Ernst Schurter beweist im Fall Natascha Nowikow seine Ermittlungskünste, denn die Absichten der bildschönen Mörderin sind suspekt. Die Verdächtige ist nicht aufzuspüren und könnte jederzeit wieder zuschlagen.
Marc Senn, geboren am 1. Juni 1984, lebt als Autor in Zürich. Im Jahr 2018 begann er Bücher zu schreiben. Er schreibt gerne in der Gattung Sachbuch und Roman. Sein erster Roman ist MEINE FARBIGE SACHE.
Copyright: © 2021 Marc Senn
Umschlag: Marc Senn
Lektorat: Bruno Schmid
Korrektorat: Irene Bosshard
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg
Ausgabeformat:
Paperback ISBN: 978-3-347-01749-8
Hardcover ISBN: 978-3-347-01750-4
e-Book ISBN: 978-3-347-01751-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Informationen zu tredition und zum Autor finden Sie auf der Website www.tredition.de. Dort können Sie sich über weitere Bücher informieren und über den Shop direkt bestellen.
Teil I
Entwicklung
Kapitel 1
Einleitung
Vvergesst alle Geschichten, die ihr kennt. Ich könnte euch jetzt mit historischem Zeug langweilen, aber was ich euch erzählen will, ist die Geschichte einer Mörderin. Eine Geschichte, die noch nie erzählt wurde. Aber sie beginnt nicht wie ihr denkt, und dennoch ist es eine spanende Kriminalgeschichte. Hätte die Mörderin nur ein paar gewöhnliche Bilder gemalt, so wäre ihr dies alles nicht widerfahren und Natascha Nowikow von St. Petersburg wäre niemals zur spektakulärsten Mörderin des 19. Jahrhunderts geworden. So grausam und farblos diese Erzählung sein mag, so haben wir es mit einer umwerfenden Schönheit zu tun, die alles daransetzt, die größte Kunstmalerin zu werden. In ihr steckt nicht nur das pure Talent, sondern einzig und allein das Genie der herrlichen Kunst. Nun aber legen wir los mit dem Leben von Natascha Nowikow.
Kapitel 2
Die Eltern von Natascha Nowikow
Alles begann im 19. Jahrhundert im Russischen Kaiserreich. Die charmante Zarenstadt St. Petersburg mit ihren prachtvollen Palästen, Schlössern, Kirchen und Kathedralen an der Mündung der Newa entwickelte sich schnell zu einem revolutionären Zentrum in Osteuropa. St. Petersburg war schnell zur einer der größten Städte in Europa herangewachsen. Mit dem Zugang zur Ostsee war die Stadt zu einem wichtigen Drehort für Handel aufgestiegen. So wurde St. Petersburg schnell zur Hauptstadt ernannt. Die Stadt bestand aus mehreren Inseln und wurde durch Kanäle abgetrennt. Die Ostsee brachte im Sommer eine milde Brise und im Winter konnte es eisig kalt werden. Außerdem fiel im Winter sehr viel Schnee und deckte die Stadt und die Vororte in eine dicke Schneepracht. Ein ganz besonderes Phänomen waren die sogenannten Weißen Nächte, da wurde es in einigen Nächten nicht vollständig dunkel.
Zu der Zeit fand in der Schweiz eine starke Abwanderung von Schweizern, darunter auch viele junge Leute und ganze Familien aus mittleren und unteren Schichten, statt. Sie flüchteten in Gruppen vor der herrschenden wirtschaftlichen Armut und hofften auf einen Aufschwung in der Zarenstadt, in der Traumstadt von Europa. Alle wollten in die Zarenstadt, um der Misere in der Heimat zu entfliehen. Die Schweiz hatte besonders viele Auswandernde, mehr als andere europäische Länder. Der Schweiz fehlten die Bodenschätze, um ein reiches Land zu werden. Es war nur eine Steinwüste inmitten von Europa. Die Leute mussten sich sehr Bemühen um eine Tätigkeit nachgehen zu können. Es gab viele Berufszweige wie Söldner, Bauern und Händler, die im Ausland sehr geschätzt waren.
In der Gegend der Zarenstadt entstand eine gedeihende Schweizer Kolonie und sie alle waren bestrebt, eine neue Existenz aufzubauen. Darunter befand sich auch Katharina Meier, die Tochter eines Zürcher Floristen. Katharina war eine wunderschöne junge und natürlich aussehende Frau. Ihr gepflegtes, aber wildes, blondes Haar, das schön in der Sonne schimmerte, fiel ihr bis auf die Schultern. Mit ihren leuchtend funkelnden hellblauen Augen und dem zarten Gesicht war sie eine schöne Erscheinung. Katharina kannte sich in der Welt der Rosen aus. Sie arbeitete für ihren Vater auf dem Markt und verkaufte Alba, Noisette, Bourbon, Portland und viele andere bunte Rosenarten. Wie jeden Tag ging sie von der abgelegenen Farm in die Stadt zum Markt, um die vielen schönen, bunten Rosen zu verkaufen. Darum trug sie am linken Arm einen Korb für die frischgeschnittenen Rosen. Es schien ein Tag wie jeder zu sein und sie verkaufte die Rosen an die wohlhabenden Russen. Doch der Tag verlief ganz anders, als sie von hinten in der Menge von einem flüchtenden Dieb angerempelt wurde. Der Korb mit den Blüten flog durch die Luft und die Rosen fielen um die stürzende Katharina herum. Niemand wollte ihr zur Hilfe eilen, bis eine helfende Hand sich nach ihr streckte. Sie war viel zu sehr mit ihrem verschmutzen Kleid beschäftigt und bemerkte im ersten Moment nicht den angebotenen Beistand eines jungen Gentlemans.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte der junge Fremde.
„Warum nicht", antwortete Katerina und richtete sich mit seiner Hilfe wieder auf. „Das ist sehr nett von Ihnen, danke.“
Für einen Moment, als sie ihrem Helfer in die Augen schaute, blieb die Welt stehen. Sie fühlte sich noch etwas benommen und das Denken fiel ihr ohnehin schwer. Aber eines war klar, sie hatte sofort sehr viele Sympathien für den Unbekannten. Vor ihr stand ein großer und kräftiger junger Mann, musste wohl ein Russe sein. Er fuhr sich mit der Hand durch die braune mittellange und wilde Frisur. Katharina war hin- und hergerissen von ihren Gefühlen.
„Warum starren Sie mich so an?“, fragte der unbekannte Mann. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Sind Sie verletzt?“
„Oh, Verzeihung! Ich bin noch etwas verwirrt, sonst geht’s mir gut, aber das Kleid!“, antwortete Katharina. „Wie ist Ihr Name?“
„Mein Name ist Nikolai Nowikow. Warten Sie, ich begleite Sie ein Stück“, antwortete er, nahm den Korb vom Boden auf und führte Katharina an seiner Seite vom Marktplatz. Am Stadtrand trennten sich ihre Wege, aber seit damals trafen sie sich immer wieder auf dem Marktplatz.
Kapitel 3
Die Geburt von Natascha Nowikow
Nikolai und Katharina waren jung, verliebt und die Monate vergingen. Ihre romantische Liebe wurde immer ausgeprägter. Bis eines Tages am 25. März 1823 Natascha Nowikow die Welt erblickte. Es war einer der kältesten und schneereichsten Tage um St. Petersburg. Der Schneesturm peitschte über das Land hinweg. Die weiße Pracht türmte sich immer höher auf. Die abgelegene Farm, am Geburtsort von Natascha, verlor den Anschluss an St. Petersburg. Jegliche Zugänge waren nicht mehr passierbar und sie waren auf sich alleine gestellt. Nataschas Mutter starb, als sie gebar, jede Hilfe von außen war aussichtslos. Kein Arzt in der Gegend konnte die abgelegene Farm bei diesem Wind und Wetter erreichen. Es war ohne jede Aussicht auf Erfolg, in dieser Situation einen Weg zu dieser Farm zu finden. Es schneite so heftig, dass man kaum noch das Gespann der Kutsche vor sich sehen konnte. Die Gefahr, selber in Lebensnot zu geraten war kein Risiko wert. Der Tod von Nataschas Mutter, so Gott wollte, musste in Kauf genommen werden.
Nikolai hob mit einer Schaufel auf dem Hof neben einem Baum eine Grube aus, legte Nataschas Mutter hinein und schüttete die Grube wieder zu. Zuoberst legte er seine letzte rote Rose auf das Grab und betete nochmals zu Gott.
Über Hütte und Hof wurde der Himmel immer dunkler. Auch in den nächsten Tagen und Wochen blieb es farblos finster, aber nicht wegen dem Wetter, sondern vielmehr wegen der Trauer, über die verstorbene Geliebte. Nikolai trauerte, um seine Katharina. Der Schmerz war beinahe unerträglich. Sehr tief in seinem Inneren verspürte er eine Leere und ein gebrochenes Herz. Er jammerte die ganze Zeit und betete zu Gott. Den schweren Schicksalsschlag konnte er aber nicht verarbeiten und ihm ging es psychisch immer schlechter. Daher konnte er nicht anders, als zur Wodkaflasche zugreifen, um sich mit Alkohol zu berauschen. Der Vater der verstorbenen Katharina kümmerte sich um das Kind, bis eines Tages eine Kutsche, in Begleitung von zwei berittenen, ausgemusterten Soldaten, auf dem Hof anhielt. In der Kutsche reisten zwei Männer. Es waren abgesandte des Russischen Zarenreiches, um Steuergelder einzutreiben.
Es klopfte an der Tür. Da niemand öffnete, beschlossen die Männer, die Tür mit Gewalt aufzuschlagen, um sich Zugang zur Hütte zu verschaffen. Sie fanden eine ziemlich verwahrloste Räumlichkeit vor und mitten drin zwei Männer, ein Alter und ein Besoffener, die fast leblos dahin weilten.
„Bringt mir das Gesindel raus!“, sagte einer der abgesandten Männer. Darauf holten die ausgemusterten Soldaten den Alten sowie den Besoffenen aus der Hütte und zwangen sie zum niederzuknien. „Eure Abgaben an das Russische Zarenreich sind fällig, für euch Händler macht dies zwei Rubel! Ein Rubel mehr, da der Persische Krieg bevorsteht!“
Nikolai, antwortete mit einer schlechten körperlichen und seelischen Verfassung und betrunkener Stimme: „Wir haben nur noch acht Rubel. Der Winter ist hart und wir verkaufen nur noch wenige Rosen.“
„Sei still, du Säufer! Für Alkohol reicht der Rubel wohl!“, sagte einer der Abgesandten.
Durch die Kälte, die durch die offene Tür blies, war Natascha erwacht. Die Neugeborene fing an zu schreien und machte auf sich aufmerksam.
„Ach, auch noch ein Säugling. Wo ist die Mutter?“, wollte einer der Abgesandten wissen.
„Nicht mehr unter uns!“, antwortete Nikolai. „Sie ist bei der Geburt des Neugeborenen verstorben. Der Name meines Kleinkindes ist Natascha Nowikow.“
„Wann war die Geburt?“, fragte einer der abgesandten Männer.
„Die Geburt von Natascha war vor drei Wochen am 25. März 1823“, antwortete Nikolai.
„Wie wollt Ihr zwei Gesindel Natascha großziehen, mit Ziegenmilch und Brei!“, sagte einer der abgesandten Männer. „Ohne Muttermilch kommt Natascha zu einer Amme in einem Waisenhaus in St. Petersburg!“
Die Abgesandten und die ausgemusterten Soldaten verließen den Hof. Mit dabei waren die Steuereintreibungen sowie Natascha. Die Männer übergaben Natascha der Amme Elenora Sorokin in der Zarenstadt St. Petersburg und entlohnten sie ausreichend mit Rubel. Dies sollte für einige Jahre reichen, zumindest bis sie zu einer Jugendlichen herangewachsen war.
Nikolei war am nächsten Tag nicht mehr aufgewacht, so sehr hatte er sich mit Wodka vollbetrunken. Der seelische Schmerz wurde größer, als ihm auch noch sein Kind genommen wurde. Der Sprit vergiftete seinen Körper, er fiel zuerst ins Koma und später hörten seine Organe auf zu arbeiten. Es war für ihn kein schmerzvoller Abgang, eher ein befreiender.
Kapitel 4
Das Waisenhaus
Elenora Sorokin war die Amme und Leiterin des Waisenhauses. Sie sah äußerlich sehr verbraucht und abgearbeitet aus, und dies bei einem bescheidenen Lebensalter von lediglich dreißig Jahren. Die vielen Waisen und ihre eigenen Kinder hatten sie regelrecht altern lassen. Dies war ihr egal, sie interessierte sich lediglich für den Rubel. Sie war diebisch wie eine Elster. Das Geschäft lief hervorragend, da in der Zarenstadt tausende verlassene Neugeborene, Bastarde und Waisen aufgelesen wurden und auf einen Platz im Waisenhaus warteten. Nur die wenigsten Kinder fanden einen Platz im Waisenhaus, die meisten lebten auf der Straße. Das Leben auf der Straße war hart und bedeutete unter schweren Bedingungen zu überleben. Für die Straßenkinder war durch die eingeschränkten Lebensverhältnisse die Aussicht auf ein annehmliches Leben chancenlos. Die benachteiligten Kinder suchten sich tags ein Versteck in einem verlassenen Kellerloch. Die verliesähnlichen Räume stanken, dass das Atmen sehr schwerfiel. Zudem gab es kein Licht, überall Wasser, Feuchtigkeit, Dreck und Fäkalien. Die von Gott und Gesellschaft verlassenen Kinder schliefen nur auf einem harten Brett notdürftig zugedeckt mit einer verschließenen Decke. Erst während der Dämmerung krochen sie wieder heraus, um irgendwie an Rubel und Rauschgift heranzukommen. Die meisten Straßenkinder starben früh an den Folgen des Rauschgiftes. Es gab sehr viele Verlierer, insbesondere Kinder in der Traumstadt St. Petersburg. In keiner anderen Stadt in Europa lagen Reichtum und Elend so dicht beieinander.
Im Waisenhaus gab es immerhin eine vernünftige Unterkunft zum Leben, zwei Mahlzeiten pro Tag und eine Betreuung durch die Ammen, Dienstmädchen und Erzieherinnen. Jedoch wuchsen die Waisenkinder ohne Liebe und Zuneigung auf, die mütterliche und innige Liebe der Eltern fehlte. Die Leiterin Elenora Sorokin hatte nur Liebe für das Geld und kümmerte sich kaum um die Kinder im Waisenhaus - sie waren ihr egal. Sie hasste hübsche Kinder, da sie selber abgrundtief hässlich war, vor allem hasste sie Natascha Nowikow, da sie das Abbild einer Schönheit war. Natascha war das wundervollste Kind im Waisenhaus, aber zugleich auch das meist gehasste, denn sie war eine pure Schönheit und etwas Besonderes strahlte von ihrem Innersten.
Natascha kam ganz nach ihrer Mutter. Blondes Haar, hellblaue Augen. Sie war eine wunderschöne Erscheinung mit brillanter Eigenheit. Die anderen Kinder realisierten sofort, was es mit Natascha auf sich hatte. Es war nicht ihre umwerfende Anmut, die ihnen Angst einjagte, sondern ihr Blick. Es war ihr Blick, wenn sie andere Kinder ansah, als würde sie mit ihren Augen die Kinder fixieren und bis aufs letzte Detail analysieren. Ihr Blick schien sehr gierig zu sein und schweifte unstet im Raum umher, wie auf der Suche nach neuem Unentdecktem. Als sie größer wurde, konnte sie auf allen vieren im Raum herumkriechen und noch mehr von der Umgebung entdecken. Mit zwei Jahren konnte sie auf zwei Beinen stehen und sich noch wacklig fortbewegen. Alles musste analysiert werden, jeder Gegenstand, jedes Objekt und noch so unbekannten Dinge. Die anderen Kinder gingen ihr bewusst aus dem Weg, denn sie wollten nichts mit ihr zu tun haben. Natascha war, soweit bekannt war, ein Sonderling. Sie sprach nicht viel und zog sich lieber von den anderen Kindern zurück.
Natascha Nowikow wuchs sehr schnell heran und das Waisenhaus kannte sie besser, als die Leiterin Elenora Sorokin. Es war ein großes Gebäude, ein geschlossener Block mit vielen Zimmern und in der Mitte ein Hof. Es war ein heruntergekommenes Gebäude und anscheinend fehlte das Geld für eine gesamthafte Sanierung. Jeden noch so kleinen Raum vom Keller bis Dachstock kannte sie bildlich in- und auswendig. Sie kannte alle noch so kleinen Gegenstände wie Bilder, Mosaike bis hin zum Mausloch in der Wand und noch so winzige Details wie Verzierungen auf Vasen, Kacheln, sowie auf dem Rubel. Die verschiedensten Farbnuancen konnte sie wahrlich exakt bildlich unterscheiden. Die Erinnerungen konnte sie jederzeit hervorrufen und sehr genau bildhaft beschreiben oder aufzeichnen.
Vor Kinderkrankheiten war auch Natascha Nowikow nicht verschont. Mit fünf Jahren erkrankte sie zuerst an Scharlach, dann an Masern und später an Keuchhusten. Sie wurde unter Quarantäne gestellt, sodass nicht alle Waisenkinder durch die hochgefährlichen Viren angesteckt wurden. Sie überlebte alle Kinderkrankheiten und wurde zäh wie eine Kakerlake, sie vermochte einfach nicht zu sterben. Zu dieser Zeit bedeuteten eine Vielzahl von Kinderkrankheiten aufgrund schlechter hygienischer Bedingungen und fehlender medizinischer Versorgung den sicheren Tod. Es fehlte an wirksamen Medikamenten sowie an gut ausgebildeten Ärzten. Dazu kamen Infektionskrankheiten wie Cholera, Typhus und Tuberkulose, gegen die mit dem damaligen medizinischen Wissen nicht beizukommen war. Die Epidemien zogen auch weit über das Gebiet des Zarenreiches hinweg und Tausende starben früh an den Folgen der Infektionen. Die hygienischen Missstände führten dazu, dass ein Viertel der Bevölkerung des Zarenreichs früh verstarb. Natascha hatte unglaubliches Glück nicht krank zu werden. Ihr starkes, gesundes Immunsystem trotzte gegen jegliche weiter Form von Erkrankungen.
Kapitel 5
Die Entwicklung
Natascha Nowikow wuchs schnell heran und ihre Schönheit überstrahlte ganz St. Petersburg. Auch ihre Intelligenz war für ihr Alter übernatürlich entwickelt. Im Alter von sechs Jahren wurde sie im Waisenhaus eingeschult. Sie lernte Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Zeichnen und auch Religion. Der Unterricht begann um 8 und endete um 11 Uhr, worauf eine zweistündige Pause eingelegt wurde. In der Pause wurde eine Mahlzeit verspeist, daraufhin um 13 bis 15 Uhr ging der Unterricht weiter. An zwei Tagen war kein Unterricht, meistens am Wochenende. Viel Freizeit hatten die Waisenkinder dennoch nicht, sie mussten im Waisenhaus mithelfen bei der Arbeit, sei es beim Waschen, Putzen, Kochen und im Garten.
Im Zeichnungsunterricht lernte Natascha Nowikow elementares Zeichnen und Skizzieren. Die ersten Stunden im Unterricht verbrachte sie damit, Linien zu zeichnen, danach auch Winkel, Bögen, Kreise und Umrisszeichnungen geometrischer Figuren. Im zweiten Jahr wurde nach Vorlagen gezeichnet. Dazu dienten Blattformen, Blumen, Vasen, ausgestopfte Tiere als Zeichnungsvorlage. Verschiedene Gegenstände wurden so in ein Bild verwandelt. Erst im dritten Jahr wurde perspektives Zeichnen zusammen mit der Schattierungstechnik erlernt. Es wurde viel mehr nach der Natur gezeichnet. Im Zeichnungsunterricht wurde mit einfachen Mitteln wie Grafitstift und Hadernpapier gezeichnet. Das Hadernpapier war zu dieser Zeit ein knappes und teures Gut, wurde aber im Waisenhaus selber hergestellt und an Geschäftskunden verkauft. Ein großer Teil des Profits gelangte natürlich in den Geldbeutel von Elenora Sorokin. Das Hadernpapier wurde aus Alttextilien hergestellt. Die kostengünstige Papierherstellung aus Holz kam erst später auf und bis dahin war Hadernpapier auf dem Markt eine exquisite Ware.
Natascha Nowikow war im Zeichnen ziemlich talentiert. Den Grafitstift konnte sie perfekt in der Hand führen und auch die Vorstellung zum fertigen Bild war bereits in ihrem Kopf entstanden. Durch ihre Fähigkeit, Gegenstände mit präziser Genauigkeit zu analysieren und im Gehirn abzuspeichern, war es ihr möglich, aus der Erinnerung heraus zu zeichnen und dies als Werk auf Hadernpapier zustande zu bringen. Natascha besaß die überragende Fähigkeit, visuelle Inhalte über längere Zeit zu speichern und detailgetreu und präzise aus dem fotographischen Erinnerungsvermögen „bildliches Gedächtnis“ abzurufen. Das bildliche Gedächtnis von Natascha war hochentwickelt, um diese besondere Höchstleistung zu vollbringen.
Damit ein gezeichnetes Bild stimmig wirkte, mussten die Proportionen zueinander passen. Zum Messen kam der Grafitstift zum Einsatz. Dabei hielt sich Natascha ihren Stift gerade vor das Gesicht, um an der Vorlage Längen und Breiten zu ermitteln. Die Vorlage wurde von ihr auch aus geringem Abstand betrachtet, um alle Details, die die Augen aufnahmen, als Bild im Gedächtnis abzuspeichern. Die vielen Informationen konnte sie jederzeit wieder abrufen und so als Bild wiedergeben, als Zeichnung auf einem Hadernpapier. Den anderen Waisenkindern brachte das Betrachten der Vorlage aus geringer Reichweite nichts, sie konnten die vielen Informationen nicht verarbeiten und führte nur zu einem unzuverlässigen Erinnerungsbild.
Natascha Nowikow kam zwar als Genie auf die Welt, hatte aber immer wieder mit Zeichnen neu experimentiert, an ihrer Technik gefeilt und an ihrem eigenen Stil gearbeitet. Sie wollte ihren Zeichenstil kontinuierlich weiter entwickeln. In ihrer Freizeit verbrachte sie viel mit Zeichnen und ging an ruhige Orte im Waisenhaus, damit sie alleine und ungestört ihrer Tätigkeit nachgehen konnte. Dies war meist im Garten, bei schlechtem Wetter in der Bibliothek oder im verlassenen Dachstock. Dafür entwendete sie aus dem Unterricht Grafitstifte und Hadernpapier. Sie zeichnete am liebsten Bilder aus ihrem Gedächtnis, die sie zuvor genauestens betrachtet hatte. Ihre Mappe mit gelungenen Bildern füllte sich immer mehr und es waren kleine Kunstwerke entstanden. Sie hatte immer weitergezeichnet und ihre Technik verfeinert, so dass sie auch immer schneller im Zeichnen wurde.
Kapitel 6
Das Juwel
Natascha Nowikow beendete nach neun Jahren die Schule. In allen Unterrichtsfächern erlangte sie famose Noten. Vor allem im Zeichnungsunterricht stach sie mit ihren Bildern hervor und war fortan eine ausgezeichnete Schülerin, wenn man bedenkt, dass sie als einsamer Zögling im Waisenhaus aufwuchs. Für Elena Sorokin war Natascha deshalb ein Juwel, das ihr viel Rubel einbringen konnte, deshalb wartete sie, bis ein wohlhabender Geschäftsmann kam, um ihr das schöne, wertvolle Juwel für viel Rubel abzukaufen. Demzufolge behielt sie Natascha zurück und setzte sie fortan in ihrer Produktionsstätte ein, dies war der Leiterin Sorokin noch so recht. Natascha sollte für die Unterhaltskosten, die sie verursachte, aufkommen. Natascha schuftete am Tag bis zu 12 Stunden. Sie stellte Papier und Leinen für den Eigenbedarf des Waisenhauses her und der Überschuss wurde auf dem lokalen Markt oder an Händler verhökert. Die hergestellten Produkte im Waisenhaus überzeugten von besonderer Qualität. Natascha war sehr froh, wenn ihr wohlhabende Kunden ein Trinkgeld schenkten. Mit dem Geld konnte sie sich auf dem Markt was leisten. Sie gönnte sich nicht viel, denn sie war mit wenig zufrieden. Sie besaß nicht viel, ganz zu schweigen von Geld. Mit dem Lohn ihrer Tätigkeit im Waisenhaus verdiente sie auch kaum dazu. Sie war froh, wenn sie ein Dach über dem Kopf hatte und eine üppige Mahlzeit zum Verspeisen. Dennoch ersehnte sie sich, das Waisenhaus für immer zu verlassen. Die Welt bot sehr viel mehr. Sie war Abenteuern nicht abgeneigt und wollte immer wieder Neues entdecken. Die meisten Betrachtungen konnte sie in ihrem Kopf präzis für die Ewigkeit festhalten.
Aber bis zu ihrer Entlassung aus dem Waisenhaus verrichtete Natascha pflichtbewusst ihre Arbeit. Für die Herstellung von Papier wurden Textilien und alte Kleider eingesammelt. Für die Herstellung des Papiers wurden die aus den Textilien gewonnenen Hadern verwendet. Natascha und zwei weitere Zöglinge verkleinerten die Hadernlaben zuerst in kleine Stücke und gaben sie in ein mit Wasser gefülltes Stampfwerk. Daraus entstand die Papiermasse, die sich mit einem Sieb abschöpfen ließ. Die abgelagerte Papiermasse kam in die Presse und wurde anschließend zu einem Blatt Papier getrocknet. Nach dem Vorgang des Trocknens konnte das Papier seinem Zweck dienen.
Für die Herstellung von Leinen wurde von lokalen Farmern Land gepachtet und Flachs angebaut. Flachs wuchs auf den Feldern als kräutige Pflanze mit wunderschönen hellblauen Blüten. Bei der Ernte wurden die Flachpflanzen von Natascha und weiteren Zöglingen von Hand mit den Wurzeln aus dem Oberboden gerauft. Das Flach wurde nun auf dem Boden zum Trocknen und Rotten ausgelegt. Die weitere Verarbeitung des Flachs wurde mühsam im Waisenhaus durch Natascha und ihren Gesellinnen erledigt. Die Arbeitsschritte waren Brechen, Schwingen, Hecheln, Spinnen bis ein feines Garn übrigblieb. Natascha lernte zudem am Webstuhl das Weben und konnte hochwertige Leinentücher und Leinwände aus dem Garn herstellen. Die Leinentücher wurden im letzten Schritt gefärbt, gewaschen, getrocknet und zusammengefaltet.
Die unverarbeiteten Leinwände wurden durch Natascha auf ein Tragrahmen aus Holz aufgespannt. Dadurch entstand für die Ölmalerei eine sehr stabile, aber sehr flexible Unterlage, die auch für sehr große Gemälde geeignet war. Sobald der Stoff aufgespannt war, musste die unbehandelte Leinwand zuerst für die Ölmalerei beschichten werden. Dazu verwendeten sie eine Mischung aus Knochenleim, Wasser und Aluminiumkaliumsulfat, welche mit einem Pinsel aufgetragen wurde. Das Aluminiumkaliumsulfat war ein gut gehütetes Geheimnis, denn so war die Leinwand nach dem Trocknen kaum wasserempfindlich. Zum Schluss trugen sie eine Grundierung auf. Diese Grundierung half der Konservierung und verbesserte die Malqualität der Leinwand. Es gab eine dunkle oder eine helle Grundierung. Die helle Grundierung verstärkte die Leuchtkraft der Farben. Dazu wurden weiße Farbpigmente aus Kreide oder dunkle Farbpigmente aus Ton mit Leim vermischt und auf die Leinwand aufgetragen. Die Produktion der Leinwand war nun abgeschlossen und konnte auf dem Markt oder an Händler zum Verkauf gebracht werden.
Seit einigen Jahren durfte Natascha Nowikow das Waisenhaus auch als Laufmädchen verlassen. Im Auftrag der Leiterin des Waisenhauses Elenora Sorokin überbrachte Natascha Leinen und Leinwände direkt an die Händler. Dabei kam sie immer wieder bei prunkvollen Bauten vorbei, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Es waren die zahlreichen prachtvollen Paläste, Schlösser, Kirchen und Kathedralen. Von einer speziellen Memorialkirche war Natascha besonders beeindruckt, die wie ein Märchenschloss aussah. Die Memorialkirche wurde im russischen Stil zu Eren von Alexander II erbaut und setzte zugleich ein Zeichen gegen die westlich geprägte farblose Architektur der Zarenstadt. Natascha gefielen besonders die verspielten, farbigen und zwiebelförmigen Türme. Sie prägte sich das Denkmal sehr gut in ihr Gedächtnis ein. Jedes noch so kleine Detail konnte sie sich genauestens merken. Im Waisenhaus zeichnete Natascha die Umrisse des Denkmals aus ihrer Erinnerung auf ein Stück Leinenpapier. Nachdem sie das Denkmal aufgezeichnet hatte, ging sie im Waisenhaus zur Leinenfärberei und holte sich verschiedene Farben, Blau, Grün und Gelb. Sie verdünnte die Farben mit Wasser und trug diese auf das Bild auf. Es entstand eine ganz besondere Art von Darstellung. Die Magie der Farbe, mit Wasser gemischt, verlieh dem Denkmal ein weiches und rustikales Aussehen, zu vergleichen mit einem Aquarellgemälde. Gerade als Natascha mit dem Bild fertigwurde, platzte Sorokin in die Bibliothek.
„Was machen Sie denn hier - mitten in der Nacht?“, fragte Sorokin mit energischer Stimme.
„Nichts! Ich lese nur“, antwortete Natascha.
„Na warte. Mir ist da was aufgefallen. Was halten Sie in Ihrer Hand? Zeigen Sie mal her!“
Ein reicher Russe kaufte ihr das Bild ab und nahm es in seine Privatsammlung auf. Das Bild war wie herrliche Kunst.