Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
Es war eine Zeit fragt nicht, vor wieviel tausend Jahren, niemand weiß es, da war ein Meer, wo heute die Schwäbische Alb sich erhebt.
Es war ein warmes Meer, reich an Tieren. Steinkorallen wuchsen am Ufer wie unterseeische Gebüsche. Zwischen ihren Zweigen regten und bewegten sich, wie heute noch an den warmen Gestaden der südlichen Meere, Tausende von Seesternen und Seeigeln, Muscheln, Schnecken und Würmern, von Krebsen und Korallenfischchen in üppiger Farbenpracht. Auf der hohen See schwammen Fischherden und Ammonshornschnecken, verfolgt von mächtigen Fischeidechsen, den Raubherrschern dieses Ozeans.
Die Kalkschalen und die Knochen der Millionen, die da starben im Laufe der Jahrhunderte, sanken nieder auf den Boden des Meeres. Die meisten wurden am Ufer durch die Brandung zermalmt, oder sie wurden zerdrückt durch die Massen, die auf sie fielen. Sie bildeten einen Kalkschlamm und dieser wurde zu Stein. Das sind die Felsen, die tausend Fuß hohen Felsen unserer Alb.
Die Schalen und Knochen, die nicht zerrieben wurden, betteten sich ein in den Schlamm des Meeres, versteinerten dort und sind uns erhalten bis auf den heutigen Tag. Sie geben uns Kunde von jenem Ozean und seinem Leben.
Es gab auch Inseln in diesem Meer, aus der Tiefe heraufgebaut von den Korallen. Üppige Pflanzen wuchsen auf diesen Inseln am Ufer, fiederblätterige Sagopalmen, Araucariatannen und Farnkräuter.
Aber noch gab es keine Laubbäume auf der Erde.
Unter den Palmen und Tannen krochen Schildkröten und ungeheure Krokodile mit fingerlangen, schneidenden Zähnen, die Herrscher der Inseln.
Doch schon erhob sich das Leben der Tiere auch in die Luft. Riesige Wasserjungfern, Bockkäfer und Prachtkäfer und Nachtschmetterlinge schwirrten zwischen den Bäumen und wurden gejagt von seltsamen Flugeidechsen und von dem ersten Vogel, der auf der Erde erschien, einem Vogel mit echten Federn, aber mit Zähnen im Schnabel wie die Eidechsen und mit einer langen Reihe von Schwanzwirbeln, wie sie heute ähnlich nur der junge Vogel im Ei zeigt.
Zugleich mit dem ersten Vogel lebten auch schon Haartiere, jedoch nur kleine Wesen von der Größe einer Maus und zur Ordnung der Beuteltiere, der niedrigsten aller Säugetiere, gehörig.
Das waren die Inseln des alten Jurameeres, aber es waren nur Inseln, denn noch beherrschten hierzulande die Wasser die Oberfläche der Erde.
Danach kam eine andere Zeit, da war der Felsengrund jenes Meeres hochgehoben über den Wassern und unsere Alb ein trockenes und wunderbar schönes Land. Die Sonne herrschte dort und ewiger Sommer. Schnee und Eis waren unbekannt. Denn noch gab es keine hohen Berge auf der Erde, wo der Schnee ewig dauert und Land und Luft weit und breit erkältet.
Die Bäume des Waldes waren Myrten, Pinien, Zypressen und immergrüne Nussbäume, Eichen und Ulmen. Sie wuchsen hoch hinauf, solange sie wollten, denn niemand fällte sie, und sie trugen Blätter und Früchte durchs ganze Jahr. Palmen und Farnbäume beschatteten die Täler, Waldränder und Waldlichtungen mit ihren gefiederten Zweigen.
Auch gab es damals viele heiße Wasserquellen auf unserer Alb; die sprudelten aus dem warmen Erdinnern.
Am Tag schien die Sonne hell und klar. Am Abend kam der Regen und erfrischte Pflanzen und Tiere. So war das Land reich an Wasser, warmen Seen und Bächen. Im hohen Rohr an den Ufern tummelten sich die ersten großen Vierfüßer der Erde, doch keiner von ihnen glich den Tieren unserer Tage.
Da kamen zuerst die Beoris, dickhäutige Rüsseltiere, die Stammväter unserer Tapire, die eine Art so groß wie ein Pferd, eine andere wie ein Schaf, eine dritte nur wie ein Hase. Mit ihnen lebten seltsame Tiere, die Thoas, halb Tapir, halb Reh, schlank und fein, ohne Rüssel, wahrscheinlich die Stammväter der Wiederkäuer. Reichliche Nahrung lieferten ihnen die saftigen Uferpflanzen, die Wassernuss und die Lotosblume, die hohen Gräser und die süßen Knospen der Bäume.
Und die Geschlechter der Beoris und der Thoas lebten viele Jahrhunderte, da verschwanden sie und andere traten an ihre Stelle.
Jetzt kam die Zeit, da feuerflüssige Massen aus dem Erdinnern die Kalkfelsen der Alb durchbrachen und ihre Lava über sie ergossen, und weithin leuchteten oft in der Nacht die Feuerherde.
Nun erschien eine Tierwelt auf unserer Alb, so mannigfaltig und so großartig, wie man sie sich nur im Paradies vorstellen kann, und wie sie heutzutage kaum noch in den Urwäldern und an den Seen von Borneo und Sumatra zusammenlebt. Wir finden ihre Gebeine in der Erde. Sie geben uns sicheres Zeugnis, dass diese Tiere hier auf der Alb viele Jahrhunderte ihren Wohnsitz gehabt haben.
Da lebte ein Affe im Wald, fast so groß wie ein Mensch, dem menschenähnlichen Orang-Utan in Borneo am nächsten verwandt. Der baute sich Nester aus Zweigen und Laub auf den Feigenbäumen, Mandel- und Brotfruchtbäumen und lebte von ihren Früchten. Und mit ihm kletterten in dem dichten Gezweig des Waldes andere Affen herum, ein schlanker Gibbon und ein lustiger Quereza und wohl noch viele andere Vierhänder, von denen keine Reste auf unsere Tage gekommen sind.
Das großartigste Tierleben finden wir an den warmen Seen der Alb. Dort lebten die Ungeheuer des Landes. Denn es war die Zeit, wo die großen Dickhäuter, der Mansao und der Gomari, auf der Erde erschienen.
Der Mansao war der Stammvater der Elefanten. Die Erde zitterte unter dem Koloss, denn seine Höhe war zwei und seine Länge drei Mannslängen. Er hatte Stoßzähne wie unsere heutigen Elefanten, aber seine Kauzähne hügelig wie die des Schweines.
Mit ihm lebte der Gomari, ein anderes dickhäutiges Rüsseltier fast von gleicher Größe. Seine mächtigen Stoßzähne steckten im Unterkiefer und waren nach unten gebogen wie bei keinem Säugetier der Jetztwelt. Seine Nahrung und sein Treiben waren nach Art des Nilpferdes. Den ganzen Tag lag das Ungetüm nahe dem Ufer ruhig im Wasser, nur seine mächtige Schnauze mit den Naslöchern ragte heraus, denn es hatte seine krummen Hakenzähne an den Baumwurzeln eingehakt, die in das tiefe Wasser hineinwuchsen.
Weiter lebten an den Seen der Alb vielerlei Arten der mächtigen, dickhäutigen Nashörner und Tapire und Sikas, die Stammväter der Schweine.
Während des Tages, wenn die Sonne heiß brannte, lagen die Tiere träge im Wasser und Schlamm des Albsees.
Ruhig und friedlich glänzt der Wasserspiegel. Auf den breiten Blättern der Seerosen sonnen sich langschwänzige Aligatorschildkröten, zwischen Schwertlilien und Sparganien schleicht langsam eine Natter auf einen Frosch zu, der dort mit klugen Augen aus grünen Wasseralgen hervorlugt. Langbeinige Flamingos und Ibisse waten am Ufer zwischen dem hohen Kolbenrohr, und auf den Sumpfzypressen, hoch über dem Wasser, sitzen in Reihen schwere Pelikane und putzen bedächtig ihr fettglänzendes Gefieder. Von Zeit zu Zeit erhebt sich einer der plumpen Vögel und stürzt kopfüber hinunter in die klare Flut, um im nächsten Augenblick mit einem zappelnden Barben im Schnabel wieder aufzutauchen.
Wenn der Abend kommt, so wird es unruhig am See. Da erheben sich langsam die schweren Dickhäuter, die Mansaos und die Gomaris, die Nashörner, die Tapire und die Sikas, eines nach dem anderen, und steigen schnaubend und pustend an den morastigen Ufern herauf, schütteln sich und spritzen Wasser und Schlamm weithin, und dann geht es fort mit breitem, schwerem Tritt in den Wald hinein auf Nahrungssuche, in den Wald von immergrünen Eichen, Ahorn und Feigenbäumen.
Jedes Tier hat seinen gewohnten Pfad; wehe aber, wenn eines den Pfad des anderen betritt. Dann stürzt sich dieses auf den Eindringling, und sie schlagen sich mit ihren furchtbaren Rüsseln, Stoßzähnen und Hörnern, dass die Erde erbebt und der Wald erdröhnt von ihrem Gebrüll.
Es gab auch schöne Auen auf der Alb zur selben Zeit und üppigen Graswuchs an Hügeln und Talseiten durchs ganze Jahr.
Hier weideten in der Abendkühle die flinken Runas, die Stammväter unserer Pferde, und die Muntjaks, die Stammväter unserer Hirsche, zusammen in Herden, bunt gemischt, wie heute noch die Zebras mit den Antilopen in Afrika.
Es ist nahe Sonnenuntergang. Lustig trabt ein Rudel dort den Hügel hinunter zum Bach, zur Tränke. Sie nahen einem dichten Lorbeergebüsch. Schon sind die vordersten, einige Runastuten und Muntjaktiere, daran vorüber, da ertönt ein Gebrüll, und auseinander stiebt das ganze Rudel nach allen Seiten. Vor uns aber steht ein kolossaler Wolf oder Bär und hält ein Runafohlen unter seinen Pratzen. Das ist der furchtbare Torqua, der grausame Beherrscher jener herrlichen Tropenwälder, nach Bau und Zähnen ein Mittelding zwischen Bär und Wolf, aber weit größer als ein Tiger.
Es lebten noch viele andere, kleinere Tiere zu jener Zeit auf unserer Alb: eine Gattung, die man mit unserem Dachs, eine andere, die man mit dem Hamster, wieder eine, die man mit dem Siebenschläfer vergleichen kann.
Auch diese Kleinen haben böse Feinde: eine Riesenschlange, die, steif von einem Baumast herabhängend, selbst einem Ast gleichend, auf die vorübergehenden Tiere lauert, und eine große Brillenotter, die, zwischen Farnkräuter versteckt, blitzschnell hervorschießt auf die unvorsichtig Nahenden. Ein Biss, ein lähmender Schrecken, und matt und zitternd hüpft der Hase weiter, noch zehn, zwanzig Schritte. Ruhig, sicher ihres tödlichen Giftes, schleicht die Schlange ihm nach; der Hase stürzt, zuckt krampfhaft, streckt sich und verendet, und die grässliche Otter schlingt ihn hinunter.
Also Schmerz und Tod auch schon damals in einem so herrlichen Lande!
Jahrtausende wohl dauerte jene mannigfaltige und großartige Tierwelt, jene prächtige Pflanzenwelt auf unserer Alb. Noch war der Mensch nicht da, der sich der großen, schönen Natur hätte freuen können.
Und ihre Tage gingen vorüber.
Wieder kam eine andere Zeit. Und das war eine harte Zeit. Da wütete das Feuer überall im Innern unseres Planeten und warf die Hochgebirge empor. Und es türmten sich auf zum Himmel, weit höher als sie heute sind, die Schweizer Alpen, die Gebirge von Grönland und Norwegen, die Pyrenäen, der Kaukasus, der Himalaja und die Kordilleren.
Diese Hochgebirge bedeckten sich mit ewigem Schnee, denn sie reichten hinauf in die kalten Höhen des Luftmeers. Der Schnee wuchs zu Riesenbergen, bis er als Lawine in die Täler herunterstürzte. Er erstarrte an den Hängen zu Eisgletschern und diese schoben sich vor, meilenweit über die Länder am Fuß der Gebirge und in die Meere und erkälteten Luft und Wasser auf der Oberfläche der Erde.
Da wurde es eisig kalt in Deutschland. Die Gletscher reichten von den Schweizerbergen weit herein nach Bayern und Oberschwaben. Ein kaltes Meer voll schwimmender Eisberge bedeckte ganz Norddeutschland. Da wurde auch unsere Schwäbische Alb ein Schneegebirge. Palmen, Zypressen, Feigen und Mandelbäume erfroren, und mit ihnen ging die ganze, schöne Tierwelt jener Zeit zugrunde bis auf wenige Reste, die sich den neuen Verhältnissen anbequemen konnten.
Flechten und Zwergbirken, kleine Weiden und Moose bedeckten jetzt die Hochfläche der Alb wie heute in Grönland. Statt der munteren Runas und Muntjaks erschienen schwerhufige Renntiere und Moschusochsen und weideten das spärliche Gras auf der trostlosen Ebene. Der Luchs und der Fjällfraß, die sie noch heute am grönländischen Gletscher jagen, verfolgten sie auch hier. Ihnen, dem Murmeltier und dem weißen Alpenhasen genügte der kurze, nordische Sommer, dem der lange, traurige Winter folgte.
Eintönige Kiefern- und Eibenwälder bedeckten jetzt die Gebirgsabhänge, Erlen, Eichen und Weiden die Täler.
In diesen Wäldern und Tälern hauste trotz der Kälte eine großartige Tierwelt: der kolossale Höhlenbär, der mächtige Höhlenlöwe, die Höhlenhyäne, der rothaarige Mammut-Elefant, ein Nashorn, freilich alle mit einem dicken Wollpelz bekleidet; sodann große Wiederkäuer, der Wisent, der Urstier, der Riesenhirsch und das Elen.
Breite Pfade, von diesen Ungeheuern getreten, zogen sich durch die sumpfigen Täler hin in die Waldgebirge hinein. Aber die Pfade kreuzten sich schon mit anderen Pfaden, den Pfaden der Menschen.
Denn jetzt, in dieser kalten Zeit, tritt zum ersten Mal der Mensch in Europa auf. Er lebte in Höhlen, die er sich grub, und in solchen, die er im Gebirge vorfand.
Die Felsenhöhlen unserer Alb waren wohl seine ersten Wohnstätten hierzulande.
Es war ein Menschengeschlecht, das in Aussehen, Bau und Sprache uns ganz unähnlich war, dem heutigen Lappländer zu vergleichen, wohl von derselben Rasse, nur wilder als dieser. Es war ein raues Jägervolk, ohne Haustiere und ohne Metall, das mit Feuerstein- und anderen Stein- und Holzwaffen den Höhlenbären bekämpfte und von seinem Fleisch, von dem der Renntiere, von Fischen, Wurzeln und Beeren sich nährte.
Das war die Eiszeit.
Und wieder kam eine andere Zeit, da waren die schnell gehobenen Hochgebirge allmählich gesunken, wohl auf die halbe Höhe, und der Schnee wurde weniger und weniger auf ihnen. Denn warme Lüfte wehten über unsere Schweizer Alpen von Süden her. Und von Mittelamerika herüber kam ein warmer Meeresstrom und schmolz die Schneemassen Nordeuropas. Die Eisgletscher zogen sich zurück, und die Täler wurden frei von der kalten Luft. Der Erdboden konnte wieder atmen. Pflanzen sprossen, und ein freundlicheres, wärmeres Klima kehrte zurück nach Europa und führte hinüber in ununterbrochener Dauer zu dem heutigen.
Es begann eine jahrhundertelang dauernde Einwanderung der Pflanzen und Tiere von Süden und Osten, von Asien her. Laubbäume, Buchen, Eschen, Ahorne und Linden erschienen wieder, erst einzeln, dann immer häufiger, in den düsteren Eiben- und Föhrenwäldern unserer Bergabhänge. Dazu eine mannigfaltige Flora von Gebüschen und niederen Pflanzen und mit ihnen neue Insekten, die den neuen Pflanzen angehörten, und mit den Insekten die Vögel, die von ihnen lebten, die Rotkehlchen, die Schwarzköpfe, die Nachtigallen und der Kuckuck, aber auch ihre Feinde, die Sperber, die Falken und die Habichte.
Bald sah man auch da und dort in den Wäldern und Tälern einzelne Edelhirsche und Rehe, die von Osten vorrückten. Mit ihnen kam ein neuer Bär, kleiner als der Höhlenbär, derselbe, der noch heute in Russland, in der Schweiz und in Siebenbürgen lebt.
Jetzt, mit den neuen Tieren und Pflanzen, erschien auch ein neues Menschengeschlecht in Europa. Es war eine weiße, höhere Menschenrasse mit Metallwaffen.
Die alten Pflanzen und Tiere und die alten Höhlenmenschen konnten nicht bestehen neben den neuen. Wie die Eibe durch die Buche, das Rentier durch den Edelhirsch, so wurde der Mensch mit dem Steinbeil verdrängt von dem neuen Menschen mit dem Metallschwert.
So mag in jener grauen Vorzeit in Europa, in Deutschland, überall auf unseren Gefilden und Bergen der Kampf zwischen dem gelben Ureuropäer und dem wohl von Osten eingewanderten, weißen Menschen gewütet haben.
Aber was wissen wir denn überhaupt von jenem europäischen Urvolk, das in unseren Höhlen lebte? Sehr wenig und doch auch sehr viel.
Zwar steht in den Geschichtsbüchern, die doch manches Jahrtausend zurückreichen, kein Wort von ihnen. Auch keine Sage im Volk reicht zu ihnen hinauf. Dennoch haben wir Urkunden von ihnen, so deutlich geschrieben wie die Bücher und vielleicht untrüglicher als sie. Das sind die merkwürdig bearbeiteten Knochen und Renntiergeweihe, Feuersteine und Tonscherben, die Waffen und Gerätschaften der Höhlenmenschen, die wir im Lehm unserer Höhlen finden, und nicht etwa nur in unseren deutschen, sondern auch in denen von Frankreich, Belgien, England und anderen Ländern.
Jahrtausendelang mussten diese Reste da begraben liegen, um endlich der Jetztzeit, die sie zu entziffern versteht, lautes Zeugnis abzulegen über das Leben und Treiben jener ersten Bewohner unseres Erdteils.
Von diesem uralten Volk und seinem Untergang im Kampf mit den neuen Einwanderern habe ich euch eine merkwürdige Geschichte zu erzählen.
Es war vor tausend und abertausend Jahren. Die Eiszeit war an ihrem Ende, die Erde wieder wärmer, die Sonne mächtiger geworden. Aber noch war unser Deutschland ein unwirtliches Land; denn noch herrschte die wilde Natur allerorten, und der damalige Mensch, der Höhlenmensch, griff in sie kaum anders ein als das Raubtier, mit dem er kämpfte.
In dieser alten Zeit war es, da sehen wir im Geiste an einem warmen Frühsommer-Nachmittag auf dem freien, sonnigen Platz vor dem Eingang einer unserer Albhöhlen, die jetzt einsam und verlassen im Waldesdüster verborgen liegt, ein lustiges, munteres Treiben. Nackte gelbbraune Kinder mit schwarzen struppigen Haaren kollern auf dem weichen Grasboden herum. Auf einem jungen Bären reitet ein mutwilliger Knabe und schlägt mit einem Tannenzweig auf ihn los, während ein anderer ihn an einer Waldrebe, die er um seinen Hals geschlungen hat, vorwärts zerrt. Dort liegt ein zahmer Wolf; daneben ein etwa vierzehnjähriger Junge, der ihm Kopf und Nacken streichelt, während das Tier ihm gutmütig das Gesicht leckt. Andere Knaben jagen sich in den Ästen eines uralten Eibenbaumes herum, der etwas im Hintergrund, nahe dem Eingang der Höhle steht, und dessen schwarzgrün glänzender Nadelwald sich scharf von dem grauen sonnebeschienenen Felsen abhebt. Aufrecht springt dort einer auf einem waagerechten Ast hinaus, die Arme weit ausgestreckt. Jetzt wird der Ast zu dünn, um ihn zu tragen, und wie der Blitz lässt er sich herunter, ergreift ihn mit beiden Händen, hängt frei schwebend in der Luft und schwingt sich im nächsten Augenblick hinab auf einen anderen, den er ebenso geschickt erfasst, und von dem er in einem mehrere Klafter tiefen Sprung hinunterhüpft auf den Boden und hinein in die Höhle; mit lustigem Lachen ein zweiter, dritter, vierter Knabe ebenso schnell hinter ihm drein.
Aber nicht lange, so kommen alle wieder aus der Höhle hervor. Jeder hat eine Art Beutel aus Tierfell mit hölzernem Griff in der Hand. Es sind Schleudern. Links vom Eingang der Höhle, gegenüber der Eibe, steht eine knorrige, dicke Eiche hart am Abgrund, nur eben noch in den Spalten des Felsens wurzelnd. Die meisten Äste sind dürr und starren kahl in die blaue Luft hinaus. Hoch droben hängen höchst merkwürdige Zierraten, zuoberst ein mächtiger Höhlenbärenschädel mit grinsenden Zähnen, an einem anderen Ast ein toter Uhu und weiter draußen ein Habicht. Höher oben baumelt eine Wildkatze, an ihrem dicken, buschigen Schweif aufgeknüpft, einige Schritte davon ein Fuchs, lauter Jagdzeichen und zwar solche, die zur Nahrung nicht taugen. Nach ihnen hinauf blicken jetzt die Knaben. Jeder legt vor sich einen Vorrat von runden Kieselsteinen, von der Größe einer starken Kinderfaust, die sie stundenweit unten im Tal zu diesem Zweck sich geholt haben, denn sie finden sich nirgends dort herum auf der Alb.
Das Werfen mit der Schleuder beginnt; zuerst nach dem Bärenschädel, den keiner fehlt, dann nach den höher aufgehangenen Tieren, wobei hin und wieder ein schöner Kieselstein, zum Ärger des Schützen und zum Spaß der übrigen, am Ziel vorbeisausend, weit über den Abgrund hinaus ins Tal fliegt. Nicht weit davon spielen kleine Mädchen mit einem zahmen, jungen Rentier. Lustiges, übermütiges Geschrei ertönt von allen Seiten. Ein großer Kolkrabe und eine Dohle spazieren gravitätisch einher. Der Rabe trägt kleine Steinchen und Topfscherben zusammen. Jetzt sieht er einen Knochen, an dem noch Fleischreste hängen, Überbleibsel einer Mahlzeit. Rasch hüpft er damit in eine Ecke, fasst ihn dort mit den Krallen und nagt ihn vollends ab. Die Dohle ihm nach, immer in achtungsvoller Entfernung.
Im Hintergrund, näher bei der Höhle, kauert mit untergeschlagenen Beinen eine Anzahl Frauen um einen großen Aschenhaufen, aus dem hin und wieder ein Flämmchen emporzüngelt und über dem sich, in ziemlicher Höhe, auf vier hohen Freipfosten ein einfaches, aber dichtes Dach aus Flechtwerk erhebt, zum Schutz gegen den Regen. Die Gesichtsfarbe der Frauen ist gelblich, die Augen schiefliegend, schwarz und halbgeschlossen. Ihre straffen, dunklen Haare hängen in einen Knoten zusammengeknüpft über den Nacken herunter. Sie sind bekleidet mit Renntierfellen, die, vorn zusammengenäht, bis an die Knie reichen. Arme und Füße sind nackt. Einige haben an ihrem Busen kleine Kinder, die, so klein sie sind, munter ihre Köpfchen drehen und wie junge Äffchen mit großen, klugen, unruhigen Augen das Treiben der älteren Kinder verfolgen.
Laut unterhalten sich die Weiber in einer schnarrenden Sprache, sie gestikulieren mit den Händen und verzerren oft seltsam ihr Gesicht; bald lachen sie, bald klingt der Ton wieder weinerlich. Jetzt schweigen sie plötzlich. Alle blicken nach dem Fuß der alten Eibe hin. Auch die fröhlichen Knaben und Mädchen halten ein in ihren Spielen. Es herrscht auf einmal lautlose Stille.
Dort unter der Eibe erhebt sich keuchend und ächzend ein altes Weib, eine sonderbare Erscheinung. Der weit vorwärts geneigte Kopf ist mit langen, schneeweißen Haaren bedeckt, die beinahe bis zum Boden herabfallen. Die mageren braunen, runzligen Arme sind auf Stöcke gestützt. Das Gesicht ist fahl und verzogen, das Kinn springt stark vor, und die langen, weißen Augenbrauen reichen weit herab. Die Augen sind tief eingefallen und scheinen fast ganz geschlossen, so dass man sie für blind halten könnte. Über die Schultern hängt ein helles Wolfsfell. Die weiße Farbe war bei diesem Volke ein Merkmal der Auszeichnung. Es ist die alte Parre, die Urahne der hier versammelten Familie. Langsam tappt sie über den freien Platz vor der Höhle bis an den Rand, wo der steile Fels jäh ins Tal abfällt. Dort erhebt sie die Krücke in der rechten Hand gegen den Himmel nach der untergehenden Sonne. Sie murmelt eintönige Reime in melancholischen, halb singenden, halb sprechenden Tönen; wenn sie eine Reimkehr vollendet hat, fallen die Weiber und Kinder in demselben Ton ein und klatschen in die Hände. Es ist das Abendgebet an die scheidende Sonne. Tiefgebückt humpelt die Alte mit schwerem Tritt auf ihren Sitz unter der Eibe zurück und neigt wieder ihren Kopf wie zu träumendem Sinnen tief herab.
Jetzt kommt aufs Neue lebhafte Bewegung in das muntere, kleine Völkchen. Der Platz wird notdürftig gesäubert und von allen zusammen ein Kreis gebildet. Ein junger Bursche von etwa achtzehn Jahren bringt ein eigentümliches Instrument, ein Stück von einem ausgehöhlten Baumstamm, über dessen obere runde Öffnung ein enthaartes Tierfell gezogen ist. Er stellt es neben die Alte an der Eibe, kauert dahinter nieder, nimmt es zwischen die Knie und beginnt mit den Ballen der Hände in kurzem, hackendem Takt auf die Trommel zu hämmern. Hinter ihn stellt sich ein anderer Bursche mit einem noch einfacheren musikalischen Instrument. Es ist ein langer Röhrenknochen, offenbar von einem Vogelflügel, auf dem er aus Leibeskräften bläst, zwar immer denselben Ton, aber in festem Takt mit dem Trommler.
Mit einem näselnden, nur in wenigen Tönen ohne Worte sich bewegenden und sich immer wiederholenden Gesang fallen die Weiber ein, die Alte klatscht in die Hände, und der allabendliche Tanz beginnt.
Zuerst hüpft ein lustiger Junge mit wallendem Haar aus der Höhle heraus, mitten in den Kreis hinein. Es ist der Knabe mit dem Wolf Er trägt einen Gürtel von Tannenzweigen über seinem kurzen Pelzrock. Um seinen Kopf windet sich ein Kranz von Efeu, und an den Ohren hinauf stehen die zwei schönen, blauen Flügel des Eichelhähers. Über seine linke Schulter hängt ein Bogen von Schwarzdorn, in der rechten Hand hält er eine Anzahl Haselnusspfeile.
Kaum ist er im Kreise erschienen, so springt auch schon sein Wolf zu ihm herein. Der Knabe beginnt den Tanz, kurz, mit gehobenen
Knien stampfend, zugleich auch Arme und Hände hoch in der Luft in entsprechender Bewegung. Er beugt sich nieder, erhebt sich wieder, er nähert sich bald diesen, bald jenen im Kreise und fuchtelt mit seinen Pfeilen vor ihren Gesichtern herum. Immer schneller wird das Stampfen, immer heftiger ertönt die Trommel; plötzlich, mit einem ungeheuren Satz, springt er über einige Mädchen, die sich scheu ducken, hinweg, aus dem Kreise hinaus. Der Wolf, der indes immer knurrend herumgegangen, läuft ihm nach.
»Bassa, Rulaman bassa, Rulaman« das heißt »Bravo, Rulaman!« rufen alle Kinder. Doch schon erscheinen neue Tänzer: drei Mädchen, mit kurzen Federröckchen bekleidet, Brust und Schultern mit frischen Eichenzweigen geschmückt. Ihr langes, schwarzes Haar, auf dem Kopf mit einem Kränzchen gelbleuchtender Schlüsselblumen zusammengehalten, fällt weit herab und flattert lustig im Wind. Sie beginnen einen Reigentanz, sich an den Händen fassend, vorwärts und rückwärts hüpfend. Die beiden äußeren schwingen rote Sträuße von Seidelbast und schlagen damit neckend nach den Kindern im Kreise. Zuletzt werfen sie ihre Blumen der Alten in den Schoß und verschwinden unter den Zuschauern.
Noch einige Tänzer treten auf, da wird plötzlich das heitere Treiben durch einen schrillen Pfiff vom Tal herauf unterbrochen.
Es war bei aller zeitweilig ausgelassenen Freude ein schweres, hartes, unruhiges Leben, das Leben dieser Ureuropäer, die sich selber Aimats, das heißt »Menschen«, nannten. Wie bei den Raubtieren, so wechselten bei ihnen Hunger und Überfluss miteinander ab. Jagd und Kampf mit der Tierwelt war die bald heitere und lohnende, bald gefährliche und unersprießliche Beschäftigung der Männer. Da das Wild in der Nähe ihrer Wohnstätte natürlich selten war, manchmal auch ganz verschwand, mussten sie weite Jagdzüge unternehmen und die Beute oft tagelang mühsam nach Hause schleppen.
So kamen auch an jenem Abend die Männer der Tulkahöhle von einem fernen Jagdzug nach Hause. Von ihnen erscholl der schrille Ruf, der das Tanzen der Kinder unterbrach.
Viele Pfade führten hinab durch den Wald in das Tal: am Nord- und Westabhang steil und gerade wie unsere Holzrutschen; ein anderer aber am Südabhang des Berges war ziemlich breit und hatte viele Windungen. Oben an seiner letzten Biegung lag eine gute Quelle, auf der Alb eine Seltenheit und daher hochgeschätzt; sie lieferte durchs ganze Jahr den Wasserbedarf, obgleich für den Notfall und für den Winter das Tropfwasser der Höhle genügen konnte. Zu dieser Quelle, die etwa fünf Minuten von der Höhle entfernt nach Süden lag, drängte sich jetzt die ganze Schar von Frauen und Kindern, die Knaben in wildem Rennen voraus.
Den breiten Fußweg herauf waren die Väter zu erwarten, wenn sie Beute brachten.
Nur die alte Parre, die Urahne, blieb ruhig vor der Höhle bei der Eibe sitzen.
Es war indes dunkel geworden. Man konnte von oben herunter die Männer nicht sehen, auch hörte man nicht ihre immer leisen Tritte. Die Frauen und Kinder oben am Brunnen verhielten sich still, denn es konnten auch Feinde sein, die sie überfielen. So sehr war dieses Naturvolk von Jugend auf beständiger Gefahren gewärtig, dass man schon die Kinder, sobald sie von der Höhle entfernt waren und vollends bei Nacht, an vorsichtiges Stillsein gewöhnte, wie der Wolf, wenn er auf Raub auszieht, seine gierig gilfenden Jungen durch Bisse zum Schweigen bringt.
So lugten die vielen dunklen Augen erwartungsvoll durch den finsteren Wald hinunter. Einer aber der Knaben, der mit dem Wolf
Rulaman, das heißt Rul, der Sohn, konnte nicht langer an sich halten; »Rulaba!« das heißt, Rul, mein Vater, schrie er laut in die Nacht hinein, und »Rulaman!« antwortete sofort eine Männerstimme von unten. Jetzt dass es die Väter waren, und nun stürmten die Knaben jubelnd die breiten Zickzackwege hinunter ihnen entgegen. Bald waren alle oben an der Quelle. Die Männer, kräftige, gedrungene Gestalten von untersetztem Körperbau, hatten kurze Röcke aus Renntierfeilen an. Dicke, schwarze Haare quollen unter der runden Pelzmütze hervor, die den Kopf bedeckte. Das gelbbraune Gesicht war bartlos. Ein besonders starker Mann, der bei seinem Volk als schön und stattlich galt, trug über den Schultern einen Kragen von weißem Wolfspelz. Er führte Rulaman an der Hand. Es war Rul, der Häuptling der Tulkahöhle.
Nun begann ein Schreien, ein Fragen und ein Hin- und Herrennen, wie wenn zuvor abgesperrte Lämmer zu ihren Mutterschafen gelassen werden.
Fünf Tage waren die Männer draußen gewesen, auf einem Jagdzug nach Nordost, das warme Tal des Norgeflusses hinunter, bis an den Twoba, das heißt Mammutsee, und sie kamen fast leer heim: kein fettes junges Twoba, kein Kalb vom Urstier, nur ein Korb voll großer Hechte, ein Schwan, eine Wildgans und eine Fischotter. Dies war die ganze Ausbeute. Traurig blickten sie drein, denn sie dass die frischen Fleischvorräte zu Hause aufgezehrt waren.
Die Freude der Kinder über die Rückkehr der Väter wurde dadurch nicht getrübt. In langem Zug wanderte man vollends hinüber zur Höhle, wo die Alte kurz über den schlechten Erfolg verständigt wurde. Brummend erwiderte sie einige Worte und brach dann in ein grelles, höhnisches Gelächter aus. Sie hatte den schlechten Ausgang vorausgesagt und freute sich nun, dass sie recht behielt. Schnell wurde von den Weibern das glimmende Feuer am Eingang der Höhle zu Flammen angefacht, die Fische gebraten und ohne Sorge um die kommenden Tage verzehrt. Der Schwan und die Fischotter wurden sorgfältig abgezogen, die Eingeweide herausgenommen und dann die ganzen Tiere auf einem hohen Rost über dem Feuer dürr gemacht, ebenso die Bälge, die später mit Fett eingerieben als Kleider dienten.
Frauen und Kinder zogen sich zurück in die Höhle. Die Männer aber blieben noch lange draußen bei der alten Parre sitzen, denn wichtige Dinge hatten sie ihr mitzuteilen. Sie hatten am Twobasee merkwürdige Hütten entdeckt, neugebaut, aber ohne Bewohner. Es waren große Blockhäuser aus behauenen Baumstämmen, wie man sie mit Feuersteinäxten nicht herstellen konnte. Auch Boote fanden sie; nicht sogenannte Einbäume, die aus einem großen Baumstamm ausgehöhlt werden, sondern aus Dielen kunstreich zusammengefügt.
Ein den Tulkas verwandter Aimat-Stamm, der in der Nähe des Twobasees wohnte, erzählte ihnen, dass ein Volk mit weißen Gesichtern und weichen Kleidern, aus Fellen, wie kein Tier sie hat, diese Hütten und Kähne gebaut, dass es einige Monate lang wegen der Jagd auf die Twobas am See gelebt und viele erlegt, aber nur die langen, krummen Stoßzähne mitgenommen habe. Es seien freundliche Menschen und sie hätten ihnen kleine, glänzende Ringe geschenkt. Aber sie führen schreckliche Waffen, Speere mit glänzenden, harten Spitzen, und so scharf, dass sie das dicke Feil des Twoba durchbohren. Ebenso glänzend und scharf seien ihre Pfeilspitzen, und ihre Bogen schössen doppelt so weit als die der Aimats. Sie trügen armlange, spitze, breite und prächtig glänzende Messer an der Seite, so blank, dass man sich selbst darin sehen könne wie in einem Wasserspiegel. Mit diesen Messern hauten sie mit einem Hieb einem Renntierkalb den Kopf ab. Um Bäume zu fällen, hätten sie Äxte, die nicht aus Stein seien, sondern schön und glänzend wie ihre Messer. Mit ihnen könnten sie die größten Baumstämme glatt machen oder in dünne Stücke spalten. Auch hätten sie große, zahme Tiere wie Wölfe, junge und alte und so kluge, dass sie des Nachts die Hütten bewachen und heulen, wenn ein Fremder sich nähere. Die Männer hätten versprochen, im Herbst wieder zu kommen und ihre Frauen und Kinder mitzubringen.
Dies und noch vieles andere erzählten Rul und die Männer der alten Parre. Aufmerksam und schweigend hatte sie zugehört, dann rief sie: »Wehe, wehe über uns! Das sind die weißen Kalats, die vom Aufgang der Sonne kommen! Ich kenne sie. Mein Vater ist ihnen auf einem langen Jagdzug weit nach Morgen hin begegnet. Er hat mit ihnen gejagt, und sie haben ihm zum Abschied ein glänzendes Messer aus Sonnenstein geschenkt. Aber er hasste und fürchtete sie, denn sie schlachten und essen ihre Feinde. Sie sagen, die braunen Aimats seien Kinder der Erde, die weißen Kalats aber Kinder der Sonne. Und wahrlich, die Sonne ist nahe bei ihnen und kommt aus ihrer Heimat. Ihre Haut ist weiß und leuchtet wie Schnee. Ihre Haare sind braun und wellig wie ein hüpfendes Bergwasser, und ihre großen Augen blicken ohne Schmerz ihre Mutter, die Sonne, an, die unseren Augen weh tut. Ihre Arme und ihre Beine sind stark und nie müde. Nie leiden die Kalats Hunger. Denn sie leben von Körnern und Pflanzen, die alle Jahre in Menge wachsen. Und in der Zeit der kurzen Tage, wenn unsere Glieder erstarren wie Eis, müssen unsere Männer die Renntiere jagen und den Urstier, aber die Männer der Kalats sitzen zu Hause am Feuer und essen und schlafen. Ihre Weiber haben zwölf Kinder und unsere nur fünf. Und ihre Messer und Beile sind aus Steinen, die die Sonne geschmolzen hat, und darum glänzen sie gelb wie die Sonne. Weh über uns, wenn sie in unser Land kommen! Sie werden unsere Kinder essen, unsere Renntiere, Pferde und Bären erlegen, wir werden Hunger leiden und ihnen als Knechte dienen müssen oder sterben!« Es war Mitternacht geworden, eine sternlose Nacht. Düsterer Ernst
brütete über den Männern vor der Tulka, deren gelbbraune Gestalten hin und wieder vom Aufflackern eines Spans im gegenüberliegenden Herdfeuer grell erleuchtet wurden. Schweigend erhoben sie sich jetzt. Einer nach dem anderen schritt leise hinein in den finsteren Raum zur Ruhe. Nur die Alte blieb draußen und hielt träumend und sorgend und murmelnd im Halbschlaf Wache. Über ihr auf einem Ast der Eibe saß der Rabe. Das Geräusch der aufbrechenden Männer hatte ihn geweckt. Er krächzte schläfrig und schüttelte raschelnd sein dunkles Gefieder. Dann wurde es still.
Wie die Naturvölker heute noch und wie alle unsere Jäger, so waren auch jene alten Albbewohner an frühes Aufstehen gewöhnt. Mit der aufgehenden Sonne wurde es lebendig in der Tulka. Nur sechs Männer bewohnten dieselbe mit ihren Familien, alle Söhne eines Vaters. Aber da sie meist mehrere Frauen hatten, so belief sich die ganze Bevölkerung dennoch auf etwa fünfzig Köpfe. Der Raum in der Höhle reichte dazu vollkommen aus.
Der Eingang zur Tulkahöhle lag am Nordwestabhang eines steilen Berges, nahe dessen Gipfel, unter einem überhängenden Fels. Da war zunächst eine kleine Vorhalle. Dann versperrte ein mächtiges Felsstück den Weg nach innen und zwar so, dass rechts und links ein schmaler Pfad offen blieb, weit und hoch genug, dass ein Mann durchschlüpfen konnte. Hinter dem Felsblock stieg man einige Stufen hinunter, der Gang wurde enger und enger und dabei höher. Er wandte sich rechts, dann wieder links, und erst nach etwa hundert Schritten verbreiterte er sich auf einmal wie zu einer großen Halle.
Hier war es schon ganz finster, und hier war die eigentliche Niederlassung der Bewohner, wo sie besonders vor allen Unbilden der Witterung geschützt waren.
Der Boden war ziemlich eben, trocken und von der Natur mit Tropfstein gepflastert. An den Wänden hin sah man breitere und schmälere Vorsprünge, oft in langer Ausdehnung wie Galerien, dann wieder kleine und große Spalten und nischenartige Vertiefungen. Einzelne herabgestürzte Felsblöcke konnten als Tische, andere, kleinere, als Bänke dienen. Sie waren vielleicht absichtlich hierher gewälzt worden, langsam und mit Mühe, aber man hatte Zeit damals.
Die Temperatur blieb sich winters und sommers ziemlich gleich, etwa wie in unseren Kellern; der Heizung bedurfte das abgehärtete Volk nicht.
So war dieser von der Natur selbst ausgestattete Raum für die Begriffe unserer Aimats eine nicht nur erträgliche, sondern höchst wünschenswerte Behausung. Die Decke der wenigstens dreißig Fuß hohen Halle war mit großen, phantastischen Tropfsteingebilden verziert, aus denen die kindliche Einbildungskraft eines Naturvolkes sich die wunderbarsten Gestalten zusammensetzen konnte. Überdies war der geräumige Felsensaal durch kurze, vorspringende Felswände gleichsam in verschiedene Räume geteilt, so recht geeignet für die einzelnen Familien des Stammes.
Von diesem großen, weiten Raume aus setzte sich die Höhle, wieder zu einem Gang verengt, immer nach Südost fort. Nach etwa hundert Schritten bog man links um eine Ecke in eine zweite, aber kleinere Grotte, die den Eindruck eines Beinhauses machte. Hier lagen auf der einen Seite eine Menge Renntiergeweihe bunt durcheinander, viele noch mit dem Schädel daran, sodann lange Röhrenknochen von Renntieren und Pferden, Köpfe von Höhlenbären, einzelne Kinnbacken, auch ein schöner, mehr als mannslanger Mammutzahn, kurz, ein wahres Knochenmagazin.
Auf der anderen Seite dieser Grotte sah man zunächst einen ganzen Haufen Feuersteinknollen, von der Größe einer Faust bis zu der eines Kopfes; sodann Holzvorräte, die aber offenbar nicht zum Feueranmachen, sondern zu Werkzeugen bestimmt waren. Dickere und dünnere Stämme von Tannen, Eiben, Eichen, Hainbuchen, vom Schwarzdorn, Weißdorn, vom wilden Apfelbaum standen hier an der Wand herum. Es waren, mit Ausnahme der Tannen, lauter harte und zähe Hölzer, die sich für Bogen, Wurfspieße und Axtstiele gut eigneten. Einige besonders schöne, gerade Stämmchen hingen an Waldreben von der Decke herunter, offenbar, damit sie gerade blieben. Alle waren streifenweise geschält, damit sie nicht verbaumten, wie unsere Älbler sagen, das heißt nicht durch Pilze morsch werden. Weiterhin lagen in einer Ecke Weidenbüschel und ein ganzer Haufen Waldreben, dicke und dünne. Diese Waldreben, unsere deutschen Lianen, waren als natürliche Seile von großer Wichtigkeit in dem Haushalt jenes Volkes.
Das war die ganze Vorratskammer für ihr Gewerbe, einfach genug und doch vollkommen ausreichend, und ohne Zweifel hielten sich die Tulkamänner für sehr vorsorgliche Hausväter.
Hinter diesem Magazin verengte sich die Höhle. Nach einer kurzen Strecke trat man rechts in eine kleine Halle, die wieder andere Vorräte barg. Das war die Speisekammer für den Winter und für Zeiten der Not.
Hier waren in ziemlicher Höhe mehrere Stangen querüber gespannt, an denen Reihen von hölzernen Haken befestigt waren, um an diesem kühlen Ort, wohin nie Fliegen oder andere fleischverderbende Insekten gelangen konnten, frisches Wild und Fleischvorräte aufzuhängen.
Auch die Wände des kühlen Raumes waren überall benutzt. Da standen und hingen ringsum in den vielen weiten und engen natürlichen Nischen der Steinwände und auf den Vorsprüngen große und kleine, meist schüsselförmige Töpfe, roh und plump aus Lehm und etwas beigemengtem Sand gebildet und am Feuer gehärtet. Solche standen auch auf Stangen, die mit vieler Mühe, zwei, drei nebeneinander, an den Wänden entlang befestigt waren und so gleichsam Bretter bildeten. In diesen Töpfen wurden die Vorräte an ausgelassenem Fett von Bären und anderen Tieren, getrocknete Beeren, Haselnüsse, Baumfrüchte, zumal Holzäpfel und Holzbirnen, gewisse Baumrinden, Kräuter und Wurzeln, Rapunzeln, wilde Möhren, auch getrocknete, essbare Pilze und Flechten, zum Beispiel isländisches Moos, das damals in Menge auf der Alb wuchs, aufbewahrt. Die Pilze und Flechten waren besonders wertvoll. Man zerrieb sie zu einer Art Mehl, machte mit Wasser einen Teig und buk diesen mit Fett in Töpfen am Feuer.
Aber noch sind wir mit der Beschreibung der unterirdischen Wohnung jenes Völkleins nicht zu Ende.
Noch einmal verengte sich nämlich die Höhle und immer gegen Süden weiter wandernd, gelangte man wieder in eine Grotte, die wegen des beständig herabträufelnden Wassers zum Bewohnen und Aufbewahren von Vorräten unbrauchbar war. Umso wertvoller war sie als nie versiegende Wasserstube für die Fälle feindlicher Belagerung oder auch für den Winter, wo man oft wegen des mehr als mannshohen Schnees nicht zu der Quelle am Zickzackpfad gelangen konnte.
Für diesen Zweck waren in den Fußboden dieses Raumes flache Wasserbecken eingehauen, und das immerwährende Tropfen in diese Becken war es, wodurch das eintönige Geräusch hervorgebracht wurde, das man schon weit vorn, bald nach dem Eingang in die Tulka, vernahm.
Links von dieser Brunnenkammer folgte ein jäher Absturz nach Osten, dessen Boden bedeckt war mit knietiefem, rotem, weichem Lehm. Auch hier tropfte da und dort Kalkwasser von der Decke herunter, das oben noch beständig neue schöne Tropfsteine absetzte und den Lehm, den es bei seinem Durchsickern durch die Erde mitgenommen hatte, auf den Boden fallen ließ.
An diesem Ort war ein wunderbares Durcheinander aller möglichen Dinge. Zerbrochene oder ausgebrauchte Gerätschaften, Tierknochen, Reste von Mahlzeiten, kleine Fellstücke, kurz alles Abgenutzte und Unbrauchbare wurde dort hinunter geworfen, wenn unsere guten Leute den Weg bis zum Ausgang der Höhle zu unbequem fanden.
Und ist es nicht eine merkwürdige Fügung des Schicksals, dass gerade diese im Lehm der Höhlen eingebetteten Reste uns heutzutage fast allein Aufschlüsse über jenes uralte Volk geben, wie in Dänemark die Kjöggenmöddings in der Nähe des Meeres, mächtige Kehrichthaufen, bestehend aus Massen zerbrochener Muschelschalen, dazwischen zerbrochene Feuersteinmesser und Beile, Hornspitzen und Hornnadeln. Sie geben uns die einzige Nachricht über ein dortiges Urvolk, das unseren Höhlenbewohnern wohl am nächsten verwandt war und auch wohl ungefähr zu derselben Zeit lebte.
Doch zurück in die Wohnungshalle; auch sie und besonders ihre Wände müssen wir noch näher besichtigen. Überall in die Felsspalten, etwa mannshoch vom Boden, waren kürzere und längere hölzerne Zapfen und Haken eingesteckt. An den einen hingen Bogen und wohlgefüllte Pfeilköcher, letztere aus Tierfellen zusammengenäht oder aus Lindenbast geflochten; an den anderen Steinbeile und Speere; wieder an anderen waren die langen Unterkiefer der Höhlenbären mit Hilfe eines kleinen Riemens, der durch ein Loch gezogen wurde, befestigt Das gab treffliche Spitzhämmer zum Aufhacken der Markknochen, indem der starke Eckzahn die Spitze bildete. Auch schwere Holzkeulen hingen dort.
Andere Pflöcke waren mit Kleidungsstücken, nämlich zusammengenähten Tierfellen, schwer belastet. Diese Felle waren nicht starr und steif, wie man denken könnte. Zwar hatten die Aimats noch keine Ahnung vom Gerben des Leders und der Pelze, aber durch Einreiben mit Fett und Tiergehirn machten sie diese Häute weich, geschmeidig und zugleich undurchdringlich für Regen.
Würden wir aber endlich noch einen Blick in manche der tiefen Wandnischen werfen, so fänden wir da erst die echten Kostbarkeiten des Haushalts. Da waren vor allem höchst merkwürdige Werkzeuge aus Feuerstein (Flint), der überall auf der Alb herum in großen Knollen sich fand. Aus diesem spröden, glasartig mit scharfen Kanten springenden Stein wusste jenes Volk durch geschicktes Schlagen, misslungenen Versuchen, Werkzeuge herzustellen, längere und kürzere, die in der Mitte ziemlich dicke Splitter mit scharfen Rändern hatten. Dies waren ihre Messer. Viele hatten einen Griff aus Holz, einige bessere sogar aus Renntiergeweih. Einzelne waren längs der ganzen Schneide hübsch regelmäßig gezähnelt, es waren Sägen. Andere gröbere Flintstücke in Form eines Beiles waren mit Riemen oder Baststreifen an einen Holzstiel gebunden, auch wohl in eine durchbohrte Hornscheide gefasst; sie dienten als Haubeile zum Holzhacken und zugleich als Waffen.
In diesen Nischen fanden sich weiter die verschiedensten Geräte aus Renntiergeweih und gespaltenen Knochen, große und kleine, dicke und dünne. Da waren starke, zugespitzte, die wohl als Dolche zum Kampf in nächster Nähe dienten, andere sehr feine, pfriemenförmige, einzelne sogar mit einem Öhr, die man zum Nähen benützte.
Daneben lagen Halsbänder aus glänzenden Tierzähnen. Sie waren mit vieler Mühe durchbohrt und wie Perlen an feine Lederriemen gereiht. Besonders geschätzt wurden die Schneidezähne des Pferdes. Sie sollten dem Mann, der sie trug, die Schnelligkeit dieses Tieres verleihen.
Dagegen fand man in der ganzen Höhle keine Spur von Metallgerätschaften, kein Kupfer, keine Bronze, kein Eisen; nur Stein, Bein und Holz gaben den Aimats den Stoff zu ihren Werkzeugen.
Endlich musste auch für die Beleuchtung der Wohnung gesorgt sein. Ein Bündel Kienspäne war in der Mitte der Halle zwischen einigen schweren Steinen aufgerichtet. Diese Fackel glimmte und flackerte Tag und Nacht als ewiges Feuer. Die Beleuchtung war spärlich, doch ließ sie, wenn man einmal daran gewöhnt war, alles ziemlich deutlich erkennen. Die Lichtwirkungen an den zerrissenen und vielgestaltigen Wänden und an dem mit Tropfstein bedeckten Dach der Höhle waren höchst malerisch und erzeugten einen ewigen Wechsel von Licht und Schattengebilden, deren Formen freilich durch beständig aufsteigende Rauchwölkchen verdunkelt wurden.
An diesen Gebilden mag sich jenes alte Volk schon erfreut haben. Dagegen war der beständige Rauch, der nach dem Ausgang der Höhle abziehen musste, schlimm für ihre Augen, und Augenleiden waren bei ihnen eine häufige und schmerzhafte Krankheit; daher rührte wohl auch die Gewohnheit der Aimats, die Lider halb zu schließen. Dies machte ihren Gesichtsausdruck, der sonst lebhaft und nicht unangenehm war, etwas blöde.
Andere, weniger poetische Zierraten, an der Sonne getrocknetes oder am Feuer geräuchertes Bärenfleisch und gedörrte Fische, hingen an der Decke.
Während des Sommers diente die innere Höhle nur für die Nachtruhe. Den ganzen Tag über, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, war man draußen. Anders im Winter, wo diese eben nicht kleine Gesellschaft oft mehrere Wochen lang Tag und Nacht hier lebte und webte, zusammen mit den zahmen Tieren, die Überfluss und Mangel, Glück und Unglück mit ihnen teilten.
Nun ist es nicht schwer, sich eine Vorstellung von dem bunten Gewimmel der Menschen und Tiere in der Höhle zu machen. Da sitzt eine Gruppe von Weibern beim Feuer, die mit dem Beinpfriemen, mit Tiersehnen als Faden, an Fellen nähen, die mit Glättbeinen auf einem flachen Stein, wie heute noch die Lappen, die harten Nähte glatt bügeln und sich dabei aufs lebhafteste über ihre Angelegenheiten, ihre Kinder, ihre Pelzkleider, ihren Schmuck, unterhalten.
Daneben sind einige junge Mädchen eifrig beschäftigt, das lange, schwarze Haar mit großen Kämmen zu strählen. Diese sind kunstvoll aus hartem Eichenholz geschnitzt, haben aber nur wenige Zähne. Mark aus Renntierknochen verleiht dem etwas groben Haar Geschmeidigkeit und Glanz, und nicht wenig Mühe wird schließlich auf den großen, korbförmigen Knoten verwendet, der von den einen oben auf dem Kopf, von den anderen mehr im Nacken getragen wird. Ein munterer junger Aimat plaudert mit ihnen, beleuchtet die Arbeit freundlich mit einem Kienspan, lobt bald den Haarknoten des einen, bald den des anderen Mädchens, um zuletzt sich über alle lustig zu machen.
Hier wälzen sich lachende kleine Kinder mit jungen Wölfen und Bären auf dicken Fellen behaglich am Boden herum.
Dort stehen einige Männer und erzählen sich ihre Jagdabenteuer, während andere an Feuersteinen klopfen, Wurfspieße und Pfeilschäfte glätten oder Renntiergeweihe schaben.
In einer Ecke aber sitzt die alte Parre und erzählt älteren Knaben und Mädchen grausige Geschichten aus alter Zeit: von bösen Männern, die in Eulen, von bösen Weibern, die in Fledermäuse verwandelt worden waren, was die Baum- und Felsengeister bei Nacht treiben, wo die Stürme herkommen und der Blitz und der Donner; wie man die Giftschlangen fange, ohne gebissen zu werden, was man tun müsse, wenn man gebissen sei, und wie man das Blut und den Schmerz bei Verwundungen stille. Aber sie weiß auch, wie man aus den weißen Mistelbeeren, die auf den Eichen und Holzäpfelbäumen wachsen, den Vogelleim kocht, um Vögel zu fangen. Sie zeigt ihnen, wie man aus Waldreben, Riemen und Rosshaaren die Schlingen für große und kleine Haartiere und für Vögel macht. Sie weiß alles.