80 Prozent weniger Vögel seit 1800
2014 veröffentlichten Richard Inger und andere Biologen in Ecology Letters, einer Fachzeitschrift für Ökologie, eine »schockierende« Mitteilung:1 2009 gab es in Europa rund 421 Millionen Vögel weniger als 30 Jahre zuvor. Das bedeutet einen Rückgang von 20 Prozent in drei Jahrzehnten oder von 0,7 Prozent pro Jahr. Die Feststellung beruht auf einer sorgfältigen, umfassenden Studie, bei der Bestandsentwicklungsdaten von fast 150 typischen Arten aus 25 europäischen Ländern ausgewertet wurden. 1980 konnten in Europa noch über 2 Milliarden Individuen dieser Arten registriert werden, 2009 nur noch rund 1,6 Milliarden. 90 Prozent der Verluste betreffen die 36 (früher) häufigsten Vogelarten wie Kiebitz, Rebhuhn, Feldlerche, Star, Feldsperling und Haussperling (während etwa Kohl- und Blaumeise, Rotkehlchen, Amsel sowie Raben- und auch einige Greifvogelarten recht stabile Populationen aufweisen). Diese schockierende Mitteilung betrifft auch Deutschland, dessen Daten wesentlich zu der Übersicht beigetragen haben; das zeigt auch der erste umfassende »Artenschutz-Report«, den das Bundesamt für Naturschutz 2015 veröffentlicht hat.
Für die Zeit vor der von Inger und den anderen Autoren behandelten Periode geben uns vor allem Daten, die wir in der Vogelwarte Radolfzell ermittelt haben, Aufschluss über die Bestandsabnahmen unserer Vögel. Bei der im ersten Abschnitt erwähnten Studie über die Vogelwelt im Umfeld des Instituts ergab sich im Zeitraum von rund 50 Jahren, 1947 bis 2002, bei 110 Brutvogelarten ein durchschnittlicher Rückgang von fast 40 Prozent. Da die Abnahmen schon bald nach 1947 einsetzten,2 lässt sich der Rückgang über das halbe Jahrhundert ermitteln: Er beträgt rund 0,8 Prozent pro Jahr.
Ein ähnlicher Wert ergibt sich aus einer anderen Studie der Vogelwarte. Alarmiert durch Bestandsabnahmen, hatten wir 1968 zunächst auf der Halbinsel Mettnau bei Radolfzell am Bodensee begonnen, in einer großen Fanganlage durchziehende Singvögel zu registrieren. 1974 wurde das Programm auf eine zweite Station im Naturschutzgebiet »Die Reit« bei Hamburg und eine dritte am Neusiedlersee bei Illmitz ausgeweitet. Das damit initiierte Mettnau-Reit-Illmitz-Programm (kurz MRI-Programm) wurde damals als größte »Volkszählung« an Singvögeln Mitteleuropas auf allen drei Stationen zehn Jahre lang bis 1983 durchgeführt (auf der Mettnau sogar insgesamt 32 Jahre lang von 1972 bis 2003). Im MRI-Programm ergab sich bei 37 untersuchten Kleinvogelarten mit fast 200 000 registrierten Individuen für 26 Arten (70 Prozent) ein negatives Bild der Bestandsentwicklung.
Für alle drei Stationen ergab sich über alle zehn Jahre ein durchschnittlicher Rückgang von 1,6 Prozent pro Jahr.3 Die aus diesen Ergebnissen resultierende Presseinformation der Max-Planck-Gesellschaft vom 15. Januar 1987 war betitelt mit der Überschrift Der stille Einzug des ›stummen Frühlings‹; die wichtigsten Schlagsätze lauteten: »Auch viele Kleinvogel-Arten verschwinden langsam, aber stetig; alarmierende Bilanz eines zehnjährigen, europaweiten Forschungsprogramms; ökonomische Einfalt verdrängt ökologische Vielfalt.«4 Dies wurde von praktisch allen Medien in Deutschland aufgegriffen und zeigt einmal mehr, wie frühzeitig auf den Vogelschwund in Deutschland aufmerksam gemacht wurde.5 Aus der 32-jährigen Studie am Bodensee ergab sich für 33 untersuchte Arten an ebenfalls fast 200 000 registrierten Individuen eine durchschnittliche jährliche Abnahme von 0,7 Prozent pro Jahr6. Auch nach der Studie von Inger und seinen Mitstreitern, in der Vogelbestände bis 2009 berücksichtigt wurden, hat sich der Abwärtstrend unserer Vogelwelt in Deutschland bis ins Brutjahr 2016 ungebremst fortgesetzt, wie alle aktuellen Jahresberichte, ornithologischen Rundbriefe und weitere Mitteilungen zeigen.