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2., korrigierte und aktualisierte Auflage 2021
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Die Position der Kapitelzusammenfassungen und der Aufgaben zur Selbstüberprüfung richten sich nach der Länge des jeweiligen Kapitels. Bei vergleichsweise kurzen Unterkapiteln wird daher auf beide Elemente verzichtet.
ISBN: 978-3-943001-63-1
http://www.apollon-hochschulverlag.de
Liebe Leserinnen und Leser,
wahrscheinlich fragen Sie sich, warum es im Hinblick auf die bereits bestehende Fülle von veröffentlichten Büchern über die Ethik in der Sozialen Arbeit nun noch ein weiteres solches Werk braucht. Es gibt tatsächlich eine Vielfalt von Texten, die dieses Thema von allen erdenklichen Seiten beleuchten. So ist der Anlass für dieses Fachbuch weniger die Notwendigkeit, eine bestehende Lücke im vorhandenen Wissen zu füllen. Vielmehr ist es das Anliegen, dieses Wissen zu ergänzen, in neuer und innovativer Weise aufzuarbeiten und es Ihnen differenziert und auf mehreren thematischen Ebenen nahezubringen. Der Unterschied zu anderen existierenden Werken liegt zudem darin, dass Sie mit diesem Fachbuch nicht nur die Möglichkeit haben, sich das zu dem Thema notwendige Wissen anzueignen, sondern dieses auch mithilfe von Merksätzen, Selbstüberprüfungsaufgaben und Zusammenfassungen zu vertiefen und in jedem Kapitel selbstständig zu überprüfen.
Zwei wichtige Beiträge des vorliegenden Werkes zur bereits existierenden Lektüre über Ethik und Soziale Arbeit sind besonders hervorzuheben. Zum einen enthält dieses Fachbuch eine Sammlung von Ethikmodellen, die Ihnen in schwierigen professionellen Situationen als Orientierungs- und Entscheidungshilfe dienen können. Zum anderen schließt es eine Reihe von Fallbeispielen mit ein, die auf realen Praxisbegebenheiten beruhen und jeweils ein bestimmtes ethisches Dilemma aufgreifen. Zu jedem dieser Fallbeispiele werden Ihnen auch konkrete Richtlinien zu einem möglichen Lösungsansatz mitgegeben, die berücksichtigen, dass es in den meisten dieser Fälle keine „optimale“ oder Patentlösung gibt. Es geht vielmehr darum, eine für alle Beteiligten akzeptable Vorgehensweise zu formulieren, die die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt, aber zugleich innerhalb ethischer Parameter liegt. Wie Sie sehen werden, ist das in keinem der Fälle einfach, weil es, wie es für ethische Dilemmata eben typisch ist, selten klar ist, was „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“ ist. Was letztendlich bleibt, ist die uneingeschränkte und engagierte Bereitschaft von Sozialarbeiter/innen, im besten Interesse ihrer Klient/innen zu handeln. Das kann oft im Konflikt zu organisatorischen, rechtlichen oder gesellschaftlichen Regelungen und Vorschriften stehen.
Der Theologe, Philosoph und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer (1875– 1965) brachte dies mit der folgenden Aussage elegant auf den Punkt:
„Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung für alles, was lebt.“ (Schweitzer, zitiert nach Der Spiegel, 1960, S. 57)
Laut Schweitzer ist gut: „Leben erhalten, leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen“; böse ist: „Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten“ (Schweitzer, zitiert nach Der Spiegel, 1960, S. 56). Schweitzer brachte mit diesen Sätzen seine Sichtweise zum Ausdruck, dass wahre Ethik das Wohl aller Lebewesen, egal ob Mensch oder Tier, im Auge hat. Sie kann aber im übertragenen Sinn gerade der Sozialen Arbeit ein Wegweiser sein. Sozialarbeiter/innen übernehmen in gewisser Weise Verantwortung für ihren Nächsten und diese Verantwortung birgt die ethische Verpflichtung, das Wohl des Nächsten mitunter über das eigene Wohl zu stellen. Das kann oft schwer auf den Schultern lasten. Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch hilft, die Last etwas leichter zu tragen, und wünsche Ihnen beim Lesen und Bearbeiten der Kapitel viele nachdenkliche, informative und zugleich zufriedenstellende Stunden!
Katherine Leith
Das vorliegende Buch hat das grundsätzliche Verhältnis von Ethik und Sozialer Arbeit zum Gegenstand. Es soll Leser/innen einerseits über die wichtigsten Theorien und Entscheidungsmodelle der Ethik informieren und andererseits die situationsspezifische Komplexität der vielfältigen Arbeitsmethoden und -felder der Sozialen Arbeit in den Blick rücken. Es ist diese für die Soziale Arbeit wesentliche (und typische) Komplexität, die oft die unmittelbare Ursache ethischer Dilemmata ist.
Kompetentes, fachgerechtes „soziales Arbeiten“, also theoretisch fundiertes und praxisbezogenes Handeln, erfordert nicht nur eingehende Grundkenntnisse relevanter Theorien und Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit; es muss auch immer und grundsätzlich auf ethischen Maximen, Richtlinien und Entscheidungskriterien basieren. Eine wichtige Überlegung zur ethisch fundierten Sozialen Arbeit, wie sie in diesem Buch aufgegriffen wird, ist die Aufhebung der traditionell üblichen Vernachlässigung der systembedingten Aspekte der Sozialen Arbeit, die eine unmittelbare Auswirkung auf die Praxis haben und somit ethische Dilemmata schaffen. Das Profil der Sozialen Arbeit wird immer multikultureller und multinationaler und die Tätigkeit selbst immer stärker multidisziplinär. Es braucht deshalb das Erkennen und Verstehen ethischer Dilemmata, die oft erst bei genauerer Untersuchung und mit sorgfältiger berufsethischer Reflexion im Rahmen konkreter Handlungserfahrungen gelöst werden können (vgl. Lob-Hüdepohl, 2011, S. 19).
Themen zur Bereitstellung von Dienstleistungen werden im Rahmen der öffentlich-privaten Zusammenarbeit mit formellen und informellen strategischen Partnerschaften und Allianzen zunehmend komplexer. Die Migrationsfrage, wirtschaftliche Ungewissheit und soziale Spaltung sind nur einige der Grundthemen, welche die Soziale Arbeit prägen. Sozialarbeiter/innen sehen sich Einschränkungen in der Verfügbarkeit notwendiger Ressourcen gegenüber und sind deshalb häufig gezwungen, zu entscheiden, wem sie weiterhelfen können und sollen. Dabei ist die Frage, was als Bedürfnis angesehen wird, wie es bestimmt und gemessen wird, schwierig zu beantworten (vgl. Schagerl, 2009, S. 3). Infolgedessen ist es wichtig, dass sich Sozialarbeiter/innen einen Prozess zur ethischen Entscheidungsfindung erarbeiten. Dieser erstellt ein Bezugssystem zwischen ihrer Arbeit und der Ethik und gibt ihnen differenzierte Entscheidungsrichtlinien, je nach z. B. Klient/in, Situation, Ort, Zeit usw., an die Hand. Dabei erlaubt dieses System eine systematische Betrachtung und Überarbeitung der infrage kommenden Handlungsalternativen bezüglich relevanter ethischer Maximen und Prinzipien. Es ermöglicht dazu laufende Orientierung und Reorientierung nach konkreten, ethisch fundierten Entscheidungen und macht die Entscheidungen zugleich argumentativ und intersubjektiv überprüfbar.
Das vorliegende Buch präsentiert eine ausführliche Diskussion zum Thema Ethik in der Sozialen Arbeit, indem es den grundlegenden Zusammenhang von Ethik und Sozialer Arbeit darstellt und ein konkretes Bezugssystem zwischen beiden Feldern entwirft. Seine spezielle Eigenschaft ist die Ausrichtung auf Student/innen und Fachpersonen als „Change Agents“, welche sich nicht nur für einzelne Klientengruppen einsetzen, sondern auch Veränderungen für breitere Bevölkerungsschichten erreichen wollen. Sie sehen die ethischen Dilemmata, die in ihrer Arbeit auftreten, als Chance, um gleichzeitig Einrichtungen und Kommunen, in denen sie ihre Tätigkeit ausüben, zu stärken und mitzugestalten.
Der Inhalt des Buchs geht von den wichtigsten theoretischen Grundkenntnissen und -konzepten sowohl der Ethik als auch der Sozialen Arbeit über auf die praktische Anwendung von Ethik in der Sozialen Arbeit. Er betont eine integrierte, ganzheitliche Betrachtungsweise – die Erarbeitung, Analyse und Lösung ethischer Dilemmata anhand eines Denk- und Entscheidungsprozesses, welcher in den verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit angewendet werden kann. Die zentrale These des Buchs unterstreicht die berufliche Verantwortung, zur Schaffung ethischer Einrichtungen, Strukturen und Vorgehensweisen beizutragen.
Lernziele
Insgesamt strebt das Lehrbuch folgende Lernziele an. Nach der Bearbeitung des Lehrbuchs
In diesem Kapitel erhalten Sie einen kurzen Überblick über und einen Rückblick auf die geschichtlichen Wurzeln der Sozialen Arbeit. In diesem Zusammenhang können Sie die Unterschiede zwischen Beruf und Profession erkennen und diskutieren, ob und warum die Soziale Arbeit eine (oder keine) Profession ist. Sie lernen einige der bedeutendsten Wegbereiter der Sozialen Arbeit kennen, sowohl in Deutschland als auch international, und verstehen, dass der historische Kontext eine wichtige Rolle in der Professionalisierung und für die ethische Verankerung der Sozialen Arbeit spielt.
Die Tendenz, Menschen, die in Not und auf Hilfe angewiesen sind, beizustehen, ist so alt wie die Menschheit selbst. Tatsächlich lässt sich der Begriff der Nächstenliebe bis ins Altertum zurückverfolgen und die Bereitschaft, für andere zu sorgen (und somit der Anfang der Sozialfürsorge), ist ein einigender und elementarer Bestandteil aller größeren Religionen (vgl. Langer, 2003, S. 137). Im Mittelalter wurden Beistand und gegenseitige Hilfeleistung als Voraussetzung für die Vergebung aller Schuld, Erlösung der Sünden und ewiges Leben aufgefasst. Schon in der Bibel finden sich unzählige Hinweise auf die Pflicht, unsere Mitmenschen zu „lieben“, d. h,. ihnen zu helfen. So schreibt z. B. Jakobus: „So ihr das königliche Gesetz erfüllet nach der Schrift: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘, so tut ihr wohl“ (Jak 2,8–11). Laut Bundesverfassungsgericht ist „die tätige Nächstenliebe“ nach dem Neuen Testament eine wesentliche Aufgabe für den Christen und wird von der katholischen wie von der evangelischen Kirche als Grundfunktion verstanden (vgl. Classen, 2003, S. 36). Auch im Alten Testament finden sich Anweisungen für alle traditionellen Formen der Fürsorge, welche später in das Regelungssystem christlicher Nächstenliebe aufgenommen wurden. So werden laut Deuteronomium (das fünfte Buch Mose) „allezeit Arme sein im Lande; darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande“ (5. Mose 15,11).
Tatsächlich begleitet Armut die Menschheit seit ihrem Beginn und die menschliche Urgeschichte verdeutlicht, dass Einzelne zum Überleben schon immer auf die Hilfe ihrer Familie, Sippe oder Stammesgruppe angewiesen waren (vgl. Schilling; Klus, 2018, S. 17). Im Vor- und Mittelalter wurde Hilfe eindeutig und hauptsächlich als familiäre Aufgabe und Verantwortung verstanden. Wer in Not geriet, wandte sich an seine Angehörigen und diese waren dann dazu angehalten, sogar moralisch verpflichtet, zu helfen. Dabei beruhte und beruht auch heute noch die Leistung von Hilfe auf einer Art von unausgesprochenem Gegenseitigkeitsabkommen, der Goldenen Regel, nämlich andere so zu behandeln, wie wir von ihnen behandelt werden wollen. Auch dieser wohlbekannte und weitverbreitete Grundsatz ist in der Bibel verankert. So gebietet Jesus laut Lukas und Matthäus: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“ (Lk 6,31; Mt. 7,12). In der einen oder anderen Form findet sich die Goldene Regel in allen großen Weltreligionen und in den Aufzeichnungen und/ oder Lehren bedeutender Gelehrten und Philosophen. Konfuzius, Rabbi Hillel, Jesus von Nazareth und viele andere haben anhand der Goldenen Regel diskutiert, wie das Leben zu gestalten ist. Seit Jahrhunderten ist und bleibt die Goldene Regel in den verschiedensten Kulturen sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich, sowohl aus religiöser als auch aus säkularer Sicht, maßgeblich (vgl. Gensler, 2013, S. 1). Ein wichtiger Aspekt der Goldenen Regel ist, dass sie sich wohl auf alltägliche zwischenmenschliche Begegnungen bezieht, dabei aber soziale und strukturelle Verhältnisse, in denen sich moralisches Handeln auch abspielt, nicht vernachlässigt (vgl. Burton; Goldsby, 2005, S. 374 f.). Sie wird in den kommenden Kapiteln erneut besprochen.
„Hilfe ist eine Urkategorie des menschlichen Handelns überhaupt, ein Begriff, der nicht weiter zurückzuführen ist, außer auf den des gesellschaftlichen Handelns überhaupt (...). Hilfe ist eine gesellschaftliche Kategorie. Ihr Begriff bezeichnet ein Verhalten im menschlichen Zusammenleben.“ (Scherpner, 1962, S. 122)
Früh- und Hochmittelalter
Die Menschheit hatte sich schon immer mit grundsätzlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft mit sich brachte. Wie sich in diesem Kapitel zeigen wird, gab es z. B. schon immer arme Menschen, um die es sich zu kümmern galt. Das „Kümmern“ fiel auch schon immer der Gemeinschaft zu. Aber die Art und Weise, wie mit armen Menschen umgegangen wird, hat sich im Laufe der Jahrtausende geändert. Vor dem Mittelalter – und auch noch zu Beginn des Mittelalters – war Armenhilfe nicht formell organisiert und wurde als Nächstenliebe von allen getragen, da Armut als ein Bestandteil des alltäglichen Zusammenlebens verstanden wurde. Erst ab dem Spätmittelalter, ab dem 13. Jahrhundert, begannen öffentlich organisierte Bestrebungen, Armut zu unterbinden und Armenhilfe zu verstärken. Ab da löste sich die hochmittelalterliche Gesellschaftsordnung auf und führte zu frühen Formen des Kapitalismus und der Industrialisierung, ebenso wie zu den ersten Ausläufern der Sozialen Arbeit (vgl. Engelke et al., 2018, S. 32). So sehr arme Menschen bis dahin von anderen berücksichtigt und versorgt wurden, so wenig Verständnis erfuhren sie aber für ihre als faul und schändlich verurteilte Lebensweise. Tab. 1.1 soll Ihnen einen Überblick über die verschiedenen Epochen geben. Dabei ist zu beachten, dass Historiker der westlichen Welt generell einen dreiteiligen Modus der Periodisierung – der Einteilung der Zeitgeschichte in Epochen – vornehmen, nämlich Antike, Mittelalter und Moderne. Zumindest z. T. ist eine solche Periodisierung willkürlich und künstlich. Es ist gleichzeitig zu überlegen, ob sich diese Form der Periodisierung der westlichen, und hauptsächlich europäischen, Geschichte wirklich auf die Weltgeschichte übertragen lässt (vgl. Green, 1992, S. 13, 36, 40).
Tab. 1.1: Die Epochen im Kurzüberblick (vgl. Pallaske, 2016; Connelly, 2008)
Epoche | Zeitraum |
Vor- und Frühgeschichte | 2,5 Millionen Jahre v. Chr. bis ca. 800 v. Chr. |
Steinzeit | ca. 2,5 Millionen Jahre v. Chr. bis ca. 4000 v. Chr. |
Bronzezeit | ca. 3500 v. Chr. bis ca. 1500 v. Chr. |
Eisenzeit | 1500 v. Chr. bis ca. 800 v. Chr. |
Antike | 800 v. Chr. bis 500 n. Chr. |
antikes Griechenland | 800 v. Chr. bis 400 v. Chr. |
Römisches Reich | 500 v. Chr. bis 500 n. Chr. |
Mittelalter | 500 n. Chr. bis 1500 n. Chr. |
Frühmittelalter | 500 n. Chr. bis 1000 n. Chr. |
Hochmittelalter | 1000 n. Chr. bis 1300 n. Chr. |
Spätmittelalter | 1300 n. Chr. bis 1500 n. Chr. |
Neuzeit | 1500 n. Chr. bis heute |
Frühe Neuzeit | 1500 bis 1800 |
Reformation, Dreißigjähriger Krieg | 1600 bis 1700 |
Aufklärung | 1700 bis 1800 |
Industrialisierung | 1750 bis 1900 |
Neuere Geschichte | 1800 bis 1920 |
Gründung Deutsches Reich | 1871 |
Neue Geschichte/Moderne | 1920 bis heute |
Zeit der Weltkriege | 1914 bis 1945 |
Weimarer Republik (Zwischenkriegszeit) | 1918 bis 1933 |
Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) | 1949 |
Nachkriegszeit | 1945 bis spätestens 1994, mit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und dem Abzug der Alliierten aus Berlin im Jahr 1994 |
Wiedervereinigung | 03.10.1990 |
Zeit der Globalisierung | ca. 1980 bis heute |
Finanzkrise, transnationale Migration, Terrorismus | 21. Jahrhundert |
ÜBUNG 1.1
Werfen Sie bitte einen genaueren Blick auf Tab. 1.1 Gibt es Ihrer Meinung nach eine Epoche, in der es im Vergleich zu anderen Epochen armen Menschen besser ging? Wenn ja, was kennzeichnet diese Epoche? Wenn nicht, was hat sich über die verschiedenen Epochen hinweg wenig oder nicht verändert?
Die mittelalterlichen Dorf- und Marktgemeinden, in denen ein Großteil der Bevölkerung lebte, waren der permanenten Bedrohung durch wirtschaftliche Unsicherheit ausgesetzt, was schon zu damaligen Zeiten zu ethischen Dilemmata im Umgang mit Menschen führte, die ihren Unterhalt nicht selbst bestreiten konnten (vgl. Clark, 1994, S. 381). Schon damals verknüpften sich die Begriffe Armut und Hilfe als Grundkonstanten in der Armenpflege und -fürsorge (vgl. Stolleis, 2012, S. 17). Bislang war es Aufgabe der Kirche, für die Armen zu sorgen, die nicht auf familiäre Hilfe zurückgreifen konnten. Im Mittelalter war die Kirche die stärkste und wichtigste Macht und ihr Einfluss erstreckte sich über alle Lebensbereiche. Dennoch sah es die Kirche nicht als ihre Aufgabe, Armut zu beseitigen. Für sie bestand kein Zweifel und sie lehrte, dass es immer arme Menschen geben wird. Armut wurde als individuelles Versagen verstanden, als Ergebnis von Fehl- und Impulsiventscheidungen des Einzelnen. Solches Verhalten sollte einerseits nicht „belohnt“ werden, indem Not leidenden Menschen so weit geholfen wurde, dass sie der Armut entronnen und zu Gütern kamen. Auf der anderen Seite war das Leisten von Beistand in der Form von Almosen neben der Wallfahrt und dem Fasten die einzige Möglichkeit, Buße zu tun und von seinen Sünden freigesprochen zu werden. Deshalb war der Antrieb zur Bereitschaft, materielle und immaterielle Hilfe zu leisten, eine Mischung aus Mitleid und moralisch-religiöser Pflicht (vgl. Stolleis, 2012, S. 30). Gutes zu tun wurde von der Kirche vorgeschrieben und das Ausführen guter Taten war Zeichen des Glaubens und des Gehorsams der Kirche gegenüber, die den Weg zur Erlösung und in den Himmel lieferten. Weil andere außerdem armen und bedürftigen Menschen nicht zutrauten, mit Geld vernünftig umzugehen, waren solche guten Taten im seltensten Fall mit finanziellen Mitteln verbunden. Hatten die Armen doch mit ihrer Hilfebedürftigkeit bereits bewiesen, dass sie nicht fähig waren, sich „richtig“ (d. h. unbescholten und züchtig) zu verhalten. Es waren also nicht Uneigennützigkeit und Altruismus, sondern Eigeninteresse und Selbsterhaltung, die zum Helfen veranlassten.
Weil Betteln den Weg in das Himmelreich ebnete, wurde es nicht nur geduldet, es wurde sogar erwartet. So war es ein legitimes und gesellschaftlich akzeptiertes Mittel zum Überleben. Die, die im Überfluss lebten, und die, die habelos waren, hatten gleichermaßen eine wichtige Funktion und somit ihren festen Platz in der gesellschaftlichen Ordnung. Wer genügend hatte, gab davon ab, um sich das Seelenheil zu sichern. Wer nichts hatte, bettelte und betete als Gegengabe für das Seelenheil derer, die sich gütig zeigten. Somit „erlaubten“ Arme Reichen, sich einen Platz im Himmel zu sichern, indem sie durch ihre Bedürftigkeit die Almosenfunktion überhaupt ermöglichten: Es bestand also ein beiderseitiges Abhängigkeitsverhältnis: Arme profitierten von den materiellen Gaben Reicher, während Reiche von ihren Almosen profitierten, die ihnen das Seelenheil sicherten (vgl. Engelke et al., 2018, S. 36; Usner, 2009. S. 5). So erkannten schon zu damaligen Zeiten prominente Gelehrte, dass Arme und Reiche, obwohl sie sich auf den ersten Blick als Gegensätze darstellten, gemeinsame Interessen hatten und sich gewissermaßen gegenseitig bedingten (vgl. Clark, 1994, S. 403). Menschen glaubten, dass Armut von Gott gewollt und erlaubt wurde.
Es musste Armut geben, weil sie den Reichtum legitimierte. Wirtschaftlicher, d. h. finanzieller, Wohlstand wurde als Beweis von Gottes Gnade interpretiert. Wer Geld hatte, wurde stetig von der Kirche dazu angehalten, es nicht leichtfertig und unbedacht zu vergeuden; sie propagierte Fleiß und Mäßigkeit zu Ehren Gottes.
Spätmittelalter
Ab dem 12. Jahrhundert entstand dann die „Kultur der Barmherzigkeit“, die darauf beruhte, dass Menschen Verantwortung füreinander tragen, indem sie sich einander in der Not mildtätig annehmen. Es entwickelte sich ein karitativer und mitfühlender Gedanke, der die neue Armutsbewegung kennzeichnete (vgl. Usner, 2009, S. 7). So schrieb die Barmherzigkeit eine Art von Großzügigkeit oder Großherzigkeit, sozusagen ein Öffnen des Herzens, vor, die die kollektive Gemeinschaft stärkte (vgl. Clark, 1994, S. 385).
DEFINITION 1.1
Barmherzig (Adjektiv): „mitfühlend, mildtätig gegenüber Notleidenden; Verständnis für die Not anderer zeigend; eigentlich: ein Herz für die Armen habend.“ (Bibliographisches Institut, 2015, S. 257)
Zusätzlich war das Leben im 14. Jahrhundert weiterhin von Ordnung und Struktur geprägt. Es wurde von einer natürlichen Hierarchie und der gegenseitigen Abhängigkeit ausgegangen, welche beide die Auffassung der Menschen über das Zusammenleben stark beeinflussten (vgl. Clark, 1994, S. 385). Noch immer hatte die Kirche das Sagen und gab den Menschen mit ihren Lehren und Unterweisungen Halt. Sie wirkte sich stark auf jede Facette des mittelalterlichen Lebens aus und duldete keinen Widerspruch. Obwohl die Kirche schon vorher gegen die, die ihre Gebote missachteten, vorgegangen war, begann sie nun, Häretiker (Personen, die eine „Irrlehre“ vertreten, vor allem in religiöser Hinsicht) kategorisch und konsequent zu verfolgen. Diese „Ungläubigen“ waren ihr ein Dorn im Auge, weil sie, laut Kirche, versuchten, Mitmenschen ebenfalls zum Unglauben anzustiften. Sie waren „Ketzer“ oder, verallgemeinert, Irrgläubige, die belehrt und bekehrt werden mussten oder oft schreckliche Folgen zu erleiden hatten. Mit der Einführung der bischöflichen Inquisition im Jahr 1215 wurden überallhin Wanderprediger auf den Weg geschickt, um zu missionieren und Ketzer zu bekehren oder zu unterdrücken. Wenn die auf diese Weise Geahndeten „Glück“ hatten, wurde „nur“ ihr Hab und Gut konfisziert. Aber 1231 sprach der damalige Kaiser Friedrich II. seine berüchtigte Ketzerordnung aus, den Erlass zur Verfolgung deutscher Ketzer. Sie wurden somit zu Staatsfeinden. Aufgrund der damaligen starken Interdependenz zwischen Kirche und Staat verbreiteten mehrere Päpste die kaiserlichen Ketzergesetze (vgl. Saumets, 2011, S. 136 f.). Schon der bis heute hoch angesehene und 1323 heiliggesprochene Kirchenlehrer Thomas von Aquin postulierte, dass unbelehrbare Häretiker den Ausschluss aus dem Leben durch den Tod verdienten. Aquin war überzeugt, dass die Existenz des Bösen den Sinn des Guten umso besser erkennen ließ und die Vernichtung des Bösen das Gute festigte. Es ging der Kirche also nicht um die Ausrottung von Ketzern, sondern um die Ausrottung der Ketzerei schlechthin (vgl. Holzbauer, 2003, S. 61 ff.).
„Die Erfahrung lehrt, dass es keine anderen Heilmittel gibt für die Ketzer als den Tod. (...) wenn man ihnen mit Geldstrafen droht, so werden sie von anderen ausgehalten; wenn man sie in ein Gefängnis wirft oder ins Exil schickt, so verderben sie ihre Nachbarn mit Reden und Büchern. Also bleibt als einziges remedium, sie beizeiten zu töten“ (Aussage des vatikanischen Hoftheologen Roberto Bellarmino im 16. Jahrhundert, zitiert nach Sträuli, 1995, S. 26).
Thomas von Aquin
Wie bereits erwähnt, war eine der wohl einflussreichsten Persönlichkeiten des späten Mittelalters der italienische Theologe, Philosoph und katholische Priester Thomas von Aquin (1225–1274). Zwar sind seine Ansichten zur Inquisition zu hinterfragen, dennoch hatte vor allem seine Haltung gegenüber der mittelalterlichen Armenfürsorge eine grundsätzliche und nachhaltige Wirkung. Wie sonst kaum eine Theorie anderer Denker dieser Zeit beeinflusste die „Almosenlehre“ Aquins das soziale Denken des damaligen Europas. Aquin befasste sich als einer der Ersten im Mittelalter mit der Armut seiner Mitmenschen. Er sah Armut als gottgewollt, erkannte aber zugleich schon damals, dass sie nicht lediglich das Resultat von Geldmangel ist, sondern sich aus mehrschichtigen Mangelfaktoren, wie z. B. Mangel an Bildung, sozialen Bezügen und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten zusammensetzte. In seiner Almosentheorie hob er u. a. Themen der Nächstenliebe, Wohltätigkeit und Barmherzigkeit hervor und stellte die christliche Pflicht, denen, die bedürftig waren, mit Gaben zu helfen, in den Vordergrund (vgl. Kuhlmann, 2014, S. 16 f.; Schilling; Klus, 2018, S. 21).
Laut Aquin war Armut zwar ein integraler Bestandteil der natürlichen Gesellschaftsstruktur und somit gottgewollt, aber dennoch unterstrich er die Arbeitspflicht. Mit anderen Worten: Obwohl sich Arme für ihre Armut nicht zu demütigen hatten, so sollten sie dennoch arbeiten (vgl. Kuhlmann, 2014, S. 18 f.; Schilling; Klus, 2018, S. 21). Zusätzlich musste das Wohl aller immer vor dem Wohl der Einzelperson Vorrang haben. Alle also, die mehr als genug hatten (d. h., die ihre Bedürfnisse decken konnten und dann immer noch übrighatten), waren angehalten, denen, die zu wenig oder nichts hatten, zu geben. Seine Habe für „magere“ Zeiten aufzubewahren war unsozial und somit unchristlich (vgl. Kuhlmann, 2014, S. 17; Müller, 2013, S. 15). Dass Armut zur damaligen Zeit, und auch für Aquin, nur von spiritueller und nicht von wirklich praktischer Bedeutung war, lässt sich schon daraus erkennen, dass es keine Kriterien gab, um Armut zu definieren und dass Arme nicht kontrolliert wurden.
Schon damals wurde Barmherzigkeit – wie es auch heute noch zutrifft – als eine der Haupttugenden und wohl mit als eine der wichtigsten Pflichten in den monotheistischen Religionen verstanden. Der Begriff leitet sich von den lateinischen Wörtern „miser“, arm, elend, und „cor“, Herz, ab und geht oft mit den Begriffen des Erbarmens und des Mitgefühls einher (vgl. Päpstlicher Rat zur Förderung der Neuevangelisierung, 2015, S. 13 ff.). Dennoch gibt es Unterschiede. Der letztere Begriff ist mit dem englischen Wort „compassion“ verwandt und beinhaltet das Gefühl, das wir empfinden, wenn wir das Leiden anderer miterleben und uns aufgefordert sehen, ihnen zu helfen. Der erstere Begriff ist mit dem englischen Wort „pity“ verwandt; hier geht es mehr um das Gefühl der Sorge um andere, die als geringwertiger eingestuft werden (vgl. Goetz et al., 2010, S. 351 f.). Ein „Mitfühlen“ ist für den ersteren Begriff nicht nötig. Wird berücksichtigt, dass der ursprüngliche Wortsinn des Begriffs „barmherzig“ aus dem lateinischen „miseri-cor-dare“ ist, so heißt er tatsächlich Wort für Wort „dem Armen ein Herz geben.“ (Lackner, o. J.)
Zur damaligen Zeit beinhaltete das Ausüben von Barmherzigkeit sieben „leibliche“ und sieben „geistige“ Werke (vgl. Tab. 1.2). Sie finden ihren Ursprung in der sogenannten Endzeitrede Jesu in Matthäus (Mt 25, 34–46). Sie wurden von der Kirche als bevorzugte Methoden angepriesen, je nach Notwendigkeit, konkret Barmherzigkeit auszuüben (vgl. Gammel, 2016). Das Praktizieren der leiblichen Werke beschränkte sich nicht nur auf Einzelpersonen, es war in die ethische Sozialordnung gesellschaftlichen Lebens eingebunden. Es überstieg somit die Idee der guten Werke individueller Frömmigkeit und spiegelte eine breite gesellschaftliche Sicht wider (vgl. Ottenheim, 2013, S. 35). Schon Aquin setzte sich mit den leiblichen und geistigen Werken der Barmherzigkeit auseinander. Er stellte sich die Frage, ob die geistigen Werke den leiblichen oder die leiblichen Werke den geistigen vorgezogen werden sollten. Zwar waren die geistigen Werke, so Aquin, den leiblichen übergeordnet, dennoch konnten auch die leiblichen Werke durchaus geistig wirken, wenn sie durch die Liebe Gottes motiviert waren (vgl. Kuhlmann, 2014, S. 17 f.).
Tab. 1.2: Die sieben leiblichen und geistigen Werke
leibliche Werke | geistige Werke | |
1 | Hungrige nähren | Unwissende lehren |
2 | Durstige laben | Zweifelnde beraten |
3 | Nackte bekleiden | Trauernde trösten |
4 | Fremde beherbergen | Sünder zurechtweisen |
5 | Kranke pflegen | jenen, die Leid zufügen, verzeihen |
6 | Gefangene besuchen | Lästige ertragen |
7 | Tote begraben | für alle beten |
HINWEIS
Falls Sie gerne mehr zum Thema der 14 Werke der Barmherzigkeit wissen möchten, können Sie hier nachlesen: http://www.aon.media/h1cmww
Auf gewisse Weise stellen die Werke der Barmherzigkeit eine erste Form von Öffentlichkeitsethik dar, die letztendlich sogar die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft überschreitet. Sie spiegeln somit eine universalhumane Einstellung wider und mögen wohl sogar auf einer Art sozialer Institutionalisierung basieren (vgl. Ottenheim, 2013, S. 49). Obwohl sie im Lauf der Jahrhunderte zumindest dem Anschein nach dazu gedient haben, Nächstenliebe zu motivieren und zu orientieren, ist dennoch fraglich, ob sie wirklich zu einer strukturellen Veränderung der Gesellschaft und zu einer Aufhebung sozialer Ausgrenzung und Benachteiligung führen können (vgl. Rosenberger, 2013, S. 7). Dass sie dennoch für die heutige Zeit als relevant gelten, zumindest im esoterischen und spirituellen Sinn, zeigt z. B. die Umfrage im Bistum Erfurt zum Anlass des 800. Geburtstages der heiligen Elisabeth von Thüringen im Jahr 2006/2007, die erörterte, welches Werk der Barmherzigkeit heute besonders notwendig sei. Dabei kam heraus, dass die aktualisierte Version der sieben leiblichen und der sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit als sieben „Lebenszeichen für die Welt im 21. Jahrhundert“ folgendermaßen lauten (vgl. Göckener, o. J.):
ÜBUNG 1.2
Bitte überlegen Sie, inwieweit sowohl die sieben leiblichen als auch die sieben geistigen Werke ihre Entsprechung in den Handlungsfeldern der heutigen Sozialen Arbeit finden. Können Sie konkrete Beispiele nennen, die verdeutlichen, wie sich soziales Arbeiten an diesen 14 Werken orientiert?
Vor allem das vierte geistige Werk, Sünder zurechtweisen, spielte im Mittelalter eine wichtige Rolle. Wer sündigte, hatte eine falsche innere Einstellung, die sich dann in schlechten Handlungen äußerte. Somit richtete sich die Sünde nicht nur gegen die eigene Person, sondern auch gegen die Mitmenschen und letztendlich gegen Gott (vgl. Gammel, 2016). Gemeinsamkeit mit anderen wurde geschätzt und es war wichtig, sich an der Gemeinschaft zu beteiligen und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Aufnahme und Einbeziehung in die Gemeinschaft verlangten Anpassung und Konformität. Wer sich nicht anpasste (d. h. wer sündigte), war eine Bedrohung für den Erhalt des sozialen Zusammenhalts (vgl. Clark, 1994, S. 386). Deshalb beruhte Hilfeleistung auf dem christlichen Wert des selbstlosen Dienens und propagierte die Prinzipien der Gleichförmigkeit, Freiwilligkeit und Verteilung von Gaben in Übereinstimmung mit Bedarf und Gleichheit (allerdings mit großen Vorbehalten), Gesamtheit und Angemessenheit der gespendeten Mittel (vgl. Bykov, 2015, S. 613).
In dieser Zeit gab es eine Vielzahl von gemeinnützigen Einrichtungen, die sich um das Wohlergehen bedürftiger Menschen sorgten. Es können vier Hauptgruppen von fürsorglichen Trägern unterschieden werden (vgl. Schilling; Zeller, 2012, S. 23):
Bislang war Sozialfürsorge noch immer eine lokale Angelegenheit und fand hauptsächlich vor Ort statt. Ein überwiegender Grund dafür war, dass von Armen erwartet wurde, sie sogar verpflichtet waren, Spender von Almosen selbst ausfindig zu machen. Diese Handhabung förderte nicht nur die lokale Verwaltung der Armenfürsorge, sondern sie stärkte auch die Organisation religiöser Institutionen (vgl. Backer, 1995, S. 945). Im frühen Mittelalter waren es hauptsächlich kirchliche Einrichtungen, Klöster und Mönchsorden, die sowohl Spitäler als auch spezialisierte Anstalten wie Siechen-, Armen- und Waisenhäuser schufen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass das mittelalterliche Spital kein Krankenhaus im heutigen Sinne war. Stattdessen diente es als eine Art von Rasthaus, manchmal auch als Badehaus, Nachtasyl oder auch Pestilenzhaus und war mit einer Anzahl von vielschichtigem Personal besetzt (vgl. Amthor, 2016, S. 61 f.). Insgesamt beruhten Nächstenliebe und Wohlfahrt zu dieser Zeit auf vier Säulen (vgl. Carter et al., 2006, S. 258):
Dennoch begann sich die dominierende Rolle, die Kirche und religiöse Doktrinen innehatten, langsam zu lockern, indem sie durch den stetigen Aufstieg säkularer Mächte abgelöst wurden (vgl. Stolleis, 2012, S. 31). Ortschaften wuchsen zu Städten, welche sich stark vermehrten und nun von der Macht und dem Druck der Kirche befreien und sich selbst regieren wollten. Es kam zu Konflikten zwischen Staat und Kirche, was zumindest z. T. zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Themen führte. Im 13. und 14. Jahrhundert übernahmen dann nach und nach die Städte die Gründung kommunaler Hospitale (vgl. Bahle, 2007, S. 212; Schilling; Zeller, 2012, S. 23). Sie übernahmen auch zunehmend die Ausübung der Steuerfunktion über Wohlfahrtseinrichtungen, was zu zwei bedeutenden institutionellen Veränderungen führte: Einerseits nahm die soziale Kontrolle der Armen durch öffentliche Organe stark zu, andererseits kam es zu einer lokalen Einschränkung der Armenfürsorge und zu einer Reserviertheit und Abschrankung gegenüber nicht ortsansässiger Armen (vgl. Bahle, 2007, S. 212). Wie bereits am Anfang erwähnt, ging es dabei nicht darum, alle Bedürfnisse armer Menschen zu decken und Armut somit abzuschaffen, sondern darum, die schlimmste Not zu mildern. Die Vorstellung, arme Menschen zu rehabilitieren, war undenkbar, ja, sie lag völlig jenseits der damaligen Erfahrungswelt (vgl. Backer, 1995, S. 950).
Diese Änderung der Machtverhältnisse zwischen Kirche und Kommune wurde vom Ausbau sowohl einer auf Bargeschäften beruhenden Wirtschaft (im Gegensatz zur herkömmlichen, auf Tauschgeschäften beruhenden Wirtschaft) als auch von Kapitalanlagen und Kredit- und Zinsgeschäften in den immer bedeutender werdenden Städten unterstützt. Dazu kamen die Verwüstung und Dezimierung der Bevölkerung aufgrund von Seuchen und Missernten. Der Schwarze Tod wütete Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa und forderte geschätzte 25 Millionen Todesopfer, ein Drittel aller Europäer (vgl. Bergdolt, 2017, S. 10; Corbett, 1961, S. 285). Die Pest wurde als von Gott geschickte Strafe für Sünde und Unsittlichkeit angesehen und viele hofften zuerst noch, dass die Seuche an ihnen vorbeigehen würde und sie unbehelligt bleiben könnten, wenn sie Buße taten. Sie konzentrierten sich auf ein gemäßigtes und geregeltes Leben, beichteten ihre Sünden und begannen teilweise, sich zu geißeln (vgl. Peschke, 2007, S. 112). Als aber deutlich wurde, dass der gnadenlose Marsch von Seuche und Pest und die damit verbundene, als unentrinnbar verstandene Sterblichkeit – trotz z. T. größter Bemühungen der Bevölkerung, sich gottesfürchtig zu verhalten und damit diesem schrecklichen Schicksal zu entrinnen – unaufhaltbar waren, wendeten sich viele von der Kirche ab. Manche wandten sich dem anderen Extrem zu, indem sie begannen, hemmungslos zu essen und zu trinken und allen nur erdenklichen Lastern zu frönen. Wieder andere verzichteten auf das Baden und verdeckten alle Fenster und Türen mit schweren Teppichen, um damit die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen (vgl. Cantor, 2001, S. 22 f.). Offensichtlich machte der Schwarze Tod zwischen Arm und Reich keinen Unterschied, dennoch schien es so. Tatsächlich lag die Todesrate Armer wesentlich höher (vgl. Quigley, 2015). Letztendlich war aber kein Mensch sicher, egal ob arm oder reich. Sobald erste Anzeichen der Krankheit sichtbar wurden, wurden Betroffene ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter oder Stand erbarmungslos aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Die Angst vor Ansteckung veranlasste viele, ihre guten Manieren in den Wind zu schlagen, und war letztendlich stärker als Moralgesetze und Verantwortungsgefühl (vgl. Bergdolt, 2017, S. 9). Menschen trugen Amulette oder Talismane, die einen beschützen sollten, und begannen, alle möglichen entweder vorbeugenden oder heilenden Tinkturen und sonstige Kräutermischungen zu sich zu nehmen. Nichts half. Die Pest war also eindeutig die Strafe Gottes für das menschliche Versagen und Sünden.
„Es gibt, so scheint es, keine Hoffnung auf die ersehnte Rettung. Unzählige Leichenzüge seh’ ich nur, wohin ich meine Augen wende, und sie verwirren meinen Blick. Die Kirchen hallen von Klagen wider und sind mit Totenbahren gefüllt. Ohne Rücksicht auf ihren Stand liegen die Vornehmen tot neben dem gemeinen Volk. Die Seele denkt an ihre letzte Stunde, und auch ich muß mit meinem Ende rechnen. (...) Schon wird die Erde knapp für die Gräber (...).“ (Bergdolt, 2017, S. 101).
Auf ähnliche Weise änderte auch der Dreißigjährige Krieg ca. 100 Jahre später zwischen 1618 und 1648 noch weiter die Machtstellung der Kirche sowie das bis dahin unerschütterliche Vertrauen der Menschen in sie als alleinige Instanz über die Entscheidung, was als angemessen oder unangemessen im täglichen Leben und im Umgang mit anderen galt. Er begann als Religionskrieg und zog weitläufige, über ganz Europa verbreitete und verheerende wirtschaftliche und soziale Verwüstungen nach sich. Menschen allerorts wurden immer ärmer und hungriger, und ihr bis dahin relativ gut funktionierender Brauch, bei der Kirche Trost und Halt zu suchen, begann zu scheitern. Statt sie zu trösten, ermahnte die Kirche sie zu noch größerer Buße und deutete ihre Armut als Gottes Strafe für ihre Sünden.
Frühe Neuzeit
Zu Beginn der Neuzeit änderte sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber den Armen. Wie vorhergehend bereits aufgeführt, gab es aufgrund wirtschaftlicher, religiöser und gesellschaftlicher Entwicklungen immer mehr Bettler, sie waren nun regelrecht zu einer „anerkannten Berufsgruppe“ aufgerückt (vgl. Schilling; Zellner, 2012, S. 24). Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges übernahmen die Städte im 15. Jahrhundert schließlich vollständig die Leitung der Armenfürsorge. Mit dem neu entstehenden Staat, der begann, das alte Feudalsystem abzulösen, entwickelte sich nach und nach eine zentralisierte Bürokratie, die als inhärenten Bestandteil die Armenfürsorge einschloss (vgl. Heinrichs, 2014, S. 71). Kirchliche Almosen und Armenhilfe spielten immer weniger eine Rolle und wurden an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. Somit änderten sich auch der Charakter und die dahinterstehende Philosophie des Gebens. Bis dahin war der herkömmliche Anstoß zum Geben die religiöse Pflicht. Nächstenliebe war im Grunde Selbstliebe, weil sie die einzige Möglichkeit bot, das Seelenheil zu erlangen und in den Himmel zu kommen. Somit war Nächstenliebe rational und logisch, weil sie die gesellschaftliche Hierarchie sowohl im Diesseits als auch im Jenseits bewahrte. Sie orientierte sich also nicht an hiesigen säkularen und humanen Zielen, sondern an jenseitigen religiösen und göttlichen (vgl. Heinrichs, 2014, S. 75). Nun aber kam es sozusagen zu einer „Entkirchlichung“ des Armenwesens, im Zuge derer soziale Leistungen immer mehr standardisiert und Armutsfälle immer weiter aufgegliedert wurden (vgl. Bahle, 2007, S. 214). Sobald die Armenfürsorge nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Kirche fiel, änderte sich auch ihre logische Grundlage. Es ging nicht mehr darum, durch das Geben von Almosen von seinen Sünden erlöst zu werden. Stattdessen waren Städte nun darum bemüht, durch das Erlassen von Armen- und Bettelverordnungen das Bettelwesen zu unterbinden und Almosen nur so weit zu gewähren, wie Arme nicht durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen konnten (vgl. Heinrichs, 2014, S. 76). Betteln war jetzt nicht nur nicht mehr geduldet, sondern wer bettelte, machte sich sündig und somit strafbar. Betteln war aus diesen Gründen von nun an verboten (vgl. Schilling; Zeller, 2012, S. 24).
„Es ist eine allgemeine Regel in der Geschichte der Armenpflege: Je mehr Almosen, umso mehr Bettler. (...) Eine brauchbare Armenpflege muss daher bestrebt sein, den Armen womöglich Arbeit zu verschaffen (...). Die Wohltätigkeit hat zur letzten Aufgabe, sich selbst überflüssig zu machen“ (Zusammenfassung, Maßregeln Karls des Großen und Armengesetz Königin Elisabeths, zitiert nach Söderblom, 1898, S. 64).
Juan Luis Vives und Martin Luther
Schon ungefähr 100 Jahre vor diesen Entwicklungen erstellte der spanische Gelehrte und Humanist Juan Luis Vives seine Theorie der Armenfürsorge und genau wie Aquin plädierte auch er für die Arbeitspflicht. Vor allem für den Werdegang der Sozialen Arbeit ist Vives von Wichtigkeit, weil er 1526 mit seinem Werk De subventione pauperum (Die Unterstützung der Armen) erste neuzeitliche Grundsätze der städtischen Armenpflege formulierte (vgl. Schilling; Klus, 2018, S. 24). In diese Grundsätze integrierte Vives zum ersten Mal ein Individualisierungsprinzip. Anders gesagt forderte Vives dazu auf, dass der Armenstatus einer Person individuell auf das Genaueste zu prüfen war, um den konkreten Stand ihrer Notlage zu bestimmen. Dieser war dann zusammen mit den Gründen für ihre Verarmung sowie mit der Art und Weise, in der sie früher ihren Unterhalt verdienten und ihr Leben führten, zu registrieren. Ob sie arbeitsfähig waren, sollte nun offiziell von einem Arzt bestimmt werden und die genaue Form der Hilfeleistung sollte je nach Einzelfall festgelegt werden (vgl. Schilling; Klus, 2018, S. 25).
In ihrer Einstellung Armen gegenüber bezogen sich die Städte nicht nur auf die Lehre Vives, sondern auch zum großen Teil auf die Aufforderung des deutschen Augustinermönchs, Predigers und Theologieprofessors Martin Luther, der als Initiator der kirchlichen Reformation eine wichtige sozialgeschichtliche und -politische Rolle spielt. Genau wie Vives mahnte Luther in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung