Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Weitere Titel der Autorin:
  5. Titel
  6. Impressum
  7. Kapitel 1: Von Tag zu Tag
  8. Kapitel 2: Die Textilreinigung des Monsieur Wu
  9. Kapitel 3: Neuzugang
  10. Kapitel 4: Shopping mit Phänomenen
  11. Kapitel 5: Brüderlein und Schwesterlein
  12. Kapitel 6: Götter, Nymphen, Katastrophen
  13. Kapitel 7: Zweites Plädoyer an den Göttervater
  14. Kapitel 8: »Ich hab’s!«
  15. Kapitel 9: Maél
  16. Kapitel 10: Die drei Orgelpfeifen
  17. Kapitel 11: Enthüllungen
  18. Kapitel 12: Der Strategiestrudel
  19. Kapitel 13: Hephaistos
  20. Kapitel 14: Die Finsternis zwischen den Welten
  21. Kapitel 15: Wolkig mit Aussicht auf Weltuntergang
  22. Kapitel 16: Schicksalsschlag
  23. Kapitel 17: Showtime
  24. Kapitel 18: Nächster Halt: Galerie Lafayette
  25. REZEPTBUCH
    1. Nereus' Crème Brûlée mit Wasserdrachenmilch
    2. Schnelle Hühnersuppe à la Ödipus
    3. Gigis Macarons
  26. Dank

Über das Buch

Livia ist verzweifelt: Maél wird auf dem Olymp gefangen gehalten und muss befürchten, für ein Verbrechen verurteilt zu werden, das er gar nicht begangen hat. Während Livia alles daran setzt, seine Unschuld zu beweisen, taucht Enko wieder auf, und widerstrebend arbeitet Livia erneut mit ihm zusammen. Sie muss um jeden Preis Kontakt zu den obersten Göttern aufnehmen, denn inzwischen ist die ganze Menschheit in Gefahr. Maél muss befreit werden – denn nur gemeinsam können sie die Bedrohung abwenden.

Über die Autorin

Kira Licht wurde 1980 in Bochum geboren. Sie ist in Japan und Deutschland aufgewachsen und hat Biologie und Humanmedizin studiert, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte.

Weitere Titel der Autorin:

Gold & Schatten. Das erste Buch der Götter

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen

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Kapitel 1

Von Tag zu Tag

Über Nacht war es Herbst geworden. Eine düstere Wolkendecke hing über Paris, und ein scharfer Wind entriss den Bäumen die ersten Blätter. Die Temperaturen waren um mehr als zehn Grad gesunken. Hatten die Gärten und Parks gestern noch geleuchtet, so wirkte nun alles in der Natur irgendwie trostlos und seiner Farben beraubt. Ein penetranter Nieselregen sorgte dafür, dass man sich kalt und irgendwie klamm fühlte, sobald man das Haus verließ. Es schien, als wollte das Wetter meine Gefühlslage widerspiegeln.

Gigi rechts neben mir stupste mich sanft an, doch ich hielt den Blick weiter nach links aus dem Fenster gerichtet. Es war bereits 8:30 Uhr morgens, aber es wollte heute einfach nicht hell werden. Vorne an der Tafel dozierte Mrs Lewitzky über die Feinheiten der englischen Literatur, doch ich hörte nicht mehr hin, seit sie uns einen guten Morgen gewünscht hatte. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Zu sehr hielten mich die Erlebnisse der letzten vierundzwanzig Stunden gefangen. Maél war schwer verwundet, und ich hatte keine Ahnung, wie es ihm ging. Wie er die Nacht verbracht hatte, und ob er überhaupt überlebt hatte. Es zerriss mich innerlich, ihm nicht helfen zu können. So unendlich machtlos zu sein. Ich hatte Hermes mit Nachrichten bombardiert, doch er ignorierte mich. Meine Nachrichten blieben ungelesen. Selbst die, die ich von Maéls Handy aus geschickt hatte. Dem Handy, das ich neben einer Lache seines Blutes in den Katakomben aufgesammelt hatte.

Ein Zittern lief durch meinen Körper, und ich zog die Strickjacke enger um meine Schultern. Gigis Hand wanderte von meinem Oberarm zu meinem Rücken und strich beruhigend darüber. Ich schluckte, und es fühlte sich an, als wäre mein Mund plötzlich mit Watte ausgekleidet.

»Hey …« Der Becher einer Thermoskanne wurde über mein Pult in meine Richtung geschoben. Der Inhalt darin schwappte gefährlich. »Nimm einen Schluck. Das wird dir guttun.«

Ich legte beide Hände um das dampfende Getränk und schnupperte. Malventee mit einem großzügigen Schuss Honig. Gigi kannte mich gut. Ich nahm einen Schluck und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Honig. Die klebrige Süße, vertraut und heilend zugleich, schien in diesem Moment das Einzige, das mich aufrecht hielt. Ich schenkte Gigi ein Lächeln. »Danke.«

Sie streichelte immer noch meinen Rücken. »Wir kriegen das hin, Livia. Glaub mir.«

Obwohl sie wegen Mrs Lewitzky vorn an der Tafel nur flüsterte, klangen ihre Worte überzeugend. Ich erkannte die Entschlossenheit in ihren dunklen Augen. Sie saß kerzengerade da, ihre Miene war ernst. Ich musste schlucken, so gerührt war ich. Heute Morgen hatte ich ewig hin und her überlegt, ob ich mich nicht vielleicht krankmelden sollte. An Schlaf war in dieser fürchterlichen Nacht nicht zu denken gewesen. Immer wieder hatte ich Hermes geschrieben und mir zwischendurch die Augen aus dem Kopf geweint. Doch ich hatte beschlossen, trotzdem zur Schule zu gehen, als wäre nichts gewesen. Zu Hause wäre ich verrückt geworden. Nun wurde mir klar, dass meine Entscheidung richtig gewesen war. Ich brauchte meine Freundinnen, mehr als je zuvor. Mein Blick wanderte zu Jemma, die rechts neben Gigi saß und sich neugierig vorgeneigt hatte. In ihrem Gesicht las ich die gleiche Sorge wie in Gigis. Solange ich die beiden hatte, war ich nicht allein. Sie würden zu mir stehen und mir helfen. Sie würden verhindern, dass ich doch noch durchdrehte.

Evangéline rührte sich an meiner Halsbeuge, und wie automatisch legte ich meine Hand kurz darüber. Ich fühlte die zarte Erhebung ihres Körpers und die Bewegung ihrer kleinen Beinchen, als sie sich kurz etwas anders zurechtlegte. Ich hatte sie adoptiert, seit der »Händler« verschwunden war, und es keine Sekunde bereut. Zwar musste ich sie vor so ziemlich allen meinen Mitmenschen verstecken, und manchmal wurden die einfachsten Abläufe des Alltags, wie zum Beispiel der Schulsport, zu einer Herausforderung, aber das war es mir wert. Evangéline war, genau wie Jemma und Gigi, innerhalb kürzester Zeit zu einer meiner besten Freundinnen geworden. Obwohl sie eine Motte war, ziemlich klein und kein Wort sprach, wollte ich sie aus meinem Leben nicht mehr wegdenken. Als ich in den Katakomben in Gefahr geraten war, hatte sie sich sofort auf den weiten Weg zu Ödipus gemacht, um Hilfe zu holen. Das würde ich ihr nie vergessen. Ich strich ein zweites Mal kurz mit meinem Zeigefinger über die Wölbung unter meiner Strickjacke. Alles gut, kleine Motte. Es ist schön, dass du da bist. Evangéline kuschelte sich noch etwas näher an mich.

Ich sah gerade alibimäßig kurz zur Tafel, als Mrs Lewitzky sich schwungvoll umdrehte und mit einem bösen Lächeln die Fingerspitzen aneinanderlegte. »Eigentlich sind Sie ja schon zu alt für so eine Art von Kontrolle. Aber heute mache ich eine Ausnahme. Schließlich steht nächste Woche eine Klassenarbeit an.« Sie ließ ihren Blick über die Klasse gleiten. »Wer möchte seine Hausarbeiten vorlesen? Nur keine Scheu. Wenn es keinen Freiwilligen gibt, werde ich jemanden auswählen.«

Hausarbeiten? Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Ich konnte mich nicht mal mehr erinnern, um was es sich gehandelt haben könnte. Einen Aufsatz? Die Zusammenfassung eines Abschnitts aus unserem Schulbuch? Oder sogar eine Interpretation?

Mrs Lewitzkys Adlerblick blieb an mir hängen.

Nein, dachte ich inbrünstig. Nein, nicht ich. Nicht heute.

Mrs Lewitzky wollte den Mund aufmachen. Ich hielt ihren Blick. Guck weg, dachte ich, guck weg. Guck bitte einfach weg.

Ihr Blick wurde hart, dann entließ sie mich aus ihrem Starren, als hätte ich mich in Luft aufgelöst.

»Miss O’Mally.« Mrs Lewitzkys Stimme klang zuckersüß und falsch. »Machen Sie uns die Freude?«

Schnell sah ich zu Gigi hinüber. Doch die schien nicht beunruhigt. Sie hatte bereits eine Seite in ihrem Collegeblock aufgeschlagen.

»Gerne«, erwiderte sie nur knapp und begann dann zu lesen.

Ich atmete erleichtert auf. Vermutlich hatte Gigi, die in allen Fächern irgendwo zwischen eins und zwei stand, die Hausarbeiten schon erledigt, bevor sie sich gestern Nachmittag mit Jemma in dem Café getroffen hatte.

Ich war erleichtert, denn ich hatte ihr den schwarzen Peter auf gar keinen Fall weiterreichen wollen. Sei es nun durch Zufall gewesen oder durch mein flehendes Starren in Richtung Mrs Lewitzky.

*

In der Mittagspause hielten wir Kriegsrat. Natürlich hatte ich Jemma und Gigi sämtliche Ereignisse in den Katakomben schon erzählt. Sie hatten mich nach Hause begleitet, während Enko und Ödipus den ziemlich überrumpelten Noah in die Geheimnisse unserer Gang eingeweiht hatten.

Jemma hatte sich später noch mit ihm getroffen, um herauszufinden, wie er all diese »göttlichen Neuigkeiten« verkraftet hatte. Ihrer Aussage nach schien er »zwar ein wenig aus der Bahn geworfen, aber nicht am Rande eines Nervenzusammenbruchs«. Da Jemma das offenbar für ein gutes Zeichen hielt, hatte ich nicht weiter nachgefragt. Nun saßen wir an einem kleinen Dreiertisch am Rande der Mensa und keine von uns schien irgendwie den Anfang zu finden.

Die sonst so temperamentvolle Gigi war ungewöhnlich ruhig, und sie sah müde aus. Jemma hingegen, unser Ruhepol, wirkte aufgekratzt und schien ihre Hände gar nicht stillhalten zu können. Ich ignorierte das dumpfe Knurren in meiner Magengegend, stattdessen betrachtete ich erneut meine Freundinnen. Nicht nur ich hatte eine Menge mitgemacht, auch sie waren von den Ereignissen und der Brutalität des Ganzen schockiert gewesen.

Jemma fand den Anfang. »Du solltest etwas essen.« Sie deutete mit dem Kopf auf die leere Stelle vor mir auf dem Tisch.

»Ich habe keinen Hunger …« Mit einem tiefen Seufzer ließ ich den Kopf auf meine verschränkten Arme sinken. »Ich brauche einen Plan. Irgendjemand muss Hermes an den Haaren herbei schleifen, damit ich ihn ausfragen kann. Und ich muss verdammt noch mal wissen, wie es Maél geht. Außerdem muss ich wissen, wie ich dafür sorgen kann, dass er freigesprochen wird, weil er unschuldig ist. Dabei will ich mich eigentlich bloß irgendwo zusammenrollen und heulen. Wie kann ich da an Essen denken?«

»Du könntest jetzt daran denken, weil ich dich daran erinnert habe. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass dir das Pläneschmieden wesentlich leichter fallen wird, wenn dein Gehirn alle notwendigen Nährstoffe im Blut zur Verfügung hat.«

Ich seufzte erneut. »Das klingt schrecklich vernünftig, aber ich bin gerade nicht in einer vernünftigen Stimmung.« Mit deutlichem Unbehagen sah ich quer durch die Mensa in Richtung der langen Schlange vor der Essensausgabe. Es wurde gedrängelt, gelacht und geschwatzt. Es graute mir davor, mich unter all diese gut gelaunten Leute mischen zu müssen.

»Soll ich dir eine Portion Käsenudeln mitbringen?«, bot Jemma an.

Ich nickte dankbar.

Sie lächelte und stand auf. »Bis gleich.«

Als sie gegangen war, sah ich schuldbewusst zu Gigi hinüber. Die mümmelte mittlerweile an einem belegten Brot, das bis zu mir herüber nach Walnüssen und Zimt roch. Es war mit einer weißen Paste bestrichen und mit Erdbeerscheiben belegt.

»Und was hast du da Feines?«

Sie hielt mir das Brot hin. »Das ist eigentlich mein Nachtisch. Aber mir war irgendwie nach was Süßem.« Sie zuckte die Schultern. »Nussbrot mit Mandelcreme und Erdbeeren. Nervennahrung.« Lächelnd brach sie ein Stückchen davon ab und hielt es mir hin.

»Danke.« Ich probierte. Die Süße der Erdbeeren passte gut zur Mandelcreme, das Brot war frisch und aromatisch. Wie alles, was Gigi selbst herstellte, schmeckte die Kombination irgendwie überraschend und köstlich zugleich. Ich erinnerte mich lebhaft an das Erste, was sie mir von ihren Kreationen zu probieren gegeben hatte: Chia-Pudding mit Weißtannenhonig. Den Geschmack würde ich nie vergessen. Mittlerweile hatte ich mich durch ein ganzes Repertoire verschiedenster Köstlichkeiten probiert, und meine vorherige Skepsis war Begeisterung gewichen. Gigi war kreativ, und es war beeindruckend, wie viel Mühe sie sich mit ihrem Essen machte. Hinzu kam, dass alles, was sie selbst produzierte, aus Bio-Qualität hergestellt war und man so guten Gewissens schlemmen konnte. »Sehr lecker, Gigi.«

Gigi strahlte. »Danke.«

Jemma schien sich irgendwie vorgedrängelt zu haben, denn ein paar Minuten später war sie mit unseren Käsenudeln schon wieder da.

»Stellt euch mal vor«, sagte sie und schob mir einen Teller samt Besteck vor die Nase, »Mélisande, die Küchenfrau, die immer an der Kasse sitzt, hat mich doch tatsächlich gefragt, ob ich schwanger wäre, weil ich mir zwei Portionen Käsenudeln hole. Ungefähr sieben Leute hinter mir wurden mit einem Schlag mucksmäuschenstill. Ich glaube, das wird das neue Gerücht an der Schule. Mal sehen, wann mich ein Lehrer darauf anspricht.« Sie kicherte und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Jedenfalls habe ich Madame Mélisande erklärt, dass die zweite Portion für meine Freundin Livia McKenzie ist, die zu deprimiert ist, um sich selbst um ihr Überleben zu kümmern. Daraufhin hat sie in ihrer Kitteltasche gekramt. Zuerst dachte ich, sie holt tatsächlich einen Schwangerschaftstest raus oder so. Aber es war bloß ein Bonbon. Das hat sie mit den Worten ›Das hier wird ihre Kräfte bündeln‹ auf das Tablett geworfen und mich dann, ohne mich bezahlen zu lassen, von ihrer Kasse weggejagt. Vermutlich ist sie der Meinung, dass dich ein wenig Zucker und Koffein wieder fröhlich machen.« Jemma lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und zog dann grübelnd die Augenbrauen zusammen. »Kommt es nur mir so vor, oder werden die drei Damen in der Küche von Tag zu Tag verrückter?«

»Danke fürs Holen.« Ich war froh, dass Jemma mir eine Begegnung mit Madame Mélisande und den anderen Küchenfrauen erspart hatte. Die drei waren definitiv seltsam, und sie machten mir sogar ein bisschen Angst, wenn auch nicht auf die Art, wie ich Angst vor Hades gehabt hatte. Es war mehr ein ungutes Gefühl, weil sie sich einfach so unglaublich komisch benahmen.

Mein Blick fiel auf das Bonbon. Im nächsten Moment überschlug sich mein Herz. Das Bonbon war einfach nur in durchsichtige Folie gewickelt, doch ich erkannte den Schriftzug sofort. Es fühlte sich an, als würde ich ein paar Wochen in der Zeit zurückkatapultiert. Ich sah Maéls lächelndes Gesicht vor mir, als er mir die Tüte mit den Colabonbons überreicht hatte. Der altmodische Schriftzug auf der Tüte hatte mir sofort gefallen. Und nun sah ich dieses auffällige Logo erneut vor mir. Viel kleiner zwar, aber es war unmöglich, dass ich mich täuschte. Es war die gleiche Marke, Geschmacksrichtung Cola und wieder eine durchsichtige Verpackung. Das alles war ein dummer, lächerlicher Zufall, ganz sicher. Und doch brachte er das Fass zum Überlaufen. Es war einfach zu viel. Meine Augen liefen über, bevor mein Verstand sie daran hindern konnte. Ich sprang so heftig auf, dass mein Stuhl fast nach hinten übergekippt wäre. Eine Hand auf den Mund gepresst stürzte ich davon. Ich hörte noch, wie Jemma ebenfalls aufsprang und Gigis überraschtes Rufen, doch ich wollte einfach nur noch weg. Mein Blick war verschwommen von den Tränen in meinen Augen, und ich fand den Weg zum Waschraum aus reiner Erinnerung. Es war mir egal, dass meine Mitschülerinnen vor dem Spiegel standen und sich die Lippen nachzogen. Dass sie ihre Hände wuschen und sich dabei unterhielten. Es war mir egal, dass alle meine Tränen sehen würden. Ich warf die Tür der letzten freien Toilettenkabine zu und sperrte ab.

»Alles okay?«, fragte eine mir unbekannte Stimme durch die Tür. Die anderen hörte ich tuscheln.

»Ja, alles gut«, brachte ich noch hervor, bevor ich den Ärmel meiner Strickjacke vor meinem Mund presste, damit mich niemand schluchzen hören würde. Meine Schultern bebten so heftig, dass ich Angst hatte, Evangéline könnte den Halt verlieren. Doch im nächsten Moment krabbelte sie schon aus dem Ausschnitt meines Langarmshirts hervor und trippelte meinen Arm über den flauschigen Stoff der Strickjacke hinunter. Sie stellte sich auf meine freie Hand, die ich locker in meinem Schoß abgelegt hatte und sah mit wippenden Fühlern zu mir auf. Es rührte mich, dass sie sich so sehr um mich sorgte, doch auch sie erinnerte mich an Maél. An all das, was wir zusammen erlebt hatten. An das, was wir geteilt hatten. Die Abenteuer, die Geheimnisse, seine Hoffnung, Agada retten zu können.

Ich streichelte vorsichtig ihr helles Fell, während immer noch Tränen über meine Wangen liefen. Was würde ich tun, wenn Maél auf dem Olymp gestorben war? Natürlich würde seine Götterseele in einem anderen Körper wiedergeboren werden, doch für mich wäre er verloren. Wir würden uns nie mehr wiedersehen. Einerseits erleichterte es mich zu wissen, dass er nicht wirklich sterben konnte. Andererseits war der Gedanke, ihn nie wieder zu sehen, so unerträglich, dass ich ihn nicht akzeptieren wollte. Ich weigerte mich zu glauben, dass das zwischen uns nun alles gewesen sein sollte. Dass uns das Schicksal tatsächlich nur so wenig Zeit zusammen gegönnt hatte.

Evangéline schlang einen ihrer langen Fühler um meinen Zeigefinger, weil ich gedankenverloren in meinem Streicheln innegehalten hatte. Nun sah es fast so aus, als würde sie meine Hand halten. Trotz meiner Tränen musste ich lächeln.

»Du kannst gut trösten«, wisperte ich. Evangéline wippte erfreut mit den Flügeln.

»Livia?«

Ich erkannte Jemmas Stimme sofort.

»Livia? Bist du hier?«

Ich barg Evangéline schützend in meinen Händen. »Hier drin«, rief ich durch die geschlossene Tür. »Aber ich brauche einen Moment.«

»Ausgerechnet hier?« Jemmas Stimme klang ungläubig. Was man ihr angesichts des Türenschlagens in den anderen Kabinen und des regen Treibens vor dem Waschbecken nicht verübeln konnte. Die Mädchentoiletten waren nicht unbedingt der ideale Ort, um zur Ruhe zu kommen. Schon gar nicht während der Mittagspause.

Ich hörte, wie Jemma sich gegen die Tür lehnte. »Jetzt komm da raus. Es wundert mich sowieso, dass du hier in dieser Wolke aus Deo und Parfüm noch nicht ohnmächtig zusammengebrochen bist.«

Um Jemma herum wurde ärgerlich gemurmelt.

»Jaja«, sagte sie, »ist ja schon gut. Es will nur einfach nicht jeder nach Zuckerwatte und Brausepulver riechen.«

Ich musste grinsen.

Jemma wartete den Moment ab, in dem wir in der Mädchentoilette tatsächlich allein waren. »Was war denn los?«, fragte sie durch die Tür. »Warum bist du plötzlich weggelaufen?«

»Ist die Luft rein?«

»Es ist niemand hier drinnen, aber das wird nicht lange so bleiben. Du weißt ja, dass Mittagspause ist und …«

Die Tür wurde schon wieder aufgestoßen.

»Sind etwa alle Kabinen besetzt?«, fragte eine Mädchenstimme.

»Nein, die sind alle frei«, antwortete Jemma. »Bis auf diese hier. Ein emotionaler Notfall.«

Das Mädchen sagte nichts mehr, aber ich nahm an, dass sie verständnisvoll nickte. Auf Mädchentoiletten wurde öfter geheult.

»Komm jetzt da raus.« Jemma klopfte leicht gegen meine Tür. »Wir können doch woanders reden.«

Neben mir wurde geräuschvoll in eine Toilettenschüssel gepinkelt, dazu erklangen Tippgeräusche.

Ich seufzte lautlos. Jemma hatte recht, ich sollte wirklich von hier verschwinden. Zum Glück konnte ich mit Evangéline auch wortlos kommunizieren. Ich deutete auf die Stelle, wo sie den größten Teil des Tages verbrachte. Evangéline wippte mit den Fühlern und trippelte meinen Arm hinauf. Dann bahnte sie sich ihren Weg unter meinem Shirt entlang bis zu ihrem Lieblingsplatz.

Ich stand auf und öffnete die Kabinentür. Jemma, die ein paar Schritte zurückweichen musste, damit ich ihr nicht die Tür vor den Kopf schlug, lächelte schief. »Dein Essen wird kalt.«

Ich musste schon wieder ungewollt grinsen. An Jemmas Seite konnte man einfach nicht lange deprimiert sein, egal wie hart man daran arbeitete.

Sie legte einen Arm um mich, und gemeinsam gingen wir zurück in die Mensa. Gigi hatte ihr Essen nicht weiter angerührt, und das wollte schon etwas bedeuten.

»Tut mir leid«, sagte ich, als wir alle wieder saßen. »Es ist das Bonbon.«

Die beiden sahen mich an, als spräche ich plötzlich chinesisch. Ich hingegen hatte schon wieder einen Frosch im Hals. »Es ist das Bonbon«, wiederholte ich. »Es ist genau die gleiche Firma und sogar die gleiche Sorte, die Maél mir mitgebracht hat. Ich würde sie überall wiedererkennen. Das war einfach etwas zu viel. Und ich wollte nicht hier vor allen Leuten losweinen.«

»Okay, das ist natürlich ein blöder Zufall«, sagte Jemma. »Aber es ist, was es ist: ein Zufall. So was wird dir vermutlich noch öfter passieren. Du darfst nicht gleich die Fassung verlieren, nur weil dich irgendetwas an Maél erinnert. Bestimmt wirst du immer wieder mal mit der gleichen Bahn fahren, mit der du auch mit ihm gefahren bist, an der gleichen Station aussteigen wie mit ihm oder jemanden sehen, der ähnliche Haare hat wie er. Das kann …«

»Ich weiß«, unterbrach ich sie. »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Und ich will mich auch wirklich zusammenreißen. Aber das Ganze war erst gestern. Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen, und mein ganzer Körper fühlt sich an, als würde er nur aus Pudding bestehen. Gleichzeitig bin ich so aufgekratzt und durcheinander, dass an Runterkommen nicht zu denken ist. Ich habe euch doch erzählt, wie er ausgesehen hat. Wie schwer verwundet er war. Ihr wisst, dass Hades als sein Vater die Macht besitzt, ihn zu töten. Ihn komplett zu töten. So richtig und für immer. Und selbst wenn er nur stirbt, also nur sein Körper stirbt, ist er doch für mich verloren, und …« Meine Stimme brach. »Wir brauchen einen Plan. Wir brauchen ganz dringend einen Plan.«

Gigi legte eine Hand auf meine. »Und den werden wir auch machen. Das verspreche ich dir. Wir helfen dir, genauso wie die anderen, die auch alle ihre Hilfe zugesagt haben. Du bist nicht allein, Livia. Da sind noch Ödipus und Enko. Und Hermes, wenn er wieder auftaucht. Jetzt haben wir sogar Noah mit an Bord. Und Adonis und Aphrodite hatten doch auch ihre Hilfe zugesagt. Wir alle werden tun, was wir können, damit Maél bald wieder freikommt. Und ich glaube fest daran, dass er lebt. Wenn ihr wirklich diese Verbindung habt, dann wüsstest du, wenn er tot wäre.«

Ich nickte. Sie hatte recht. Im Grunde war ich mir sicher, dass ich es spüren würde, wenn er nicht mehr am Leben wäre.

Gigi ließ meine Hand langsam los. »Wir sollten vernünftig sein, alle etwas essen und dann den Rest des Unterrichts hinter uns bringen. Danach ist immer noch genug Zeit, zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Vielleicht hat sich Hermes bis dahin auch mit Neuigkeiten gemeldet. Es passt so gar nicht zu ihm, dich einfach links liegen zu lassen. Dafür muss es einen guten Grund geben, und ich bin mir sicher, im Nachhinein werden wir verstehen, warum er so gehandelt hat. Vielleicht können wir uns auch mit Ödipus treffen oder mit Enko. Komisch, dass er dir noch gar nicht geschrieben hat, wo er doch der Erste war, der dir seine Hilfe angeboten hat.«

»Das hat er«, erwiderte ich leise. »Ich habe noch nicht geantwortet.«

Von rechts und links trafen mich vorwurfsvolle Blicke. »Du gehst mit ihm um wie Hermes mit dir. Nicht die feine Art«, stellte Jemma fest.

»Ich weiß. Und ich fühle mich auch echt nicht gut dabei.« Ich aß ein paar Gabeln von den Käsenudeln, aber sie schmeckten wie Stroh. Also legte ich das Besteck wieder zur Seite. »Lasst uns in die Bibliothek gehen und versuchen, etwas über den Olymp zu recherchieren. Vielleicht gibt es ja irgendeine mythologische Sage, in der erklärt wird, wie man dorthin gelangt.«

Jemma, die mittlerweile mit ihren Käsenudeln fertig war, nickte. Gigi klappte ihre Tupperdose zu. Zuerst überlegte ich, ob ich das Colabonbon einfach wegschmeißen sollte, doch dann schob ich es schnell in die Tasche meiner Jeans.

»Packen wir es an«, sagte ich. »Ab jetzt wird nicht mehr gejammert und geheult.«

Gigi schüttelte den Kopf. »Deine Stimmungswechsel sind echt hollywoodreif.«

»Oder du bist reif für die Irrenanstalt«, sagte Jemma und ging lachend in Deckung, als ich sie dafür mit Krümeln von Gigis Walnussbrot bewarf.

*

Unsere Suche blieb erfolglos. Niemand schien es je für nötig gehalten zu haben, den Zugang zum Olymp genauer zu beschreiben. Ich war ein klein wenig frustriert. Hinzu kam, dass wir noch einen großen Teil der Pause dafür nutzen mussten, meine restlichen Hausaufgaben für den Tag anzufertigen. Für Politik war sogar ein Aufsatz fällig, den ich mithilfe meiner beiden Freundinnen und ihrer Texte irgendwie zusammenbastelte. Als ich mich bei ihnen dafür bedankte, stiegen mir schon wieder Tränen in die Augen. Ich war so froh, dass ich die beiden hatte. Gigi weinte ein bisschen mit, während Jemma uns beide in ihre Arme zog. »Wir sind die verrückte Gang«, flüsterte sie. »Das wisst ihr doch.«

Sofort mussten wir an Noahs perplexes Gesicht denken, als Ödipus uns alle mit einem Schlag geoutet hatte: mich als Nymphe, Enko als Halbgott, Evangéline als dreitausend Jahre altes Rieseninsekt und so weiter. Wir brachen in Lachen aus und kriegten uns nicht wieder ein, nicht mal, als man uns dafür aus der Bibliothek hinauskomplimentierte.

Während des restlichen Unterrichts versuchte ich immer wieder an diese lustige Situation zu denken, wenn die Traurigkeit mich zu überwältigen drohte. Und irgendwie gelang es mir, die drei Stunden hinter mich zu bringen.

Endlich strömten wir hinaus in die Freiheit, um zu besprechen, wie und wann wir uns treffen wollten. Doch als ich durch die große Doppeltür trat und mein Blick wie automatisch zur anderen Straßenseite glitt, blieb ich abrupt stehen. Das Déjà-vu traf mich wie ein Faustschlag in die Magengrube. Genau an dieser Mauer hatte auch Maél gelehnt, als er mich von der Schule abgeholt hatte. Ich presste meine Lippen so stark aufeinander, dass ich fürchtete, im nächsten Moment Blut zu schmecken.

Meine Mitschüler erkannten Enko natürlich. Seine Band Harpya war auf dem besten Wege, eine der angesagtesten Rockbands in Paris zu werden. Einige Mädchen kicherten und zückten sogar ihre Handys. Ich versteckte mich halb hinter Jemma, um einen Moment durchzuatmen.

»Da ist Enko.« Gigi drehte sich zu mir um. Als sie mein Gesicht sah, verfinsterte sich ihre Miene. »Soll ich ihm sagen, dass du ihn nicht sehen willst?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er ist schließlich extra hierhergekommen. Er will helfen und mir vermutlich beweisen, dass er doch irgendwie ganz nett sein kann, ohne dass er mich ständig mit irgendwelchen kitschigen Komplimenten einseift.«

»Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung«, brummte Jemma halb vor mir. »Bedenkt man allerdings, dass er ein Halbgott mit unsterblicher Seele ist, dann kommt die Erkenntnis doch relativ spät.«

Gigi zuckte die Schultern. »Er ist ein Mann«, sagte sie, als würde das alles erklären.

Meine Mundwinkel zuckten ungewollt. Was würde ich nur ohne diese beiden und ihre Sprüche machen?

»Einspruch stattgegeben«, sagte Jemma und nickte Gigi anerkennend zu.

Enko spazierte mittlerweile über die Straße und badete in den bewundernden Blicken der Menge. Kaum hatte er den Gehweg auf unserer Seite erreicht, da stürzten bereits die ersten weiblichen Fans auf ihn zu. Ich wich noch weiter hinter Jemma zurück.

»Willst du ihm nicht wenigstens die Freude machen und dich zu seinen Fans gesellen?« Jemma drehte sich halb zu mir und grinste mich an.

Ich stöhnte. »Geben wir ihm noch eine Minute.«

Gigi hakte sich bei mir unter und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. »Die kürzeren Haare stehen ihm wirklich gut.«

Ich gab ihr recht, aber im Grunde war ich mir sicher, dass Enko mit sich anstellen konnte, was er wollte, er würde immer so eine Erscheinung bleiben.

Die Traube von Mädchen um ihn herum wurde immer größer. Jemma drehte sich mit kritischem Blick erneut zu uns um. »Soll ich ein paar Campingstühle und etwas Popcorn organisieren, während wir warten?«

Ich musste lachen. »Geht ihr beiden ruhig. Ich warte ab, bis sich die Aufregung gelegt hat, und dann werde ich mich mit ihm unterhalten. Er wird vermutlich sauer sein, dass ich ihm bis jetzt nicht geantwortet habe. Die Standpauke kann ich mir genauso gut allein abholen.«

Jemma zog die Augenbrauen zusammen. »Soll ich nicht doch lieber hierbleiben?«

Ich winkte ab. »Nein, ich weiß ja, dass du gleich mit Noah verabredet bist. Versuch, noch ein wenig mehr Schadensbegrenzung zu betreiben. Er wird vermutlich immer noch ziemlich fertig sein. Es ist besser, wenn du dich um ihn kümmerst. Wir können nicht riskieren, dass noch jemand den Verstand verliert. Ödipus reicht mir.«

Gigi neben mir kicherte und kniff mir freundschaftlich in den Arm. »Ödipus' Auftritt war wirklich filmreif. Ich hätte nie gedacht, dass man unsere mythologische Gang auf so wenige heftige Worte reduzieren kann. In dem Moment habe ich mich selbst gefragt, wie ich das alles eigentlich als ganz normal hinnehmen kann, ohne an meinem Verstand zu zweifeln.«

Ich sah zu ihr. »Du bist halt hart im Nehmen.«

Sie lächelte breit. »Danke schön. Versprich mir, dass du dich nicht von Enko ärgern lässt.«

»Ich komm schon klar.«

Gigi sah auf ihr Handy. »Okay, wenn wir jetzt losgehen, bekommen wir noch die nächste Metro.« Sie sah zu Jemma. »Sollen wir?«

Jemma warf mir einen letzten prüfenden Blick zu. »Wenn du uns brauchst, dann sagst du aber Bescheid, ja?«

Ich nickte. »Ihr habt mir schon so viel geholfen und beigestanden. Dafür bin ich euch unendlich dankbar. Ich melde mich, wenn es Neuigkeiten gibt.«

Wir umarmten uns, dann gingen sie beide die Treppen hinunter. Ich wich zurück in Richtung des Treppengeländers, vor dem sich einige Schüler in Grüppchen unterhielten. Da ich ohnehin nicht die allergrößte war, konnte ich ganz gut dahinter in Deckung gehen und abwarten, bis Enko mit allen seinen Fans Fotos gemacht hatte. Ich wollte nicht, dass er vor der gesamten Schule zu mir kam. Meine Position hier war ohnehin schon schwierig, und ich hatte keine Lust, mir den Neid irgendwelcher Mädchen zuzuziehen für etwas, das sowieso nicht so war, wie es auf den ersten Blick aussah. Ich hatte kein Interesse an Enko, schon gar nicht in amouröser Hinsicht. Also blieb ich in Deckung, bis sich die Traube von Fans verstreut hatte.

Als Enko sich suchend umsah und sein Handy zückte, verließ ich mein Versteck und ging die Treppe hinab auf ihn zu. Ich musste mich immer noch an den Anblick seiner deutlich kürzeren Haare gewöhnen. Mit dem langen Blondhaar hatte er ausgesehen wie ein ätherisches Wesen, das sich nur hin und wieder auf den Planeten Erde verirrte. Mit den kinnlangen Haaren dagegen war er plötzlich der gut aussehende Student, der nebenbei auch modeln könnte. Er hatte etwas von seiner Wildheit eingebüßt, aber durch die kürzeren Haare sah man sein Gesicht besser. Und dieser Umstand offenbarte, dass er eigentlich noch hübscher war als unter den langen Haaren bisher verborgen.

»Warum antwortest du nicht?«, fragte er zur Begrüßung. Er wirkte aufgebracht und erschöpft, seine Stimme klang rau wie Schmirgelpapier. Die Ränder unter seinen Augen ließen vermuten, dass er seit dem Vorfall in den Katakomben nicht geschlafen hatte.

»Hallo.« Ich hatte weder Kraft noch Lust, mich mit ihm zu streiten, aber ich wusste sehr gut, wie es sich anfühlte, ignoriert zu werden. Es schien Hermes' Paradedisziplin zu sein, und es raubte mir den letzten Nerv. »Es tut mir leid. Es war einfach alles zu viel.«

Sofort wurde Enkos Miene weicher. »Ich wollte dich nicht so anfahren. Sorry.« Er sah auf seine Schuhspitzen und fuhr sich durch die Haare. Die kürzeren Strähnen schienen sich für ihn immer noch ungewohnt anzufühlen.

»Ich hätte dir einfach eine kurze Nachricht schicken sollen.«

Enko hob das Kinn, und als sich unsere Blicke trafen, sah ich das Feuer in seinen Augen. Jene Feuer, von denen Maél mir erzählt hatte. Sie hatten das Blau seiner Augen fast verdrängt. Enko biss die Kiefer so fest zusammen, dass sie knackten. »Als du nicht geantwortet hast, dachte ich, er hätte dich doch noch geholt. Hätte dir aufgelauert, dich verfolgt. Normalerweise gibt er nicht klein bei. Niemals.«

Ich wusste sofort, von wem er sprach. Von Hades, seinem Vater und dem Herrscher der Unterwelt. Unten in den Katakomben hatte ich ihm die Stirn geboten und mich ihm nicht gebeugt. Und ich hatte seine Ehefrau erzürnt, als ich in seinem Reich zu Gast gewesen war. Den Posten als Lieblingsschwiegertochter konnte ich wohl vergessen.

»Das tut mir leid, ich wollte dir nicht zusätzliche Sorgen machen. Ich war einfach zu Hause in meinem Zimmer und habe versucht, Hermes zu erreichen. Es ist nichts Ungewöhnliches passiert.«

Enko atmete hörbar auf. Die Feuer in seinen Augen verschwanden wie die erstickte Flamme einer Kerze. »Wir müssen uns vorsehen.«

Ich nickte und fragte mich, wie ich jemals wieder schlafen sollte, mit der Gewissheit, dass sogar Enko sich Sorgen machte, dass sein Vater auf Rache an mir sinnen würde. Das Wochenende stand vor der Tür, und ich hatte mir vorgenommen, die meiste Zeit zu Hause zu verbringen. Meine Eltern hatten wieder irgendwelche gesellschaftlichen Verpflichtungen, und ich war heilfroh darüber. Die Vorstellung, ihnen meine verheulten Augen zu erklären, behagte mir nämlich ganz und gar nicht.

»Ich erreiche Hermes nicht«, stieß ich hervor. »Er reagiert einfach nicht, und ich habe keine Ahnung, wie es Maél geht. Das macht mich wahnsinnig. Kannst du versuchen, irgendjemanden zu erreichen, der uns Auskunft geben kann?«

Enko wirkte plötzlich unbehaglich. »Livia …«

Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. »Du wolltest mir doch helfen. Warum bist du hier?«

»Ja, ich will helfen.«

Er sah verletzt aus, und sofort taten mir meine scharfen Worte leid. So kannte ich mich gar nicht. Und so wollte ich auch nicht sein. Ich wollte freundlich sein. Respektvoll mit meinen Mitmenschen umgehen. Sie nicht ankeifen und ihnen Vorwürfe machen, wenn sie mich von der Schule abholten, um nachzusehen, ob es mir gut ging, weil ich nicht auf Nachrichten antwortete.

»Tut mir leid«, sagte ich leise und berührte kurz seinen Arm. »Ich stehe total neben mir. Bitte nimm mir das nicht übel.« Ich holte tief Luft und zwang mich dazu, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich freue mich, dass du mir helfen willst. Hast du schon einen Plan?«

»Auch ich habe versucht, Hermes zu erreichen. Maél hat mir irgendwann mal die Nummer für Notfälle gegeben. Entweder hat Hermes das Handy verloren, oder man hat es ihm auf dem Olymp abgenommen und er steckt in Schwierigkeiten, oder er ignoriert uns, weil er Wichtigeres zu tun hat.«

»Wichtigeres als Maél?«

»Nein«, erwiderte Enko nüchtern. »Wichtiger als irgendwelche Statisten, die in dem Prozess um Maél keine Rolle spielen.«

Ich presste schockiert eine Hand vor den Mund, um nicht zu schluchzen. Das glaubte er von Hermes? Von dem lustigen, leicht überdrehten Götterboten, der immer so freundlich zu mir gewesen war? Hermes hielt uns für Statisten? Für zu unwichtig, um uns wenigstens eine kleine Nachricht zukommen zu lassen? Es tat zu weh, um es zu glauben.

»Es ist das Protokoll«, erklärte Enko. »Du hast ihn ja in den Katakomben erlebt. Du weißt, dass er das Protokoll über alles stellt. Und er hat recht. Das Protokoll sind die Regeln, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Sie sind streng, und sie wirken vielleicht im ersten Moment antiquiert, aber sie sorgen dafür, dass die Götter einigermaßen friedlich zusammenleben. Dass der Frieden, der schon so oft bedroht wurde, irgendwie aufrechterhalten wird. Gesetzesbrecher werden hart bestraft, härter, als du es dir vorstellen kannst. Für uns zählt unser menschliches Leben nicht. Es sind bloß die Jahre zwischen dem Anfang und dem Ende. Es wiederholt sich immer wieder. Unser menschlicher Körper ist bloß das Werkzeug. Unsere Seele, das viele tausend Jahre alte Erbe, das in uns schlummert, ist das, was durch das Protokoll bestraft wird, wenn wir Gesetze brechen. Sie werden Maél nicht töten. Der Prozess wird auch nicht abgebrochen, wenn er an seinen Verletzungen stirbt. Sie werden seine Seele bestrafen. Sie werden sie gefangenhalten, bis er seine Strafe abgesessen hat.«

Mir kamen schon wieder fast die Tränen. Es konnte doch nicht sein, dass ich tatsächlich so machtlos war. Dass dieses dämliche Protokoll über allem stand und sogar über mein Schicksal entschied, obwohl ich gar keine Göttin oder Halbgöttin war.

Enko kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und betrachtete mich eingehend. »Hast du ein neues Parfüm oder so?«

Was war das denn für ein Themawechsel? »Äh … nein. Wieso?«

»Keine Ahnung, für einen Moment hatte ich das Gefühl …«

»Enko, wie schön, dass wir uns mal wiedersehen.«

Die Stimme neben mir ließ mich zusammenzucken. Meine Schultern sanken nach unten, als ich erkannte, wer da neben mir stand. Meine »Lieblingsmitschülerin« Carly. Na super.

Enko sah sie an, als überlegte er, ob er sie kennen müsste.

Carly bleckte die Zähne zu einem furchteinflößend strahlenden Lächeln. Sie wiegte sich leicht hin und her, ihre optischen Vorzüge wackelten im Takt. »Ich war auf eurem Konzert in den Katakomben. Wir haben uns danach kennengelernt. Ich bin eine Freundin von Livia.«

Ich hätte mich fast verschluckt. Freundinnen? Carly und ich? Das war nun wirklich leicht übertrieben.

Enko nickte und schenkte Carly sein Rockstar-Lächeln.

»Ach so. Hi«, sagte er, und seine Stimme klang eine Oktave tiefer. »Freut mich.«

Carlys Lächeln wurde noch breiter, obwohl das kaum möglich schien. Ihre unnatürlich gebleichten Zähne schimmerten bläulich im spärlichen Licht dieses Nachmittags. »Und? Was führt dich her?«

Enko und ich warfen uns einen Blick zu. Es war offensichtlich, dass wir uns miteinander unterhalten wollten. Offensichtlich für jeden außer Carly.

Enko räusperte sich. »Nun, ich wollte Livia abholen und …«

Carly lachte künstlich auf. »Es geht mal wieder um Livia. Natürlich. Was hat sie bloß an sich?« Sie drehte sich kurz zu mir, bevor sie mit einbetoniertem Lächeln zu Enko sah.

»Hatte der wilde Cataphile Maél Anjou heute keine Zeit, und du bist seine Vertretung?«

Mir klappte fast die Kinnlade auf die Brust. Was mischte Carly sich in mein Privatleben ein? Mal abgesehen davon, dass es absolut meine Sache war, mit wem ich mich traf – welches Recht hatte sie, Enko zu erzählen, wer mich von der Schule abholte?

Enko schien ungefähr genauso irritiert wie ich. »So sieht’s aus«, sagte er so tonlos, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. »Was genau geht dich das an?«

Carly wurde blass unter ihrer aufwendigen Schminke. »Oh, es ist nur so, dass …«

Enko verdrehte genervt die Augen. »Kann ich dir irgendwie helfen, Kelly? Möchtest du ein Autogramm?«

»Carly, nicht Kelly.« Carly stand da wie ein begossener Pudel. Offensichtlich hatte sie mit etwas mehr Drama gerechnet, wenn sie Enko eröffnete, dass ich vermutlich mit Maél ging. Sie bemühte sich sichtlich um Fassung, denn sie schüttelte sich leicht wie ein Hund, der in einen Regenschauer geraten war. »Nein, kein Bedarf.« Sie knipste ihr Lächeln wieder an. »Und ein Autogramm habe ich schon, danke.« Sie deutete zwischen uns beiden hin und her. »Und ihr zwei kennt euch also auch … näher?«

Enko und ich wechselten erneut einen Blick und er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, wir kennen uns näher.«

Ich sah fragend zu ihm. Hoffentlich verstand Carly unter »sich näher kennen« nicht, dass man miteinander ging.

Carly zog kritisch die Augenbrauen hoch, so als könnte sie nicht wirklich glauben, was Enko gerade gesagt hatte. Sie warf einen prüfenden Blick auf mich, wie um sicherzugehen, dass es sich wirklich um mich handelte.

»Aha«, sagte sie schließlich, und es klang ziemlich vage.

»Wir wollten dann auch los.« Enko lächelte knapp. »Man sieht sich, Kelly.« Es klang nicht flirty, sondern nur wie eine höfliche Floskel.

»Carly, nicht Kelly.«

Ich schenkte ihr nur einen kurzen Blick, als wir uns von ihr abwandten.

»Bis morgen in der Schule, Livia!«, rief Carly mir hinterher. »Und grüß doch bitte deinen Freund Maél von mir!«

Enko schnaubte, während wir sie stehen ließen. Genau wie sein Halbbruder schien er es nicht ertragen zu können, wenn man ihn provozierte. Er legte im Gehen einen Arm um meine Schulter und drehte sich ein letztes Mal zu Carly um. »Wir richten deine Grüße aus, Kelly!«

Meine Schultern bebten vor lautlosem Lachen. »Du machst das absichtlich, oder?«

»Dich in den Arm nehmen?« Er grinste auf mich hinunter. »Aber so was von.«

»Carly ›Kelly‹ nennen.« Kaum, dass wir um die nächste Ecke gebogen waren, schob ich seinen Arm von meiner Schulter.

»Das auch«, sagte Enko. »Lass mich raten. Ihr zwei könnt euch richtig gut leiden?«

Ich schnaubte. »Bei Carly und mir war es eindeutig Liebe auf den ersten Blick. Sie hätte mich damals fast mit Evangéline enttarnt. Ich habe mich mit Mühe und Not aus der Affäre ziehen können, aber glaub mir, mit ziemlicher Sicherheit weiß sie, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt.«

Enko zuckte die Schultern. »Auch ein schlechter Ruf verpflichtet.«

Ich sah nur vielsagend zu ihm hoch, als wir weitergingen. Eigentlich wollte ich auch gar nicht über Carly reden. Geärgert hatte ich mich über sie schließlich schon genug. Ich wollte gerade auf unser Thema von vorhin zurückkommen, da tippte Enko auf mein Schlüsselbein.

»Behältst du Evangéline jetzt bei dir?«

Ich nickte. »Kannst du sie unter dem Shirt sehen? Ist das so auffällig?« Ich zog meine Strickjacke enger um mich, damit es nicht nur der dünne Stoff des Langarmshirts war, der sie verbarg. Der Gedanke, dass mich womöglich noch jemand anderes darauf ansprechen könnte, gefiel mir ganz und gar nicht.

Enko schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann sie irgendwie spüren. Vermutlich, weil sie auch irgendeine Art mythologisches Wesen ist.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Weißt du mehr über das Verschwinden des Händlers?«

Ich erzählte ihm, was ich darüber wusste und auch alles über die anderen verschwundenen Halbgötter, von denen Hermes berichtet hatte.

Enko warf mir einen Seitenblick zu. »Davon hatte ich noch gar nichts gehört. Das klingt ja echt beunruhigend. Hat man denn gar keine Idee, wohin sie verschwunden sein könnten?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Und man hat keine Leichen oder Überreste gefunden?«

Ich sah ihn erstaunt an. »Mal abgesehen davon, dass das ziemlich eklig klingt, wieso Überreste oder Leichen?« Ich senkte meine Stimme, als wir ein Grüppchen Schüler passierten. »Ihr seid doch eigentlich gar nicht zu töten. Und selbst wenn ihr als Halbgötter sterbt, hat Maél mir gesagt, löst ihr euch irgendwie in Luft auf, damit man keine Leichen findet.«

Enko entknotete seine langen Arme. »Das stimmt schon. Wenn Halbgötter sterben, beziehungsweise wenn unsere Körper sterben, lösen wir uns auf. Aber wir sind durchaus nicht unkaputtbar.«

Ich erinnerte mich an das, was Maél erzählt hatte. »Richtig. Eure Eltern können euch töten.«

Enko nickte vielsagend. »Außerdem sind die Kräfte der Götter viel größer als die der Halbgötter. Will zum Beispiel einer der dunklen Götter einer Tochter der Mondgöttin etwas Böses, so kann er sie entführen und in seinem Reich bannen. Und wenn Selene, die Mondgöttin, nie erfährt, wo genau ihre Tochter sich befindet, kann sie ihr nicht helfen. Und nicht nur unsere Eltern können uns Halbgöttern endgültig den Garaus machen. Auch die, die in der Hierarchie darüberstehen.«

Ich sah ihn an wie ein Auto. »In der Hierarchie?«

»Es gibt verschiedene Hierarchien im Reich der griechischen Götter. Selbst Götter sind Kinder von anderen Göttern. Von Göttern, die noch älter sind als die olympischen Götter, also Zeus, Hades, Poseidon, Hephaistos, Aphrodite, Hermes und so weiter. Das olympische Geschlecht, dem folglich auch ich entstamme, ist eines der jüngeren Geschlechter der griechischen Mythologie. Es besteht ja nur aus den zwölf Göttern, die gleichzeitig die bekanntesten Götter der griechischen Mythologie sind. Aber selbst unser großer Anführer Zeus hat einen Vater und eine Mutter. Diese Eltern von Zeus können ihn und seinen gesamten Nachwuchs töten, weil sie seine Vorfahren sind. Sie stehen in der Erbfolge, in unserer Hierarchie über ihm.«

Das hatte ich noch nicht gewusst. Ich nahm mir vor, mehr darüber nachzulesen. »Es könnte also sein, dass es gar nicht um irgendeine Art Fehde zwischen den olympischen Göttern geht? Sondern dass hier jemand mitmischt, der vielleicht sogar viel älter ist?«

Enko nickte. »Sollten wir Leichen von Göttern finden, wäre das auf jeden Fall ein Hinweis.«

»Also zerfallen Götter anders als Halbgötter nicht zu Staub? Wenn sie getötet werden, könnten sie also theoretisch begraben werden?«

»Richtig. Götter besitzen nur einen Körper. Sie werden nicht wiedergeboren wie die Halbgötter. Götter behalten also ihr ursprüngliches Aussehen, und wenn sie getötet werden, stirbt alles von ihnen – ihr Körper, ihr Geist, ihre Seele. Solange sie nur verschwunden bleiben, kann es sein, dass sich nur wieder eine Revolution anbahnt.«

Genau das Gleiche hatte Maél auch zu mir gesagt. »Wo sind diese alten Götter? Die, die mächtiger sind als Zeus?«

»Sie sind Einzelgänger und schließen sich unserer Gemeinschaft nicht an. Sie sind niemals so verehrt worden wie die olympischen Götter, und deshalb meiden sie uns. Es sind grausame, egoistische Wesen, die sich selbst genug sind – verbittert, gelangweilt, böse. Es ist gut, dass sie sich nicht zeigen.« Enkos Blick war düster. »Gut für uns und gut für die Menschheit.«

Das klang ziemlich gruselig. Schnell strich ich über die Stelle, wo Evangéline es sich gemütlich gemacht hatte. »Evangéline ist älter als ihr alle. Heißt das, sie kann euch alle töten?«

Enko kicherte dunkel. »Vermutlich. Hoffen wir mal, dass sie nie in den Kampfmodus schaltet.«

Ich lächelte ihn an. Enko lächelte zurück, und er hielt meinen Blick. Seine Miene wurde weich. »Du bist echt tapfer«, sagte er leise.

Ich sah auf meine Schuhe, um diesem Blick auszuweichen. Zu viele Gefühle schwangen darin mit.

»Dass du überhaupt zur Schule gegangen bist. Das ist schon echt tough.«

Ich hob den Kopf. »Das habe ich nur gemacht, damit ich nicht völlig durchdrehe.«

»Du hättest mir schreiben können.« Seine Stimme klang so eindringlich, dass ich mich schon wieder schämte, ihn so ignoriert zu haben. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«

Noch mehr Schuldgefühle krochen in mir hoch. Ich sah in sein gut geschnittenes Gesicht mit diesen Augen, die mich so ernsthaft ansahen. Da war nichts von dem ewig flirtenden Rockstar, der genau wusste, wie gut er aussah, und das auch bestens einzusetzen wusste. Enkos Augen schienen nun älter und ausdrucksvoller als je zuvor. Ihr Blau war hell, aber nicht fahl. Es war ein leuchtender Ton, fast ein wenig zu türkis, um es einfach nur blau zu nennen.

»Es tut mir leid. Hilfst du mir trotzdem, Enko?«

Er nickte einfach nur.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte ich erneut. »Ich hätte dir antworten sollen.«

Enko presste die Lippen aufeinander. »Schon okay. Jetzt weiß ich ja, dass es dir gut geht.« Er sah sich kurz um. »Hast du Lust auf einen Kaffee? Sollen wir uns irgendwo hinsetzen und das weitere Vorgehen besprechen?«

Natürlich wollte ich mit Enko darüber sprechen, wie wir Maél befreien konnten. Andererseits hatte ich nach wie vor Bedenken, wenn ich mit ihm alleine war. Irgendwie schaffte er es, alles, was wir machten, wie ein Date aussehen zu lassen. Er holte mich von der Schule ab, und er sah mir viel zu tief in die Augen. Nicht gut. Andererseits schien er sich wirklich Sorgen um mich zu machen. Ich wusste, ich sollte das zu schätzen wissen und mich darüber freuen, dass er, wie er sagte, mein Freund sein wollte. Ich brauchte Verbündete, die sich in der mythologischen Welt besser auskannten als ich. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass da von seiner Seite aus irgendwie mehr war. Und dass es mich irgendwann wie eine Welle überrollen würde, wenn er seine Emotionen mal nicht so gut im Griff hätte wie jetzt gerade.

Er bemerkte mein Zögern. »Keinen Kaffee? Oder nur nicht mit mir?«

Und da war es wieder. Das gefährlich glatte Parkett aus Emotionen, auf das ich mich eigentlich nicht hatte wagen wollen. »Enko …«, setzte ich an, doch er unterbrach mich sofort.

»Wir können das auch ohne den Kaffee klären. Wir müssen uns nicht mal hinsetzen. Wir können das auch hier direkt besprechen.«

Er war verletzt, und es war nicht zu überhören. Das hier würde ein wirklich sehr glattes Parkett werden. Doch ich brauchte ihn. Ihn, sein Wissen, seine Kräfte und die Verbindung zu anderen olympischen Göttern.

»Ich bin ein wenig müde.« Ich schämte mich, dass ich diesen Grund vorschob, um ihm auszuweichen. Vielleicht sah ich ja auch Gespenster. Vielleicht war es nur seine geschwisterliche Liebe zu Maél, die ihn so aufgewühlt hatte. Vielleicht ging es gar nicht um mich. Vielleicht war Enko einfach nur wild entschlossen, sich seinem Vater entgegenzustellen und für seinen Bruder zu kämpfen. Vielleicht war ich einfach nur total arrogant geworden und hatte es nicht bemerkt. Kurz entschlossen schüttelte ich den Kopf. »Komm, wir setzen uns irgendwo hin und besprechen alles in Ruhe. Ich glaube, ich könnte einen Kaffee vertragen.«

Enko lächelte mich so liebevoll an, dass mir ganz warm ums Herz wurde.

»Das ist schön. Lass uns besprechen, wie wir Maél da rausholen.« Er lief los, dieses Mal ohne jeglichen Versuch, mich irgendwie zu berühren, und ich war erleichtert.

Offenbar war ich emotional so durcheinander, dass ich tatsächlich annahm, Enko würde versuchen, mich in Maéls Abwesenheit anzugraben. In Wahrheit aber ging es hier einfach nur um Maél. Ich bemühte mich, aufzuholen. Einen starken Kaffee konnte ich jetzt wirklich gut vertragen!

*

Genau zwischen Schule und Metrostation lag eine ganze Reihe gemütlicher kleiner Cafés. Enko führte mich in einen winzigen Laden, dessen dunkle Einrichtung mit schwarz-weißem Kachelboden nostalgisch und gemütlich wirkte.

Wir bestellten beide den stärksten schwarzen Kaffee auf der Karte und lachten darüber, dass wir offensichtlich den gleichen Geschmack hatten.

Kurz darauf saßen wir beide schweigend vor unseren Tassen. Wir nahmen abwechselnd winzige Schlucke von dem dampfenden Inhalt und sahen uns immer wieder verstohlen an.

Enko war selbst im Sitzen riesengroß. Neben ihm kam ich mir noch kleiner vor als neben Maél. Ich hatte keine Ahnung, wie Enko seine zwei Meter langen Beine unter diesem winzigen Tisch gefaltet hatte, sodass die anderen Besucher, die sich dicht an unserem Tisch vorbeidrängten, nicht alle naselang darüber stolperten. Natürlich widerstand ich dem Drang, nachzusehen. Stattdessen suchte ich krampfhaft nach einem Einstieg in ein Gespräch.

»Hast du keine Angst, deinen Vater zu verärgern?«

Enko riss sich von dem Anblick seiner offenbar völlig faszinierenden Kaffeetasse los. »Natürlich habe ich Angst vor ihm. Du hast ihn ja erlebt. Aber ich bin nur zur Häöääüüéäö «ä»ü«