MAJA ILISCH
DAS
GEFÄLSCHTE
SIEGEL
DIE NERAVAL-SAGE
KLETT-COTTA
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Hobbit Presse
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© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
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Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur
erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)
Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung einer Illustration von © Max Meinzold
Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96030-3
E-Book: ISBN 978-3-608-11544-4
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Für Monica
Wir sind M
M wie immer
Ay, there’s the rub;
For in that sleep of death what dreams may come
When we have shuffled off this mortal coil,
Must give us pause.
Ja, da liegts:
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,
Wenn wir die irdische Verstrickung lösten,
Das zwingt uns stillzustehn.
William Shakespeare: Hamlet
Deutsche Übersetzung von A. W. v. Schlegel
Tausend Jahre, und niemand hatte die Schriftrolle auch nur angerührt. Sie lag auf ihrem steinernen Podest wie am ersten Tag, als wäre alle Zeit nur Einbildung, und nicht einmal Staub wollte sich auf ihr niederlassen. Sie beherrschte den Raum, und nichts beherrschte sie. Vielleicht wusste sie, wie bedeutsam sie war. Und vielleicht wusste es auch der, der in ihr saß, für alle Zeit gezwungen, gebannt, gesiegelt. Es gab genug Gründe, die Schriftrolle zu fürchten. Und selbst Staub, Zeit und Zerfall hielten sich daran.
Nur den kleinen Jungen schien nichts davon zu stören. Seine Füße hüpften ein Muster in die Treppenstufen, die leichten Sandalen klapperten, und das Echo des Gewölbes warf ihren Klang hin und her und zu ihm zurück. Tief unter der Erde gab es nur selten etwas zu tun für das Echo. Hier war es still wie in einem Grab, oder stiller, denn die Toten schliefen nur. Doch es gab diese Treppe, und ebenso selten, wie jemand sie hinaufstieg in die Welt des Lichtes und der Farben, kam es vor, dass jemand sie hinunterstieg, oder, noch seltener, hinunterhüpfte.
Der Junge war zu klein für Vorsicht, zu dumm oder zu mutig. Es machte ihm nichts, dass die Stufen so alt und krumm waren wie die Gruft selbst, dass die Zeit, die von der Schriftrolle abperlte wie Wasser von einem Blütenblatt, ihren Zahn umso mehr an ihnen ausgelassen hatte. Ausgetreten waren sie aus jenen Tagen, als es noch ein reges Kommen und Gehen gab –, lange vergangene, lange vergessene Zeiten, älter, als sich auch nur die Schriftrolle erinnern konnte – von Füßen, die nicht zu Menschen gehörten. Sie führten in das Reich des Steins, die Welt der Steinernen Wächter, deren Heimat dort unten lag und ihr ganzes Leben, wenn es noch ein Leben war: kein Sinn, kein Zweck, keine andere Aufgabe, als die Schriftrolle zu beschützen vor der Welt, und die Welt vor der Schriftrolle.
In den Ecken der Halle standen sie, auf den ersten Blick reglos wie alte Statuen und doch wachsam durch und durch. Sie schienen aus einer Welt zu stammen, die so lange vorbei war wie alles andere dort unten, mit schweren, grauen Rüstungen, ihre Schwerter mit langen, breiten Klingen – selbst wenn noch Regung in ihnen war, strahlten sie eine altertümliche Schwerfälligkeit aus, die keinem modernen Rapier gewachsen sein konnte, keinem Paar tänzelnder Stiefel und erst recht nicht den hüpfenden Füßen eines kleinen Jungen, der mehr Leben in sich hatte als sie alle zusammen.
Und doch – noch ehe der Junge die unterste Stufe erreicht hatte, versperrten zwei der Wächter ihm unten seinen Weg, Schulter an Schulter, die Klingen gekreuzt, nicht bereit, ihn durchzulassen, und wo ihre Unbeweglichkeit eben noch als ihr Nachteil erschienen war, so war sie jetzt ihr höchstes Gut.
Die Sandalen verstummten, als der Junge stehen blieb, nicht in sicherem Abstand, sondern so nah bei den Schwertern, dass sein warmer Atem sich auf ihren Klingen niederließ wie sachter Nebel. Die Wächter rührten sich nicht. Sie wollten den Jungen nicht verletzen. Sie wussten, wer er war. Sie konnten ihn nur nicht passieren lassen.
Der Junge blickte von einem zum anderen, dann lächelte er, und seine großen dunklen Augen, die ihm mit ihren langen Wimpern fast etwas Mädchenhaftes gaben, wurden dabei noch größer. »Ich will doch nur schauen«, sagte er leise. »Ich tu ja nichts.« Seine Stimme war zu sanft, um vom Echo aufgegriffen zu werden. Er stand still, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und wartete ab. Die Treppe wieder hochzusteigen, und sei es nur für eine Stufe – diese Niederlage würde er nicht akzeptieren. Nur stehen, und warten, und die Steinernen anlächeln, bis sie sich seiner erbarmten.
»Dann schau von hier aus«, sagte der eine Wächter. »Es gibt nicht viel zu sehen, und alles, was da ist, siehst du von hier ebenso gut.« Seine Stimme kam langsam, fast schwerfällig, aber jedes Wort hatte Gewicht, als wäre es in Stein gemeißelt, und so wenig Widerspruch duldete es auch.
Der Junge blickte an ihm hinauf und wieder hinunter. Die Fackeln an der Wand malten ihm den Schatten einer weitaus größeren Gestalt, fast bis ans obere Ende der Treppe, aber er war und blieb nur ein Junge von acht Jahren, so wie ihn acht weitere Jahre von seinem nächstälteren Bruder trennten. »Seid ihr wirklich aus Stein?«, fragte er mit ungläubigem Staunen, dass sich die Gesichter der beiden Männer doch zu einem seltenen Lächeln verzogen, mehr in den Augen denn in den Lippen, und den Weg frei gaben sie ihm immer noch nicht.
»Sehen wir so aus?«, fragte der jüngere der beiden Wächter – jünger, aber nicht mehr ganz jung, niemand wurde ein Steinerner Wächter, der noch feucht hinter den Ohren war oder unerfahren. Jünger, aber alt genug, um zu akzeptieren, dass sein Reich tief unter der Erde lag, dass die Treppe nach oben nur für andere bestimmt war, dass sein Tag daraus bestehen sollte, eine alte Schriftrolle zu bewachen, und seine Nächte auch, Tage und Nächte, in denen niemals etwas geschehen wollte und von denen doch das Schicksal des ganzen Landes abhing, wenn nicht der ganzen Welt.
Aber auch die Augen des Jungen waren scharf. »Du nicht«, sagte er. »Du bist noch nicht so grau wie die anderen.« Und so war es auch. Mit den Jahren wurden die Steinernen Wächter fahl, nicht von der Nähe des Steins, sondern von der Ferne der Sonne, die sie irgendwann vergessen ließ, dass sie doch eigentlich Menschen waren. Schlafen mussten sie und essen wie alle anderen, aber wenn sie wachten, fühlten sie keinen Hunger und keine Müdigkeit, die Füße wurden ihnen nicht weh, und wie lang sie auch auf den Beinen sein mochten, sie konnten stehen wie festgewachsen, als wären sie wirklich Steine. Herren kamen und gingen, Herren der Burg wie Herren der Welt, die Steine hatten Bestand und die Steinernen mit ihnen.
»Das wird noch«, sagte der Wächter. »Und du, du wirst auch noch ganz grau, wenn du jetzt nicht wieder brav nach oben gehst und mit deinen Brüdern spielst.« Sein Nebenmann warf ihm einen Blick zu, nur kurz, nur aus den Augenwinkeln: Kein Grund, so viele Worte zu verlieren.
Der Junge machte ein unglückliches Gesicht. »Darum bin ich ja hier«, sagte er, und ohne dass seine Stimme, immer noch leise, zitterte. »Sie wollen ja nicht mit mir spielen – sie sagen, ich bin zu klein, zu dumm und zu feige. Sie sagen, ich traue mich nicht hier runter. Aber ich habe keine Angst. Nicht mal vor euren Schwertern.«
Der Wächter verzog keine Miene. »Wir sind es auch nicht, die du fürchten musst.«
Der Junge nickte, kaute auf seiner Unterlippe, und dann fragte er geradeheraus: »Hast du auch einen Namen?«
Das kam so unerwartet, dass der Wächter lächeln musste. Sein Mund war nicht mehr daran gewöhnt, doch er wusste noch, wie es ging. »Lorcan heiße ich«, sagte er. Er hörte seinen Namen nur noch selten, und noch seltener sprach er ihn selbst aus. Ein Steinerner Wächter zu sein war wichtiger, als einen Namen zu haben.
»Lorcan«, sagte der Junge und ließ das Wort über seine Zunge wandern, dass es fast als etwas Schönes wieder herauskam. »Ich bin Tymur Damarel. Du weißt, wer das ist?« Seinen eigenen Namen sprach der Junge aus wie ein fernes, fremdes Ding. So ein großer Name für so einen kleinen Jungen. Verstand er wirklich, was es hieß, Damars Erbe zu sein?
»Du wirst schon mit ihm fertig«, sagte der andere Wächter, mit seinem Blick mehr als seiner Stimme. Dann trat er zurück auf seinen Posten.
Lorcan nickte und starrte geradeaus, ohne den Jungen anzusehen. Tymur machte keine Anstalten, an ihm vorbeischlüpfen zu wollen, aber ebenso wenig schien er interessiert, die Treppen wieder hinaufzusteigen. Und wo ihm die Geduld eines Steinernen Wächters fehlte, wartete er umso offensichtlicher auf eine Antwort.
»Ich weiß«, sagte Lorcan endlich. »Das ist ein Junge, der hier unten nichts verloren hat.«
Tymur Damarel schüttelte den Kopf. »Ich bin der Jüngste meines Hauses«, sagte er mit leisem Ernst. »Das heißt, ich bin am Ende der Letzte, der noch lebt. Dann ist es meine Aufgabe, das alles hier zu hüten.« Der Junge machte keine Witze, und er übertrieb nicht – er glaubte jedes einzelne seiner Worte. »Und das kann schon so bald passieren, nächste Woche vielleicht, und dann bin ich ganz alleine …«
»Du bist nicht allein«, unterbrach ihn Lorcan. Und wenn das ganze Haus Damarel aussterben sollte, am Ende blieben immer noch die Steinernen Wächter übrig.
»Aber ich habe die … die Rolle noch nie gesehen«, flüsterte Tymur und konnte unter dem lippenzitternden Trotz die Neugier doch nicht verbergen. »Noch nicht richtig«, setzte er schnell hinterher, bevor Lorcan ihn darauf hinweisen konnte, dass er die Schriftrolle auch von der Treppe aus sehen konnte. Sonst gab es hier unten nichts Interessantes. Fast nichts.
»Siehst du dieses Muster da im Boden?«, fragte Lorcan, um die Aufmerksamkeit des Jungen an eine andere Stelle zu lenken. »Wie ein Stern mit neun Zacken?« Mitten im Raum und so groß, dass er fast an die Wände stieß, konnte man nicht mehr viel von dem seltsam unregelmäßigen Stern erkennen. Zu viele Füße waren nicht erst in den letzten tausend Jahre darüber gelaufen, bis das Muster, keine Malerei und auch kein Mosaik, sich immer weiter in den Boden zurückgezogen hatte, doch es war immer noch da und würde es wohl auch immer sein, solange niemand wusste, woher es kam und woraus es gemacht war.
Tymur nickte, ohne hinzusehen. »Ja, ich weiß.« Er verdrehte die Augen, so dass sein Gesicht noch puppenhafter wurde. Unter der kurzen Tunika zog sich Gänsehaut über die Beine des Jungen. Draußen musste es Sommer sein, aber in der Krypta war nicht viel davon zu merken. »Hier ist er gestorben, genau in der Mitte des Sterns. Dann haben sie ihm die Haut abgezogen, abgeschabt, gegerbt und Pergament daraus gemacht. Sie haben sein Blut genommen und damit die Runen geschrieben, dass er nicht mehr ins Leben zurückkehren kann. Dann haben sie die Rolle versiegelt. Weiß ich alles. Aber was hilft mir das, wenn ich sie noch nicht einmal sehen darf?« Die Pupillen füllten fast das ganze Auge aus, als der Junge flüsternd hinzufügte: »Oder muss ich weiter davon träumen? Das sind keine schönen Träume …«
Lorcan seufzte. Es war einfacher, dem Kind seinen Wunsch zu erfüllen und ihm einen Blick zu gönnen, aus sicherem Abstand, als dass Tymur jeden Tag wiederkommen würde mit immer flehentlicheren Blicken … »Also gut«, sagte er und wusste, dass er Ärger riskierte. Die Steinernen Wächter mussten immun sein gegen die Kunst der Verführung, gegen jeden, der versuchte, sich ins Gewölbe zu schleichen, um sich der Schriftrolle zu bemächtigen. Vier Steinerne standen gerade Wache, und drei von ihnen waren der Ansicht, dass der vierte sich gerade zum Narren machte.
Doch auch wenn die Blicke, die sie einander zuwarfen, viel von dem verrieten, was sie über ihren jüngsten Gefährten dachten, ließen sie alle Lorcan gewähren, vielleicht froh, dass er sich des kleinen Plagegeistes angenommen hatte und sie selbst es nicht mussten. Sie alle wussten, man musste trennen können zwischen einem Verschwörer, der auf Übles aus war und den lang besiegten Feind wieder freisetzen wollte, und einem kleinen Jungen, der zu viele Schauergeschichten gehört hatte und sie alle glauben musste, weil sein Erbe ihm keine andere Wahl ließ. »Komm näher.« Lorcan ließ das Schwert sinken. »Und mach alles genau so, wie ich es dir sage.«
»Danke!«, flüsterte Tymur. Er hüpfte von der letzten Stufe wie ein junges Kätzchen, und wie eine Katze ignorierte er die übrigen Steinernen Wächter so nachdrücklich, als wären Lorcan und er die letzten Menschen auf der Welt. Vielleicht glaubte er, dass sie ihn nicht weiter beachteten, wenn er das Gleiche mit ihnen tat. Er ging auf Zehenspitzen, als er den Stern im Boden betrat, so vorsichtig, als wäre es dünnes Eis, und blieb dicht an Lorcans Seite, als der ihn zu dem steinernen Podest führte. Aber mit jedem Schritt wurde sein Gesicht länger. »Das ist ja so hoch«, sagte er. »Da kann ich ja gar nichts richtig sehen.«
»Möchtest du, dass ich dich hochhebe?«, fragte Lorcan freundlich. Das sollte ihnen beiden nutzen: Wenn er den Jungen festhielt, konnte der auch keinen plötzlichen Unsinn anstellen. Da war es ihm egal, wie die anderen Steinernen Wächter ihre Köpfe schüttelten. Als Tymur nickte, schob Lorcan sein Schwert in die Scheide und nahm den Prinzen bei der Hüfte hoch. Tatsächlich, der Junge wog nicht viel. »Siehst du, das ist die Schriftrolle –«
Und weiter kam er nicht. Geschmeidig wie ein schlüpfriger kleiner Aal warf sich Tymur nach vorne, und im nächsten Moment war das Pergament, das seit tausend Jahren keine Hand angerührt hatte, in den Fingern eines kleinen Jungen.
Es klopfte nur ganz leise, das erschreckte Kevron fast noch mehr. Man sollte meinen, dass er inzwischen jede Art von Klopfen kannte: Da gab es Geldeintreiber, die klopften genau zweimal, laut, und bei drei traten sie einem die Tür ein. Und andere, die machten sich nicht mal die Mühe zu klopfen und kamen direkt mit dem Stiefel zuvorderst. Und solche, die hämmerten ohne Unterlass gegen das Holz, vorzugsweise mitten in der Nacht, und das war immer noch besser, als wenn sie es vormittags versuchten …
Aber dieses Klopfen war anders, leise, doch bestimmt, die Schläge in langen, ebenmäßigen Abständen – Kevron kannte niemanden, der so klopfte. Es passte nicht zu einem Geldeintreiber, und wer sonst sollte etwas von ihm wollen? Kundschaft? Fast hätte Kevron gelacht. Kundschaft hatte er schon lange nicht mehr. Seine Wirtin konnte es auch nicht sein, die klopfte nicht und trat ihm nicht die Tür ein, sondern gleich die Stirn mit ihrer schrillen Stimme, ›Herr Flo-re-hel! Macht schon auf, Herr Florel!‹ – und das vorzugsweise vormittags, wenn Kevron wirklich keinen Kopf hatte für Dinge wie die Miete, oder dass er versprochen hatte, zumindest den Hof zu fegen, oder dass sie kein Auge hatte zutun können, weil der Herr Florel schon wieder mitten in der Nacht so gepoltert hatte, konnte er nicht gefälligst leise die Treppe hinunterfallen …
Nein, so klopfte niemand, den Kevron kannte, aber wer immer es war, er hatte Ausdauer. Der Weg zur Tür war Kevron im Leben nicht so lang vorgekommen, und seine Beine waren noch zu weit davon entfernt, ihm wieder zu gehorchen. Mit jedem Schritt wuchs das Drücken in seiner Magengegend. An das Naheliegendste, dass sich da einfach jemand im Haus geirrt hatte, mochte Kevron nicht glauben. Natürlich, es gab viele dieser kleinen Wohnungen, über den Hof und eine Treppe hoch, doch an Zufälle glaubte Kevron schon lange nicht mehr. Diese fröhliche Ungeduld dort draußen konnte zu einem gedungenen Mörder gehören …
Kevron brauchte zu lange, um zur Tür zu kommen. Ihm war schlecht, seine Beine zitterten, aber er konnte sich freuen über die Unordnung und all das Gerümpel, mit dem er zum Leidwesen seiner Wirtin seine beiden Zimmer vollgestopft hatte, so gab es immerhin etwas, woran er sich festhalten konnte. Wenn das jetzt ein Mörder war … oder doch ein Kunde … nicht, dass Kevron hätte arbeiten können … Ein letztes Mal atmete er tief ein, schluckte den bitteren Saft in seinem Mund hinunter und öffnete dann endlich die Tür. Kein Mörder. Alles, nur kein Mörder …
Zumindest war es kein Geldeintreiber. Der Mann war nicht nur kaum halb so breit wie die Kanten mit den groben Stiefeln und Fäusten, sondern vor allem zu gut gekleidet, und zu teuer. Selbst wenn das Tageslicht Kevron blendete und der schwarzgekleidete Fremde davor zu einem dunklen Schatten verschmelzen wollte, konnte kein Brummschädel der Welt Kevron sein Auge für Details nehmen. Diese silbernen Rockknöpfe mit dem eingearbeiteten Wappen waren nicht einfach geprägt, sondern von kunstreicher Hand graviert. Eine Schwalbe, umringt von fünf Sternen. Man brauchte nicht zu glauben, dass jeder Hinz und Kunz das königliche Wappen tragen durfte. Dieser Mann war ein Prinz.
Es war Kevron deutlich lieber, seinem Gast auf die Rockknöpfe zu starren als ins Gesicht, auch wenn das reine Schwarz des Stoffes, ein edles Seidenzeug mit eingewebtem floralem Muster, ihm in den Augen stach. Bei einem so hohen Gast sollte man schon aus reiner Demut den Blick senken, vor allem jedoch wollte Kevron nicht, dass sich ihre Augen begegneten. Er versuchte, seine unordentliche Stube irgendwie durch geschicktes Den-Türrahmen-Blockieren zu versperren, aber warum die Mühe? Das Problem war nicht das Zimmer, das Problem war der Mann, der es bewohnte.
Kevron fühlte, wie die dunklen Augen des Gastes ihn von oben bis unten zersägten, mit so klarem und wachem Blick, dass schon vom Angesehenwerden die Nüchternheit in Kevron hochkroch. Es waren beeindruckend schöne Augen, aber ohne Güte, und das Lächeln lag dem Prinzen vielleicht um den Mund, doch es blieb kalt.
Dann öffneten sich die Lippen und sagten mit einer Stimme, die zum Klopfen passte, leise und wohlbemessen: »Ich sehe, im Grunde Eures Herzens wisst Ihr, dass Ihr immer nur der Zweitbeste sein werdet. Und durch einen Todesfall aufsteigen war Euch zu billig, das verstehe ich, aber trotzdem, ich hätte mehr erwartet.«
Kevron zwinkerte. Er hatte mit einer Vorstellung gerechnet, mit einer Anklage oder einer Frage, aber der hochgeborene Gast übersprang gleich mehrere Schritte und traf Kevron mitten in die Magengegend, ohne auch nur einen seiner schwarzbehandschuhten Finger zu regen. »Ich habe nichts mit Euch zu schaffen.« Kevrons Lippe blieb ihm an den Zähnen kleben, ließ ihn grimassieren wie einen Jahrmarktsspieler, so dass er mit der Zunge nachhelfen musste. Fahrig griff er mit der Hand in die Haare und fand sie nicht minder klebrig, und er wünschte sich nichts dringender als ein Bad, ein Bett, oder einen Sarg.
»Sprecht nicht von Dingen, von denen Ihr nichts versteht«, sagte der Prinz und lächelte immer noch. »Ich habe mit Euch zu schaffen, und wo es um mich geht, habt Ihr keine Wahl. Auch wenn ich lieber mit einem Besseren als Euch vorlieb nehmen würde – Eure Gilde teilte mir mit, dass er nicht mehr am Leben ist.« Er schüttelte den Kopf. »So eine Schande. Ein Messer im falschen Moment, und die Stadt hat nicht einen, sondern gleich beide besten Fälscher verloren.« Während er sprach, rückte er langsam, doch mit Nachdruck vorwärts und ließ Kevron zurückweichen, bis sie beide im Zimmer standen, und der Gast hatte die Tür hinter sich geschlossen, noch ehe er beim Wort ›Fälscher‹ angekommen war. Ein Prinz stand inmitten Kevrons Müll und Unordnung. Er verzog keine Miene, noch nicht einmal die Nase, aber dennoch …
Kevron schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr zu meinem Bruder wollt, kommt Ihr zu spät.« Wie lang genau? Drei Jahre, vier? Seltsam genug, dass die Gilde ihn überhaupt noch auf der Liste hatte – dass sie ihm nicht die Fingerknochen hatten brechen lassen für die Aufträge, die er hatte platzen lassen, ohne die Anzahlung wieder rausrücken zu können, war schon Wunder genug. »Und zu mir auch«, setzte er hinterher.
»Ich bestehe darauf«, sagte der Prinz fast freundlich. »Ich habe vor Eurer Gilde darauf bestanden, und ich sehe nicht ein, warum ich ausgerechnet jetzt einen Rückzieher machen sollte, nur weil Ihr Katzenkraut kaut, um überhaupt aus dem Bett zu kommen. Wenigstens verdeckt es den übrigen Gestank. Hört Ihr noch auf Kev Kaltnadel, oder wollt Ihr so tun, als hättet Ihr diesen Namen nie gehört?«
»Kev reicht aus«, hörte Kevron sich nuscheln und wusste, dass er log, Kev war so lange her, Kev und Kay, Brüder, Fälscher, Rivalen, Feinde, bis man plötzlich nichts mehr wiedergutmachen konnte …
»Kev«, wiederholte der Prinz, und für einen Moment war aller Hohn aus seiner Stimme verschwunden. »Ich bin Tymur Damarel. Ihr wisst, wer das ist?« Sein Lächeln hallte noch eine Weile in Kevrons Ohren nach.
Kevron nickte. Wenigstens das überrumpelte ihn nicht mehr. Der fünfte Sohn des Königs, wie alt war der? Vielleicht Anfang zwanzig, genau wusste Kevron es nicht. Als der König auf seine alten Tage noch einmal Vater wurde, waren Kaynor und Kevron irgendwo in dem Teil der Jugend, wo man auf neugeborene Prinzen herzlich wenig gab, dem einen oder anderen Mädchen nachstieg oder selbst dafür keinen Kopf hatte. Vor zehn Jahren, sogar noch vor fünf, hätte Kevron sich nicht gewundert, eines Tages einen Prinzen, wenn nicht gar den König selbst zu seinen Kunden zu zählen, so hochtrabend waren seine Pläne – jetzt war der falsche Zeitpunkt dafür, und der rechte würde auch nicht mehr kommen.
»Sehr gut«, sagte Tymur Damarel. »Das erspart mir so viele Erklärungen – nicht, dass ich mich nicht gerne reden höre, aber dafür habe ich noch genug zu sagen. Kommen wir gleich zum Geschäftlichen, dann haben wir es hinter uns. Ich habe Euch gekauft, und da Ihr nicht ganz billig wart, hoffe ich, dass Ihr mich nicht enttäuschen werdet.«
»Gekauft«, wiederholte Kevron. Sein Versuch, das Lächeln zu erwidern, missglückte. »Ich bin nicht käuflich.«
»Oh, aber Ihr habt Schulden, das kommt aufs Gleiche raus.« Jetzt klang Tymur Damarels Stimme vergnügt, nur die Augen wollten immer noch nicht so recht mitmachen. »Die Gilde gab vor, Euch nicht mehr zu kennen, doch so schnell wird man mich nicht los. ›Kay Kupferfinger hatte einen Zwillingsbruder, der ihm in wenig nachstand‹, habe ich gesagt, ›und ich will wissen, wo ich ihn finden kann, sofort.‹ Man ist dort nicht gut auf Euch zu sprechen.«
»Ihr habt Euer Geld zum Fenster rausgeschmissen«, sagte Kevron. »Ist es normal, dass ein Prinz Kontakt zur Gilde pflegt?«
Auf diese Frage musste Tymur Damarel gewartet haben, denn sein Lächeln wurde zum Grinsen und ließ seine Augen einen Moment lang blitzen. »Ich bin der fünfte von fünf Söhnen«, sagte er. »Vjasam, Sandor, Antal, Davron, allesamt prachtvolle Krieger, aber Damar hatte fünf Gefährten, und darum brauchte mein Vater einen fünften Sohn – dann muss er sich wohl auch für mich eine Verwendung überlegen. Mit Waffen kann ich wenig anfangen, und als Magier will er mich nicht riskieren – zu gefährlich, wenn nicht für ihn, dann für meine Brüder. Arbeiten tu ich nicht gern, das haben wir zwei gemeinsam, und da ich gut bin mit Wörtern, sogar mit Worten, bin ich der geborene Diplomat. Und so bewege ich mich nun in allen Kreisen und Schichten, und natürlich gehört dazu auch Eure Gilde. Ihr zahlt Euren Anteil an die Gilde, zumindest in der Theorie – die Gilde zahlt ihren Anteil an den Hof. Dafür verzichten wir in dem einen oder anderen Fall auf den Galgen, eine sinnvolle Abmachung, wie ich finde.«
Während er sprach, wanderten seine Augen schamlos durch Kevrons Quartier, hielten kurz inne an umherliegenden Wäschestücken, oder leeren Flaschen, die Kevron sich wegzuwerfen geschworen hatte, statt sie wieder neu auffüllen zu lassen, und blieben endlich am Tisch unter dem Fenster hängen – dort verstaubten, zwischen Müll, Papieren und fliegenumschwirrten Essensresten, angefangene Arbeiten, an deren Auftraggeber sich Kevron kaum noch erinnern konnte.
»Dann geht zur Gilde und fragt sie, wen die sonst noch haben«, sagte Kevron dumpf. »Wie gesagt, ich werde Euch keine Freude machen.«
»Es geht nicht um Freude«, antwortete Tymur Damarel leise. »Und nicht darum, was Ihr wollt. Ihr werdet gleich mitkommen, ohne Fragen zu stellen, und mir Euer Wort geben, dass Ihr nichts verlauten lasst von dem, was Ihr sehen oder hören werdet. Euer Auge ist mir erst einmal wichtiger als Eure Finger, aber selbst was die angeht, ist die Hoffnung nicht verloren. Immerhin kaut Ihr Katzenkraut.«
Kevron grinste verlegen ob des zweifelhaften Kompliments. Man musste schon ziemlich tief gesunken sein, um Gefallen an dem bitteren Zeug zu finden, das die Zähne braun machte und zumindest für kurze Zeit einen klaren Kopf versprach. Vielleicht war ein Auftrag vom Hof wirklich genau das Richtige.
»Ich stelle Euch vor die Wahl«, sagte der Prinz freundlich. »Ich lasse Euch jetzt allein und komme in drei Tagen wieder, und bis dahin seid Ihr nüchtern, gewaschen, habt eine Mahlzeit im Bauch und Euer Werkzeug zusammengesucht. Oder Ihr klaubt Eure Siebensachen jetzt zusammen, und ich kümmere mich um den Rest, auch wenn es für Euch unangenehm wird. Wenn auch nicht halb so unangenehm, als wenn ich in drei Tagen wiederkomme und Ihr steht in der gleichen Verfassung vor mir wie jetzt.«
Kevron ließ sich nicht gern erpressen, aber hatte er eine Wahl? Allein schaffte er es nicht, hatte es in vier Jahren nicht geschafft, und alle Versuche, selbst wieder auf die Beine zu kommen, waren gescheitert, einer kläglicher als der andere. »Prinz Tymur …«, sagte er, um Zeit zu schinden.
»Spart Euch den Prinzen.« Tymur Damarel machte eine abwehrende Handbewegung. »Wenn ich Kev zu Euch sagen darf, warum nennt Ihr mich nicht einfach nur Tym, und spar dir die Förmlichkeit. Wir werden in der nächsten Zeit noch genug voneinander sehen. Ich habe genau den richtigen Ort, um dich wieder auf die Beine zu bringen.«
Draußen war es furchtbar hell. Um diese Zeit kam Kevron üblicherweise nicht mal aus dem Bett, geschweige denn ins Freie. Er schaffte es kaum die Treppe hinunter. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass ein Fenster auffliegen würde und die Witwe Klaras Auskunft verlangte, was für einen Besucher er da angeschleppt hatte – die Frau war besser als jeder Wachhund. Aber die eigentliche Angst lauerte jenseits des Hoftores, auf der Straße …
»Kopf hoch!«, sagte Tymur vergnügt. »Das Stückchen Weg überlebst du auch noch.«
Kevron hörte nicht auf ihn. Lieber ließ er den Kopf hängen, folgte den Ritzen zwischen den Pflastersteinen, als seine Augen dem hellen Himmel auszusetzen. Es musste geregnet haben, und wo die Steine sonst angenehm stumpf und grau waren, reflektierten sie nun glänzend die zur Unzeit wieder hervorgekommene Sonne. Und selbst wenn er ständig auf seine Füße starrte, hielt das Kevron nicht davon ab, alle drei Schritte zu stolpern.
Mit schlotternden Knien suchte er etwas, woran er sich festhalten konnte, aber das Einzige, was sich in seiner Reichweite befand, war der Prinz, und da wusste Kevron es besser. Selbst wenn er Kevron freundlich das Du aufgedrängt hatte – Tymur war so unnahbar, dass Kevron noch nicht einmal im Suff auf die Idee gekommen wäre, sich an ihm abzustützen.
»Jetzt komm schon«, sagte Tymur. Seine Stimme war freundlich, doch sein Blick troff von Verachtung. »Linkes Bein – rechtes Bein – linkes Bein – das musst selbst du hinbekommen!«
Kevron schluckte. »Ich wusste nicht, dass wir zu Fuß gehen müssen«, murmelte er. Eine prachtvolle Kutsche, schwarz wie Tymurs Rock, die Fenster abgedunkelt, um damit Kevron an einen ebenso geheimen wie anheimelnden Ort zu bringen, sowas hatte er erwartet. Ein Prinz, der die Stadt besuchen wollte, ohne dabei immer von einem Dutzend Soldaten begleitet zu werden und zwei versteckten Leibwachen dazu, musste inkognito reisen, aber wenn er so offensichtlich als Prinz auftrat … wo war dann sein Gefolge?
Hinter einem Fenster bewegten sich Schatten, auf der anderen Straßenseite ging eine Tür, und Kevron zuckte zusammen – doch es war nur eine Frau, die einen Eimer schmutziges Wasser auf die Straße entleerte. Kevron atmete auf, bis zur nächsten Begegnung. Mit dem Ende des Regens kamen die Menschen wieder ins Freie. Kevron wünschte sich den Regen zurück – aber dann wieder fielen Tymur und er erst recht auf. Menschen, die sich blicken ließen, waren ohnehin nicht diejenigen, die er fürchten musste …
»Du kannst nicht erwarten, dass ich dich trage«, erwiderte Tymur. »Was ist? Bleib nicht dauernd stehen! Glaubst du, meine Zeit wächst auf Bäumen?«
»Ich dachte nur …«, fing Kevron an und brach ab. Wenn überhaupt, sollte Tymur sich um Attentäter sorgen. »Es ist nichts«, sagte er schnell. »Ich habe mich geirrt.«
Da vorne an der Ecke war das Wirtshaus zum Kreisel, weiter als bis dahin entfernte sich Kevron sonst nie von seinem Haus, und drinnen brannte Licht – wenn er da jetzt kurz hineinsprang, um sich zumindest einen kleinen Abschiedsschluck zu gönnen … Natürlich wollte er sich ausnüchtern, aber dafür musste man erst einmal betrunken sein dürfen und nicht nur kläglich verkatert!
Kevron verkniff sich die Frage und seufzte nur leise, als er an dem Wirtshaus vorbeihastete. Nicht weit dahinter lauerte schon der offene Marktplatz – da waren sie erst recht verwundbar, und das unbarmherzige Licht brannte noch mal so hell. Wo waren die Marktstände? Nur ein paar rundliche Frauen waren unterwegs, standen beisammen und hielten ein Schwätzchen, aber viel Schatten spendeten die nicht. Ein Reisender tränkte sein Pferd am Brunnen … Es war erstaunlich genug, dass ihnen niemand groß Beachtung schenkte. Nicht wegen Kevron, aber Tymur war doch eine auffällige Erscheinung.
»Jetzt hab dich nicht so. Du kannst gleich eine Pause machen.« Tymur blieb stehen und deutete mit der großzügigen Geste des Mannes, dem die ganze Welt gehört, auf das prachtvolle Steinhaus am anderen Ende des Platzes. »Ich habe da noch eine Kleinigkeit zu besprechen. Es wird auch nicht lange dauern.«
Kevron stöhnte und blinzelte. Wohin bekamen einen berüchtigten Fälscher, egal wie abgehalftert er sein mochte, keine zehn Pferde? Ins Rathaus, natürlich. Bürgermeister, Ratsherren, Büttel, lauter Leute, die nicht begeistert sein konnten von der Idee, dass da jemand ihre Handschrift besser beherrschte als sie selbst. »Ich … ich warte hier am Brunnen«, sagte er schnell. »Ich brauche sowieso gerade einen Schluck Wasser.«
»Das hättest du wohl gerne!«, sagte Tymur. »Da habe ich dich eben einmal am Wickel, und du glaubst, du kannst dich einfach aus dem Staub machen? Nichts da, mein Lieber, nichts da.« Er lachte, als er Kevron beim Arm packte und sich ungefragt unterhakte.
»Aber – wie ich aussehe! Das wirft nur ein schlechtes Licht auf Euch … auf dich …« Ein scharfer Blick brachte Kevron zum Schweigen. Was Tymur sich in den Kopf gesetzt hatte, das bekam er auch. Und wenn Kevron sich still in eine Nische setzte, versuchte, den müden Augen etwas Schatten zu gönnen, konnte das so schlecht auch nicht sein – besser jedenfalls, als wenn er jetzt allzu vehementen Widerstand leistete.
Auf Zehenspitzen, als könne jeder falsche Schritt ein Fallgitter hinter ihm runterrasseln lassen, folgte Kevron dem Prinzen ins Rathaus. Es war kühl und schattig, roch nach Kaminrauch und Holz und wichtigen Urkunden, und da war wirklich eine Bank, auf die er sich setzen konnte und, wenn Tymur nicht hinschaute, ein bisschen stolz auf sich sein. Dass er es so weit geschafft hatte, am helllichten Tag, ohne sich umbringen zu lassen! Durch halbgeschlossene Augen, den müden Kopf an die Wand gelehnt, sah Kevron, wie Tymur ein paar Worte mit den wachhabenden Gardisten wechselte – sollte er nur, dann waren sie abgelenkt und beachteten Kevron nicht weiter …
»Wachen! Ergreift ihn!«
Kevron schoss hoch. Er schaffte es immerhin bis auf die Füße, seine eigenen, für den einen halben Augenblick, bevor ihn der Schwindel vornüberkippen ließ. Ohne dass die Wachen auch nur einen Finger hätten rühren müssen, lag Kevron bäuchlings am Boden. Sie brauchten ihn nur noch aufzusammeln.
»Sehr schön«, sagte Tymur, und die Welt drehte sich etwas langsamer um sein zufriedenes Lachen. Kevron starrte an ihm hoch, fassungslos, enttäuscht, wütend, vor allem auf sich selbst. Er hätte es besser wissen müssen, als brav mitzutrotten, als zu glauben, dass dieser fröhlich plappernde junge Prinz mit einem lange nicht mehr berüchtigten, aber immer noch freilaufenden Fälscher etwas anderes vorhaben sollte, als ihn hinter Gitter zu bringen. Doch dass Tymur jetzt immer noch lächelte, das war der eigentliche Hohn.
»Ich wollte das immer schon einmal sagen.« Tymur strahlte und klopfte der Stadtwache auf die Schulter, selbst wenn er sich dafür strecken musste. Der Kerl, der Kevron hielt, war so groß, dass Kevrons Füße hilflos in der Luft baumelten. Der Gardist musste am Tag davor eine Menge Zwiebeln gegessen haben, und Kevron konnte sich nur damit trösten, dass sich sein eigener ungewaschener Scheitel direkt unter der gegnerischen Nase befand.
Tymur schüttelte belustigt den Kopf. »Du müsstest dein Gesicht sehen, Kev! Unbezahlbar! Was hast du erwartet, wo ich dich hinbringen würde? In ein feines Gasthaus, wo du drei Tage lang verhätschelt wirst?« Kevron konnte ihn nur anstarren, sprachlos. »Dann läufst du mir spätestens am zweiten Abend doch in die nächste Spelunke und lässt dich volllaufen. Hier wird dir das nicht passieren.«
»So haben wir nicht gewettet«, würgte Kevron hervor. Ihm war übel, schon von der Art, wie die Wache ihm den Ellbogen in die Magengrube drückte, aber vor allem vor Angst um sein nacktes Leben. War es nicht lachhaft, dass ihm, der sich vier Jahre lang aus feiger Vorsicht nicht vor die Tür getraut hatte, ausgerechnet der eine Moment, in dem er einem anderen Menschen vertraute, das Genick brechen sollte?
»Komm, du wirst es überstehen.« Tymur legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und nickte Kevron noch einmal zu, ehe er sich in Richtung Ausgang wandte. »Es ist nur für drei Tage. Drei Tage, in denen ich nicht in deiner Haut stecken möchte, aber dann hast du es hinter dir. Was denkst du von mir? Dass ich dich bis ans Ende deiner Tage einkerkern lasse?« Tymur schien sich kaum etwas Amüsanteres vorstellen zu können. »Und ihr, hört ihr«, sagte er dann zu den Gardisten, »spielt nicht zu grob mit ihm. Nur, weil er jetzt kaum stehen kann, heißt das nicht, dass ich ihn in drei Tagen mit gebrochenen Knochen vom Boden kratzen möchte. Steckt ihn in eine Zelle und lasst es ihm gutgehen – ihm, nicht euch. Habt ihr mich verstanden?«
Dann war er fort, und Kevron konnte nur noch sich selbst verfluchen. Er hoffte, dass er bald zumindest einen Schluck Wasser bekam, und dass der Prinz wirklich nach drei Tagen wiederkommen würde. Und das nächste Mal, wenn ein Königssohn ihn anstrahlen und ihm befehlen würde, mitzukommen, würde Kevron zumindest fragen: »Wohin?«.
Als nach drei zu langen Tagen tatsächlich seine Zelle aufgesperrt wurde und kein anderer als der Prinz in der Tür stand, wunderte das Kevron mehr, als wenn es der Henker persönlich gewesen wäre. Tymur blieb auf der Schwelle stehen, dass die Fackel hinter ihm an der Wand seine schwarze Silhouette mit einem goldenen Schein umgab und nichts von seinem Gesicht zu sehen war, und doch konnte Kevron den Blick fühlen, den Tymur über jeden einzelnen Strohhalm gleiten ließ und wohl für wertvoller hielt als die Männer, die zwischen ihnen am Boden hockten.
»Ich freue mich, eure Bekanntschaft zu machen«, sagte er mit sanftem Nicken. »Ich kann leider nur einen von euch brauchen, ihr anderen dürft eure Leben behalten.«
Kevron stolperte auf die Füße und wusste, er stand kein Stück sicherer auf den Beinen als bei ihrer letzten Begegnung. Die beiden anderen Männer blieben sitzen, als ob ihnen ohnehin alles egal war: Wahrscheinlich verstanden sie nicht, wer dieser Mann war – Kevron hatte tunlichst darauf verzichtet, ihnen zu erzählen, dass ihn ein Prinz persönlich dort abgeliefert hatte, damit sie nicht auf die Idee kamen, er wollte sich aufspielen oder sehnte sich nach einer Tracht Prügel – und solange Tymur ihnen jetzt nicht selbst erklärte, dass er ein Prinz war und eine ganz vortreffliche Geisel abgeben würde, war Kevron der Letzte, der ihn verpfeifen würde. So nickte er Amir und Traved nur ein letztes Mal zu. »Wünscht mir Glück. Wir sehen uns draußen.«
Er konnte froh sein. Die beiden hatten ihn in Frieden gelassen, anständige Kerle oder zumindest auch nichts Schlimmeres, als was man in der Diebesgilde traf. Aber Kevron war trotzdem heilfroh, wieder rauszukommen. Nicht ihretwegen. Nicht wegen des Kerkermeisters, wegen des angeschimmelten Brotes oder wegen der Eisengitter. Nur seiner selbst wegen. Und ehe er wieder auf der Straße stand, im Freien, allein, würde Kevron nicht glauben, dass er es wirklich hinter sich hatte.
Amir grunzte etwas Unverständliches. Traved schlief wohl, der Glückliche. Der war einfach nur froh, hier unten ein Dach über dem Kopf zu haben und vom Galgen verschont worden zu sein. Sollten sie ruhig glauben, dass Kevron ihnen nur als Trunkenbold zur Ausnüchterung Gesellschaft geleistet hatte. Je weniger sie über ihn wussten, desto besser. Aber wenn Kevron sonst auch überall Mörder sah, die nichts anderes im Sinn hatten, als ihn das Schicksal seines Bruders teilen zu lassen, war er hier tatsächlich drei Tage lang in Sicherheit gewesen. Draußen hingegen …
Mit wackligen Knien stolperte er aus der Zelle und war doch froh, als ihre Tür hinter ihm wieder zugezogen und der Riegel vorgelegt wurde. »Danke«, brachte er hervor, unfähig, dem Prinzen ins Gesicht zu sehen.
Tymur schob ihn auf Armeslänge von sich, drehte Kevron nach links und rechts und schnalzte mit der Zunge, als ob ihm gefiel, was er sah. »Kev Kaltnadel«, sagte er neckend, »ich sehe, unsere Gastfreundschaft hat dir gutgetan.«
Kevron zuckte die Schultern. Er hatte keine Ahnung, wie er aussah, und wollte es auch gar nicht wissen. So hatte er eine gewisse Vorstellung von Augenringen, wusste, wie lang seine letzte Rasur zurücklag, und nach drei schlaflosen Nächten in muffigem Stroh roch er sicherlich nochmal schlechter als zuvor schon.
»Was machen die Hände?«, fragte Tymur. »Geht es besser?« Jetzt klang er mitleidig, fast mitfühlend, aber Kevron fiel darauf nicht rein. Er verdankte Tymur drei Tage Zittern, und das nicht mal, weil es so schwer gewesen wäre, drei Tage ohne Alkohol auszuhalten, sondern weil er in der Zelle nichts hatte tun können als denken, denken und denken – und Kevron wusste, warum er das normalerweise vermied.
Er hielt den Mund, streckte nur brav die Finger aus, zwang sie, stillzuhalten: bloß nicht riskieren, dass Tymur ihn nochmal drei Tage hier zurückließ! Von seiner früheren Form war er weit entfernt, aber früher war er auch einmal richtig, richtig, richtig gut gewesen. Vielleicht war er immer noch gut. Hing davon ab, wofür der Hof einen Fälscher brauchte …
»Ich habe eine gute Nachricht«, redete Tymur weiter. »Es ist an der Zeit, diesen unschönen Ort zu verlassen. Auf dich wartet Arbeit, oben bei mir auf der Burg, aber da wir dort meinem Vater über den Weg laufen werden, will ich dir zumindest eine anständige Mahlzeit und warmes Wasser zum Waschen nicht vorenthalten, es sollte in unser aller Interesse sein, wieder einen richtigen Menschen aus dir zu machen.«
Kevron erwiderte nichts, während er hinter ihm hertrottete. Draußen lag der Marktplatz im Sonnenschein, diesmal voller Menschen und Marktstände, und ansonsten war die Stadt die gleiche wie sonst auch – bis auf eines. Kevron konnte sich bewegen, ohne vor jedem Schatten Angst zu haben. Vielleicht hatten sich die Tage hinter Gittern doch gelohnt. Vielleicht lag es auch nur daran, dass Kevron überhaupt nicht dazu kam, sich zu fürchten – sein ganzer Verstand kreiste nur um das Rätsel, das Tymur war. Der Prinz mochte munter plaudern, als ob sie einander schon seit Jahren kannten, aber das Vertrauen war nur aufgesetzt, und sie wussten es beide. Nur worum es wirklich ging …
»Ich war noch mal bei dir zuhause und habe dir etwas Frisches zum Anziehen geholt – gut, es war nicht frisch, aber ich habe die Sachen waschen lassen.« Tymur lachte. »Damit sollte dir besser gedient sein, als wenn ich dich jetzt zu einem Schneider schleife und du am Ende mit einer Garnitur dastehst, in der du dich nicht richtig bewegen kannst – es geht doch nichts über gut eingetragene Sachen, selbst wenn ihnen der vertraute Geruch fehlen sollte …«
Kevron blieb keine Wahl, als mitzuspielen. In die Zelle wollte er nicht zurück, er hatte Hunger, und nach einem Bad sehnte er sich seit Tagen – und nichts davon gab es ohne den Prinzen.
»Ich sehe, du sagst nicht viel.« Wunderte Tymur das? »Soll mir das jetzt zeigen, wie verschwiegen du bist, oder weißt du mir einfach nichts entgegenzusetzen? Wirklich, du kannst reden, wie dir der Schnabel gewachsen ist, es muss nicht höflich sein und nicht höfisch, ich kann mich mit allen möglichen Leuten unterhalten, nur wenn mich einer unentwegt anschweigt, gefällt mir das nicht – wenn wir zwei ein Geheimnis miteinander haben, bin nicht ich derjenige, dem du es verschweigen musst.«
Er schlängelte sich zwischen den Marktständen hindurch, ohne auch nur mit einem der Besucher zusammenzustoßen – weniger wegen der selbstverständlichen Anmut, mit der er sich bewegte, sondern weil sogar Menschen, die ihm den Rücken zukehrten, instinktiv vor ihm zurückwichen. Kevron versuchte, in seinem Kielwasser hinterherzuschlüpfen, und bekam doch all die Füße und Ellbogen ab von Leuten, die nach Durchmarsch des Prinzen auf ihren alten Platz zurückrutschten.
»Was soll ich sagen?«, fragte Kevron zurück. »Ich habe keine Ahnung, was los ist, worum es geht, warum sich plötzlich der Hof für mich interessiert – das hat er früher auch nie getan, und jetzt habe ich euch weniger Anlass dafür gegeben als überhaupt jemals …«
»Es ist dir also unheimlich?«, fragte Tymur fast freudig.
Kevron schüttelte den Kopf – unheimlich war das falsche Wort. »Ich weiß nur nicht, wohin du mich diesmal bringst«, antwortete er. »Und ich trau mich fast nicht zu fragen.« Zur Burg hätten sie da hinten rechts gehen müssen …
Tymur lachte. »Was hättest du denn gerne? Bekomme ich dich in ein Badehaus, ohne dich vorher niederschlagen zu müssen? Oder möchtest du erst etwas essen?«
Bevor Kevron etwas sagen konnte, verriet sich sein knurrender Magen schon von selbst.