe lag – oder will er dem sündhaften Prior nur unser zunehmendes Missfallen verkünden?« sprach sie zu sich. »Geh nur, Heldenherz! Dir folg ich auf jedem Wege.«
Im Klosterhofe sprang der Graf aus den Bügeln. Ein Laienbruder nahm ihm das Ross ab und frug: »Soll ich Brun abzäunen, Herr?«
»Nein,« antwortete der Graf, »ich halte nur kurze Rast, um einen Vespertrunk zu tun und euch die Glatzen zu scheuern. Wo ist der würdige Bavo?«
»Im – im –«
»Im Refektorium natürlich!« lachte der Graf, »bei feuchter Abendmette; das konnte ich mir denken.«
»Herr, morgen ist der Tag des heiligen Eustathius des Standhaften,« sagte der Bruder.
»Und den müsst ihr ja feiern!« erwiderte Graf Albrecht. »Gut! helfen wir bei den Vigilien Eustathius des Standhaften!«
Und er trat in das Klostergebäude.
Die Pröpstin Kunigunde versetzte das ganze Kapitel darüber in Aufregung, dass die Domina mit den Konventualinnen nicht zur Bischofsweihe wollte. Die älteren Damen waren empört, dass das Stift bei der Feier nicht mit aller Pracht und Würde vertreten sein sollte, die jüngeren jammerten und klagten, dass sie von den glänzenden Feierlichkeiten fern bleiben sollten, und die Domina bekam in diesen Tagen kein freundliches Gesicht zu sehen, mit einer einzigen Ausnahme.
Diese Ausnahme machte die Kanonissin, die schöne, lebensfrohe Gräfin Adelheid von Hallermund, die das Vertrauen der Äbtissin, wenn auch nicht einen unbedingten Einfluss auf sie besaß. Sie war dem ritterlichen Schirmvogte des Stiftes sehr gewogen und stimmte der Domina vollkommen zu, dass man dem edlen Grafen die Genugtuung schuldig wäre, die Einladung des Bischofs abzulehnen. Nun war Jutta vollends unwiderruflich fest entschlossen und ließ am zweiten Abend dem Stiftshauptmann den Befehl zugehen, mit der Überbringung ihrer Absage an den Bischof nicht länger zu zögern.
Da musste er gehorchen, und als am andern Tage die Sonne über die halbe Mittagshöhe hinaus war, befand sich Herr Willekin von Herrkestorf auf dem Wege nach Halberstadt. Neben ihm ritt der Stiftsschreiber Florencius, der um die Gunst gebeten hatte, seinen Vorgesetzten statt eines reisigen Knechtes begleiten zu dürfen.
Dieser Florencius, ein frischer, klug dreinschauender Gesell aus einem alten, aber herabgekommenen Adelsgeschlechte stammend, hatte geistlich werden sollen, es aber vor lauter losen Streichen nicht einmal bis zu den untersten Weihen gebracht und war, der Studien und Exerzitien überdrüssig, aus der Klosterschule zu Sankt Gallen heimlich entwichen und fahrender Schüler geworden. Als solcher war er vor mehreren Jahren nach Quedlinburg gekommen und hatte unter anderen auch den Stiftshauptmann mit der Bitte um einen Zehrpfennig heimgesucht. Herr Willekin, dem er seine Herkunft und seine Schicksale anvertraute, hatte sich von den mannigfaltigen Kenntnissen und Fähigkeiten des Fahrenden überzeugt und ihm mit Bewilligung der Äbtissin Bertradis ein Amt und eine Wohnung auf dem Schlosse angewiesen.
Stiftsschreiber hieß Florencius, damit das Ding doch einen Namen hatte, denn obwohl er in der höheren Schreibkunst außerordentlich geübt war und diese auch mit Vorliebe pflegte, so gab es doch im Stifte nicht viel zu schreiben für ihn. Er füllte aber seine müßige Zeit gern damit aus, dass er Köpfe und Anfänge von Urkunden und Briefen auf Vorrat schrieb. Eingangsworte wie z. B. »Wir Jutta, von der Gnade Gottes Äbtissin von Quedlinburg usw.« prangten auf einer ganzen Anzahl von Pergamentblättern mit großen buntfarbig gemalten und goldverzierten Anfangsbuchstaben, von Blumenranken und vielverschlungenen Schnörkeln umgeben. Er war auch der vertraute und verschwiegene Geheimschreiber der Konventualinnen, die ihm alle wohlwollten, weil er, obschon ihm zuweilen der Schalk im Nacken saß, von guten Sitten, gefällig und bescheiden war. Der Stiftshauptmann hatte ihnen seine Abkunft verraten, die er eigentlich verschwiegen wissen und durch einen angenommenen Namen vergessen machen wollte, und so betrachteten ihn die Damen als ihnen ebenbürtig und behandelten ihn mehr wie einen adligen Junker, als wie einen Dienenden. Im übrigen machte er sich nützlich, wo und wie er konnte, als Vorleser, Sänger und Lautenist, kurz, er war der allbeliebte, unentbehrlich gewordene Spiritus familiaris des ganzen Schlosses.
Als die beiden über den Hungerplan, einen hügeligen Anger zwischen der Stadt und den sogenannten Weinbergen, hinwegritten, sagte der Stiftshauptmann, der ihn auf seine ausdrückliche Bitte du nannte: »Sieh mal, Florencius, wie auf dem Brocken der Schnee im Sonnenscheine glänzt!
»Und hier unten im Lande sprießen fröhlich die Saaten, und Sträucher und Hecken fangen an sich zu belauben,« erwiderte der Stiftshauptmann. »Aber wir werden bald Regen bekommen.«
»Woher hast du diese Wissenschaft?« frug Herr Willekin.
»Ei Herr, dass sich unsere Dekanissin, Fräulein Gertrud von Meinersen, auf das Wetter versteht wie der älteste Schäfer? Sie hält sich einen Laubfrosch, für den sie im ganzen Schlossen herum Fliegen fängt und auf den sie sich mit ihren Weissagungen verlässt.«
»Trifft es denn auch ein, was sie weissagt?«
»Nicht immer,« lachte Florencius, »und dann kriegt der Laubfrosch zur Strafe, dass er gelogen hat, zwei Fliegen weniger.«
»Du lieber Gott!« sagte Herr Willekin. »Wo hat sie denn den Laubfrosch her?«
»Wo soll sie ihn her haben! Ich habe ihn fangen müssen, als der vorige seine letzte Fliege gefressen hatte; es war eine giftige, – sagt die Scholastika.«
»Sagt die Scholastika, so! Die ist wohl die Lustigste im ganzen Kapitel?« frug Herr Willekin.
»Das ist schwer zu sagen, Herr Stiftshauptmann,« antwortete Florencius und fuhr nach einer kurzen Überlegung fort: »Ich glaube, die Custodin und die Sangmeisterin übertreffen sie noch. Wenn die beiden ihre blonden Köpfe zusammenstecken, so läuft es in der Regel auf einen merklichen Possen hinaus, über den es ein paar Tage lang zu lachen gibt. Am liebsten hängen sie einer der beiden Ältesten, der Pröpstin und der Dekanissin, eine Schelle an.«
»Florencius!« drohte der Stiftshauptmann, »wem hängt man Schellen an?!«
»Verzeiht, Herr!« lachte der Jünger, »aber ich muss ja oft genug helfen; sie lassen mir keine Ruhe, und wenn Gräfin Luitgard von Stolberg nicht wäre, die immer zu schlichten und zu sühnen sucht, was die jüngeren Fräulein in ihrem Übermut gefehlt haben, so ging es manchmal arg zu.«
»Und die Domina?«
»Die Domina? nun, Herr, – Ihr wisst wohl, die freut sich, wenn die Pröpstin sich ärgert, und Gräfin Adelheid von Hallermund lacht auch lieber, als dass sie weint. Neulich haben es unsere lieben Jüngsten aber doch einmal zu toll getrieben, so mussten.«
Auf einen ermunternden Blick des Stiftshauptmann erzählte Florencius: »Wie Euch bekannt, ist die Dekanissin eine Meisterin im Sticken schwerer Wandteppiche mit Figuren aus der Geschichte der Heiligen, eine Liebhaberei von ihr, mit deren aufgezwungener Erlernung sie den jüngeren Damen manche qualvolle Stunde bereitet. Nun hatte sie kürzlich wieder einen solchen Teppich in Arbeit, auf dem die heilige Apollonia, die viel angerufene, von der Dekanissin besonders verehrte Helferin bei Zahnschmerzen, in Pflegung ihres gnadenreichen Amtes dargestellt war. Da schmiedete unser durchtriebenes Vierblatt einen mutwilligen Plan und brachte ihn, sorglich vorbereitet, zur Ausführung. Die Cameraria, Gräfin Agnes von Schrapelau, und die Scholastika, Fräulein Hedwig von Hakeborn, mussten die Dekanissin beim Fliegenfangen in einem entlegenen Teile des Schlosses möglichst lange festhalten; unterdessen schlichen sich die Kustodin und die Sangmeisterin in das Zimmer des Fräulein Gertrud von Meinersen und stickten der heiligen Apollonia mit flüchtigen, groben Stichen eine schneckenartig gewundene Haarflechte an die Schläfe, wie sie die Dekanissin selber trägt, versahen auch die Heilige mit einer so langen Nase und einem so eckigen Kinn, dass ihr Bild mit den Zügen der Dekanissin eine überraschende Ähnlichkeit erhielt. Die also Abkonterfeite erhob einen fürchterlichen Lärm über die Untat. Auch die stets nachsichtige Thesauraria stellte sich diesmal auf die Seite der Beleidigten und setzte mit dieser und der Pröpstin trotz Fürbitte der Gräfin Adelheid die Bestrafung der Schuldigen durch. Die beiden überführten Missetäterinnen Mechtild von Klettenberg und Sophia von Hohenbuch mussten am anderen Morgen auf 24 Stunden in das dunkle Bußkämmerlein unterhalb der Krypta wandern, zu ihrem Glück beide zusammen, damit sie sich gegenseitig trösten konnten. An dem Nachmittage aber kam der Erbmarschall des Stiftes Herr Gerhard von Ditfurt zum Besuch, vermisste die beiden Blonden und erfuhr die Geschichte. Erst lachte er aus vollem Halse zum großen Verdruss der beiden alten Kat–«
»Florencius!!«
»– der beiden ehrwürdigen Fräulein Kunigunde und Gertrud, dann bat er um Gnade für die zwei Eingesperrten. Er brauchte nicht lange zu bitten; die Domina war froh, einen Anlass zu waltender Milde zu haben. Die Kanonissin Gräfin Adelheid holte die mäßig Zerknirschten aus ihrem tiefen Verlies herauf, und nach einer Strafpredigt der gnädigen Frau, bei der das ganze Kapitel, die einen vor verbissenem Ärger, die anderen vor unterdrücktem Lachen, rot wurde, war die Sache für diesmal tot und abgetan. Soll mich nur wundern, was der nächste Schelmenstreich sein wird.«
Jetzt musste auch Herr Willekin lachen, und der Stiftsschreiber stimmte fröhlich ein.
Unter so kurzweiligen Gesprächen ritten die beiden selbander durch die grünende Flur. Ihnen teils zur Linken, teils im Rücken dehnte sich der gewaltige, dunkelblaue Kamm des Gebirges in langer, sich immer höher hebender Linie von der weit sichtbaren Burg zu Ballenstedt bis zu dem schneebedeckten Gipfel des Brockens. Auf der Höhe des Liebfrauenberges haltend und die Rossen wendend, betrachteten sie mit Freuden das ihnen wohlbekannte, entzückende Bild.
Im Lande vor ihn wechselten fruchtbare Ackerbreiten und Wiesen, durch welche die Bode und eilende Bäche an freundlichen Dörfern und umbuschten Mühlen blinkend vorüberzogen, mit klippengekrönten Hügeln und gewölbten Bergrücken ab, auf denen einsame Warten standen zum Auslug in die Runde. Die noch unvollendeten Domtürme von Halberstadt winkten aus der Ferne herüber, während die Stadt Quedlinburg hinter Bergen versteckt lag; nur das Schloss, aus dessen innerem Leben Florencius eine so ergötzliche Schilderung zum besten gegeben hatte, ragte darüber hinaus. Dahinter aber, halbwegs vor der breiten Schlucht des Bodetales, starrte das größte von den zackigen Riffen der Teufelsmauer, die mit den Gegensteinen bei Ballenstedt beginnend sich als ein oft unterbrochener, aber immer wieder auftauchender Klippenzaun meilenweit durch das Vorland des Harzes zieht und erst beim Regenstein endet, schwarz und ungeheuerlich empor. Fern im Osten schaute Burg Gersdorf aus der Ebene herauf, südlich, den Reitern gerade gegenüber, schimmerte die Lauenburg vom Bergwalde her, und im Westen drohte des Regensteins riesenhafter Felsblock, dem zur Rechten die auf spitzem Kegel trotzende Heimburg, wo Graf Bernhard von Regenstein hauste, und zur Linken der hochgelegene Sitz des Grafen von Blankenburg sich nachbarlich anschlossen.
So umfasste der Blick von hier aus ein beträchtliches Stück des herrlichen Harzgaues, ein mit aller Pracht wechselnder Farben und fesselnder Formen geschmücktes Gemälde, das zu den Füßen der Beschauer aufgerollt war und sich unter dem klaren Frühlingshimmel in seinem vollen Glanze zeigte. Ein leiser Wind mit kühlkräftigem Hauch strich über die freie Höhe und machte die Gräser und die Reiser der Bäume schaukeln und nicken. Über der Ferne schwebte ein matter Dunstschleier, und hoch im Blauen jubelten die Lerchen.