ALEXANDER SCHULZE
Momentaufnahmen
52 nicht ganz alltägliche
Alltagsgeschichten
ALEXANDER SCHULZE, Dr. phil., Jahrgang 1976, studierte Theologie und Philosophie in Deutschland und den USA, lehrt Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Friedensau und ist Mitglied der American Academy of Religion (AAR) und der International Academy of Practical Theology (IAPT).
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© 2020 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Printed in Germany
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Bibeltexte: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche
Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Gesamtgestaltung: Mario Moths, Marl
Coverbild: Stock-Fotografie, Sezeryadigar
Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH
ISBN 978-3-374-06598-1
www.eva-leipzig.de
Cover
Titel
Impressum
Dank
I. Alltagsrituale
1. Harald
Laufschuhe, Waldboden und ungestört
unsortiert
2. Manuela
Drei Kinder und immer 100 Prozent
3. Albert
Frisch gemahlener Kaffee und Momente,
die Zeit kosten dürfen
4. Gudrun
Zeitungskolumnen, moralische Zeigefinger und
weltfremdes Verteufeln
5. Ludwig
Lederriemen, Hohlschliffklinge und
Dachshaarpinsel
6. Marion
Der Donnerstagabend, das rausgezogene Telefon
und die Vorfreude auf das Unverfügbare
II. Flegeljahre
7. Yasin
Flucht, Perspektivlosigkeit und
trotz allem bewahrte Würde
8. Nora
Montage, Glätteisen und morgen Montesquieu
9. David
Eine 5 in Physik und die 10 auf
dem Platz
10. Leonie
Katzenfutter, Weihnachtsmänner und
das Ave Maria
11. Georg
Das Kein-Familienhaus und ein Vater,
der da ist
12. Charlotte
Die Anders, die Anderen und die
Versetzungsgefahr
III. Brotberufe
13. Helmut
Wertvolle Fracht im Miteinander der
Generationen
14. Sabine
Biorhythmus, Preispolitik und
verschenktes Brot
15. Herr Müller
Offiziere zu Zeitungsjungen und das Mädchen
mit der Blume
16. Mona
Erwartungshaltungen, Rollenbilder und
das Recht, selbst zu entscheiden
17. Florian
Von der Wirkung des weißen Kittels und
gestressten Halbgöttern
18. Jasmin
Waschen, Schneiden und Zuhören
IV. Lebenslinien
19. Uwe
Der Rasentraktor, die Abseitsregel
und die Bespielbarkeit des Platzes
20. Katharina
Endlich Oma, drei Erstlingsausstattungen
und Besuchszeit auf der
Neugeborenenstation
21. Wolfgang
Schwarz/weiß-Fotografien, Farbdias und
ein Schnappschuss vom Nachbartisch
22. Ulrike
Morgennebel, die rote Irish-Setter-Hündin und
andere Rituale
23. Heiner
Großes Haus, großgewordene Kinder und
getrennte Großeltern
24. Ute
Ein Foto, eine Entscheidung und
29 Jahre später
25. Erwin
Alleinsein, Erinnerungen und Zeit für
die Enkelkinder
26. Monika
Kassettenrekorder, Sockenbügeln und
die Nachttischlampe im Kinderzimmer
27. Tarek
Frau Lehmann, die 3a und das gute Gefühl,
angekommen zu sein
V. Tapetenwechsel
28. Katrin
Ablösen und Grundieren statt Zupflastern und
Drüberschminken
29. Veit
Falsche Versprechungen, Schmutz,
Schaumreste und Hochdruckreiniger
30. Fé
Neue Schule, neue Klasse und eine
neue Freundin
31. Rainer
Die letzte Zigarette, Schmachtattacken und
die neu gewonnene Freiheit
32. Juliane
Babybauch, Vorfreude und ein Tauftext
33. Tobias
Ararat, Lavagestein und der Weg zurück
ins Leben
VI. Kinderwelten
34. Marie
Wie es wäre, eine Prinzessin zu sein, und
warum Oma im Himmel Akkordeon spielt
35. Niklas
Schlimme Dienstage und der beste Opa
der Welt
36. Luise
Die kleine Schwester, die große Liebe und die allerbeste Freundin
37. Moritz
Alberne Mädchen, streitende Eltern und ein dicker Zweitklässler
38. Vanessa
Die Anderen und der Wunsch dazuzugehören
39. Friedrich
Fußball, Klavier und das Mädchen
VII. Ehrenämter
40. Klaus
Leseopas gesucht, sinnstiftendes Ehrenamt gefunden
41. Elke
Frühlingsspaziergänge, die Schallplattensammlung und alles außer Basteln
42. Lothar
Nachhilfe, Wissenslücken und lebenslanges Lernen
43. Marianne
Bohnenkaffee, Eierschecke und der Duft der großen weiten Welt
44. Fabian
Die Feuerwehr, der Berufswunsch und das Wort des Zugführers
45. Anke
Bohnerwachs, roter Tee und
weitere Klischees
46. Ulrich
Das alte Kino, ihr Fenster in die Welt und
die Entscheidung, dem Guten Raum
zu geben
VIII. Weihnachtsgeschichten
47. Andrea
Weihnachtsputz, Kartoffelsalat und
ein kleiner Bademeister
48. Hartmut
Letzte Besorgungen, die Globalisierung
und ein frierender
Weihnachtsbaumverkäufer
49. Franziska
Alle Jahre wieder, die nächste verpatzte
Chance und der feine
Vorzeigebruder
50. Thomas
Krippenspiel, verlorener Kinderglaube und
mehr Lametta
51. Emilie
Erinnerungen, Herausforderungen und
Heiligabend in Familie
52. Felix
Omas Vanillepudding und vier Generationen
glücklich unterm Weihnachtsbaum
Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Antoine de Saint-Exupéry
Die für diesen Band ausgewählten Texte sind über einen Zeitraum von 20 Jahren entstanden und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesendet worden. »Momentaufnahmen« im wahrsten Sinne des Wortes, in denen ich von Menschen erzähle, deren Geschichten mich sehr berührt haben. Ich habe ihnen viel zu verdanken.
Besonders beeindruckt hat mich die Geschichte des 64-Jährigen, der jeden Morgen Zeitungen austrägt. Wie er wüsste ich gern mehr über das Mädchen mit der Blume. Vielleicht gehört sie – wie er – zu den Leserinnen und Lesern dieser Zeilen. Ihr besonnenes Tun und Lassen im Herbst 1989 hat zum friedlichen Ausgang beigetragen. Sie stehen stellvertretend für unzählige Männer und Frauen diesseits und jenseits der Elbe, die das Zusammenwachsen des geteilten Landes bis zum heutigen Tag möglich machen.
Dabei erzählen die meisten Momentaufnahmen generationenübergreifend vom eher unspektakulären Leben und Erleben im Hier und Heute. Sie sind nicht weniger faszinierend. Nicht selten lassen sie sich im Rückblick als Weichenstellungen identifizieren, die zu Deutungsmustern und Handlungsmaximen in der Gegenwart werden; liebgewonnene Rituale, die hier ihren Ursprung haben. Persönlicher Glaube, der trägt, nicht allein deshalb, weil er tradiert, sondern weil er als Trost und Perspektive erlebt worden ist.
Eine besondere Zugabe sind die »Weihnachtsgeschichten«, die meine Frau und ich für die Erstausstrahlung am Heiligabend gemeinsam produziert und eingesprochen haben. Da ihre Protagonisten im Gegensatz zu den Momentaufnahmen keine realen Entsprechungen haben, wurden sie am Ende dieses Bandes aufgenommen.
Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk für die professionelle Zusammenarbeit und das konstruktive Feedback. Der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig danke ich für die kompetente und unkomplizierte Betreuung. Für den großzügigen Druckkostenzuschuss danke ich der Theologischen Hochschule Friedensau.
Nicht zuletzt gilt mein Dank den Männern, Frauen und Kindern, deren Geschichten ich erzählen darf. Sie haben mich an ihrem Erleben teilhaben lassen und mir dabei großes Vertrauen entgegengebracht. Das ist alles andere als selbstverständlich und bedeutet mir sehr viel. Um ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen, habe ich ihre Geschichten dahingehend verfremdet, dass etwaige Rückschlüsse zu realen Personen zufällig sind.
Harald schnürt die Laufschuhe, lässt die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und läuft los. So früh ist noch niemand auf den Beinen. Die frische Morgenluft vertreibt die Müdigkeit. Aus der ärztlichen Anordnung, sich mehr zu bewegen, ist ein festes und liebgewordenes Ritual geworden. Jeden Morgen. Bei jedem Wetter. Harald läuft. Dass er dafür etwas zeitiger Aufstehen muss, nimmt er gern in Kauf.
Seine Laufstrecke führt ihn in ein nahegelegenes Waldgebiet. Das Zwitschern der Vögel wird intensiver. Erstes Sonnenlicht bricht sich Bahn. Der Belag wechselt von hartem Asphalt zu federndem Waldboden. Harald hört seinen Atem und spürt Lungenflügel und Beinmuskulatur. Die Anstrengung tut gut und treibt kleine Schweißperlen auf seine Stirn.
Seit Harald mit dem Laufen angefangen hat, kann er wieder beten. Morgens beim Sport, gänzlich ungestört, ganz bei sich selbst, findet er seinen Zugang zu Gott. Er lässt den Gedanken freien Lauf. Seinen Fragen, seinem Hoffen, seinen Zweifeln. Auch Angst und Versagen spricht er aus. Keine wohlformulierten Gebete, nichts Fertiges, nichts Druckreifes. Ganz und gar nichts für die Öffentlichkeit. Eher so unsortiert und unfertig, wie man sich morgens vor dem Frühstück fühlt. Für Gott macht das keinen Unterschied.
Drei Kinder! Die würde man Manuela nicht ansehen, wenn man sie allein träfe. Nur ist sie nie allein. Die drei sind immer dabei. Rund um die Uhr. Zwei Mädchen und ein Junge. Fünf, drei, und ein Jahr alt. Und eines lebhafter und liebenswerter als die anderen. Jedes für sich ganz individuell und immer einhundert Prozent: ganz leise oder ganz laut, ganz traurig oder ganz fröhlich, ganz wild oder ganz kuschelig.
Sie wollten die Kinder. Jedes einzelne ein Wunschkind. Auch der Abstand sollte so sein. Und sie lieben die drei von ganzem Herzen, aber an manchen Tagen, hat sie das Gefühl, dass alle Verantwortung auf ihr lastet.
Mit drei kleinen Kindern im Schlepptau verändern sich nur die Möglichkeiten, die persönlichen Bedürfnisse bleiben die gleichen. Früher, als sie noch arbeiten ging, hatte sie sich immer auf diese Zeit gefreut. Babypause. Elternzeit. Den ganzen Tag zu Hause. Ganz für die Kleinen da sein. Zeit haben.
Dass dieses Ganz so ganz und gar sein würde, hätte sie sich nicht vorstellen können. Oft sind die Tischgebete der Kinder der einzige Ruhepol im Tagesgeschehen. Die Kinder danken nicht nur für das Essen, sondern bitten auch, dass sie davon groß und stark werden. Wenn sie daran denkt, dass die Kinder in wenigen Jahren tatsächlich groß sein werden, sieht sie ihr Heute mit anderen Augen.
Albert gibt eine Handvoll frisch gerösteter Bohnen in die Kaffeemühle und beginnt zu mahlen. Erst ruckelnd, dann immer gleichmäßiger. Die Kurbel quietscht. Nach kurzer Zeit hält er inne, öffnet die kleine hölzerne Schublade und prüft die Körnung des frisch gemahlenen Kaffees. Mit Daumen und Zeigefinger justiert Albert den Mahlgrad am Stellrädchen, schiebt die Schublade zurück in die Mühle und mahlt weiter. Natürlich wäre es leichter, fertig gemahlenen Kaffee zu kaufen. Billiger wäre es sowieso.
Albert füllt frisches Wasser in den Kessel der Herdkanne. Dann zieht er die kleine hölzerne Schublade aus der Mühle und verteilt das Mehl gleichmäßig auf dem Siebträger. Der Duft des frisch gemahlenen Kaffees erfüllt den ganzen Raum. Geschickt setzt Albert den Siebträger auf den Kessel, verschraubt den Untersatz mit der Metallkanne und stellt sie bei mittlerer Flamme auf den Herd.
Je älter er wird, desto öfter fragt er sich, wie viel Zeit er leichtfertig vergeudet hat: abwartend, ohnmächtig,