Es gibt so vieles, was zwischen Menschen kommen kann, was verhindert, dass Liebe ihr Ziel findet. Diese Geschichten erzählen davon: von der Liebe in ihren Spielarten und Obsessionen, ihrer Tragik und Komik, von Nähe und Unnahbarkeit, Schicksal und verpasster Chance, Missverständnis und blindem Vertrauen, von Träumen und Fantasien und der ganz alltäglichen Abgründigkeit des Liebens. Immer steht der Erzähler vor der Aufgabe, zu erzählen, sich zu erinnern, sich dem Vergangenen zu stellen, und gerät dabei selbst ins Visier. Dann bleibt vom Kampf gegen die Vergänglichkeit oft nur die Sehnsucht nach Erfüllung.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau, seit siebzehn Jahren glücklich verheiratet, als freier Schriftsteller in Reutlingen.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD u.a. erschienen:

Ein Sommerhaus im Languedoc

Die Welt meiner Schwestern

Das Glücksversprechen

Yūomo

Haus der Stille

Schrödingers Kätzchen

Drei Tage Wicklow

Haut

Der Traum der Delphine

Halleluja

Wir sind nichts. Was wir
suchen, ist alles.

HÖLDERLIN, HYPERION

Die kleine Trattoria am Hafen

Damals, in der kleinen Trattoria am Hafen. Marcella kam mit Manuel, sein Boot lag am Kai, Herbert war auch da und Ludwig, die die Baustelle beaufsichtigten, und ich, mit wundgelaufenen Füßen. Wie wir damals alle zusammengekommen waren, weiß ich nicht mehr. Es war eine wilde Zeit.

Die blonde Betty

Die blonde Betty mit den Seidenschuhen, damals in Venedig. Die Stadt suchte sie auf mitten im Gewühl; wir mieden die Brücken und gerieten an zerfallene Kais, den Campanile wollte sie nicht sehen. Sie liebte griechische Kunst. Epidauros, schwärmte sie und die Tauben stoben, das ist ein Blick! Sie lief oft voraus in ihren lautlosen Schuhen, und wenn ich einen Witz gemacht hatte, sah sie mich neugierig an, als hätte ich nicht alles gesagt. In einem Café trank sie süßen Port und begann, in ihrer Handtasche zu kramen. Warte, sagte sie. Dann streckte sie mir ihre kleine, geschlossen Faust entgegen, mach auf, sagte sie. Ich öffnete behutsam ihre Finger, einen um den andern, wie gegen einen sachten Widerstand; sie fühlten sich warm und trocken an mit klarlackierten Nägeln. In ihrer Handfläche lag ein Schmuckstück aus Glas, wie man es an den Ständen kaufen konnte, ein Vogel mit schmal gezogenen, an der Spitze getropften Flügeln. Gefällt es dir?, fragte sie. Ich selbst hasse ja Tauben. Tauben und Linsen, sagte sie und lachte zum ersten Mal. Als sie es mir in die Hand legte, war es noch warm von ihr. Am nächsten Tag schlug das Wetter um; eine Zyklone vom Kaspischen Meer, die Kanäle stanken. Wie die Biene und die Blume, versuchte ich es scherzend am Abend, weil ich mich vor dem leeren, stickigen Hotelzimmer fürchtete: alle Morgen auf der Höhe von Korinth, aber sie kannte die Stelle. Ich möchte noch einen Tag nach Florenz, sagte sie. Den David. Warte. Wir sind nichts, sagte sie, als wir uns auf der Autobahn vor Padova trennten, ihre langen Haare wehend im Glutwind. Am Brenner würden wir uns wieder treffen. Ich fuhr ins Gebirge ein und kam von Riva her mit seinen Olivenhainen und dem blaugrünen Wasser. Oben regnete es, der Pass lag öd mit gischtendem Verkehr. Anfangs aß ich von dem Proviant im Auto, dann, als es Abend wurde, trank ich im Hospiz eine Tasse heiße Schokolade. Spät erst zog das Wetter ab. Der Himmel klarte, die Luft war frisch und von einem Schein, der die fernen Saumpfade sehen ließ. Ich entschloss mich, nicht zu übernachten. Was wir suchen, ist alles, dachte ich noch. Das will ich gar nicht. Alles. Es gibt so vieles, was zwischen Menschen kommen kann.

Der Sommer in Siam

Der Sommer damals in Siam. Damals regnete es oft. Die Gewitterwolken bauten sich wie Türme über dem Wald auf und verwandelten sich am Nachmittag in Regenströme; die Fahrwege waren dann unpassierbar, sodass wir bis zum Abend nicht in die Stadt konnten. Ich kochte in der gusseisernen Kanne, die Janek aus Taiwan mitgebracht hatte, Tee für uns drei. Der Tee schmeckte bitter und stand rot in der Tasse wie ein Auge, das einen nicht ansah. Das Haus war dunkel geworden; in allen Zimmern hörte man den Regen. Manchmal trat ich hinaus auf die Veranda, wo sich am Geländer die Wassertropfen reihten, silbern und rund, aber immer schwerer werdend, sodass sie abfielen und andere aus einer anfanglosen Kette nachrollten. Ich wartete dann auf den Augenblick, wenn die Tropfen still hingen und etwas bedeuteten und sich plötzlich regenbogenfarben das Licht in ihnen brach. Später wurde Janek krank. Alison blieb bei ihm im Hospital, sodass ich sie nie wiedergesehen habe, und auch wenn ich mir damals an diesen Regentagen nichts hatte wünschen wollen, ist es mir heute doch ein Heimatbild geworden, eine Unwiederbringlichkeit, seit der es für mich nichts mehr zu hoffen gibt.

Li Su

Wie alles angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Li Su war ins Landesinnere abgereist und wir blieben allein in der Herberge zurück, allein mit einem Paar ihrer Strümpfe und den Mücken und der Flasche Gin, die Pfadfinder besorgt hatte. Wir gossen die Gläser voll, der Ventilator surrte, in den Spiegeln ihres Zimmers sahen wir drei Gestalten, die die Gläser hoben und leerten in einem Zug. Große, hagere, verhärmte Gestalten wie die Drei aus dem Märchen. Der Gin schmeckte wie Parfüm, scheußliches Zeug, sagte ich, genau das Richtige jetzt. Dann begannen wir zu grölen, jemand holte die Polizei, und es kam zu Handgreiflichkeiten.

Alaska

Der See, an dem das Blockhaus stand, war zugefroren. Mit Motorsägen schnitten wir das Eis und bauten ein Iglu. Zum Kaffee gab es gebackene Buchteln, die sind ja angebrannt, sagte einer, da fütterte sie die Hunde damit. Abends waren die Fallen leer; wir feierten Weihnachten. Wenn es so früh dunkel wurde, kroch ich zu ihr unter die Felle, ihre Haut war vom Baden trocken und warm, sie empfing mich, ich lag still, die Anderen sahen nach dem Feuer. Es war ein harter Winter. Tage im Zwielicht mit dem Knarren des Schnees, ohne Täuschung. Wir lernten uns alle kennen, wir wollten einander nichts Böses, bis eines Tages Carl mit seiner Dakota aus der Stadt kam.

Ayala-yala

Ayala-yala, singt es, yala-yala. Ist noch Rotwein da? Es kommt mir vor, als rauchten wir starke schwarze Zigaretten, säßen auf einer Steinmauer unter Zedern und hätten vom Abendlicht ganz goldene Hände. Ayala-yala. Die junge Lehrerin ist auch dabei, sie lacht viel. Sie trägt Hosen und Stiefel und den Pullover auf der bloßen Haut. Wenn sie lacht, wirft sie ihre Haare zurück und weiß im selben Moment alles über sich, sie versteckt dann die Augen und blickt versehentlich mir ins Gesicht. Wir singen: Ayala-yala. Es kommt mir vor, als hätten wir Kerzen angezündet, der Bärtige spielte Gitarre kniend auf dem Sandweg, und drinnen unter den Bäumen ginge jemand, weich, durch die Gärten und über den Bahndamm ins Land hinaus. Yala-yala-ya.

Am Bahnhof

Ihr Name war Christine Kaufmann. Wir standen zusammen auf dem Bahnhof und warteten auf den Zug. Sie hakte sich bei mir ein und sagte ganz nah bei mir, auf Kragenhöhe: Sei nicht traurig. Sie trug blaue Lederhandschuhe, mit denen mir ihr Zeigefinger über die Lippen strich. Sie war vor zwei Monaten aus dem Osten gekommen, Johann Sebastian Bach kam auch von dort, sagte ich, versteh mich doch, drängte sie, wir haben uns einfach zu lieb. Du warst immer so zufrieden. Danach im Badezimmer hast du immer leise gepfiffen, dich nackt in einen Sessel gesetzt und geraucht. Deine Haut war mir zu friedlich, entgegnete ich, nachdenklich, als müsste ich mich darauf besinnen, was ich meinte. Ja, eine Art von Frieden. Ich halte die kleine silberne Scheibe mit den Fingerspitzen, bette sie in das Gerät, lasse es sie schlucken, währenddessen erklingt Musik. Violinen und Cembalo, da muss ich immer an Herbst denken. Brandenburg, und wie ich damals das Tor. Sei nicht traurig. Sie friert, wie sie da am offenen Fenster steht, nichts bei sich als ihre Hände. Da biss sie meinen Finger, weiches Leder, autsch! und sie lachte, eingehakt, auf Kragenhöhe. Mein Vater, erzählte ich, das ist eine Geschichte. Ein Vierteljahrhundert hat man Teil am Ende einer Geschichte, ihren Anfang kennt man nicht, kennt nicht den Menschen. Ich will fortfahren, aber sie legte sich mit ihrem Zeigefinger auf meine Lippen, sei still, sagte sie, sei nicht traurig. Wir haben uns einfach zu lieb. Dann fuhr der Zug ein und sie gab mir einen Kuss und löste sich von meinem Arm und der Zug kam zum Stehen.

Am See

Die Terrassentür steht offen. Die Gardinen bauschen sich im warmen Wind. Draußen liegt der Garten in der Sonne: Thymian, Lavendel, Ölbäume. Auf dem Tisch ein Glas Milch. Ich schlage die dünne Decke zurück und bleibe liegen, nackt, spüre die frische Morgenluft auf meiner Haut. Ein neuer Tag am See. Der See ist immer da, vor den Fenstern meines Arbeitszimmers, auf der Terrasse, auf dem Sandweg zum Dorf, auf der Gartenmauer hinter den Pfirsichbäumen, wo ich nachmittags im Schatten sitze und die Zikaden schrillen. Der See ist immer da, wie das Haus, wie Eleonor. Ich höre sie gehen, die Dielen im oberen Stock knarren. Ich höre sie auf der Treppe, jeden Schritt. Ich höre den Laut ihrer leichten Schuhe auf dem Steinboden. Ich höre ihre flüchtige Hand auf der Klinke. Ihre Hände bewegen sich wie Blätter, Herbstblätter, zerbrechlich und kostbar geworden durch den nahenden Tod. Wie nahe ist der Tod? Eleonor tritt ein und setzt sich sacht an mein Bett, denn sie glaubt, ich schlafe noch. Ich warte. Kühl kommt die Berührung ihrer Hand, zuerst auf meinem Bauch, dann aufwärts über meine Brust. Wie nahe ist der Tod? Ich öffne die Augen, den Sonnengeruch vom Garten in der Nase. Ich richte mich auf und umarme sie schweigend. Sie hat wenig an in der frischen Wärme des neuen Tages, des Tages am See. Unter der durchsichtigen Bluse schimmert es. Sie streift die Schuhe von den Füßen und legt sich zu mir. Ich zeichne mit dem Finger ihr Gesicht nach: die Lippen, die immer rot wie geschminkt sind, das kleine Kinn, die kleine, helle Stirn. Ich schaue in ihre Augen wie in heitere, aber stille Teiche. Grüne warme Teiche draußen unter den Baumschatten, wo das Olivenlaub flirrt. Wie nahe ist der Tod? Das kann keiner wissen. Deshalb ist Eleonor so heiter. Deshalb ist ihr Leib so kostbar und duftet ihre Haut so nach Leben. Wir schmiegen uns aneinander in Erwartung der Zeit, die kühl, ein zierliches Geschmeide, die Räume des Hauses durchzieht, des Hauses am See. Wie viel Zeit werden wir haben? Diese Tage werden enden, gewiss. Die Augenblicke werden vorbeigehen wie freundliche, aber fremde Passanten. Sie werden uns genommen und hinab gelassen in ein Dunkel. Das hat mir am Leben immer Angst gemacht: dieses Dunkel. Das hat mir die Welt immer schwermütig gemacht, eine Schwermut der Sommerhitze in den Gärten am See, des Plätscherns am Landesteg, der schweigenden Gänge auf Sandwegen ins Dorf. Thymian, Lavendel. Die Welt ist mir wie eine Geliebte, die ich meiden müsste, aber nicht kann. Eine betörende, verheißungsvolle Stunde, die nichts halten kann und deshalb das Glück noch grausamer leugnet. Die Stunden können alle nichts halten, sie halten das Leben nicht wie ein zerborstener Brunnen, die Wirklichkeit nicht wie ein zu grobes Netz. Die Wirklichkeit ist fein, staubfein, nichts kann sie halten. Wie nahe ist der Tod? Eleonors Haut hat einen Bronzeton angenommen von den Tagen hier am See. Sie ist glatt und warm. Sie atmet. Sie streckt sich unter meine Hand wie eine Katze und drückt sacht gegen mich, sie will berührt werden. Eleonor will berührt werden. Sie braucht das Leben. Sie muss wissen, dass da jemand ist, damit sie weiß, dass sie da ist. Aber sie ist kostbar geworden durch den Herbst, den es geben wird. Jeden Tag am See, in diesem Haus, mit den Morgengardinen, die sich bauschen, gehen wir hinunter in das Dunkel jenseits der Ränder. Staub weht dort. Jeden Tag erstehen wir neu daraus auf, denke ich, nur um uns jeden Tag aufs Neue zu verlieren. Eleonor küsst mich. Sie schlüpft in die Schuhe und durchquert das hohe, weite Zimmer mit Lauten von leichten Sohlen. Die Laute sind eine Spur, die sie in den Morgen legt, eine zuversichtliche Melodie, eine Morsebotschaft, ein unsägliches Muster in die luftige, frohe Wirklichkeit hinein, ein Silberfaden, der durch ein scheiniges Gewebe hindurch schießt und mit seinem scharfen, feinen Glanz einen Sinn wirkt. Hoffnung, denke ich. So durchschießt Gott unser Leben. So sind wir umschlossen von der Leichtmütigkeit des Seins, weil der Tod nahe ist. So schauen wir hindurch, auf die Konturen der Zeitlosigkeit, in der die Tage in diesem Haus am See nie enden werden. In der jede Stunde, jeder Flügelschlag der Fliegen feiert. So leitet uns der Silberfaden vorwärts ins Ungeahnte, ins große Verlieren, damit wir hindurch dringen. Das Silber der Hoffnung: Wir werden auferstehen. Einmal für allemal.

Berlin

Damals in Berlin. Transitstrecke, Schießbefehl, Mauergraffiti. Auf dem Kudamm flanierten die Nachteulen und schrägen Vögel, unter manchem Pelzmantel saß nur nackte Haut. Wir drängten uns zu viert am Café Kranzler, lachend, staunend, hilflos, wir Landeier aus dem Westen. Patty Smith besang die Nacht, die den Liebenden gehörte, und auf der Aussichtsplattform schauten wir über die Grenze: der Minengürtel, die Stacheldrahtwälle, die Wachtürme. Wir waren mit Frederik unterwegs, der uns seine Bude zum Übernachten gab. Klopapier mussten wir kaufen und Kaffee, seine Schränke waren leer, ich dankte ihm ironisch. In dieser Nacht schlief ich wild mit Waltraud, wir würden uns nicht mehr lange haben, im Frühjahr würde ich abfliegen, seit einem Jahr wussten wir es, wir hielten uns und sie weinte und wir verstanden nicht mehr, warum ich gehen musste. Sieben Jahre später strömen Zehntausende in den Westen, es gibt Begrüßungsgeld, einer weint vor der Kamera, und die ersten Passanten flanieren durchs Brandenburger Tor. Waltraud habe ich nie wiedergesehen.

Kvikkjokk

Damals, im Wanderheim in Kvikkjokk. Wir waren unterwegs ans Ende der Welt, Kathrin und ich in meinem alten Volvo. Wir kamen aus dem Süden, die Vorderachse war angebrochen, der Mechaniker auf dem Einödhof sagte: Vi kan pröva. Die Straße führte durch nordischen Wald an langen Seen vorbei, in Kvikkjokk schlugen wir unser Zelt auf. Apfelkuchen bestellte ich im Wanderheim und bekam ein Stück mit Biskuitboden und Butterstreuseln und einem Hauch Zimt. Draußen ging ein Wetter nieder, wir froren in der dunklen Hütte in unseren Sommersachen. Stiefel polterten, Rucksäcke lehnten im Flur, es roch nach feuchten Sachen. Der Königsweg führte bis in den Nationalpark hinein, auf der Karte waren Flussfurten und Lappenlager eingezeichnet. Ich fühlte mich geborgen hier. Lapplands Paradis. Ich fühlte mich in unserem Zelt geborgen, wo wir die Rüdesheimer von nebenan einluden zum Gastmahl. Linseneintopf gab’s aus der Dose, mit Wärschtsche, sagten sie. Später stritten wir uns über das Mückenmittel, das hier nach Teer roch, ich will das nicht im Zelt haben, sagte Kathrin. Manchmal fragte ich mich, wieso ich sie überhaupt mitgenommen hatte. Wir wussten nicht, was uns alles bevorstand, damals. Sonst wären wir in Kvikkjokk geblieben. Es war eine schwierige Zeit.

Kindheit mit Anna

Es war in meiner Kindheit in Böhmen. Oder Mähren? Unser Flecken lag hinterm Wald zwischen Kartoffeläckern, zur Stadt hatten wir es einen halben Tag mit dem Fuhrwerk und zum Gut eine Viertelstunde zu Fuß. Wenzel sang immer auf dem Kutschbock, eine Volksweise, wir sangen sie nach, knöcheltief im Dreck. Anna wohnte auf dem Gut. Ich sah sie am Fenster sitzen und Klavier spielen. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, mit perlenbesetzten Kämmen, es leuchtete golden im Nachmittagslicht. An der Wäscheleine hingen ihre Sachen, zwischen Brennnesseln und der alten Zinkwanne und den schorfigen Apfelbäumen. Von den Äpfeln stahl ich und einmal ihr Kleid von der Leine, es war phloxblau mit weißen Blümchen. Vielleicht habe ich gedacht, wir wären verlobt, sonst hätte ich nicht mit dem Stein nach dem Landauer geworfen, als sie eines Tages in die Stadt zog. Die Flieger kamen und warfen Bomben, wir flohen ins Reich, von Anna weiß ich nur, dass sie Pianistin werden wollte. So stelle ich sie mir heute vor: im phloxblauen Spitzenkleid, die Haare hochgesteckt, am Flügel im Konzertsaal in Budapest, Berlin oder Prag. Aber niemand kennt ihren Namen. Es ist auch nur so eine Erinnerung, die mir kommt, hinten im Apfelgarten meines Hauses, wenn die frische Wäsche im Wind trocknet.

Mareike

Die Römer waren nie hier. Römersandalen fand ich nur an Mareikes reizenden Füßen. Wir saßen am vogellosen See, zwei Jungs packten Nutellabrote und Himbeerbrause aus, eine Fette sonnte sich nackt. Alte Weidenmänner breiteten ihre Ruten zu einem Versteck, in das ich gern mit ihr geschlüpft wäre, der Professor und die Studentin. Hinter dem Zaun weideten Max und Moritz, schweifschwenkend, ein Weg führte bergan zwischen Traubenkirschen und Haselkätzchen zum Gutshaus, wo schon die Kaffeetafel wartete. Ich wolle mit ihr die langen Landstraßen gehen, rief ich, im Schatten der Linden, Staub an den Füßen! Sie lachte unterm Strohhut. Wir waren Gäste der Carl-von-Ossietzky-Stiftung, hockten mittags in der brutwarmen Bibliothek, wo es nach Holz und Büchern roch, gingen abends matt und erregt auf unsere Zimmer. Heute denke ich, ich hätte sie fragen sollen. Ihr Studium, ihre Wünsche, die Zukunft. Heute ist mir das der Anfang eines nie gewesenen Lebens.

Isa und der Waldkauz

Auf dem vereisten Waldweg erzählten wir einander unsere Leben. Sie trug hohe Stiefel und eine Jacke, die laut knitterte. Atemwolken, Schlittenspuren, auf dem Waldfriedhof entdeckten wir den Kauz im Dachgiebel. Schuhu. Ich bot ihr von den Zigarren an, den feinen, dünnen aus der Pappschachtel, die nach Limette und Minze schmeckten. Um den Hals hing an Lederriemen ihre Kamera. Zuhause in ihrem Wohnzimmer tranken wir heißen Tee, ich tunkte den aufgeschnittenen Tampen ein, dass die Butter zu gelben Augen zerschmolz. Am nächsten Morgen war sie schon aufgestanden, ich sah, wie sie Fettcreme und Lidschatten auftrug, wie welk die Strumpfhose war, bevor sie hineinschlüpfte, wie schiefgetreten die Stiefelabsätze. Sei so lieb, sagte sie. Isa, sagte ich, Isa! Ich wartete nicht, bis sie wiederkam. Noch heute habe ich den Geschmack ihres Lippenstifts im Mund, von unserem letzten Kuss unter der Tür.

Der Schatten junger Mädchenblüte

Was meinst du?, fragte ich Georges. Zwölf, höchstens dreizehn, meinte er. Ich sah sie unter den Platanen, am Brunnen, in den Altstadtgassen. Ich sah sie im Tabakladen und auf der Brücke über den Fluss. Ich sah sie beim Bäcker, wo sie die großen Brote kaufte, und im Café, wo sie eine Orangina trank. Ich sah sie in ihren rosa Espadrilles und ihrem Trägerhemdchen, wie sie die Läden absuchte, die Mousselinekleider wehten wie Fahnen. Ich sah sie am Teich mit ein paar Jungs aus ihrer Klasse, sie sprangen vom Felsen und klauten ihr das Badetuch, es gefiel ihr. Nach dem Gewitter fand ich ein Höschen im Gebüsch, so ein elastisches auberginefarbenes Nylondingelchen, unten nass und oben sonnentrocken, schwarze Spitzenbordüre, Marke mademoiselle, Größe sechsunddreißig. Ich nahm es mit, in meiner Handgelenktasche. Brigitte merkte nichts. Ich bin doch nicht pädophil, gestand ich Georges verzweifelt. Lass gut sein, sagte er. Wir machten einen Ausflug in die Provence, um mich abzulenken, der Wind strähnte die Zypressen, ich bekam einen Sonnenstich und verbrachte die letzten Tage im Bett. Brigitte pflegte mich. Das Höschen fing an zu stinken. Im Jahr darauf fuhren wir in die Bretagne.

Hohe Breitengrade

Hohe Breitengrade. Longyearbyen. Ewas kleines Gesicht, gerötet unter der Pelzkapuze. Ihr ernster Blick, wenn sie über den Fjord schaute. Gjelder hele Svalbard stand unter dem Schild, ein rotes Dreieck mit dem Schattenriss eines Eisbären. Ohne Gewehr durfte keiner die Siedlung verlassen, ich hielt mich nicht daran, bis ich einmal abends im Dunkel das Biest knurren und schnobern und jammern hörte. In der Kafeteria saßen die Männer, Aquavit in den Emaillebechern, und rauchten russische Zigaretten. Ein halbes Jahr, bis zum Winter. Dann wurde hier dichtgemacht. Ich liebte ihr Englisch mit dem russischen Akzent, sie klang dann so kindlich, das täuschte mich, sie klang so kindlich, als sie verzweifelt sagte: I am in love wiss John. Seit der Nacht, in der sie mich angeschossen hatte – sie habe mich für einen Bären gehalten, heulte sie –, hielt ich mich lieber an die Männer. Wir tanzten im Kasino, veranstalteten eine Tombola mit Ewas Sachen, stöberten im alten Barentsburger Bergwerk, einer verlor durch Erfrierung einen Zeh. Der von der Kälte spiegelglatte Fjord. Als das Schiff kam, hatten die beiden eine Kabine zusammen. Ich flirtete mit der Institutsleiterin und wusste, dass ich nie mehr hierher zurückkam. Hohe Breitengrade, davon werde ich meinen Enkeln noch erzählen.

Boulevard

Mein Lied fängt an: Ich suche dich auf jedem Boulevard. Auf dem großen Platz in der Feriensiedlung saß ein Langhaariger und spielte Beatlessongs auf der Gitarre, der hat mir damals Lust gemacht. Und es war genau so: Strandpromenade, Palmenboulevards, der Mastspitzenwald in der Marina, die bunten Markisen der Straßencafés. Das Sitzen abends auf der sonnenwarmen Mauer, Frauen gingen in kurzen Röcken mit Sonnenbrillen, in den Bars flipperte das Jungvolk, da gehörte ich nicht mehr dazu. Ich treff dich zum Kaffee in jeder Bar, reimte ich. Ich fantasierte von meinem Boot, das am Kai läge und dass wir die Meere der Welt beführen, gemeinsam. Zum Abschied gabst du mir einen Kuss auf die Wange, sacht, warm, duftend. Deine sommerbraune Haut. Dein Midinettelachen. Während wir bei Onkel Maxence in Toulouse waren, fuhrst du ab. Aber das Lied ist Wirklichkeit geworden: Bis heute suche ich dich auf jedem Boulevard, und eines Tages werde ich dich finden.

Kristina

Das Wesentliche war eine grundsätzliche Fremdheit zwischen uns. Ich weiß nichts mehr davon. Etwas, das nichts besagt, solange ich nicht wieder darin bin und alles vergesse. Wenn ich zu erzählen versuche, wer ich war bei dir, erfinde ich. Ich entwerfe mich auf etwas hin, das ich nicht mehr bin, aber war, aber war, indem ich es gerade nicht war. Ich erfinde mich als mich selbst, der ich nicht ich war, der ich nicht bin und der auch jetzt nicht ist, was er war – ich kann nichts als lügen.

Es kommt mir vor, als hätte ich nicht gedacht, wenn ich bei dir war. Das kann natürlich nicht sein, ich weiß. Sicherlich habe ich irgendetwas gedacht, nur eben nicht so wie sonst. So wie jetzt: Dass ich dachte, änderte nichts daran, dass ich nicht war. Also dachte ich nicht.

Wenn wir zusammen waren, erkannten wir uns in keinem Spiegel wieder. Wir standen nackt nebeneinander und konnten uns, jeder sich dort, beim Andern, nicht sehen. Wir hatten kein Aussehen. Wenn ich zuhause in den Spiegel sah, wollte ich nichts mehr von mir wissen, versuchte ich verzweifelt, nichts mehr wissen zu müssen von mir. Ohne dich konnte ich es nicht.

Was mich zu dir hinzog, war die Angst vor deiner Fremdheit. Die Angst, und zugleich das Vertrauen in sie, weil das, wovor ich mich fürchtete, dasselbe war, was dich dir selbst fremd werden ließ. Deine Fremdheit war meine eigene, meine Angst, dass nichts in dir mich würde bergen können, wir immer nackt und schutzlos bleiben würden und dass es diese Angst und Fremdheit war, die uns stärker zueinander hinzog als alles andere. Wir waren einander ausgeliefert. Jedesmal, wenn du mich berührtest, war die Angst da, aber zugleich auch die hemmungslose Gier danach, in uns beiden, wir mussten, denke ich, immer aufs Neue erfahren, wie fremd jeder sich durch den Anderen wurde und wie jeder in der Fremdheit des Anderen als seiner eigenen erst bei sich selbst war.

Wir lebten von dieser Fremdheit. Wir hielten uns sie, als könnten wir sie aufwachsen und sich vermehren sehen, tatsächlich aber hielt sie sich uns. Wir waren ahnungslos in sie geraten, wir trieben uns noch selbst in sie hinein, ohne zu verstehen, dass wir dort gar nicht mehr waren. Wir waren wie Kinder, wir spielten und fürchteten uns. Wenn wir miteinander geschlafen hatten, lagen wir berührungslos nebeneinander, als müssten wir widerrufen können, was geschehen war. Die Fremdheit ließ sich nicht mehr abgrenzen. Wir waren zwei unbegrenzte, unübersteigbare Fremdheiten, die sich ineinander aufhoben, sobald wir uns erkannten, unbegrenzt und endlich, die alles nichteten, was wir uns selbst gewesen waren. Es gab Augenblicke der vollkommenen Gewalt des Einen über den Andern, wir lieferten uns aus und vernichteten uns gegenseitig, wir suchten diese Augenblicke und es graute uns davor. Es graute uns vor diesem Nichts, das wir einander sein konnten, das jeder selbst war und das sich niemals mehr widerrufen ließe. Wenn wir miteinander geschlafen hatten, sprachen wir nicht darüber. Wir vermieden es, daran erinnert zu werden. Wir zeigten einander nur immer wieder: Ich will dich. Ich brauche dich. Wir konnten uns verlieren. Erst dadurch konnten wir uns vereinigen. Erst dadurch waren wir nicht mehr. Wie unwiderruflich das war und wie dennoch jeder sich, sobald er allein war, wieder zurückbekam, sich aufs Neue verlieren musste, wie ihn dies immer wieder zum Andern hintrieb und wie diese grundsätzliche Fremdheit das Wesentliche war – davon kann ich nicht erzählen.

Der Norden

Der Norden ist ein großer Wald. Man kann sich verirren und gelangt an versteckte Seen, man kann sich nicht finden lassen und geht doch nicht verloren. Tage im T-Shirt, es wird nicht dunkel, die Mücken schwärmen. Ich breche morgens auf, kaufe mir bei freundlichen Menschen mein Brot, bin unterwegs und der Abend kommt ohne Dämmerung, im Licht schlage ich mein Zelt auf, wo es gerade passt, ich bin immer irgendwo, heute hier, morgen dort, ich hab es selbst so gewählt. Eines Tages kam ich in einen Weiler. Sieben Häuser, eine Zapfsäule, ein Kaufmannsladen, ein Landesteg am Wasser. Jesus älskar dig, Jesus liebt dich, stand auf einem Plakat an einem Strommast, aber ich verstand kein Wort. Ihr Haus war frisch gestrichen, das Rot aus Falun, die Veranda bot Schutz, der Hof war mit Kies eingeworfen und bildete Tümpel vom Regen. Ein Wetter brach los. Der Wind peitschte die Birken. Da hat sie die Tür geöffnet und mit ihren Händen gesagt: Komm rein. Ich geb dir Zuflucht vor dem Sturm. Sie hat mir aus Wurzeln und Zitronenschale einen Tee gekocht, ich musste meine Sachen ausziehen und über eine Leine über dem Ofen hängen. Der Hund schlief auf dem Türvorleger. Sie hatte blaue Augen, blau wie der See, und rote Haare. Ich saß warm und trocken am Tisch und packte meine Pfeife aus, aber sie duldete nicht, dass ich rauchte. Ich erzählte ihr stattdessen Geschichten, sie staunte, verstand aber kein Wort. Aber ich sagte ihr, dass ich ein Nichtsnutz bin, ein Tagträumer, ein Taugenichts, ein Schreiber von Groschenromanen und windiger Geschichtenerzähler. Das macht nichts, sagte ihr Lächeln. In der Nacht stand sie an meinem Lager und wollte nicht unter den Schlafsack kommen. Wir saßen im Mondlicht und schwiegen. Wir berührten uns. Bevor sie einschlief, flüsterte sie: Jag älskar dig. Jag längtar efter dig, sagte sie am Morgen, als ich mit dem Kaffeebecher am Tisch saß. Sie liebte mich. Sie sehnte sich nach mir. Aber ich verstand kein Wort. Schön, sagte ich, das Wetter hat sich verzogen. Und ich packte meine Sachen, gab ihr einen Kuss auf die Wange und wanderte weiter. Erst später habe ich mir in einer Buchhandlung ein Wörterbuch gekauft. Ich kehrte um, fand aber den Weiler nicht mehr und den Wald und nicht einmal den See. Und heute? Heute wünschte ich, ich könnte nur noch einmal dort sein, in ihrem Haus, an ihrem Tisch, und ich könnte Ja sagen. Mit meinen Händen. Damit jeder es versteht.

Kreta

Damals, auf Kreta. Wir warteten auf das Schiff, keiner wusste, wann es gehen würde. Santorina lächelte süffisant und schaute sich um. Die Zeit stand still. Später wussten wir nicht mehr, was wir hier gewollt hatten. Es war ein großartiger Nachmittag. In den Bergen hatten wir das Haus. Während die Anderen das Fußballspiel in der Taverna schauten, streunte ich durch die Berge und suchte Schatten. Ich kam an einen Bachlauf, sprudelndes Wasser über Felsen, grün stand es in Kolken, schattete von den Korkeichen, war kalt wie ein Eiskeller. Ich erfrischte mich. Danach machte ich mich auf und suchte nach dem Ursprung. Ich kam in ein Felsental, wo ich von fern einen seltsamen Ruf hörte. Einen Lockruf: Hi-willi-williwill. Ein wildes Ziegenmädchen hütete seine Herde am Quell. Sie fing Drosseln und rupfte sie; sie tanzte wild und nackt und spielte dazu Flöte, eine pentatonische, dreitausend Jahre alt, minoisch, schätzte ich. Ich versuchte, mit ihr zu reden. Sie kannte die Wasser, die hier flossen, sie konnte sie fließen und versiegen machen. Wer sich in sie verliebt, ahnte ich, hängt bald elend am Ölbaum. Sie spielte, bis mir wirr im Kopf wurde und ich fieberte. Die Anderen fanden mich unter einem Ginsterbusch und brachten mich ins Krankenhaus. In den Nächten hörte ich fern den Lockruf, den Ziegenruf, und mich gelüstete es böckisch, ihm zu folgen. Als das Schiff endlich ging, schaute ich nicht zurück. Santorina tröstete mich. Wir kommen wieder her, sagte sie mit geschürzten Lippen. Aber das ist etwas, was nicht wiederkehren soll.

Desirees Gartenfest