Wenn mancher Politiker heute behauptet, auf die inzwischen gravierenden Bestandsrückgänge unserer Vogelwelt (und von Lebewesen allgemein) sei von Seiten der Wissenschaftler zu spät aufmerksam gemacht worden, um entsprechend Abhilfe schaffen zu können, so ist das sträfliche Lüge, Ignoranz oder Irreführung. In keinem Land der Erde ist so frühzeitig und so andauernd deutlich auf Artenrückgänge hingewiesen worden wie in Deutschland. Bereits 1849 hat der damalige Altmeister der Vogelkunde, Professor Johann Friedrich Naumann, Verfasser einer zwölfbändigen Monographie über Die Naturgeschichte der Vögel Deutschlands, über Rückgänge der Vogelwelt in unserem Land zusammenfassend berichtet. In Rhea. Zeitschrift für die gesammte Ornithologie schreibt er unter dem Titel »Beleuchtung der Klage: Über Verminderung der Vögel in der Mitte von Deutschland« Folgendes:
In der Mitte unseres Vaterlandes hat sich dem langjährigen Beobachter, dem Veteran der Wissenschaft, leider längst die Bemerkung aufgedrungen, seit einem halben Jahrhundert eine auffallende Abnahme der Zahl fast aller Vögel eintreten zu sehen, die besonders bei Strich- und Zugvögeln am auffallendsten wurde (…). Folgende Facta beruhen (…) auf eigenen Erfahrungen, die von meiner Kindheit anfangen und, da ich jetzt bereits das 66. Jahr zurückgelegt, mehr noch als 50 Jahre umfassen, eingedenk, daß ich meinen Vater, selbst schon als ich kaum das zehnte Jahr erreicht hatte, bei Jagd und Vogelfang zu begleiten pflegte. Sie gewähren sogar einen Rückblick auf einen noch größeren Zeitraum, weil sie auch das umfassen, was er mir (…) mittheilte, nämlich was er selbst erlebt, zum Theil auch von Vorgängern erfahren; denn wir stammen aus einer Familie, deren Urväter schon den Vogelfang liebten und ihn leidenschaftlich betrieben, sodaß (…) in dem zu meinem Landgut gehörigen kleinen Wäldchen (…) drei Vogelherde regelmäßig in Betrieb waren, in den nächsten Umgebungen (…) noch vier dergleichen (…) und (…) bei mehreren Dörfern noch ebenso viele (…). Sämtliche Vogelherde (…) meines (…) Wohnorts (…) trugen in jener Zeit so viel ein, daß die Besitzer für Auslagen und Zeitaufwand sich völlig entschädigt halten durften (…). Unsere Vogelsteller fingen (…) gute Lockvögel (…), verkauften sie (…) oft zu hohen Preisen, sowie sie die anderen in Mengen auf den Herden gefangenen Vögel getödtet, von Federn entblößt und an Spießen gereiht, zum Verspeisen auf die Märkte der Städte trugen und willige Käufer dazu fanden (…). Allein schon vor 50 Jahren war die Klage über Abnahme der Vögel unter diesen Leuten allgemein, und (…) fingen sie doch lange nicht mehr so viele Vögel, als ihre Vorfahren (…). Mit den Besitzern starb daher ein Vogelherd nach dem anderen ab (…). So blieb denn (etwa zur Zeit des Wechsels unseres und des vorigen Jahrhunderts) der Vogelherd meines Vaters der einzige (…) in meilenweitem Umkreise. (…) Auch der Fang in Dohnen (Dohnensteg, Schneuß [Fang mit Schlingen, P. B.]) (…) gab nicht mehr die Hälfte als vor 50 Jahren (…). Ich für meinen Theil setzte ihn zwar noch fort (…), doch nur bis etwa zum Jahre 1833, wo ich ihn ebenfalls aufgeben mußte, weil er die Mühe durchaus nicht mehr lohnen wollte (…). Mit Wehmut erinnere ich mich (…), wo manchmal nach einer stillen Octobernacht oft alle Hecken, worin Beeren wuchsen, vom Geflatter und den Locktönen der angekommenen Drosseln und Rotkehlchen belebt waren und sich Hunderte davon in den Dohnen fingen (…) kaum, daß man jetzt noch Dutzende bemerkt, wo sich sonst Hunderte zeigten (…). Ebenso sind (…) Hänflinge (…), Grünlinge so selten geworden, daß in meinem Garten kaum noch ein brütendes Paar vorkommt, während wir ehedem diese Vögel zum Verspeisen alljährlich in vielen Dutzenden fingen (…) jetzt (…) fehlen z. B. meinem Wäldchen seit Jahren mindestens zwei Drittel der Nachtigallen von sonst; dagegen lassen Mönch- und Gartengrasmücken, auch Pirole (…) sich jetzt kaum weniger häufig hier hören. (…) auch unser Raubvögelfang wurde von Jahr zu Jahr ärmlicher und nahm endlich so ab, daß er (…) ganz hat aufgegeben werden müssen (…). Bei keiner unserer Vogelgattungen wird die Abnahme (…) augenfälliger als bei den Meisen. Vor noch nicht 50 Jahren (…) verließ (…) mancher sachverständige Fänger (…) gegen Mittag seine Hütte nicht ohne vollgepfropfte Taschen, und noch vier bis fünf Schock Meisen an Einem Vormittage war noch keineswegs ein unerhört reicher Fang. September und October waren die Monate, in welchen, auf einem nicht gar großen Umkreise, jährlich Tausende dieser nützlichen Vögel gefangen und verspeist wurden. Allein ihre Menge war sichtlich schon im Abnehmen, als vor circa 20 Jahren ein landesherrlicher Befehl jedes methodische Fangen der Meisen strenge untersagte (…) trotz dem Aufhören aller großartigen Nachstellungen von Seiten der Menschen, die Zahl der Meisen (…) auffallend vermindert hat (…) und wie ich vernommen, werden auch im Rudolstädtischen (…) dieselben Klagen laut (…). Auf die nämliche Weise klagen auch (…) die Vogelfänger des Harzes und Thüringerwaldes über allgemeine Abnahme der Vögel, namentlich auch die Haloren [Salzsieder zu Halle an der Saale] (…) Blos der Lerchenfang macht (…) noch eine Ausnahme (…), unter dem Nachtnetze (…) klagen aber fortwährend über Abnahme an Zahl. (…) dennoch gehört die Feldlerche immer noch zu den häufigsten Vögeln (…). Rebhühner (…) wird auch diese Vogelart schwerlich wieder so häufig bei uns werden können, als sie es vor 70–80 Jahren gewesen. Damit jedoch der damalige Fang nicht zu einem wahren Vertilgungskriege wurde, war allgemein üblich oder zum Gesetz geworden (…), nur die Jungen zu behalten. (…) Vor noch nicht 50 Jahren [suchte man] die Eier der (…) zu vielen Hunderten beisammen nistenden Lachmöwen, weil man diese Vögel für Fischräuber hielt, körbeweis ab, um die Schweine damit zu füttern. (…) Solche Erfahrungen (…) müssen uns endlich auch auf (…) Ursachen leiten, welche am mehrsten die Abnahme der Vögelzahl bewirkt (…). Nur zu gewiß ist sie, als Folge der Vermehrung der Menschen und ihrer Bedürfnisse, in der gesteigerten Industrie und einer einträglichen Benutzung des Bodens zu suchen. Den Ackerbau zu fördern und seine Erzeugnisse zu vermehren, suchte man allerlei Mittel und Wege hervor (…), nicht selten mit Vernachlässigung aller Sorge für die Existenz kommender Geschlechter, sowie zum Schaden der Vögel durchgeführt (…). Striche, unterbrochen durch Wäldchen und Gebüsche, mancherlei Art, die sonst unseren Fluren die lieblichste Abwechslung gewährten, sind in jüngster Zeit in eintönige Ackerflächen umgewandelt (…). Besonders haben unsere kleinen Singvögel durch rastloses, fast zur Mode gewordenes Ausroden wilder Gehölze, Feldhecken und abgesonderter Waldtheile, um für den Ackerbau Land zu gewinnen (…), Aufenthaltsorte verloren. Nicht besser geht es unseren Sumpf- und Wasservögeln, durch Ablassen und Trockenlegen der Seen, Teiche und Sümpfe, um diese als Ackerland, Wiesen oder zur Torfgräberei zu benutzen, und es ist dieses wie jenes so allgemein, daß es in hiesigen Landen keine Gegend mehr gibt, in welcher nicht seit einem Vierteljahrhundert dergleichen geschehen wäre oder noch geschieht (…). Der großartigste, vom Geflügel belebteste dieser Teiche wurde zuerst zu Gunsten einer nahen, höchst ergiebig gewordenen Braunkohlengrube abgezapft; die anderen folgten ihm theilweise nach, und wo man vor 50 Jahren jene von zahlreichem Geflügel belebten großen Wasserbecken bewundern mußte, haben jetzt furchtbare Äcker und Wiesen Platz genommen (…). Gewiß gibt es in Deutschland noch viele solcher Striche, auf welchen sich die Vögelzahl im Abnehmen befindet, doch noch gewisser keinen, von dem man behaupten könnte, sie hätten in neuerer Zeit zugenommen.1
So weit Zitate aus der für uns höchst interessanten und aufschlussreichen Arbeit von Naumann über den Zustand unserer Vogelwelt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für viele sicher neu und auch sehr irritierend: Deutschland war seinerzeit ein »Vogelfresserland«, wie es viele nur etwa von Italien, Malta oder Zypern kennen. Für Kenner älterer vogelkundlicher Literatur ist das nichts Neues. Viele Bücher, wie das von Johann Conrad Aitinger 1653 verfasste Werk Vom Vogelstellen oder das von Ferdinand Johann Adam von Pernau 1702 publizierte Buch Unterricht, was mit dem lieblichen Geschöpff, denen Vögeln, auch ausser den Fang, nur durch die Ergründung deren Eigenschafften und Zahmmachung, oder anderer Abrichtung man sich vor Lust und Zeit-Vertreib machen könne, beschreiben Fangmethoden der verschiedensten Art. Ein »ordentliches« Vogelbuch behandelte früher selbstverständlich Fang und Zubereitung der meisten Groß- wie Kleinvögel. Darunter fielen auch Nachtigallen, Rotkehlchen und andere unserer heutigen Lieblinge. Es gab einige wenige Tabu-Arten wie den Weißstorch als Kinderbringer oder den Höckerschwan, der zum Besitz der Adelshäuser gehörte. (Die Redewendung »Da brat’ mir einer einen Storch« weist noch heute auf das Unding hin, einen Storch zu verzehren.) Ansonsten wurde nahezu nichts verschont. Waldarbeiter zum Beispiel fingen während ihrer Holzhauerei mit »Kloben« (Fußklemmfallen) nebenher Kreuzschnäbel, die sie zu Mittag wie »Grillwürstchen« über dem Lagerfeuer brieten. Und der von uns heute als Vogelschutzgerät hochgeschätzte Nistkasten kam bereits vor Jahrhunderten zunächst zur Nahrungsbeschaffung in Betrieb: als Starenmäste (von »mästen« = fett machen) in Schlesien oder in Nachahmung der in Holland schon um 1500 üblichen Starentöpfe.2 Man hing Nistkästen für Stare im Hausbereich auf, um die Vögel zum Brüten dorthin zu locken, und verengte später bisweilen sogar die Einfluglöcher in der Hoffnung, dass die Jungen, die durchs Flugloch über die normale Nestlingszeit hinaus gefüttert wurden, bis zum Verspeisen ordentlich zulegen würden. Für den Vogelschutz wurden Nistkästen erst ab den 1820er Jahren eingesetzt.
Gut in Erinnerung geblieben ist auch die einst ausgeprägte »Lerchenfresserei« im Raum Leipzig. Nachdem dort 1873 die Lerchenjagd aus Bestandsschutzgründen verboten werden musste, kreierten findige Bäcker »Leipziger Lerchen« in Form von Mürbeteiggebäck. Sie sind bis heute eine Delikatesse. Das letzte Gericht, das in Deutschland legal aus Kleinvögeln zubereitet werden durfte, war die Helgoländer Vogelsuppe. Den Insulanern, früher bei rauer See oft längere Zeit von der Versorgung vom Festland und vom Fischfang abgeschnitten, war sie eine willkommene Frischfleischquelle, für die unter anderem kleine Singvögel ebenso wie Drosseln, Watvögel oder auch Sperber verwendet wurden. Erst 1967 bereitete ein schleswig-holsteinischer Erlass dem ein Ende.
Die Ausführungen Naumanns über die »Ausräumung« der Landschaft im Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft klingen so, als seien sie erst kürzlich geschrieben worden. Könnten wir heute die seinerzeit von Naumann beklagte »bereinigte« Landschaft sehen, würden wir sicher sagen: wie ursprünglich, paradiesisch! Das zeigt, wie relativ unsere Landschaftsbeurteilung ist und wie sehr zur objektiven Einschätzung ihrer Qualität die darin festgestellte Vogeldichte taugt.
Johann Friedrich Naumann
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Erstaunlich ist, dass Naumann bei der Aufzählung der Ursachen des von ihm geschilderten allgemeinen Rückgangs von Vogelbeständen die Ausräumung der Landschaft, das Trockenlegen von Feuchtgebieten, die Intensivierung der Landwirtschaft und die um sich greifende Industrialisierung (Braunkohlegruben, Torfabbau) benennt, nicht aber den zum Teil sehr intensiv betriebenen Vogelfang. Da die Naumanns keine maßlosen Jäger waren, denen man Vertuschungsabsichten unterstellen könnte, andererseits aber hervorragende Kenner der Gesamtsituation der Vogelwelt, scheidet aus, dass sie Zusammenhänge zwischen Vogelfang und Bestandsabnahme einfach übersehen haben könnten. So bleibt nur der Schluss: Dem Fang, also dem Jagddruck, war offenbar keine überragende Bedeutung zuzumessen. Die durch ihn bedingten Verluste wären bei intakt gebliebenen Lebensräumen sicher wieder ausgeglichen worden, wie in weiter zurückliegenden Zeiten, als Rückgänge trotz Fang und Jagd wohl nicht zu beklagen waren.
Interessant ist, dass sich von Pernau entsprechend dazu äußert. In Bezug auf ein Fangverbot für Nachtigallen schreibt er: »Wer um eine Stadt die Nachtigallen vermehrt sehen will, hat nicht nöthig (…), den Nachtigall-Fang zu verbieten, sondern nur zu gebieten, daß man die Hecken groß und dick werden lasse.«3 Erst über hundert Jahre später wurde klar, dass bei intakten Lebensräumen auch beträchtlicher Jagddruck auf Vögel durch verstärkte (kompensatorische) Reproduktion ausgeglichen werden kann.4 Festzuhalten ist auch, dass Naumann in Verbindung mit dem Fang von Meisen und Rebhühnern bereits auf erste Schutzmaßnahmen für Vögel hinweist, die von der Obrigkeit erlassen wurden.
Recht genau 150 Jahre später, nachdem Naumann hauptsächlich über die Vogelwelt im Bereich seines Landgutes Ziebigk bei Köthen in Sachsen-Anhalt berichtet hatte, erschien von mir eine ganz entsprechende »Beleuchtung einer Klage« mit der Überschrift »Die Veränderung der Brutvogelfauna in zwei süddeutschen Dorfgemeindebereichen in den letzten fünf bzw. drei Jahrzehnten oder: verlorene Paradiese?«5. Sie fasst zusammen, was Mitarbeiter der Vogelwarte Radolfzell seit 1946, dem Neuanfang der ehemaligen Vogelwarte Rossitten, vor allem im Bereich von Schloss und Dorf Möggingen in Süddeutschland am Bodensee zusammengetragen haben (das damit zu der in Deutschland zumindest in jüngerer Zeit ornithologisch am besten untersuchten Gemeinde wurde). Die Ergebnisse lauten zusammengefasst für Möggingen im Zeitraum von 1947 bis 2002: Von ehemals 110 Brutvogelarten sind 35 Prozent ganz verschwunden oder nisten nur noch sporadisch in dieser Gegend, 20 Prozent schrumpfen im Bestand, 10 Prozent nehmen zu oder sind neu hinzugekommen, 35 Prozent sind mehr oder weniger stabil. Damit ging auch die Anzahl der Individuen stark zurück: von ursprünglich rund 3300 auf 2100; ebenso nahm die Vogel-Biomasse ab, von anfänglich ca. 240 auf 150 Kilogramm. Inzwischen verschwinden weitere Arten als Brutvögel aus dem Gebiet wie die Rauchschwalbe, der Gartenrotschwanz und der Grauschnäpper; bei anderen nehmen die Bestände weiter ab.
Der Vergleich Ziebigk–Möggingen zeigt: Obwohl 150 Jahre zwischen beiden Berichten liegen, sind sie in einem Punkt fast identisch, nämlich in der Feststellung starker Bestandsrückgänge. Deutlich wird zugleich ein gravierender Unterschied: Während die Angaben Naumanns noch recht pauschal waren, wurde für Möggingen detailliert quantitativ formuliert, und in der Originalarbeit erfährt man sogar die (recht genauen) Anzahlen von Brutpaaren der einzelnen Arten.
Nach dem Vergleich der einstigen und jetzigen Vogelwelt Mittel- und Süddeutschlands drängen sich vor allem fünf Fragen auf:
1) Wie stark haben die Vögel in Deutschland seit Naumanns Bericht, also seit etwa 1800, bis heute insgesamt abgenommen?
2) Wird sich der Rückgang, wie aus der Studie in Möggingen zu schließen, weiter fortsetzen?
3) Welche Arten sind davon besonders oder überhaupt betroffen und welche weniger oder auch gar nicht?
4) Kennt man inzwischen die genauen Ursachen für die Rückgänge? Wenn ja, was wurde unternommen, um die Abnahmen zu stoppen?
5) Werden unsere Vögel schlimmstenfalls weitgehend aussterben? Droht also doch noch ein »Stummer Frühling«, wie von Rachel Carson 1962 als Zukunftsvision dargestellt?6 Oder können wir wenigstens die heute noch existierende Rest-Vogelwelt retten, wenn wir entsprechende Anstrengungen unternehmen?
Genau diese Fragen werde ich im Folgenden der Reihe nach behandeln und beantworten.