Kriegsjahre einer Familie

Kriegsjahre einer Familie

Sammelband, Band 5-8

Marion Kummerow

Marion Kummerow

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https://marionkummerow.de

Inhalt

Beherzte Rettung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Anmerkungen der Autorin

Tollkühner Aufstand

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Anmerkungen der Autorin

Enorme Opfer

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Anmerkungen der Autorin

Bittere Tränen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Anmerkungen der Autorin

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Beherzte Rettung

Kriegsjahre einer Familie, Band 5

Kapitel 1

November 1943, irgendwo in der Nähe von Minsk, Weißrussland


Richard Klausen stapfte mit halb erfrorenen Füßen in durchweichten Lederstiefeln durch den kniehohen Schnee. Nichts widerstand den Minusgraden des weißrussischen Winters, schon gar nicht die zerfledderten Stiefel und unzureichend wärmenden Uniformen, mit der die Wehrmacht ihre Soldaten ausstattete.

Seine Hose reichte ihm nur bis zur Mitte der Waden und war schon öfter geflickt worden, als er zählen konnte. Der Stahlhelm hielt die eisigen Windböen nicht von seinem Kopf fern und wie so viele seiner Kameraden hatte er sich ein Unterhemd um den Kopf gewickelt, um einigermaßen geschützt zu sein.

„Verdammt“, fluchte Richard, während er und Karl sich gegen den Handkarren stemmten, der in einer Schneewehe feststeckte. Schweiß rann ihm über das Gesicht und brannte in den Augen. Diesen mit Nachschub voll beladen zu bewegen, war die reine Hölle. Seit zwei Tagen kämpften sie gegen die Russen und heute Morgen hatte Oberstleutnant Schottke sie beide – zusammen mit einem Dutzend gehfähiger Verwundeter – zum Lager geschickt, um mehr Munition, mehr Essen, mehr Sanitäter, mehr Verbandszeug, mehr von allem zu holen.

Richard hoffte nur, dass sie das Schlachtfeld erreichten, ehe ihren Kameraden die Munition ausging. Letztes Jahr, als er frisch eingezogen worden war, war alles anders gewesen. Die meisten Soldaten waren vor Begeisterung fast geplatzt und hatten einen Sieg gegen die Rote Armee nach dem anderen eingeheimst. Die Versorgung war reichlich gewesen und der Nachschub kam immer pünktlich.

Aber jetzt? Die Wehrmacht war auf dem Rückzug, eine Division nach der anderen brach unter den Angriffen zweier unterschiedlicher, aber gleichermaßen tödlicher Feinde zusammen: die Rote Armee, die mindestens zehn zu eins in der Übermacht war, und der brutale russische Winter.

Da der Nachschub wo auch immer feststeckte, konnte sich jeder Soldat glücklich schätzen, der wenigstens ein paar passende Stiefel ohne Löcher besaß. Inzwischen wartete sogar der letzte funktionierende Laster ihrer Division auf eine Diesellieferung, um wieder in Gang gesetzt zu werden.

„Auf drei schieben!“, sagte Karl und gemeinsam warfen sie sich gegen den Handkarren. Ächzend und quietschend kroch er schließlich aus der Schneewehe.

„Gut gemacht, mein Freund“, sagte Richard, während sie gemeinsam den Karren hinter sich her zogen.

„Wenn wir dieses Tempo beibehalten, werden wir unsere Kameraden nie erreichen ...“ Karl rieb sich das stoppelige Gesicht mit der freien Hand. Die meisten Männer hatten den Luxus des Rasierens vor Langem aufgegeben. Schützengräben und Eitelkeit passten nicht gut zusammen. Abgesehen davon bot ein Bart etwas Schutz vor der beißenden Kälte.

„Sag das nicht. Wir kommen gut voran. Ich kann sie schon hören“, sagte Richard.

Als ob es seine Worte bestätigen wollte, dröhnte das Geräusch von MG42-Maschinengewehrfeuer durch die Luft. In der darauffolgenden Stille hörten sie, wie ihr Kommandant, Oberstleutnant Schottke, Befehle bellte. Karl und Richard verdoppelten ihre Anstrengungen, um ihren Kameraden den heiß ersehnten Nachschub zu bringen. Plötzlich zerschnitt ein unverkennbares Heulen die Luft.

„Stalinorgel“, schrie Richard und ging in Deckung. Die Katjuscha-Raketenwerfer wurden Stalinorgeln genannt, weil der Aufbau an eine Kirchenorgel erinnerte. Das markerschütternde Pfeifen war der schlimmste Albtraum eines jeden deutschen Soldaten. Mit ihrer Fähigkeit, innerhalb von Sekunden mehrere dutzend Raketen abzufeuern, war die Stalinorgel eine der gefürchtetsten russischen Waffen.

Der Kampf tobte unvermindert weiter – Gebrüll, Krachen, Schreie, lediglich unterbrochen durch das Getöse von Schüssen und Granaten, einige Minuten später gefolgt von der nächsten Salve von Katjuscha-Raketen. Sich aus der Deckung zu wagen, hätte den sicheren Tod oder zumindest Verwundung bedeutet.

Die Zeit schien stillzustehen, während Richard und Karl reglos in einem Graben lagen. Die Kälte kroch ihnen durch die Kleidung in die Knochen und versuchte, ihnen das Leben aus dem Leib zu saugen.

Richard ballte angesichts seiner Hilflosigkeit die Fäuste. Der Munitionsqualm hing in einer dichten Schicht über dem Boden und drang in Richards Nase und Hals, bis er röchelte und sich sicher war, dass die giftigen Dämpfe ihn ersticken würden. Eine verirrte Rakete traf den Handkarren; eine weitere jagte nur ein paar Meter entfernt einen Baum in die Luft. Der Wind peitschte und heulte, während der feurige Angriff die Erde verkohlte.

Als die Dämmerung über der Taiga hereinbrach, hörten die Kämpfe endlich auf. Richard kroch aus dem Graben und wurde Zeuge eines überwältigenden Anblicks: Vor ihm lag ein einziges Feld der Verwüstung. Sein Bataillon war ausgelöscht worden. Die wenigen überlebenden Kameraden wurden mit erhobenen Händen abgeführt.

„Alle weg“, sagte Richard mit gebrochener Stimme und kroch zurück in den Graben.

Karl riss nur die Augen auf und nickte. Stille breitete sich aus, während beide überlegten, was die Konsequenzen ihrer Erkenntnis waren. Die Erleichterung, noch am Leben zu sein, vermischte sich mit Schuld und Selbstzweifeln. Wenn wir uns mehr angestrengt hätten, eher angekommen wären … Sein Verstand sagte Richard, dass ein paar zusätzliche Waffen und Munition keinen Unterschied gemacht hätten. Es hätte den Kampf gegen einen übermächtigen Feind nur verlängert, aber sein Herz sagte etwas anderes.

Nach einer Weile räusperte sich Karl. „Knochensammlung.“ So nannten sie die schmerzliche Aufgabe, nach verwundeten Kameraden zu suchen.

„In der Tat“, antwortete Richard und rappelte sich vom gefrorenen Boden hoch. Sie schritten das Schlachtfeld ab, aber der Russe hatte ganze Arbeit geleistet und nur verstreute Leichen hinterlassen. Es begann zu schneien und der Schnee legte sich wie eine Decke der Scham über die Verwüstung.

Ein qualvolles Jammern zerriss die eisige Stille der kalten Winterluft. Richard und Karl rannten auf das Geräusch zu und fanden einen der Ihren auf dem eisigen Boden liegend, kaum mehr als ein blutiger Haufen, dem die Extremitäten fehlten.

Richard kämpfte schon lange genug an der Front, um zu wissen, dass der Sensenmann bei diesem Mann bereits an die Tür klopfte. Er konnte nicht mehr tun, als seine Wange zu streicheln und zu warten. Er setzte sich neben seinen Kameraden und fing an zu reden, erzählte Geschichten von besseren Zeiten, reichlich Essen, warmer Kleidung, schönen Mädchen. Wenige Minuten später rasselte der Atem des Verwundeten und … blieb aus. Richard stand auf und schüttelte zornig dem Himmel seine Faust entgegen.

Dunkelgraue Wolken ballten sich zu einem fieberhaften Knäuel zusammen, ohne einen anderen vorstellbaren Zweck, als der fahlen Sonne am Horizont jegliches Licht und Wärme zu rauben.

„Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun. Lass uns gehen“, sagte Richard und nahm Karls Hand, um den Trost der Nähe eines anderen Menschen zu spüren.

Wortlos schleppten sie sich zurück zum Lager, um von der Auslöschung ihres Bataillons zu berichten. Doch als sie das Lager erreichten, war dort nicht mehr als ein leeres Feld. Das gesamte Lager war dem Erdboden gleichgemacht worden.

Richard brach auf dem gefrorenen Boden zusammen. Schluchzen schüttelte seinen ausgemergelten Körper. Er war am Tag seines siebzehnten Geburtstags in diesen grässlichen Krieg einberufen worden. Das Gesicht seiner Mutter tauchte vor seinem inneren Auge auf. Sie hatte versucht, ihre Tränen zu verbergen, als sie sich von ihrem einzigen Sohn verabschiedet hatte, als er davongezogen war, um in Hitlers Wehrmacht zu dienen.

Auch seine drei Schwestern, Ursula, Anna und Lotte, hatten tapfer dreingeschaut, aber sie konnten ihm nichts vormachen. Lotte, nur ein Jahr jünger als er, hatte ihn in die Schulter geboxt und gedroht: „Du bleibst besser am Leben, oder ich werde persönlich dafür sorgen, dass du es für den Rest deines Lebens im Jenseits bereust, gestorben zu sein.“

Die Erinnerung an seine hitzige, freche Schwester ließ ihn lächeln. Sie auf dem falschen Fuß zu erwischen, war nichts, was er wollte, also sollte er sich besser darum kümmern, diesen Mist zu überleben.

„Wir müssen weg von hier“, sagte Richard.

„Aber wohin denn?“ Karl saß mit hängenden Schultern auf dem Boden, während sein Kopf vor und zurück wippte.

„Ich weiß nicht. Nach Westen. Wir müssen eine andere Division finden und uns denen anschließen“, sagte Richard, die Uniform starr vor Dreck und voller Flecken vom Blut des verstorbenen Kameraden.

„Hmmm ...“ Karl warf Richard einen Blick zu. „Hmmm ...“ Die Zeit direkt nach einer Schlacht war immer die Schlimmste. Das Gefühl von Verlust und Trostlosigkeit konnte den stärksten Soldaten umhauen. Richard konnte nicht zulassen, dass sein Freund sich in seiner miesen Stimmung suhlte.

„Steh auf, Schwachkopf, wir haben etwas zu erledigen!“

Karls Augen blitzten bei der Beleidigung auf und er hob eine Faust. „Haben wir das? Und seit wann bist du hier der Chef, Arschloch?“

„Seit du in Selbstmitleid ertrinkst. Schieb deinen faulen Hintern hoch und hilf mir, nach etwas Essbarem zu suchen“, brüllte Richard seinen Freund an, der den Hauch eines Grinsens zeigte, ehe er aufstand.

„Essen. Das ist mal ´ne Ansage.“

Gemeinsam durchsuchten sie die Überbleibsel des Lagers und fanden reichlich Essensreste in der Nähe dessen, was einmal die Feldküche gewesen war.

Sie stopften sich mit Brot, Trockenfleisch und gekochten Kartoffeln in solchen Mengen voll, wie sie seit Monaten nicht gegessen hatten, und füllten ihre Tornister mit so vielen Lebensmitteln, wie sie tragen konnten. Dann plünderten sie alles, was sie sonst noch brauchen konnten: Waffen, Ersatzmunition, warme Kleidung.

„Wir müssen tun, was zu tun ist“, sagte Karl und zog einer der herumliegenden Leichen den dicken Mantel und die Wollsocken aus. Richard tat es ihm gleich und verdrängte alle Gedanken an Pietät. Die gefallenen Kameraden hatten keine Verwendung mehr für irdische Wärme. Aber er und Karl würden in den Lumpen, die sie am Leib trugen, keine Nacht draußen überleben.

Mit je drei Paar Socken und zwei dicken Mänteln ausgestattet, kauerten Karl und Richard sich in einen Graben und beteten, dass sie die Nacht überstehen würden. Bei Sonnenaufgang würden sie ihre Reise ins Ungewisse antreten.

Richard hatte nie Soldat werden wollen. Zuhause in Berlin hatte er seine gesamte Freizeit mit der Nase in einem Buch verbracht. Egal welches Buch. Sehr zum Leidwesen seiner Schwester Lotte, die ihn immer wieder angestachelt hatte, mit ihr irgendwelchen Blödsinn anzustellen. Das war nicht ganz uneigennützig gewesen, wie er sich erinnerte, denn wenn sie erwischt wurden, bekam normalerweise Richard, der ältere und der Junge, die Strafe ab.

In der Hitlerjugend war Richard mit seiner Position am hinteren Ende der Reihe zufrieden gewesen: der kleine, schüchterne und sanfte Knabe, der unfähig – oder besser unwillig – war, mit den anderen mitzuhalten. Stattdessen wollte er in anderen die Liebe für das geschriebene Wort entfachen. Wenn dieser Krieg nicht gewesen wäre, hätte er die Schule abgeschlossen und wäre Gymnasiallehrer für deutsche Sprache und Literatur geworden.

Aber das Schicksal hatte ihm eine Wehrmachtsuniform und abgefrorene Zehen beschert.

Kaum mehr als ein unbeholfener Schuljunge, hatte man ihn in den Kampf geworfen. Die drei Wochen Training hatten da keinen großen Unterschied gemacht. Gerade genug, um eine MP40, die Standardwaffe der Infanterie, und eine MG42 sicher bedienen zu können.

Er und Karl waren die jüngsten in ihrem Bataillon gewesen, als sie dazukamen. Siebzehnjährige Jungs, im Gegensatz zu den kampferprobten älteren und erfahreneren Männern.

Jetzt waren alle weg.

Achtzehn Monate brutale Kämpfe an der Ostfront hatten einen Mann aus Richard gemacht.

Einen Überlebenden.

Von der Befehlskette abgeschnitten und ohne Marschbefehle beschlossen sie, so lange zu gehen, bis sie eine Eisenbahnstrecke fanden. Der wollten sie westwärts folgen in der Hoffnung, irgendwann auf eine deutsche Einheit zu treffen. Ganz sicher wollten sie nicht den Russen in die Hände fallen.

Nach vielen Tagen stumpfsinniger Lauferei am Tag und Kauern in Gräben bei Nacht fanden sie Schienen. Richard und Karl liefen noch mehrere Stunden, ehe sie das Zischen und Fauchen eines herannahenden Güterzuges hörten. Da sie nicht wussten, ob es ein deutscher oder russischer Zug war, versteckten sie sich hinter einer Hecke.

„Er trägt ein Hakenkreuz“, rief Karl über den Lärm und sprang winkend auf. Der lange Zug wurde allerdings nicht langsamer.

„Lauf!“, schrie Richard und rannte auf den fahrenden Zug zu, bis er einen Haltegriff an einem der letzten Waggons erwischte. Karl sprang gleichzeitig mit ihm auf und sie rangen auf der kleinen Plattform zwischen den beiden Waggons nach Luft.

„Was jetzt?“, fragte Karl.

„Wir müssen rein, sonst frieren uns bald die Finger ab und wir fallen runter wie Eiszapfen.“

Mit gemeinsamer Anstrengung schafften sie es, die Tür aufzustemmen und plumpsten schließlich auf die hölzernen Bodendielen des dreckigen, alten Zuges, der zweifelsfrei seine Ladung irgendwo im Osten abgeliefert hatte und jetzt auf dem Rückweg war, um mehr Nachschub zu holen. Beide waren völlig erschöpft und wurden von dem monotonen Rumpeln des Zuges in den Schlaf gewiegt.

Als sie erwachten, war der Tag angebrochen und warf sein mageres Licht auf eine unbekannte und dennoch vertraut wirkende Welt.

„Hast du eine Ahnung, wo wir sind?“, fragte Richard, während sie an ehemals malerischen Städtchen vorbeifuhren, die jetzt nur noch ein trauriges Bild der Zerstörung boten.

„Nee … aber wenigstens ist es wärmer“, antwortete Karl und schälte sich aus einem seiner Mäntel. Draußen ging ein schwerer Schneeregen nieder, der alles in düstere Schlieren tauchte.

„Wie lange fahren wir jetzt schon? Zehn Stunden? Zwölf Stunden?“ Ihre Uhren hatten schon vor Monaten den Geist aufgegeben. Ob das an der brutalen Kälte der weißrussischen Taiga lag, am Qualm der Artillerie oder einer ständigen Überbeanspruchung, wusste Richard nicht. Es war ihm auch egal.

„Zwölf Stunden nach Westen, dann sollten wir irgendwo in Polen sein“, sagte Karl und zeigte auf die kaum sichtbare Sonne, die durch die Wolken hindurch den Himmel hinter ihnen schwach erleuchtete. Ihre Strahlen tauchten den Schutt neben der Zugstrecke in dämmriges Licht. Straßen und Brücken hatten aufgehört zu existieren. Wohin Richard auch blickte, sah er nur Zerstörung. Aber das Leben ging weiter. Kinder spielten in den Ruinen, der Kälte und Feuchtigkeit zum Trotz.

Richard nahm das letzte Stück Trockenfleisch aus seinem Rucksack und schlang es mit geschmolzenem Schnee aus seiner Wasserflasche herunter. Die Lokomotive tuckerte mit ihrer Last im Schlepptau scheinbar endlos weiter, wand sich um Hügel und ächzte steile Pässe hinauf. Sie schepperte und pfiff vor Überlastung und Mangel an sorgfältiger Pflege und hielt trotzdem pflichtbewusst die unersättliche Kriegsmaschinerie in Gang.

„Eines Tages wird das hier aufhören, und dann kommen die Dinge wieder ins Lot“, sagte Karl mehr zu sich selbst. Als er von seinem Freund keine Antwort bekam, fragte er: „Glaubst du das nicht, Richard? Dass es bald vorbei ist?“

„Vorbei für wen?“, erwiderte Richard und zuckte mit den Schultern, die noch immer in dem riesigen, wärmenden, grauen Mantel steckten. Zum ersten Mal seit Wochen fror er nicht, aber sonst fiel ihm nichts ein, was ihn optimistisch stimmen könnte. Es war besser, nicht über eine unsichere Zukunft nachzudenken. Stattdessen zog er ein Notizbuch und einen Bleistift heraus, die er immer in seiner Brusttasche bei sich trug und schrieb einen Brief nach Hause.

Es war seine Art, mit der Einsamkeit und Trostlosigkeit umzugehen. Briefe zu schreiben lenkte ihn von der grausigen Realität ab und bot ihm eine Zuflucht in eine bessere Welt, wenigstens für eine Weile. Keiner dieser Briefe wurde je weggeschickt, denn er hielt sie nicht für adäquat, seine innersten Gedanken auszudrücken. Trotzdem fühlte er sich mit seinen Lieben verbunden, während er die Briefe schrieb oder immer wieder durchlas.

Liebste Mutter, meine lieben Schwestern, schrieb er. Die ruckartigen Bewegungen des Zuges verwandelten seine Handschrift in kindliches Gekritzel.

Ihr werdet froh sein zu erfahren, dass es mir gut geht und ich mit meinem Freund Karl zu unserer nächsten Mission reise. Der Winter ist ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit, mit sibirischen Temperaturen von minus 20 Grad Celsius, starken Winden und mehr als eineinhalb Metern Schnee.

Viel Schnee. Er erinnerte sich an das Blut auf dem Schnee.

Viel Blut. Auch wenn er sich kaum an die Details des schicksalhaften Tages erinnern konnte, blieb der Anblick von Blut und der faulige Gestank des Gemetzels in seiner Erinnerung eingebrannt.

Mach Dir keine Sorgen, liebste Mutter, ich habe einen tollen Mantel und Wollsocken bekommen, die mich warmhalten. Das Essen reicht nicht einmal annähernd an Deine herrlichen Kochkünste heran, aber wenigstens müssen wir nicht hungern.

Heute verschaffte es ihm keine Erleichterung, den Brief zu schreiben. Sein Magen zog sich zusammen bei der Erinnerung daran, dass sie die Vorräte geplündert hatten, die für ein ganzes Bataillon gedacht gewesen waren.

In Liebe,

Dein Sohn Richard

Er schloss das Notizbuch mit einem tiefen Seufzer.

Karl schaute hoch und sagte: „Ich verstehe nicht, warum du all diese Briefe schreibst und nie abschickst.“

„Das verstehe ich selbst nicht. Ich … Ich will mich meiner Familie nahe fühlen, sie aber nicht in diesen furchtbaren Krieg hineinziehen ...“

Kapitel 2

Nach einer vierundzwanzig-stündigen Reise durch verschneites, zerstörtes Gebiet hielt der Zug in Warschau. Zerknittert wie sie waren, sprangen Richard und Karl vom Zug und fragten nach dem Hauptquartier der Wehrmacht, wo sie sich beim diensthabenden Offizier meldeten.

Leutnant Meisinger überprüfte dreimal seine Listen und konnte immer noch nicht glauben, dass die beiden dreckigen, rußverschmierten und erschöpften Soldaten vor ihm zu Oberstleutnant Schottkes aufgeriebenem Bataillon gehören sollten. Seit der verlorenen Schlacht gegen die Rote Armee und der Zerstörung des Lagers mitsamt seiner Kommunikation waren nur lückenhafte Berichte über den Vorfall eingegangen.

„Wir werden morgen darüber sprechen“, sagte er mit einem Blick auf seine Uhr und ließ die beiden wegbringen.

Richard hatte zwar keine Auszeichnung erwartet, aber dass niemand ihre Geschichte glauben würde, hatte er auch nicht gedacht. Er und Karl wurden getrennt und weggeführt.

„Danke“, sagte Richard, als ein Soldat ihm die Tür zu einem unbenutzten Raum öffnete.

„Dank mir lieber noch nicht“, antwortete der andere Mann und hielt den Schlüssel in seiner Hand hoch, ehe ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg und er wegsah.

Richard hörte erst, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde und dann sich entfernende Schritte. Dann bin ich jetzt also ein Gefangener? Meiner eigenen Armee?

Im Moment war ihm das allerdings egal. Er ging ins Bad, um ausgiebig lauwarm zu duschen. Es fühlte sich paradiesisch an, wieder sauber zu sein. Dann rasierte er sich den verfilzten, blonden Bart ab und grinste in den Spiegel. Endlich sah er wieder wie er selbst aus.

Zurück in seinem Quartier fand er eine saubere Wehrmachtsuniform auf dem Bett und eine dampfend-heiße Mahlzeit auf dem Tisch vor. Wenigstens behandelten sie ihn wie einen Soldaten und nicht wie den Gefangenen, der er de facto war.

Er zog sich frische Unterwäsche an und setzte sich hin, um jeden kleinsten Krümel seiner ersten heißen Mahlzeit seit mehr als zwei Wochen zu verputzen. Dann ließ er sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett fallen und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.

Schwaches Sonnenlicht drang durch das vergitterte Fenster, als ein Klopfen an der Tür ihn weckte. Ein unbekannter Soldat trat in den Raum. „Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit mir.“

Nach dem Gesichtsausdruck des Mannes zu urteilen, vermutete Richard, dass er sich besser beeilen und seine Fragen herunterschlucken sollte.

„Folgen Sie mir.“

Minuten später kam Richard in einem Verhörraum an. Er hatte Karl seit dem Vortag nicht gesehen und fragte sich, ob es ihm ähnlich ergangen war.

„Heil Hitler“, begrüßte ihn Leutnant Meisinger.

Richard stand stramm und erwiderte den Gruß.

„Ich benötige einen vollständigen Bericht. Hinsetzen“, sagte Meisinger und zeigte auf einen Tisch in der Mitte des Raumes.

Richard erzählte die Ereignisse der schicksalhaften Schlacht. Bei den einströmenden Erinnerungen versagte ihm fast die Stimme.

„Warum waren Sie nicht bei Ihrem Bataillon?“, fragte Meisinger wieder und Richard hatte Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken. Er schluckte eine schnippische Bemerkung herunter und antwortete: „Wie ich schon sagte, wurden Karl Wegener und ich beauftragt, einen Handkarren mit Ersatzmuni–“

„Die Wehrmacht hat für so etwas motorisierte Fahrzeuge! Warum haben Sie die nicht benutzt?“, schrie Meisinger ihn an. Du nutzloser Sesselpupser warst offensichtlich noch nie an der Front oder du würdest nicht so eine Scheiße labern.

„Leutnant, bei allem Respekt, aber–“

„Respekt ist das, was ich hier vermisse.“ Meisinger erhob sich und stellte sich hinter Richard, dem dabei die Haare zu Berge standen. Einen Feind im Nacken zu haben war das Letzte, was ein Soldat ertragen konnte. Obwohl der Leutnant realistisch betrachtet kein Feind war, fühlte es sich dennoch so an, als ob er sich absichtlich und grundlos zum Gegner gemacht hatte.

„Leutnant“, versuchte Richard es erneut, „keines unserer Fahrzeuge hatte noch Sprit. Das bisschen, was noch da war, wurde für den einzigen funktionierenden Panzer–“

„Jetzt wollen Sie mir erzählen, dass Ihre Vorgesetzten faule Idioten waren, die vergessen haben, genug Nachschub zu beschaffen? Ich will Ihnen was sagen, Gefreiter Klausen.“ Meisinger ging um Richard herum und bohrte ihm den Finger in den Brustkorb. „Sie erzählen mir einen Haufen Lügen.“

„Nein, Leutnant, ich–“

„Die Wahrheit!“, brüllte Meisinger mit knallrotem Gesicht und schlug seine Faust auf den Tisch. „Ich will die Wahrheit, Gefreiter Klausen!“

„Leutnant, ich sage die Wahrheit“, antwortete Richard, während die Furcht über seinen Rücken kroch.

„Die Wahrheit ist, dass Sie ein Spion sind!“ Leutnant Meisinger schob seine Brille hoch und starrte Richard ins Gesicht.

„Nein, ich bin kein Spion“, protestierte Richard. „Ich bin ein loyaler Soldat und ein Patriot.“

„Ihr Bataillon wurde besiegt, das Lager überfallen und dem Erdboden gleichgemacht und nur Sie beide sind übrig, um davon zu erzählen?“, spöttelte Meisinger. „Jetzt mal raus mit der Sprache und ich warne Sie: Meine Geduld ist am Ende.“

Ein weiterer Mann betrat den Raum und fragte mit einem Nicken in Richtung Richard: „Hat er gestanden?“

Richard schielte auf die Schulterklappen des Mannes und erkannte ihn als Major. Doch obwohl er mehrere Ränge über Leutnant Meisinger stand, schien er kein Interesse daran zu haben, das Verhör in die Hand zu nehmen. Stattdessen zog er seine Walther P38 heraus, die er lud und wieder entlud, während er Richard anstarrte.

„Es gibt nichts zu gestehen, Major.“ Richards Zähne begannen zu klappern.

„Wenigstens scheinen Sie die Befehlskette nicht vergessen zu haben“, sagte der Major und wog die geladene Pistole in seiner rechten Hand. „Major Dietrich für Sie. Ich bin nicht für meine Geduld bekannt. Also ersparen Sie mir die Lügen und legen Sie die Fakten auf den Tisch.“

„Wir haben gegen den vermaledeiten Russen, Entschuldigung, gegen die Rote Armee gekämpft, fast achtundvierzig Stunden, und uns ging die Munition aus. Unser Bataillonsführer, Oberstleutnant Schottke, hat dem Gefreiten Wegener und mir befohlen, zum Lager zurückzugehen und Nachschub zu holen. Aber der verd … ich meine, der Handkarren ist immer wieder in Schneewehen stecken geblieben und wir haben mehrere Stunden für die Strecke gebraucht. Gerade als wir uns bei Oberstleutnant Schottke zurückmelden wollten, hörten wir eine Stalinorgel und sind in Deckung gegangen.

Major Dietrich schürzte angeekelt die Lippen. „Stalinorgel, sagen Sie? Wie viele?“

„Ich weiß nicht. Aber so oft wie die gefeuert haben und wenn man bedenkt, wie lange es dauert nachzuladen, würde ich schätzen, es waren mindestens drei.“ Richard faltete die Hände, damit sie nicht zitterten. „Der Raketenbeschuss währte mehrere Stunden. Als es aufhörte, bin ich aus dem Graben gekrochen und habe gesehen, wie eine Handvoll unserer Kameraden von den Russen abgeführt wurde.“

„Und diese russischen Truppen, die alle anderen getötet haben, haben Sie und Ihren kleinen Freund am Leben gelassen?“ Major Dietrich sprang auf, die geladene Walther P38 in der Hand. „Glauben Sie, ich bin blöd, Gefreiter?“

Kalter Schweiß trat auf Richards Stirn, aber er wagte es nicht, ihn wegzuwischen. „Nein, Major, natürlich nicht. Wir hatten Glück, hatten uns weit genug weg versteckt oder vielleicht war es die einsetzende Dunkelheit, die die Russen davon abgehalten hat, eine sorgfältige Suche durchzuführen.“

„Ich sage Ihnen, was wirklich passiert ist“, sagte Major Dietrich mit einem selbstgefälligen Grinsen. „Der Russe hat Sie und Ihren Freund gefunden, aber anstatt euch zu töten haben sie euch einen Handel angeboten. Euer Leben gegen Spionage für die.“

Richard hörte das dumpfe Klicken von Major Dietrichs Pistole und ihm wurde schwarz vor Augen. Als Überläufer beschuldigt zu werden, bedeutete vor einem Erschießungskommando zu enden.

„Nein, Major. So war es nicht. Ich bin seit eineinhalb Jahren ein loyaler Soldat des Deutschen Reiches. Ich würde nie … diese russischen Dreckschweine … Glauben Sie wirklich, ich könnte mit denen gemeinsame Sache machen, nachdem sie meine Kameraden abgeschlachtet haben?“, fragte Richard. Einen Augenblick lang wünschte er sich, er wäre in der Schlacht gefallen, anstatt einem Verhörmeister gegenüber zu stehen, der ihn solch erbärmlicher Dinge beschuldigte.

„Nun, der Gefreite Wegener erzählt etwas anderes.“ Leutnant Meisinger kam so nahe, dass Richard dessen warmen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.

„Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt“, beharrte Richard und fragte sich, ob es stimmte, dass Karl aus Angst eine Unwahrheit gestanden hatte, oder ob es nur eine Taktik war, um ihn zu brechen.

„Wir haben Methoden, um die Wahrheit aus Ihnen herauszuholen.“ Leutnant Meisinger bellte ein Lachen heraus, genauso wie der pistolenklickende Major. Sie standen auf und verließen den Raum, während der Major dem wachhabenden Offizier zubrüllte, Richard bis auf Weiteres in eine Zelle zu sperren.

Tage und Nächte vergingen und allmählich verlor Richard jegliche Hoffnung, je wieder aus der Haft entlassen zu werden. Sein einziger Trost war, dass die Zelle warm und trocken war und er jeden Tag pünktlich wie ein Uhrwerk zwei Mahlzeiten bekam.

Am fünften Tag war ihm völlig egal, was mit ihm passieren würde. Er kritzelte endlose Briefe nach Hause und als ihm die leeren Seiten im Notizbuch ausgingen, formulierte er die Sätze in seinem Kopf. Das und das Zitieren der großartigen Literatur, die er als Junge gelesen hatte, halfen ihm, nicht verrückt zu werden.

Vor Jahren hatte der Lehrer in der Schule verlangt, dass sie Das Lied der Glocke von Friedrich Schiller auswendig lernten. Richards Gedächtnis war etwas eingerostet, aber je öfter er das Gedicht aufsagte, desto mehr fiel ihm wieder ein.

Im Rhythmus der Verse schritt er durch die Zelle und rezitierte:


Festgemauert in der Erden

Steht die Form aus Lehm gebrannt.

Heute muss die Glocke werden,

frisch, Gesellen, seid zur Hand!

Von der Stirne heiß

rinnen muss der Schweiß,

soll das Werk den Meister loben;

doch der Segen kommt von oben.


Zum Werke, das wir ernst bereiten,

geziemt sich wohl ein ernstes Wort;

wenn gute Reden sie begleiten,

dann fließt die Arbeit munter fort.


So lasst uns jetzt mit Fleiß betrachten,

was durch schwache Kraft entspringt;

den schlechten Mann muss man verachten,

der nie bedacht, was er vollbringt.


Das ist’s ja, was den Menschen zieret,

und dazu ward ihm der Verstand,

dass er im innern Herzen spüret,

was er erschaffen mit seiner Hand.


Am siebten Tag ging die Tür auf und ein blasser Karl stand vor ihm. Richard weinte fast vor Freude, als er seinem Freund um den Hals fiel.

„Mitkommen“, sagte eine unbekannte Stimme und Richard fuhr herum, um einen weiteren Soldaten im Türrahmen stehen zu sehen. Wortlos folgten er und Karl ihm durch lange Gänge, bis er vor einer Tür stehen blieb und anklopfte. „Major Dietrich wird Sie jetzt empfangen.“

Richards Herz schlug ihm bis zum Hals und er ballte nervös seine Hände zu Fäusten.

„Ah, da sind Sie ja“, sagte der Major. Er sah von seinen Papieren hoch, als ob er sie zum ersten Mal treffen würde. „Schreiben Sie Ihre Beobachtungen in einem detaillierten Bericht auf und übergeben Sie diesen an den diensthabenden Offizier. Er wird Ihnen ein Quartier zuweisen. Bleiben Sie dort, bis Sie neue Anweisungen erhalten. Wegtreten.“

„Jawohl, Major, danke.“ Richard konnte sein Glück kaum fassen und stürmte förmlich aus dem Raum, ehe der Mann seine Meinung ändern und ihm doch noch ein grausiges Ende vor dem Erschießungskommando bescheren konnte.

Die nächsten beiden Wochen vergingen wie im Traum. Nach den langen Monaten zermürbender Gefechte war es geradezu surreal, so viel Zeit zur Verfügung zu haben. Karl und Richard verbrachten ihre Tage damit, die polnische Hauptstadt zu erkunden, besuchten Vorführungen für die Truppen, tranken jede Menge Bier und genossen das Leben in vollen Zügen. Es war wie der lang ersehnte Urlaub und Richards einziger Wermutstropfen war, dass ihm kein Heimaturlaub gewährt worden war, um seine Familie zu besuchen. Aber wenigstens hatte er seiner Mutter einen Brief schreiben und über die Feldpost zusenden können.

Natürlich war der Brief sorgfältig konstruiert gewesen, damit er die Zensur passierte und seiner Mutter die Sorgen nahm. Ihr die Wahrheit über seine Strapazen an der Front oder in Haft zu erzählen, stand außer Frage.

Karl und Richard saßen bei einem Bier und einer Runde Skat mit einem anderen Soldaten zusammen, als die Tür zu ihrem Quartier aufging und der diensthabende Offizier eintrat. Sie standen schnell stramm, unsicher, was er von ihnen wollte.

„Klausen und Wegener? Hier sind Ihre neuen Marschbefehle. Packen Sie Ihre Sachen und melden Sie sich in dreißig Minuten am Tor“, sagte der Offizier, überreichte ihnen die Papiere und verließ den Raum wieder.

Voller Neugierde überflogen sie die Dokumente. Beide waren einer Sicherungstruppe in Litzmannstadt, das von den Polen Lodz genannt wurde, zugeteilt worden, etwa hundertdreißig Kilometer südwestlich von Warschau. Die Hauptaufgaben ihrer neuen Einheit waren die Bekämpfung des Widerstandes und die Überwachung des jüdischen Ghettos.

„Ich frage mich, ob man uns eine Falle stellen will, um zu sehen, ob wir Spione sind oder nicht“, sagte Karl mit ängstlicher Stimme.

„Mal dir nicht gleich das Schlimmste aus. Solange wir uns selbst treu bleiben, haben wir nichts zu befürchten.“ Richard freute sich auf den Neuanfang und hatte vor, das Beste aus der Situation zu machen. „Alles ist besser, als zurück an die Front zu gehen.“