Wie zählt man Vögel?
Bevor wir uns den Bestandsveränderungen in unserer Vogelwelt zuwenden, kurz zu den zumindest für Amateur-Ornithologen und Laien, für Naturfreunde ebenso wie Skeptiker spannenden Fragen: Wie zählt man überhaupt Vögel? Und wie kann man gar Bestände einzelner Arten so genau ermitteln, dass sich daraus lang- oder selbst kurzfristige Veränderungen sicher erkennen lassen? Sogar bei uns Menschen, die wir als Bürger normalerweise unseren Wohnort bei den Einwohnermeldeämtern registriert haben, birgt die Fortschreibung der Bevölkerungsentwicklung gewisse Unsicherheiten. Wie mag es da erst bei den völlig »vogelfrei« lebenden Vögeln aussehen?
In der Tat, Erhebungen zur Verbreitung von Vögeln und erst recht zur Siedlungsdichte und zu Trends der Bestandsentwicklung sind im wahrsten Sinne des Wortes eine Wissenschaft für sich. Über die Eignung verschiedenster Erfassungsmetholden sind Hunderte von Arbeiten geschrieben worden.1 Uns braucht, wie wir sehen werden, für das vorliegende Buch zum Glück nur wenig von der komplizierten und zum Teil recht umstrittenen Methodik zu interessieren.
Zunächst ein paar Beispiele. Es mag jedermann einleuchten, dass es relativ einfach ist, die Anzahl brütender Weißstorchpaare zu erfassen, da Weißstörche fast ausschließlich in auffallend großen Nestern im Bereich menschlicher Siedlungen nisten. Sie werden daher seit 1934 beim »Internationalen Weißstorchzensus«, der alle zehn Jahre durchgeführt wird, von Storchenobleuten fast vollständig ermittelt. Beim 6. Zensus 2013/2014, der fast überall im Verbreitungsgebiet der Art in Europa, Asien und Nordafrika durchgeführt wurde, ergab die Zählung insgesamt rund 230 000 Paare. Ähnlich genau lassen sich die Bestände anderer Großvogelarten erfassen, auch wenn sie recht verborgen in Wäldern nisten, solange ihre Anzahl gut überschaubar ist, wie zum Beispiel beim Schwarzstorch und beim Seeadler.
Die Anzahl brütender Weißstorchpaare wird alle zehn Jahre fast vollständig ermittelt.
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Von diesen ornithologischen Highlights sind Liebhabern und Vogelschützern nahezu alle besetzten Horste bekannt, sie können für Bestandsübersichten durch zuständige Organisationen abgefragt werden. Das gilt auch für kleinere Arten, sofern sie in geringer Dichte vorkommen und auffällig oder attraktiv sind, wie bei uns etwa Bienenfresser, Wiedehopf oder Raubwürger. Auch von diesen Arten ist bei Liebhabern und Spezialisten praktisch jedes Brutpaar im Land bekannt.
Richtig schwierig wird es mit der Bestandserfassung beim großen Rest. Das gilt für sehr seltene und noch dazu recht versteckt lebende, zudem nicht leicht zu erkennende Arten wie zum Beispiel Dreizehenspecht, Orpheusspötter oder Schlagschwirl, die in der Regel nur von erfahrenen Feldornithologen erkannt und sonst leicht übersehen werden. Es gilt aber auch für die meisten häufigen Arten. Leicht war es (selbst als sie bei uns noch in Massen vorkamen), Schwalben zu erfassen, da sich alle drei häufigen Arten auf arttypische, leicht einsehbare Brutplätze konzentrieren: Brütende Uferschwalben findet man in Kies- und Sandgruben sowie an Flussufersteilwänden, Rauchschwalben fast ausschließlich in Viehställen und Mehlschwalben (auch: Hausschwalben) unter Dachvorsprüngen an Außenwänden von Gebäuden. Diese spezifische Nistplatzwahl erlaubte es früher, Schwalbenzählungen selbst in größeren Ortschaften verlässlich von Schulklassen durchführen zu lassen. Aber wie zählt man die – zumindest einstmals – überall vorkommenden Arten wie Amseln, Meisen, Sperlinge, Finken, Grasmücken, Laubsänger, Rohrsänger und viele andere, die man in ihren verschiedensten Lebensräumen wie Wäldern, Gebüsch, Röhricht oft gar nicht oder kaum zu Gesicht bekommt, sondern vielfach nur singen oder rufen hört?
Genau in Letzterem liegt der Schlüssel zum Erfolg: im Gesang. Bei vielen »schwierigen«, versteckt lebenden Arten versucht man, über die Kartierung singender Männchen, also ihre Eintragung in topographische Karten, Reviere zu ermitteln, die dann bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen als Brutreviere gewertet werden können. Wird das sehr sorgfältig gemacht – am besten durch Nachweis von Nestern mit Eiern oder Jungvögeln –, dann sind die Ergebnisse bei vielen Arten zufriedenstellend und aussagekräftig. Das gilt beispielsweise für die im letzten Abschnitt behandelte Studie in Möggingen, bei der die Beobachter der Vogelwarte nahezu täglich im Untersuchungsgebiet unterwegs waren und viele Brutpaare persönlich kannten (durch Fang und Beringung). So wurde bei der 1950 festgestellten maximalen Anzahl von 62 Brutpaaren des Neuntöters für jedes Paar ein Brutnachweis durch Nestfund erbracht.
Leider sieht die Praxis häufig ganz anders aus: Oft wird nur wenige Male oder nur über kurze Zeit beobachtet oder lediglich der Gesang registriert, so dass auch von durchziehenden, umherstreifenden oder unverpaart gebliebenen Männchen irrtümlich auf Brutpaare geschlossen wird. Bei manchen stark abnehmenden Arten, bei denen die Männchen oftmals keine Partnerin mehr finden, kann das enorme Auswirkungen haben. So können etwa auf Partnersuche singende Grauspechte, Wiedehopfe oder Klappergrasmücken Strecken von mindestens 10 Kilometern und Flächen von 30 Quadratkilometern befliegen und damit gleich mehrere Brutpaare vortäuschen, wenn man nicht sorgfältig Brutnachweise erbringt.
Solchen Irrtümern sitzen durchaus auch erfahrene Berufsornithologen auf. Als in den Jahresberichten über das Naturschutzgebiet Mindelsee vom BUND bis über das Jahr 2000 hinaus mehrere Brutpaare vom Grauspecht aufgeführt wurden, habe ich für die Mitarbeiter der Vogelwarte eine Prämie von 500 Euro pro Brutnachweis ausgesetzt. Obwohl sich seinerzeit mindestens drei erfahrene Ornithologen ans Werk machten, musste ich das Geld nie auszahlen. Es wurden nur umherstreifende rufende Grauspecht-Männchen gesichtet.2 Aus diesen und anderen Feststellungen lässt sich schließen, dass man bei Bestandserhebungen mittels Kartierung singender Männchen Brutbestände häufig überschätzt.
Es gibt jedoch auch das Gegenteil: Bei manchen Arten lassen sich bei Erfassung mit Hilfe des Gesangs auch bei aller Sorgfalt längst nicht alle Brutpaare ermitteln, weil die Männchen (zum Beispiel, weil sie in großer Dichte leben) individuell beim besten Willen nicht zu unterscheiden sind. Zum Teil liegt es auch daran, dass sie nur sehr kurze Zeit oder unauffällig singen und daher leicht überhört werden (wie etwa bei Grasmücken, Rohrsängern oder beim Grauschnäpper). Bei diesen besonders schwierigen Arten bringen Stichproben, Hochrechnungen sowie Zeitreihenvergleiche gute Ergebnisse, und bei ihnen spielt vor allem der Fang von Vögeln eine wichtige Rolle. Dafür werden gebietsweise große Reusen aufgestellt, die ganze Waldteile oder Gebüsche einbeziehen können, wie auf Helgoland oder auf der Kurischen Nehrung, und in die vor allem Zugvögel während der Rast hineinwandern. Die meisten Fänge für Zählungen werden jedoch mit Netzen durchgeführt. Zumeist sind es feinmaschige Fabrikate aus dünnen Nylonfäden, die als Netzwände aufgestellt werden und in die die Vögel hineinfliegen, weil sie sie kaum wahrnehmen.
Mit solchen Netzen haben wir von der Vogelwarte Radolfzell aus in Deutschland und Österreich seit 1968 mehr als 20 Jahre die bisher größte »Volkszählung« an Kleinvögeln durchgeführt (siehe nächster Abschnitt). In einem anderen Programm, dem »Integrierten Monitoring von Singvogelpopulationen« (IMS), ermitteln ehrenamtliche Mitarbeiter (»Beringer«) der drei deutschen Vogelwarten (Radolfzell, Wilhelmshaven-»Helgoland« und Hiddensee) die Anzahl von Brutvögeln durch Fang an festgelegten Plätzen in bestimmten Bruthabitaten sowie auch den jährlichen Bruterfolg. Letzterer ergibt sich durch den Vergleich des Anteils gefangener Jungvögel in Relation zu den Altvögeln.
Es wird also klar: Vor allem die Verhör- und Kartierungsmethoden, die die entscheidende Rolle bei der Erstellung von Verbreitungsatlanten spielen (wie etwa beim 2014 erschienenen Atlas Deutscher Brutvogelarten) wie auch bei Zeitreihen für die Ermittlung von Trends der Bestandsentwicklung (vor allem für die »Roten Listen«), bringen erhebliche Ungenauigkeiten mit sich. Diese können in vielen Fällen hohe Prozentwerte ausmachen.3 Deshalb sind »genaue« Anzahlen mit großer Vorsicht zu betrachten, und vielfach werden in Übersichten stattdessen vorsichtshalber Häufigkeitsbereiche angegeben, in denen sich Bestände einzelner Arten derzeit bei uns bewegen. Ein Beispiel: Für die Amsel geben Hans-Günther Bauer und ich in dem Buch über die Brutvögel Mitteleuropas 31 bis 70 Millionen Brutpaare für Europa an,4 davon 14 bis 20 Millionen für Mitteleuropa; die Zusammenstellung Birds in the European Union (2004) von BirdLife International, einem Zusammenschluss von über 100 weltweiten Naturschutzorganisationen, führt 31 bis 62 Millionen Brutpaare an, und die Rote Liste der Brutvögel Deutschlands (2002) 8 bis 16 Millionen Paare.5
Aus den bisherigen Ausführungen geht natürlich auch klar hervor, dass Vogelerfassungen, wie sie seit einiger Zeit etwa unter dem Motto »Stunde der Gartenvögel« vom Naturschutzbund (NABU) durchgeführt werden, mehr Spielerei als Wissenschaft darstellen. Bei derartigen Erhebungen kommen viele Unsicherheiten ins Spiel, etwa Fehlbestimmungen durch Verwechslung von Arten, Erfassungsfehler, wechselnde Einflüsse verschiedenster lokaler Faktoren usw., so dass sie nur ganz grobe Hinweise darauf geben können, in welchen Größenordnungen Vögel an gewählten Beobachtungsplätzen zugegen waren.6
Auch wenn diese kurze Übersicht über die Erfassung von Vögeln zeigt, dass Zählungen vielfach eher Bestandsschätzungen als exakte Bestandszahlen ergeben, braucht uns das für die kommenden Seiten nicht Bange machen. Wie wir sehen werden, sind die Rückgänge in unserer Vogelwelt inzwischen so gravierend, dass gewisse Ungenauigkeiten in der Bezifferung grundsätzlich belanglos sind. Weiterhin sind viele Arten so selten geworden, dass man die geringe Anzahl verbliebener Individuen heutzutage relativ leicht genau erfassen kann. Und für die allermeisten Arten liegen uns Datenreihen vor, die mit ganz verschiedenen Methoden parallel und unabhängig voneinander ermittelt werden, nämlich einerseits vor allem durch die Kartierung singender Männchen, andererseits etwa per Fang, Beringung, Ermittlung erfolgreicher Bruten und aus Jagdstrecken. Diese multiple Erfassung sowie der Vergleich der unterschiedlich erzielten Ergebnisse gibt uns ausreichend Sicherheit für das, was wir im Folgenden feststellen werden.