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Titus J. Meier

Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall

Die Schweiz im Kalten Krieg

NZZ Libro

Für Helena und meine Eltern

Autor und Verlag danken folgenden Institutionen für die grosszügige finanzielle Unterstützung:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2018 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2018 (ISBN 978-3-03810-332-5)

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ISBN E-Book 978-3-03810-397-4

www.nzz-libro.ch

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Einleitung

1.1 Kontextualisierung und Begriffe

1.2 Theoretische Überlegungen zum Untersuchungsgegenstand

1.3 Forschungsstand

1.4 Fragestellung, Quellenlage und Methode

1.5 Gliederung der Arbeit

Das geschichtliche Umfeld: die Schweiz und der Kalte Krieg

Völkerrechtliche Grundlagen

3.1 Völkerrechtliche Stellung des Kombattanten

3.2 Widerstand im Besetzungsfall

3.3 Exilregierung im Völkerrecht

I. Teil
Widerstand als militärische Reaktion auf eine Besetzung der Schweiz

Kleinkrieg und Partisanen während des Konzeptionsstreits

4.1 Vom Schutz des Hinterlands zur Neuorganisation des Territorialdienstes

4.2 Kleinkriegsdiskussionen während des Konzeptionsstreits

4.3 Die Kleinkriegs- und Partisanenkonzepte der Reformer

4.4 Der LdU und der Partisanenkrieg

Partisanen- und Untergrundarmee in den 1950er-Jahren

5.1 Von Partisanen und Guerilla-Organisationen in der Politik

5.2 Für und wider Partisanen in der Presse

Kleinkrieg und Jagdkampf in der Schweizer Armee

6.1 Jagdkampf und Kleinkrieg in der schweizerischen Verteidigungskonzeption

6.2 Vom Kampf im feindbesetzten Gebiet zu den Jagdpionieren

II. Teil
Widerstand als politische Reaktion auf eine Besetzung der Schweiz

Konzeptionelle Grundlagen und Diskussionen

7.1 Weisungen des Bundesrates während des Zweiten Weltkriegs

7.2 Neugestaltung des Territorialdienstes nach dem Zweiten Weltkrieg

7.3 Diskussionen über eine Untergrund- und Widerstandsbewegung 1951

7.4 Gedankliche Vorbereitung zu einer «Untergrund- oder Widerstandsbewegung»

7.5 Der Ungarnaufstand und das Postulat Jaeckle

7.6 Widerstand im Besetzungsfall als Teil der schweizerischen Sicherheitspolitik

7.7 Widerstand im Besetzungsfall im Rahmen der Gesamtverteidigung

Vorbereitungen während des Zweiten Weltkriegs

8.1 Aktion Nationaler Widerstand (ANW)

8.2 Das geheime Funknetz (G-Netz)

Anfänge der organisatorischen Vorkehrungen im Kalten Krieg

9.1 «Réseau clandestin interne» innerhalb der Nachrichtensektion

9.2 Aufbau der territorialdienstlichen Organisation nach 1957

9.3 Exkurs: Exilvorbereitungen des Bundes

10 Aufbau des Spezialdienstes unter Hans Burger (1967–1969)

10.1 Auftrag, Personal und Mittel

10.2 Ausbildung in Grossbritannien und Erweiterung der Aufgaben

11 Ausbau der Sektion Spezialdienst unter Heinrich Amstutz (1969–1975)

11.1 Neuer und erweiterter Auftrag

11.2 Aufbau und Ausbau der Organisation

11.3 Ausbildung

11.4 Ausrüstung

11.5 Exilüberlegungen und -vorbereitungen

11.6 Der Abschnitt Baselland als Fallbeispiel

12 Reorganisation des Spezialdienstes unter Albert Bachmann (1976–1979)

12.1 Die Leitung des Spez D unter Albert «Tom» Bachmann (1929–2011)

12.2 Auftrag und Konzeption des Spezialdienstes

12.3 Neuanfang im Spezialdienst

12.4 Feldorganisation – Aufbau, Rekrutierung und Betreuung

12.5 Neuerungen in der Ausbildung

12.6 Ausbildungsunterstützung durch die Briten

12.7 Spezielle Übungen

12.8 Weitere Partner des Spezialdienstes

12.9 Finanzierung des Spezialdienstes

12.10 Kontrollen und Aufsicht über den Spezialdienst

12.11 Exilvorbereitungen

12.12 Unruhen im Spezialdienst und Entflechtung der Geheimen Dienste

13 Projekt 26 – Kaderorganisation für den Widerstand (1979–1990)

13.1 Die Leitung des Projekts 26 unter Efrem Cattelan (1931–2014)

13.2 Die Transformation vom Spezialdienst zum Projekt 26

13.3 Auftrag, Grundkonzeption und Struktur der Kaderorganisation Projekt 26

13.4 Die verschiedenen Fachgruppen und ihre Fachkonzepte

13.5 Rekrutierung und Personal

13.6 Ausbildung

13.7 Infrastruktur, Ausrüstung und Logistik

13.8 Finanzierung der Kaderorganisation Projekt 26

13.9 Unterstellung, Kontrolle und Aufsicht über das Projekt 26

13.10 Aktivierung: von der Kaderorganisation zur Widerstandsorganisation

13.11 Untersuchung durch die PUK EMD und Liquidation des Projekts 26

III. Teil
Die «Widerstandsvorbereitungen» 1990 in Medien und Politik

14 Eine Zeit des Umbruchs

14.1 Auf dem Weg zur PUK EMD

14.2 Die Arbeit und Vorgehensweise der PUK EMD

14.3 Der Bericht der PUK EMD

14.4 Die mediale Aufnahme des PUK-EMD-Berichts

15 Schlussbetrachtung und Zusammenfassung

16 Anhänge

16.1 Schematische Darstellungen und Organigramme

16.2 Abkürzungsverzeichnis

16.3 Abbildungsverzeichnis

16.4 Übersicht der Amtsinhaber 1936–1992

16.5 Personenregister

16.6 Originaldokumente

17 Quellen- und Literaturverzeichnis

18 Anmerkungen

19 Der Autor

Geleitwort

Es war an einem nasskalten Morgen im November 1990, als um etwa 6.00 Uhr bei mir zu Hause das Telefon klingelte und ich aufgefordert wurde, mich um 7.15 Uhr in einem Konferenzzimmer des Verwaltungszentrums EMD einzufinden. Dort orientierte mich Generalstabschef Heinz Häsler in aller Kürze über die Widerstands–Kaderorganisation P-26. Dann erhielt ich den Auftrag, umgehend alle P-26-Materialdepots zu versiegeln. Das Versiegeln der Depots und die folgenden Inventarkontrollen – beides unter Aufsicht eidgenössischer Parlamentarier – erlaubten mir zwar Einblick in die materielle Ausrüstung der P-26, nicht aber in die eigentliche Organisation.

Die hektische Suche nach den Anhängen zum Cornu-Bericht liess anfangs 2018 Medien und Politik einmal mehr heiss laufen. Unzählige fundierte und weniger fundierte Kommentare und Berichte sorgten dafür, dass die P-26 zur Tagesaktualität wurde. Es ist höchste Zeit, das Thema Widerstand in der feindbesetzten Schweiz sachlich und – soweit zugänglich – auf Fakten basierend zu beleuchten.

Titus Meier legt mit diesem Buch die erste umfassende Darstellung der schweizerischen Überlegungen und Aktivitäten zum Widerstand in feindbesetztem schweizerischem Territorium zwischen 1940 und 1990 vor. Seit 15 Jahren setzt er sich mit dem Thema wissenschaftlich auseinander, zunächst in einer Seminararbeit, später im Rahmen seines Lizenziats und nun mit der vorliegenden Dissertation an der Universität Zürich. Seine Arbeit unterscheidet sich wohltuend von vielen undifferenzierten Beiträgen in den Medien und haltlosen Verlautbarungen von Verschwörungstheoretikern. Die Doktorarbeit zeichnet sich aus durch ihre Unvoreingenommenheit, die umfassende Berücksichtigung praktisch aller zugänglichen Dokumente und Akten sowie das Anhören und Gewichten der Aussagen von Zeitzeugen. Titus Meier bringt darin als Generalstabsoffizier zudem sein eigenes militärisches Wissen ein. Er hat für eine interessierte und kritische Leserschaft einen reichen Fundus von Informationen zusammengetragen. So lässt sich seiner Arbeit entnehmen, dass sich Bundesrat und Armeeführung bereits zu Beginn des Zweiten Weltkriegs intensiv mit der Frage des Widerstands im feindbesetzten Land auseinandergesetzt haben. Seit 50 Jahren zieht sich dieses Thema wie ein roter Faden durch die Diskussionen innerhalb der Armeeführung und später im Rahmen der Gesamtverteidigung bis zur Auflösung der P-26. Die in dieser Hinsicht teils bitteren Erfahrungen in vielen anderen Staaten beweisen, dass die verantwortlichen Stellen in unserem Land sich zu Recht nicht nur während des Zweiten Weltkriegs, sondern auch während des Kalten Kriegs der Frage des Widerstands im feindbesetzten Gebiet gestellt haben.

Das Ende der P-26 wurde von überaus heftigen medialen Gewittern begleitet. Doch nicht jeder Kommentar traf zu, und nicht jede fundierte Erklärung seitens der «Angeklagten» wurde gewürdigt! Beispielhaft ist der immer wieder zitierte Begriff «Geheimarmee». Bundesrat Villiger hatte sich im Parlament bereits gegen diesen Begriff verwahrt – erfolglos. Wer eine Kaderorganisation von nicht einmal 400 Personen als Armee bezeichnet, beweist damit lediglich, dass er wenig Ahnung von militärischer Organisation hat. Oder er kommuniziert wider besseres Wissen einzig zur Stimmungsmache.

Dass die Namen der P-26-Mitglieder unter Verschluss bleiben, ist Bundesrat Villiger hoch anzurechnen. Sie haben sich keines Vergehens schuldig gemacht. Im Gegenteil: Diese Frauen und Männer verdienen den Dank unserer Bevölkerung. Sie haben sich freiwillig zur Verfügung gestellt, um die verantwortungsvolle und gefährliche Aufgabe, wie sie in Ziffer 426 der Konzeption der Gesamtverteidigung vom 27. Juni 1973 festgeschrieben ist, zu übernehmen. Sie waren bereit, dabei gegebenenfalls ihr Leben zu riskieren.

Die Frage nach der effektiven Wirkung einer Widerstandsorganisation lässt sich objektiv kaum beantworten; zu weit liegen die Einschätzungen auseinander. Titus Meier zeigt mit seiner Dissertation aber auf, dass es zu jeder Zeit Personen gab und geben wird, die einer Fremdbesetzung nicht tatenlos zusehen und alles daransetzen werden, um einem möglichen Besatzer das Leben in unserem Land schwer zu machen. Sein Buch ist Pflichtlektüre für alle, die sich mit dem Thema Widerstand im feindbesetzten Raum ernsthaft befassen und mitreden wollen.

Dr. Arthur Liener, Generalstabschef 1993–1997

1 Einleitung

«Eine Besetzung des Landes darf nicht das Erlöschen jeden Widerstandes bedeuten. Ein Gegner soll auch in diesem Fall nicht nur mit Ablehnung, sondern mit aktivem Widerstand rechnen müssen. Diese Gewissheit muss in seiner Gewinn- und Verlustrechnung ein für uns positives Element sein.»

Mit diesen Worten wird in der Ziffer 426 der Konzeption der Gesamtverteidigung vom 27. Juni 1973 (Bericht 73) der Widerstand im feindbesetzten Gebiet einleitend umschrieben und konzeptionell in der schweizerischen Sicherheitspolitik verankert. Knapp 17 Jahre später, am 8. März 1990, zitierte der Vorsteher des Militärdepartements (EMD), Bundesrat Kaspar Villiger, im Nationalrat diesen Passus anlässlich der Debatte um die Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) für das EMD. Auslöser waren verschiedene Medienberichte über eine angebliche «Geheimarmee» innerhalb der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA), die für den Besetzungsfall aufgebaut würde. Villiger bestätigte, dass Widerstandsvorbereitungen getroffen würden, und verneinte die Bezeichnung «Geheimarmee»: «Ich kann Ihnen nur sagen, dass es sich nicht um Geheimarmeen handelt. […] Es handelt sich um eine nicht einmal besonders grosse Kaderorganisation, die bisher dem Generalstabschef allein verantwortlich war, obschon die Organisation ein Instrument der Gesamtverteidigung darstellt – aktiver und passiver Widerstand – und unabhängig von der Armee aufgebaut wurde.» Diese Vorbereitungen seien bisher streng geheim gehalten worden, da eine Widerstandsorganisation, die man kenne, im Ernstfall ihre Pflicht nicht erfüllen könne. Aufgrund der weltpolitischen Umwälzungen der letzten Monate würden die Widerstandsvorbereitungen überprüft, ob sie «dem aktuellen Bedrohungsbild und einer offenen Gesellschaft noch genügend entsprechen».1 Nachdem sich bereits der Ständerat für eine PUK ausgesprochen hatte, stimmte auch der Nationalrat – gegen den Willen des Bundesrates – der Einsetzung einer PUK zu. Im November 1990 präsentierte die PUK ihren Schlussbericht und kritisierte unter anderem, dass die Führung des Widerstandes ohne entsprechende Rechtsgrundlage an eine Organisation namens Projekt 26 (P-26) übertragen worden sei, die «ausserhalb der Verwaltung und ausserhalb der Armee angesiedelt» sei.2 Gleichentags informierte der Bundesrat, dass er die Organisation wenige Tage zuvor aufgelöst habe. In den folgenden Wochen dominierte das Thema die Berichterstattung in den Medien, die unterschiedlich auf den Bericht reagierten. Während einige die Kritik unter dem Verweis auf den soeben zu Ende gegangenen Kalten Krieg relativierten, zeichneten andere das Bild einer gefährlichen, antidemokratischen Organisation. Insgesamt überwog die Kritik, und bis heute wird über die richtige Einordnung des Projekts 26 diskutiert.

Diese Studie befasst sich mit den Vorbereitungen, die für den Widerstand in einer besetzten Schweiz getroffen wurden. Sie setzt ein mit dem Zweiten Weltkrieg, als erstmals die Besetzung von Teilen der Schweiz ein realistisches Szenario darstellte, und endet mit der Auflösung der «Kaderorganisation Projekt 26» am Ende des Kalten Kriegs 1990.

Während des Zweiten Weltkriegs war die Schweiz unterschiedlichen militärischen Bedrohungen ausgesetzt. Einerseits drohte – wie bereits im Ersten Weltkrieg – die Souveränität der Schweiz durch einen gegnerischen Angriff in einer Umgehungsaktion verletzt zu werden. Ziel eines Angreifers wäre es gewesen, möglichst rasch und mit wenigen Verlusten durch die Schweiz zu stossen, um den Gegner in seiner Flanke anzugreifen. Andererseits war spätestens im Frühjahr 1940 klar, dass Nazideutschland auch vor der Besetzung neutraler Kleinstaaten nicht zurückschreckte. Gerade die Erfahrungen in den besetzten Gebieten zeigten, dass bei einem ideologischen Gegner die Zivilbevölkerung Unterdrückung, Deportationen, Terror, Folter und Tod ausgesetzt war. Gleichzeitig gab es immer wieder positive Berichte über Aktionen gegen die Besetzer durch zivile Untergrundbewegungen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte innerhalb des Offizierskorps eine teils öffentlich ausgetragene Debatte ein über die der Schweiz und ihrer Armee angemessenen Kampfführung. In dieser als Konzeptionsstreit bezeichneten Auseinandersetzung standen sich zwei Lager gegenüber: Die «Wille-Schüler», bezeichnet nach dem früheren General Ulrich Wille, orientierten sich am internationalen Mainstream und traten für eine hochgerüstete Armee ein, die mit stark offensiven Komponenten den operativen Sieg sucht. Die «Armeereformer» orientierten sich an den spezifisch schweizerischen Gegebenheiten. Sie propagierten eine tief gestaffelte, statische Verteidigung und erstrebten als operatives Ziel die Abnützung des Gegners. Die Aussicht auf einen lang anhaltenden Widerstand sollte einen potenziellen Angreifer abschrecken. Falls es dennoch zum Krieg kommen sollte, so würde der zähe Widerstand zumindest zu einer ehrenvollen Niederlage führen und die Grundlage bilden für eine spätere Auferstehung als souveräner Staat.3

Innerhalb der Generalstabsabteilung, die für die operative und materielle Kriegsbereitschaft der Armee zuständig war, gab es in den Nachkriegsjahren im Territorialdienst und in der Nachrichtensektion Überlegungen zu Vorbereitungen für den Besetzungsfall, die sich aus den jeweiligen Aufgabenbereichen ergaben. Parallel dazu keimen im Rahmen des Konzeptionsstreits Forderungen nach einer Ausrichtung der Schweizer Armee nach dem Vorbild des Partisanenkampfs auf. 1966 legte der Bundesrat die Konzeption für die militärische Landesverteidigung Konzeption 66 vor, die den Konsens im schweizerischen Offizierskorps wieder herstellte. Im Kern ging es um die Abwehr als ein Kampfverfahren auf taktischer und operativer Stufe, das einerseits das Halten von Stützpunkten und Sperren durch die Infanterie und andererseits das Führen von Gegenschlägen, seltener Gegenangriffe, durch mechanisierte Verbände vorsah.4 Nun ging es darum, eine sicherheitspolitische Gesamtstrategie für die Schweiz zu formulieren. Der Bundesrat setzte dazu eine Studienkommission für strategische Fragen unter dem Vorsitz des ETH-Professors Karl Schmid ein. Diese legte 1969 einen umfangreichen Bericht vor, worin erstmals der (gewaltlose und gewaltsame) Widerstand im besetzten Gebiet als strategisches Mittel der Schweiz bezeichnet wurde. Weitere strategische Mittel waren die Innen- und die Aussenpolitik, die Wirtschaft sowie Armee und Zivilschutz. Der Widerstand sollte dabei nicht den militärischen Abwehrkampf ersetzen, sondern diesen ergänzen und fortsetzen. Der Widerstand sollte gegen innen der «geistigen und moralischen Zermürbung» der Bevölkerung in der besetzten Schweiz entgegenwirken, die noch vorhandenen Kräfte aktivieren und auf ein gemeinsames Ziel ausrichten. Der Bericht warnte vor der Illusion, die Wirksamkeit des Widerstandes nach militärischen Messpunkten bestimmen zu wollen: «Der tatsächliche Erfolg des Widerstandes ermisst sich möglicherweise weniger am Ausmass des Schadens, der dem Gegner zugefügt wird, als daran, dass die Welt erfährt: Diese Nation hat sich nicht aufgegeben.»5 Als wichtig für einen erfolgreichen Widerstand erachtete die Kommission den nahtlosen Übergang vom militärischen Abwehrkampf zum zivilen Widerstandskampf, die Anlegung logistischer Depots im Frieden, eine zentrale Führung inklusive Nachrichtendienst und Kommunikationsverbindungen zur Koordination der Aktionen sowie eine formelle Anerkennung durch die legitime Regierung, das heisst den Bundesrat.6

Noch bevor der Bericht veröffentlicht wurde, erhielten 1969 alle Haushalte in der Schweiz das Büchlein Zivilverteidigung zugestellt. Herausgegeben durch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement im Auftrag des Gesamtbundesrates, sollte es die Menschen für die Belange der zivilen Landesverteidigung sensibilisieren, um «die Widerstandskraft des Volkes zu erhalten und zu stärken, die Unabhängigkeit der Schweiz zu sichern».7 Albert Bachmann, Spiritus Rector und Verfasser des Büchleins, wählte die Form einer chronologischen Rahmenerzählung, die vom Frieden über den Krieg bis zur Wiederbefreiung der Schweiz reicht. Ein ausführliches Kapitel schildert den Widerstand in einer besetzten Schweiz, der durch eine Exilregierung geführt wird. Für kontroverse Diskussionen in der Öffentlichkeit sorgte vor allem das Kapitel über die «zweite Form des Krieges», die psychologische und subversive Kriegführung, weil zahlreiche oppositionelle und intellektuelle Kreise sich darin als Akteure unter dem Vorwurf des Landesverrats wiederfanden.8

1973 legte der Bundesrat die Konzeption der Gesamtverteidigung vor, die auf den Vorarbeiten der Studienkommission Schmid aufbaute. Sie verfolgte eine militärisch-zivile Doppelstrategie zur Wahrung der demokratischen Selbstbestimmung: Während auf militärischer Ebene die notwendigen Verteidigungsmassnahmen getroffen werden sollten, um einen Krieg zu verhindern, sollte gleichzeitig auf ziviler Ebene eine aktive Aussenpolitik einen Beitrag zu einem dauerhaften internationalen Frieden leisten.9 Erstmals wurde eine sicherheitspolitische Gesamtstrategie definiert, die mit dem Einbezug ziviler Komponenten auch dem gesellschaftlichen Wertewandel Rechnung trug.10

Ausgehend von vier Konfliktebenen, auf denen Bedrohungsformen auftreten konnten, machte die Konzeption sechs strategische Fälle aus: vom Normalfall, dem Zustand relativen Friedens, bis zum Besetzungsfall als letzter und schlimmster Situation.11 Eine Besetzung bedeutet nicht nur die Anwesenheit fremder Truppen, sondern die Machtübernahme im Staat durch den Gegner. Weil dieser während des Kalten Krieges nicht mehr ausschliesslich ein militärischer, sondern vielmehr auch ein ideologischer war, hätte sich eine Besetzung auch auf die politisch-freiheitliche Ordnung der Schweiz ausgewirkt. Widerstand im Besetzungsfall wurde deshalb nicht primär als ein militärisches, sondern zunehmend als ein politisches Problem verstanden. Ausgehend von den strategischen Fällen wurden sechs strategische Hauptaufgaben, das heisst Massnahmen, abgeleitet, darunter der Widerstand im feindbesetzten Gebiet als Reaktion auf die Besetzung der Schweiz. Die Konzeption unterscheidet zwischen dem bewaffneten und dem gewaltlosen Widerstand gegen die Besatzungsmacht, wobei beide Arten als Elemente zur schweizerischen Strategie gezählt wurden. Ziel des Widerstandes ist «die Befreiung und Wiederherstellung einer freiheitlichen, unabhängigen staatlichen Gemeinschaft».12 In den Leitsätzen zur Verwirklichung der Sicherheitspolitik wurde unter der Ziffer 717 festgehalten: «Kleinkrieg und gewaltloser Widerstand in besetzten Gebieten werden innerhalb der durch das Kriegsvölkerrecht gezogenen Schranken vorbereitet und nötigenfalls geführt, damit der Gegner unseren ungebrochenen Freiheitswillen erkennt und ihm eine Besetzung mit allen möglichen Mitteln erschwert wird.»13 Während der Kleinkrieg in Form des Jagdkampfes eine Aufgabe der Schweizer Armee war, erkannte man in der Aufrechterhaltung und Demonstration des Freiheitswillens nach einer Besetzung des Landes eine überwiegend politische Aufgabe, deren Vorbereitung damals beim Spezialdienst lag und ab 1979 beim Projekt 26, der Kaderorganisation für den Widerstand im feindbesetzten Gebiet. Zwischen 1989 und 1991 kam es zu einem weltpolitischen Umbruch von historischem Ausmass. Innerhalb kurzer Zeit implodierte der Ostblock mehrheitlich gewaltfrei und beendete damit nach gut vier Jahrzehnten die Ost-West-Antagonie des Kalten Kriegs: Fall der Berliner Mauer (9. November 1989), deutsche Wiedervereinigung (3. Oktober 1990) und Auflösung der Sowjetunion (26. Dezember 1991) waren wichtige Meilensteine. Diese Veränderungen machten eine sicherheitspolitische Neuorientierung notwendig, welche die Schweiz mit dem Bericht 90 rasch umsetzte und die Konzeption der Gesamtverteidigung von 1973 ablöste. Der Bericht analysierte nicht mehr nur Bedrohungen, sondern zeigte auch Chancen auf. Trotzdem blieb er realistisch, indem mit möglichen Rückschlägen in die Konfrontation und dem Auftauchen neuer Gefahren gerechnet wurde, weshalb auch der Widerstand im besetzten Gebiet weiterhin zur fortdauernden Manifestation des Unabhängigkeitswillens zum Spektrum der schweizerischen Sicherheitspolitik gezählt wurde.14

Innenpolitisch kam es zwischen 1988 und 1991 zu einer Umbruchphase, die durch den Wegfall der Blockkonfrontation und der darauffolgenden Orientierungssuche begünstigt wurde. Gesellschaftliche Veränderungen manifestierten sich in politischen Deutungskämpfen, die durch ein eigentliches «Skandalisierungs-Crescendo»15 begleitet wurden.16 1989 musste Elisabeth Kopp, die erste Bundesrätin der Schweiz, unter starkem politischen und medialem Druck als Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartemens zurücktreten und eine PUK wurde eingesetzt.17 Diese veröffentlichte im Herbst 1989, wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer und zwei Tage vor der Abstimmung über die Abschaffung der Armee, ihren Bericht und löste damit den sogenannten Fichen-Skandal aus, weil bekannt wurde, dass die Bundespolizei in den Jahrzehnten zuvor Hunderttausende Karteien über politisch aktive Personen und Organisationen angelegt hatte. Die Überwachungspraxis des Staatsschutzes wurde aktuell, während die sozialistischen Staatssysteme in Mittel- und Osteuropa zerfielen. In den Monaten zuvor war in der Schweiz kontrovers über die historische und politische Bedeutung der Schweizer Armee diskutiert worden, einmal vor dem Hintergrund der Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Mobilmachung 1939 und im Zusammenhang mit der Abstimmung über die Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). Zur Überraschung vieler stimmte zwei Tage nach der Präsentation des PUK-Berichts fast ein Drittel der Stimmberechtigten für die Abschaffung der Armee.

In den Tagen und Wochen nach dem Bekanntwerden der Registraturtätigkeit der politischen Polizei stand der Staatsschutz im Zentrum der öffentlichen Kritik. Die Registraturen boten vielfaches Skandalisierungspotenzial, das durch die Akteure aus dem links-grünen Lager erfolgreich in eine Protestbewegung überführt wurde. Bald wurde die Forderung erhoben, die Untersuchung auf das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) auszudehnen und nach vergleichbaren Registraturen zu suchen. In diesem Zusammenhang wurden Erinnerungen an das Zivilverteidigungsbüchlein und dessen Verfasser, Albert Bachmann, geweckt. Ende Februar 1990 publizierte die Wochenzeitschrift Schweizer Illustrierte einen Artikel über «Die Geheimarmee der EMD-Spione». Darin berichtete sie über geheime Widerstandsvorbereitungen des Spezialdienstes unter der Leitung von Bachmann mit der zentralen Aussage, das EMD unterhalte eine Geheimarmee von 2000 im Bombenlegen und lautlosen Töten ausgebildeten Männern und Frauen. Sofort nahm das «Skandalisierungs-Crescendo» wieder an Fahrt auf, und kurze Zeit später setzte die Bundesversammlung gegen den Willen des Bundesrates die PUK EMD ein. Im Herbst 1990 enttarnte die Kommission die «Geheimen Dienste» des EMD, die Kaderorganisation Projekt 26 (P-26) und den ausserordentlichen Nachrichtendienst Projekt 27 (P-27).18 Sie machte publik, dass es eine Kaderorganisation gab, bestehend aus 400 rekrutierten Männern und Frauen, wovon rund 300 in den Bereichen «konspiratives Verhalten, Übermittlung, Sprengen und Schiessen sowie psychologische Schulung» ausgebildet wurden.19 Die Kommission kritisierte besonders das Fehlen einer expliziten gesetzlichen Grundlage und einer wirksamen politischen Kontrolle. Der Bundesrat löste die Kaderorganisation für den Widerstand im Besetzungsfall umgehend auf. In den folgenden Wochen dominierte die Organisation P-26 die mediale Berichterstattung und die politischen Diskussionen, wobei die – teilweise harsche – Kritik überwog, nicht zuletzt deshalb, weil zeitgleich bekannt geworden war, dass in Italien und in anderen europäischen Ländern ähnliche Vorbereitungen unter der Bezeichnung Gladio oder Stay behind getroffen wurden, die möglicherweise zu einem europäischen Netzwerk unter Nato-Führung gehörten. Das Parlament beauftragte den Bundesrat, die Frage nach einer Einbindung der schweizerischen Vorbereitungen in ein ausländisches Netzwerk zu untersuchen. Im Auftrag des Bundesrates klärte Pierre Cornu den Sachverhalt im Rahmen einer Administrativuntersuchung ab und konnte die Frage verneinen. Auch die durch die SP gegen die früheren Generalstabschefs und den Chef des Projekts 26 eingereichten Strafanzeigen wurden nicht weiterverfolgt, da kein strafbares Verhalten vorlag.20

2009 reichte der Bündner Ständerat Theo Maissen eine Interpellation ein, in der er für die ehemaligen Mitglieder der verschiedenen Widerstandsorganisationen Redefreiheit und Anerkennung für die erbrachten Dienste verlangte. Am 7. September 2009 entsprach der Gesamtbundesrat seinem Anliegen.21 Auf Bestreben des Forschungsprojekts «REWI» der militärhistorischen Stiftung des Kantons Zürich unter der Leitung von Felix W. Nöthiger wurden seither an verschiedenen Orten in der Schweiz sogenannte Verdankungsanlässe für die ehemaligen Mitglieder organisiert und Zeitungsartikel publiziert.22

Bis heute wird in der Öffentlichkeit um die richtige Beurteilung dieser einst streng geheimen organisatorischen Vorbereitungen für den Widerstand gerungen. Es geht nun darum, diese auf der Grundlage neuen Quellenmaterials zu erforschen.

1.1 Kontextualisierung und Begriffe

Bei den Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall handelt es sich um Vorkehrungen, die unter strengster Geheimhaltung im Friedensfall getroffen wurden und erst im Besetzungsfall ihre Wirkung entfaltet hätten. Während in anderen europäischen Ländern ähnliche Vorbereitungen aufgrund eigener Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs getroffen wurden, musste sich die Schweiz an ausländischen Erkenntnissen orientieren und diese an die eigenen Verhältnisse adaptieren. Im Folgenden soll kurz skizziert werden, in welchem Rahmen diese Vorbereitungen verortet werden können und welche Problematisierungen sich daraus ergeben.

Die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hatten gezeigt, dass zukünftige Kriege in Europa weniger aus bellizistischen oder sozialdarwinistischen Motiven heraus geführt oder gedeutet werden würden, sondern vielmehr aus ideologischen.23 Führte die nationalsozialistische Ideologie zum Zweiten Weltkrieg, so fürchtete man sich im Westen während des Kalten Kriegs vor dem Kommunismus und dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs. Spätestens seit der russischen Oktoberrevolution 1917 war für Zeitgenossen eine Ost-West-Konfrontation feststellbar, deren Wurzeln noch weiter zurückreichen.24 Ab 1947 wurde jene jedoch schrittweise durch den Kalten Krieg überlagert und synonym verwendet. Um der spezifischen Qualität der Auseinandersetzung nach 1947 gerecht zu werden, soll der Kalte Krieg in diesem Buch als dominierende Epoche des Ost-West-Konfliktes verstanden werden, die sich ihrerseits in verschiedene Phasen unterteilen lässt. Wenngleich aus völkerrechtlicher Sicht der Kalte Krieg kein eigentlicher Krieg war, so kann angesichts der zahlreichen Konflikte ausserhalb Europas auch nicht von Frieden gesprochen werden. Zutreffender beschrieb Bernd Stöver deshalb den Zustand als einen permanenten und aktiv betriebenen «Nicht-Frieden» zwischen dem Westen unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten von Amerika und einem sowjetisch dominierten kommunistischen Osten. Diese Ost-West-Antagonie wurde noch verstärkt durch die Gründung zweier militärischer Bündnisse, erstens der Nato 1949 und zweitens des Warschauer Pakts (WAPA) 1955. Obwohl die Reduzierung des Kalten Kriegs auf eine bipolare Auseinandersetzung verlockend ist, muss global gesehen von einer «Multipolarität des Kalten Kriegs» gesprochen werden, da einerseits mehrere Blöcke auszumachen sind und sich andererseits sowohl innerhalb der Blöcke als auch blockübergreifend weitere Subsysteme herauskristallisierten.

Der Kalte Krieg war ein nahezu ubiquitärer und totaler Konflikt, der, abgesehen vom Einsatz atomarer Waffen, mit allen verfügbaren Mitteln auf politisch-ideologischer, ökonomischer, wissenschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene ausgetragen wurde. Deshalb wollte man sich umfassend auf alle Bedrohungen und Eventualitäten vorbereiten, wozu sowohl das Überleben im Atomkrieg als auch der Widerstand im Besetzungsfall gehörte. So weit weg diese Vorstellung heute ist, so nahe war sie doch während des Kalten Kriegs. Für Stöver handelt es sich um ein zentrales Paradoxon des Kalten Kriegs, dass man sich einerseits in einem «totalen Krieg» wähnte, andererseits ihn aber eben gerade nicht unter Aufbieten aller, auch militärischen Mittel führen konnte.25 Es galt weniger, sich nur auf den wahrscheinlichsten, sondern auch auf den gefährlichsten Fall vorzubereiten.

Es ist denn auch weniger nach der tatsächlichen militärischen Bedrohung durch einen Angriffskrieg (durch Truppen des Warschauer Pakts) zu fragen, wie sie heute aus archivierten Operationsplänen rekonstruiert werden kann, sondern nach der damaligen Bedrohungsperzeption und den daraus abgeleiteten Konsequenzen. Ob zwischen den Nato- und WAPA-Staaten eine «gigantische Absichtsspiegelung» vorlag, die dazu führte, dass die Aussen- und Militärpolitik der jeweiligen Gegenseite als aggressiv wahrgenommen wurde, ist sekundär gegenüber einer durch weite Teile der Bevölkerung wahrgenommenen latenten Bedrohung durch den waffenstarrenden Sowjetblock.26

Beinahe in regelmässigen Abständen spitzte sich die Konfrontation zwischen der UdSSR im Osten und den USA im Westen zu oder es kam zu Aktionen hinter dem Eisernen Vorhang, welche die Bedrohungswahrnehmung in Westeuropa aktualisierten: kommunistische Machtergreifung in der Tschechoslowakei und Berlinblockade (1948), Ausbruch Koreakrieg (1950), Niederschlagung des Aufstands in der DDR (1953), Suezkrise und Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands (1956), Berlinkrise (1958), Niederschlagung des Prager Frühlings (1968), sowjetischer Einmarsch in Afghanistan (1979) und Verhängung des Kriegsrechts in Polen (1981).

Das militärische Kräfteverhältnis zwischen den Blöcken war im europäischen Raum gekennzeichnet durch eine sowjetische Überlegenheit auf dem Gebiet der konventionellen Waffen. Zur Zeit des Koreakriegs wurde bei den Landstreitkräften mit einem Kräfteverhältnis von 4:1 und bei den Flugzeugen für die Erdkampfunterstützung sogar 5:1 zugunsten der UdSSR gerechnet. Die Nato ging davon aus, dass die sowjetischen Streitkräfte in fünf Tagen am Rhein, in 14 Tagen an der Kanalküste, in einem Monat an der Atlantikküste und nach zwei Monaten an der Pyrenäenlinie stehen könnten.27 Im Bereich der Atomwaffen lag die Überlegenheit zu diesem Zeitpunkt bei den USA, was die sowjetische Überlegenheit bei den konventionellen Kräften etwas relativierte. Das atomare Patt war absehbar und in den 1960er-Jahren bereits erreicht.28

Die meisten westeuropäischen Länder, die während des Zweiten Weltkriegs durch deutsche Truppen besetzt waren, gründeten in den ersten Jahren nach dem Kriegsende sogenannte Stay-behind-Organisationen, wobei sich dieser Begriff erst später einbürgerte. In den besetzten Ländern Österreich und Deutschland waren es hauptsächlich die Engländer und Amerikaner, welche Stay-Behind-Projekte aufbauten. Die Gründung erfolgte angesichts der offensichtlichen eigenen militärischen Schwäche und der gleichzeitigen Angst vor einem sowjetischen Angriff. Es handelte sich dabei um Organisationen, vielfach auch als Netze bezeichnet, die im Frieden geheim aufgebaut und einsatzbereit gemacht wurden. Im Kriegsfall hätten sie sich vom Gegner überrollen lassen, um in den besetzten Gebieten ihre Aktivitäten zu entfalten. Ihre Aufträge waren unterschiedlich und reichten von Nachrichtenbeschaffung und -übermittlung über Evakuations- und Fluchtvorbereitungen bis zu politischem oder bewaffnetem Widerstand. Organisatorisch waren sie Teil der Nachrichtendienste der einzelnen Länder. Sie tauschten sich in Friedenszeiten in einem Koordinationsgremium aus und wären erst im Verteidigungsfall dem Nato-Kommando unterstellt worden.29

Das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Aufteilung der Welt in zwei ideologische Grosslager und das Aufkommen der Atombombe mit ihrem immensen Vernichtungspotenzial läuteten das Ende des klassischen Staatenkriegs, als eines begrenzten Kriegs zweier Territorialstaaten, ein.

Die Gefahr eines zukünftigen Gegners sah man nicht nur in einem Angriff mit konventionellen oder nuklearen Waffen, sondern auch in der Anwendung von Mitteln der indirekten Kriegführung mit dem langfristigen Ziel, einen politischen Machtwechsel herbeizuführen.30 Als «verdeckter Kampf» oder «subversiver Krieg» wird die Stufe zwischen dem Kalten Krieg und einer offenen militärischen Konfrontation bezeichnet, wobei diese Zwischenstufe sowohl eine eigenständige Erscheinungsform der Auseinandersetzung wie auch eine Begleiterscheinung oder Vorstufe eines offenen Kriegs zwischen Staaten darstellen kann.31 Ziel der subversiven Kampfführung ist es, die legale Staatsmacht durch den Einsatz irregulärer Kräfte zu destabilisieren und nach Möglichkeit zu stürzen. Zentral hierbei ist es, dass der Konflikt von fremden Staaten in das betroffene Land hineingetragen bzw. durch dessen Parteigänger ausgetragen wird. Die irregulären Kräfte werden dabei von einer fremden Macht unterstützt. Diese Unterstützung erfolgt zunächst verdeckt, kann im späteren Verlauf aber offen zutage treten, indem das fremde Land etwa als Schutzmacht auftritt.32 Die subversive oder indirekte Kampfführung wurde keineswegs nur in kleinen Zirkeln besprochen und diskutiert, sondern beschäftigte neben privaten Organisationen wie etwa den Schweizerischen Aufklärungsdienst (SAD) auch die Verwaltungsstellen des Militärdepartements (EMD, heute VBS) und fand Eingang in amtliche Publikationen und sicherheitspolitische Papiere des Bundesrates und des Parlaments.33

Die indirekte Kampfführung, auch als «revolutionärer Krieg» bezeichnet, fand namentlich in den 1960er-Jahren in zahlreichen Schriften Resonanz und Verbreitung, darunter im Buch Zivilverteidigung.34 Ziel des revolutionären Kriegs war die weltweite Verbreitung des Kommunismus. Dabei wurde erwartet, dass er in fünf Phasen unterteilt werden kann, die sequenziell oder parallel ablaufen können:35 Von der Infiltration über die Zersetzung, in der die Nation psychologisch-moralisch aufgespalten wird, wird die Basis für die dritte Phase gelegt, in der es zu einem Bürger- und Befreiungskrieg kommt. Sind die revolutionären Kräfte im Landesinnern jedoch zu schwach, so folgt in der vierten Phase ein militärischer Krieg durch fremde Truppen.36 Endziel des revolutionären Kriegs ist die fünfte Phase, die politische Machtübernahme durch den Kommunismus, die je nach Land durch einen Staatsstreich, über eine Volksfrontregierung oder durch eine quasi legale Machtergreifung nach dem Krieg erfolgen kann.37 Damit verfolgte der revolutionäre Krieg weniger taktische oder operative Kriegsziele als vielmehr ideologische: die Etablierung einer kommunistischen Herrschaft auf Kosten der freiheitlichen Demokratie. Die Furcht vor der kommunistischen Unterwanderung während des Kalten Kriegs löste dabei jene des Zweiten Weltkriegs ab, als man sich in Europa vor den «fünften Kolonnen» Hitlers fürchtete.38

Stellte der revolutionäre Krieg die Bedrohung dar, so diente die geistige Landesverteidigung zu dessen Abwehr.39 Geistige Landesverteidigung bezeichnet die politisch-kulturelle Bewegung in der Schweiz, die vor allem in den 1930er- bis 1960er-Jahren aktiv war und die Abwehr von totalitären Ideologien durch eine bewusste «Stärkung von als schweizerisch deklarierten Werten» zum Ziel hatte.40 Es handelte sich dabei um eine Reaktion auf die im Zeitalter des totalen Kriegs als «total» wahrgenommene Bedrohung – eine Bedrohung, die nicht mehr rein militärisch war, sondern auch die Köpfe und Herzen der Menschen vereinnahmte. Demgegenüber konnte auch die Verteidigung nicht mehr nur rein militärischer Natur sein, sondern musste weitere Lebensbereiche der Menschen umfassen. Parallel zum Wettrüsten der beiden Machtblöcke begann sich die geistige Landesverteidigung auf den Antikommunismus zu fokussieren und verlor dadurch die ehemals breite Unterstützungsbasis. Namentlich von den Jungen Linken wurde die geistige Landesverteidigung als «Instrument der ideologischen Indoktrination und gesellschaftlichen Disziplinierung» kritisiert oder gar als «helvetischer Totalitarismus» verschrien.41

Igor Perrig zeichnet ein dreistufiges Abwehrschema der geistigen Landesverteidigung gegen die Gefahr des revolutionären Kriegs auf. Demnach sollte erstens durch eine «Bewahrung und Förderung der vaterländischen Gesinnung» den Phasen «Infiltration» bis und mit «Bürgerkrieg» begegnet, zweitens durch eine «Wahrung und Förderung des Wehrwillens und der Verbundenheit von Volk und Armee» den Gefahren eines militärischen Angriffs entgegengetreten und drittens durch eine «Bewahrung und Förderung des Widerstandswillens» die Grundlage für den aktiven und passiven Widerstand im Besetzungsfall in der letzten Phase des revolutionären Kriegs gelegt werden.42 Die Akteure der geistigen Landesverteidigung wollten jedoch nicht nur den Widerstandswillen stärken, sondern forderten auch «die Organisation von künftigen Widerstandsgruppen oder zumindest deren Kader».43 Widerstand kann in diesem Zusammenhang als politische Reaktion auf eine Besetzung verstanden werden.

Die Untersuchung der Widerstandsvorbereitungen tangiert zwei Spannungsfelder: Das erste betrifft die konventionelle, traditionelle Kriegführung auf dem Schlachtfeld, wo in einer Entscheidungsschlacht über Sieg oder Niederlage entschieden wird. Das zweite betrifft die Kleinkriegführung, wo der Entscheidungsschlacht bewusst ausgewichen und stattdessen in einer grossen Zahl von Einzelaktionen versucht wird, die Entscheidung herbeizuführen. In beiden Formen der Kriegführung wird Widerstand geleistet, also ein Angriff abgewehrt. In der Konzeption für die Gesamtverteidigung wird unter der Ziffer 717 der Kleinkrieg und der gewaltlose Widerstand unter den Begriff Widerstand im besetzten Gebiet subsumiert. Gemeinsames Merkmal ist hier eine Besetzung des Territoriums durch fremde Truppen.

Im Untersuchungszeitraum werden die Begriffe «Kleinkrieg», «Guerillakrieg» oder «Partisanenkrieg» meistens synonym verwendet.44 Eine klare Definition ist in der Regel nicht möglich, da die Wahl des verwendeten Begriffs oftmals vom Standpunkt des Autors abhängt. Der Kleinkrieg tritt in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf, die zeitgebunden sind und von den politischen, historischen, sozioökonomischen und geografischen Verhältnissen der jeweiligen Länder abhängen.45 Der Kleinkrieg des 20. Jahrhunderts ist sprachlich auch deshalb schwer fassbar, da er sowohl eine Form der Kriegführung wie auch eine Art des Kriegs sein kann.46 Als eine Form der Kriegführung wird der Kleinkrieg im Rahmen eines «grossen Kriegs» neben weiteren Formen der Kriegführung (z. B. Luftkrieg) geführt und dient in erster Linie der Unterstützung regulärer Operationen. In diesem Zusammenhang wird häufig von der Taktik des Kleinkriegs gesprochen, die sich an die durch das Kriegsvölkerrecht gezogenen Schranken hält. Dagegen ist ein wesentliches Merkmal des Kleinkriegs als eine Art des Kriegs seine Irregularität. Diese wurde jedoch im Verlauf des letzten Jahrhunderts durch verschiedene Anpassungen des Völkerrechts «reguliert».47 Der gewandelten Regularität ist bei der Untersuchung und Einordnung der konzeptionellen Kleinkriegsdiskussionen ebenso Beachtung zu schenken wie der jeweiligen Vorstellung hinsichtlich der Akteure und ihrer Kampfform. Dabei soll sich die Begrifflichkeit an der in den 1980er-Jahren in der Schweizer Armee reglementarisch festgelegten Definition für Kleinkrieg orientieren. Demnach ist der Kleinkrieg die Ergänzung und Fortsetzung des zusammenhängenden, mit militärischen Mitteln geführten Kampfes. Er wird nach den taktischen Grundsätzen des Jagdkampfes geführt.48

Der Begriff Widerstand ist im deutschen Sprachgebrauch äusserst vielschichtig und deswegen oftmals ungenau.49 Namentlich in Deutschland ist der Begriff eng an die Identifikation mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus gekoppelt und moralisch positiv konnotiert. In der Schweiz wurde die politische Deutung des Begriffs nach dem Zweiten Weltkrieg um «antikommunistisch» ergänzt. Widerstand äussert sich als «Form der Auflehnung im Rahmen asymmetrischer Herrschaftsbeziehungen gegen eine zumindest tendenzielle Gesamtherrschaft».50 Widerstand bezeichnet die politische Reaktion auf eine Besetzung des Landes. Diese setzt voraus, dass die Besatzungsmacht auf Ablehnung stösst. Der Widerstand wird aktiv, wenn die Entscheidung bereits gefallen ist und der Feind das Land militärisch kontrolliert. In dieser Phase bewirken spektakuläre Aktionen nichts.51 Primär durch psychologische Massnahmen soll ein Keil zwischen die Bevölkerung und die Besatzungsmacht wie auch die kollaborierenden Teile der Bevölkerung getrieben werden. Gleichzeitig soll die Besatzungsmacht an der Beherrschung des besetzten Gebietes gehindert und dessen Befreiung vorbereitet werden. Erst in dieser Phase, wenn durch verbündete Truppen von aussen die feindliche Macht in Bedrängnis kommt, können gewaltsame Aktionen zum Tragen kommen mit dem Ziel der Wiederbefreiung des Landes.

Die Verwendung des Begriffs «Widerstand» erfolgt häufig mit Attributen wie aktiv oder passiv, wobei die Literatur hierzu keine einheitliche Definition bereithält. Es gilt deshalb auch hier von Fall zu Fall den Widerstand hinsichtlich seiner Träger, seiner Mittel und seiner Ziele zu analysieren.

Ein Staat besteht nach der Drei-Elementen-Lehre von Georg Jellinek (1851–1911) aus der Trias Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt, die in einem adäquaten Zusammengehörigkeitsverhältnis vorhanden sein müssen.52 Widerstand im Besetzungsfall stellt demnach die Reaktion des Staatsvolkes auf den Verlust der Staatsgewalt innerhalb des eigenen Staatsgebietes dar.

Aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges heraus werden unter dem Begriff Besetzung sowohl eine «occupatio bellica», eine Besetzung als Folge von Krieg, als auch eine «occupatio pacifica», eine friedliche Besetzung ohne direkte Gewaltanwendung, subsumiert. Damit werden auch Situationen erfasst, in denen beispielsweise der Okkupierte sich angesichts seiner aussichtslosen Lage der militärischen Macht beugt, wie es 1940 mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Dänemark geschehen war.53 In beiden Fällen verliert das Volk im besetzten Gebiet sein Selbstbestimmungsrecht und es kommt zu einer «Fremdherrschaft», ein Begriff mit einer eindeutig negativen Konnotation. Wird eine politische Konstellation als «Fremdherrschaft» bezeichnet, so schwingt darin meistens ein Zustand von Unfreiheit und Unterdrückung, von Willkür und Ausbeutung mit.54 Der Zustand der Fremdherrschaft oder Fremdbestimmung gilt nicht als erstrebenswert – im Gegenteil, er wird als illegitim aufgefasst, da er unter anderem das den Nationalstaaten immanente Prinzip der Volkssouveränität missachtet. Begriffsgeschichtlich stammt er aus dem 19. Jahrhundert und kam nach der Besetzung deutscher Gebiete durch napoleonische Truppen in Gebrauch. Christian Koller sieht im Begriff ein damals zeittypisches Phänomen der aufkommenden Nationalstaaten. Der Idee des Nationalstaats entsprechend deckt sich die politische Karte mit der Karte der Nationalitäten, was bei einer Fremdherrschaft nicht der Fall ist.55 Wenngleich nach Koller die Erfahrungen des Dritten Reiches gezeigt hätten, dass ein Nationalstaat «nicht a priori etwas Gutes, eine Regierung durch ‹Fremde› nicht a priori das schlimmste denkbare Übel» sei, so behielt der Begriff auch nach dem Zweiten Weltkrieg seine negative Konnotation bei. Im Zeitalter der Dekolonisation wurden über 100 neue Staaten gegründet, die ihre «zumindest ex post so empfundene» Fremdherrschaft abschüttelten.56 Auch für die sowjetische Hegemonie über die Länder Mittel- und Osteuropas fand die Bezeichnung Verwendung. So wie Besetzung und Fremdherrschaft negativ konnotierte Begriffe sind, gilt auch die Kollaboration, das heisst die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht als moralisch verwerflich, da sie meist als Verrat an der eigenen Nation verstanden wird.57 Nicht selten richteten sich denn auch Aktionen der Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg gegen Kollaborateure oder «Quislinge».58 Kollaboration wurde und wird nicht selten als politischer Kampfbegriff verwendet, um die Gegenseite zu kompromittieren. Sie beschreibt in aller Regel eine asymmetrische Zusammenarbeit oder gar Abhängigkeit zwischen den Besetzten und den Besetzern.

Einen besonderen Fall im Völkerrecht stellt eine Exilregierung dar, wenn gleichzeitig zwei Staatsgewalten auf demselben Staatsgebiet ausgeübt werden.59 Eine Exilregierung kann nur mit Genehmigung des Gastlandes Regierungstätigkeiten wie die Verwendung eigener Staatssymbole, das Setzen von Hoheitsakten, die Einziehung von Steuern oder die Führung eigener Truppen entfalten. Diese Genehmigung ist völkerrechtlich an den Zustand des bewaffneten Konfliktes zwischen dem Gastland und der Macht geknüpft, die das Territorium besetzt hält. Die Existenz einer Exilregierung war aus völkerrechtlicher Sicht lange Zeit eine Bedingung, um die endgültige Niederlage eines besetzten Staates abzuwenden. Falls sich alle Truppen ergeben haben und keine Exilregierung den Kampf weiterführen wollte, endete eine Besetzung mit der Annexion.60 Solange allerdings eine Exilregierung besteht und im besetzten Gebiet ein feststellbarer Widerstand geleistet wird, ist eine Annexion völkerrechtlich nicht möglich.61 Schliesslich kann eine Exilregierung Kleinkriegsverbände als Teil der eigenen Streitkräfte anerkennen, wodurch sie den Kombattantenstatus erhalten.62

1.2 Theoretische Überlegungen zum Untersuchungsgegenstand

Die Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall während des Kalten Kriegs können als das Ergebnis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs verstanden werden. Sicherheit und das Bedürfnis danach sind letztlich Ursache und Ziel von Staat und Staatlichkeit.63 Sicherheit lässt sich jedoch nicht empirisch festlegen, sondern folgt moralischen, ideologischen und normativen Vorstellungen.64 Diese sind nicht starr, sondern werden durch politische Prozesse geformt. Diese lassen sich durch das Konzept der «securitization», zu Deutsch «Versicherheitlichung»65 untersuchen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung einer Bedrohung entscheidend ist für die Behandlung innerhalb der «sicherheitspolitischen Agenda».66676869